15

Die Berge türmten sich gewaltig vor ihnen auf, ohne die beklommenen, kleinen Geschöpfe an ihrem äußersten Rand zu beachten. Aus der Entfernung waren die Berge berauschend gewesen; aus der Nähe waren sie überwältigend. Nicht einmal Magus sagte etwas. Sie starrten nur noch nach oben.

Diese Berge hier waren alt, viel älter als viele ihrer Gegenstücke im Norden oder gar im Osten. Mehr als ein Gipfel verschwand in der Wolkendecke und demonstrierte so seine unglaubliche Höhe. Die Zeit hatte allen Bergen so zugesetzt, daß manche von ihnen den Schalen riesiger Meeresbewohner ähnelten. Der ständig gegenwärtige Wind, der zehnmal so stark blies wie in den Ebenen, erfüllte die Luft mit fast menschlichen Schreien, wenn er durch das Gebirge blies.

»Sargas«, flüsterte Kaz. Niemand tadelte ihn wegen des leisen Ausspruchs.

Natürlich war es Magus, der ihre Ergriffenheit brach. Unruhig rutschte er auf seinem Pferd herum, während sein Blick die meiste Zeit auf die Gipfel im Herzen des Gebirges geheftet war. »Wir erreichen nichts, wenn wir hier mit offenem Mund hockenbleiben. Bist du bereit, weiterzureiten, Huma?«

Huma blinzelte. »Ja. Ich denke, wir sollten es wagen. Kaz?«

Der Minotaurus schaute lange zu den Gipfeln empor, um schließlich zu lächeln. »Ich bin mit solchem Gelände recht gut vertraut, mein Freund. Ich habe keine Bedenken.«

»Wir warten hier drei Tage auf euch, nur zur Vorsicht«, teilte ihnen Buoron mit.

Magus rümpfte die Nase und sah verächtlich zur Seite. »Das ist nicht nötig.«

»Wir tun es trotzdem. Was du davon hältst, ist ohne Belang.«

»Dann laßt uns aufbrechen«, schaltete sich Huma ein. Er hatte den dringenden Wunsch, alles hinter sich zu bringen – wenn das möglich war.

»Einverstanden.« Magus trieb sein Pferd vorwärts.

»Huma«, sagte Buoron düster, wobei er die Hand ausstreckte. Sein Gesicht glich sehr den Bergen vor ihnen – schroff, aber auf seine Art bemerkenswert. »Möge Paladin über dich wachen.«

»Und auch über dich.«

Die anderen Ritter nickten Huma zum Abschied zu. Der junge Ritter sah nicht zurück, als er losritt, weil er fürchtete, daß der Wunsch, von einer vielleicht absurden Mission abzulassen, übermächtig werden könnte. Magus und Kaz gegenüber ließ er sich seine Furcht jedoch nicht anmerken. Ein Ritter wie Bennett wäre mit der Bereitschaft in die Berge geritten, im Notfall der Drachenkönigin höchstpersönlich zu trotzen. Huma wußte, daß er dazu nie fähig wäre, doch er würde sich bemühen, mit Anstand weiterzureiten.

Viel zu bald erreichten sie das Hochgebirge. Sie waren von Gipfeln, von phantastischen Wänden und Hindernissen umringt, die nur darauf zu warten schienen, sie einzuschließen und jede Spur der winzigen Geschöpfe zu tilgen, die es gewagt hatten, sie zu bekrabbeln.

»Berge wie diese machen mir immer klar, wie sich ein Insekt vorkommen muß«, bemerkte Kaz.

Vor ihnen lachte Magus abfällig. »Das sind doch bloß große Felsbrocken. Am Anfang natürlich eindrucksvoll, aber sie haben nicht mehr Ehrfurcht verdient als ein kleiner Bachkiesel.«

»Dann hast du die Berge noch nicht wirklich kennengelernt. Gib acht, damit sie dich nicht unter ihrer Unbedeutsamkeit begraben.«

Ein Schrei erhob sich irgendwo vor ihnen aus der Bergkette. Es war ein rauher, räuberischer Schrei, und alle drei Reiter sahen sich hastig um.

Als sich nach einigen Sekunden noch nichts gezeigt hatte, wandte sich Kaz an Magus. »Was war das? Kennst du diesen Laut?«

Der Magier hatte seine Fassung wie auch seine Arroganz wiedergewonnen. »Ein Vogel vielleicht. Vielleicht sogar ein Drache. Es würde mich nicht überraschen, wenn es hier welche gäbe.«

»Hier?« Huma kamen plötzlich Visionen von großen, roten Drachen, die auf die hilflose Gruppe herunterstießen. Magus konnte sie vielleicht eine Zeitlang aufhalten, aber weder Kaz noch Huma würden wirklich eine Chance haben. Mit einem Breitschwert konnte man gegen die gepanzerte Haut eines Drachen wenig ausrichten.

Der Pfad schlängelte sich über Hänge und Gärten und um schroffe Ecken. Buoron hatte ihnen erzählt, daß Zwerge, die diese Gegend vor langem verlassen hatten, den Weg geschaffen hatten. Es war der einzige, der Reisenden eine gewisse Hoffnung bot, auf der anderen Seite anzukommen. Die Ritter näherten sich dem Gebirge so wenig wie möglich, nicht aus Angst, sondern weil sie wußten, daß sich selbst die paar Räuber, die in der Gegend ihr Unwesen trieben, von der Bergkette fernhielten.

Der kalte Wind erzeugte unheimliche Töne – wie die Rufe unvorstellbarer, fremder Tiere – und zerrte wild an Humas Mantel.

Magus ritt voran, weil nur er eine genaue Vorstellung davon hatte, wo sie hin wollten. Huma suchte nach einem Gipfel, der dem auf dem Wandteppich glich, während Kaz damit zufrieden war, einfach zu reiten und die anderen arbeiten zu lassen. Ihm war es ziemlich egal, wonach der Zauberkundige suchte. Seine eigene Gesundheit und die von Huma war alles, was für ihn zählte. Die Rote Robe konnte ruhig umkommen, wenn es nach Kaz ging.

Sie ritten um eine weitere Ecke und befanden sich plötzlich in einer Sackgasse. Magus fluchte. Kaz lachte trotz des finsteren Ausdrucks in den Augen des Zauberers.

Der Pfad lag unter Tonnen von Geröll begraben. Huma blickte hoch und sah eine neue Felsspalte an der Seite des einen Berges. Er versuchte, sich die Kraft vorzustellen, die einen solchen Erdrutsch verursachen konnte.

»Ich lasse mich nicht an der Nase herumführen!« schrie Magus, im Sattel stehend, die Berge an. Er fuhr zu den anderen beiden herum und sagte: »Ein Stückchen hinter uns gab es zwei Abzweigungen. Seht mal nach, ob eine davon dann diese Richtung einschlägt. Ich werde inzwischen überprüfen, ob wir hier irgendwie weiterkommen.«

Der Minotaurus hatte keine Lust, Anweisungen von Magus entgegenzunehmen, doch Huma beschwichtigte ihn. Es würde Kaz nichts helfen, wenn er sich jetzt mit dem Zauberer anlegte.

Während der Zauberkundige die Geröllawine untersuchte, ritten Huma und Kaz zurück. Die Pfade, von denen Magus gesprochen hatte, wirkten kaum benutzt, und einer war sogar von dem mickrigen Gestrüpp verdeckt, das überall in der Bergkette wuchs. Huma wählte den überwucherten Pfad.

Kaz brach auf, um den anderen Weg zu erforschen. Huma sah ihn verschwinden. Dann sprang er vom Pferd. Der Pfad war zu unsicher, und er wollte sich und das Pferd nicht in Gefahr bringen. Besser war es, das Tier zurückzulassen. Wenn sich der Weg weiter oben als gangbarer erwies, konnte er immer noch das Pferd holen und weiterreiten.

Er mußte sein Breitschwert benutzen, um den Pfad vom Dickicht zu befreien. Obwohl die einzelnen Pflanzen schwach waren, wuchsen sie so dicht, daß es ihm vorkam, als würde er sich durch dicke Heuballen arbeiten. Minutenlang mußte Huma ununterbrochen hacken, bevor er vorwärts kam.

Ein erster Blick verriet ihm, daß der steinige Pfad einen Weg nach oben nahm, der Reiten unmöglich und Gehen zu einer langsamen, erschöpfenden Tortur machte.

Unvermittelt stand er dann auf einem kleinen Abhang, der teilweise von der Vegetation verborgen wurde. Huma lächelte erleichtert. Dieser Pfad schien einen Bogen zu schlagen, um sich jenseits der Lawine mit dem ursprünglichen Weg zu treffen. Nach eingehender Untersuchung entschied Huma schließlich, daß der Pfad nicht nur passierbar war, sondern daß er sie auch direkter zu den Gipfeln führen würde, die Magus suchte. Es war auch, wie er erfreut feststellte, ein sehr viel windgeschützterer Weg. Der Ritter drehte um und schlug eine schnellere Gangart ein. Kaz hatte seine eigene Suche inzwischen sicher schon beendet. Er zweifelte auch daran, daß Magus mittlerweile einen Weg um die Geröllawine gefunden hatte. Humas Pfad war bestimmt die beste – und vielleicht einzige – Möglichkeit.

Er kam zu der Stelle, wo sich die zwei Hänge berührten, und stolperte über den steinigen Teil des Weges zurück. Huma trat um eine Ecke – und stand wie angewurzelt vor einer breiten Felswand. »Was –?« stammelte er mit verwundert hochgezogenen Augenbrauen. Er betrachtete die Formation und legte eine Hand auf die Oberfläche. Sie war nur zu echt. Er mußte irgendwo falsch abgebogen sein.

Huma ging zurück und blieb verwirrt stehen. Alles deutete darauf hin, daß er anfangs dem richtigen Pfad gefolgt war. Doch die Felswand sah aus, als stünde sie schon immer dort. Die Oberfläche war moosbewachsen, und die Formation war unten ziemlich verwittert, während sie der Regen oben rundgewaschen hatte.

Schließlich gab Huma es auf und kehrte zu dem anderen Wegstück zurück, das er entdeckt hatte. Obwohl er glaubte, daß es der falsche Weg war, begann er ihm zu folgen. Beim Weitergehen wuchs seine Zuversicht, denn der Pfad schien dorthin zu führen, wo er hin wollte. Bald folgte Huma einer Reihe von Biegungen und Kehren, die ihn fast schwindelig werden ließen. Der Ritter blieb stehen. Dieser Pfad führte eindeutig weiter weg. Er fluchte in sich hinein und kehrte um, um den Weg zurückzuverfolgen.

Der Pfad, auf dem er gekommen war und der eindeutig nach rechts abbiegen mußte, bog nach links ab.

Alles hier war verkehrt. Huma wußte, daß er anfangs einen Fehler gemacht haben konnte, aber nicht dieses Mal. Er hatte sich den Weg sehr genau eingeprägt. Buoron und die anderen hatten gesagt, daß viele Reisende aus diesen Bergen nicht mehr zurückkamen; jetzt kannte er den Grund. Es war, als würden sich die Berge selbst gegen den Unvorsichtigen verschwören, doch Huma wußte, daß es in Wahrheit das Werk eines Sterblichen sein mußte. Seine Gedanken gingen zu Galan Drakos, aber das hier paßte nicht zum Stil des Abtrünnigen. Er erkannte, daß er geführt wurde. Drakos hätte ihn inzwischen schon gefangen. Nein, diese Magie verfolgte einen anderen Zweck.

Mit gezogenem Schwert begann Huma, dem einzigen möglichen Pfad zu folgen.

Es gab nichts Ungewöhnliches, nur Felsen, struppige Büsche und hin und wieder weit oben einen Vogel.

Plötzlich teilte sich der Pfad. Huma hielt inne, doch er vermutete, daß er in Wirklichkeit keine Wahl hatte. Aber wo lang? Er überlegte eine Weile, bis er ein Tock-Tock hinter sich hörte. Huma wirbelte mit gezogenem Schwert herum. Er hatte einen Oger oder vielleicht einen Zauberer aus der Schwarzen Garde erwartet. Statt dessen sah er sich einer Gestalt mit Kapuze gegenüber, die auf einem großen, flachen Felsen saß.

Das Tock-Tock kam von einem Stab, der Magus’ Stab sehr ähnlich war. Er wurde von einer Hand in einem grauen Handschuh gehalten, die teilweise von einem Mantelärmel bedeckt war. Der graue Mantel wiederum verhüllte größtenteils die Gestalt eines – Huma trat näher heran, um sicherzugehen – graugesichtigen Mannes.

Der graue Mann streichelte seinen langen, grauen Bart und lächelte den Ritter kaum wahrnehmbar an.

Huma senkte seine Klinge ein Stück weit. »Wer bist du?« fragte er.

»Wer bist du?« gab der graue Mann zurück.

Der Ritter runzelte die Stirn, entschloß sich aber, das Spiel zunächst mitzuspielen. »Ich bin Huma, Ritter vom Orden der Krone.«

»Ein Ritter von Solamnia.« Die farblose Gestalt sprach, als hätte sie das die ganze Zeit gewußt. Der Stab klopfte weiter auf den Felsen.

»Ich habe deine Frage beantwortet; nun beantworte meine.«

»Ich?« Der graue Mann lächelte, wobei sich graue Zähne zeigten. »Ich bin auch nur ein Reisender.«

Huma zeigte auf die Gegend um sie herum. »Das ist nicht dein Werk?«

»Die Berge? Oh, nein. Soweit ich weiß, sind sie schon lange hier.«

»Ich meine die Wege, die verschwinden.« Die exzentrische Haltung des anderen verärgerte Huma.

»Ich bewege keine Berge. Es ist gut möglich, daß du mit deinen Augen einfach nicht gut genug siehst.« Die Gestalt auf dem Felsen schien regelrecht mit dem Hintergrund zu verschmelzen. Huma bemerkte, daß er selbst nach nur kurzem Wegschauen genau hinsehen mußte, um den Mann wiederzufinden. Zweifellos hatte der Mann schon auf dem Felsen gesessen, als Huma eben daran vorbeigelaufen war. Der Ritter hatte ihn nicht wahrgenommen.

»Bist du ein Zauberkundiger?« wollte Huma wissen.

Das Tock-Tock des Stabs hörte kurz auf. »Also das ist jetzt wirklich eine interessante Frage.«

Das Pochen hörte nicht auf.

»Und?« Huma kämpfte um seine Beherrschung.

Der graue Mann schien einen Moment nachzudenken. Dann zeigte er mit dem Stab auf die zwei Pfade hinter Huma und fragte: »Wolltest du nicht gerade einen Pfad auswählen? Du solltest weitermachen, weißt du. Du könntest zu einem wichtigen Ort gelangen.«

»Na schön. Welchen Weg würdest du wählen?« Huma hielt den Atem an, während er überlegte, ob er wohl eine verständliche Antwort bekommen würde.

Nach weiterem Beratschlagen mit sich selbst zeigte der steinfarbene Mann mit dem Stab auf den linken Pfad. »Der da hat sich als sehr beliebt erwiesen.«

»Danke.« Huma marschierte auf den gezeigten Pfad zu. Mit grauen Männern und Wegen, die kamen und gingen, wollte er nichts mehr zu tun haben. Je eher er fort war –

»Allerdings«, fügte die seltsame Gestalt hinzu, »haben andere festgestellt, daß der rechte Pfad der rechte ist.«

Huma blieb stehen. Er drehte sich um und starrte den grauen Mann kalt an. »Welchen würdest du wählen?«

»Ich gehe nirgends hin.«

Der Ritter betrachtete die beiden Wege. Von seinem Standpunkt aus sahen beide gleich aus. Er konnte nicht nach der Erscheinung urteilen. Er mußte seinem Instinkt vertrauen.

Gezielt ging Huma zu dem rechten Pfad und wanderte los. Er sah sich nicht um, nicht einmal, als das Tock-Tock wieder losging-

Der Abschiedskommentar jedoch ließ ihn kurz innehalten.

»Interessante Wahl.«

Das Tock-Tock hörte auf. Huma drehte sich wütend um. Der Pfad und der graue Mann – waren verschwunden. An ihrer Stelle stand ein hoher, zerklüfteter Berg.


Huma schleppte sich stundenlang über den gewundenen Weg. Er merkte, daß die Sonne schon tief stand. Das bedeutete, daß er bereits den größten Teil des Tages von den anderen getrennt war. Sein lautes Rufen hatte sich als nutzlos erwiesen.

Der Wind hatte aufgefrischt. Huma wagte es, sein Schwert in die Scheide zu stecken, damit er den Umhang fester zuziehen konnte. Er überlegte, wie kalt es wohl in diesen Bergen werden konnte und beschloß dann, lieber nicht daran zu denken.

Wo waren Magus und Kaz? Er hoffte, der Minotaurus und der Zauberer würden einander nicht umbringen, jetzt wo Huma nicht da war, um sie im Zaum zu halten.

Sein Magen knurrte wieder vor Hunger, was sofort ein unbestimmtes Schuldgefühl hervorrief. Fasten war für die Ritter ein Reinigungsritus. Die paar Stunden sollten ihm nichts ausmachen.

An den Büschen am Weg hingen ein paar Beeren, doch die hatten sich als ungenießbar und möglicherweise auch giftig erwiesen. Von Tieren hatte er keine Spur gesehen und nichts gehört wie auf den gelegentlichen Schrei des Wesens, das da draußen lauerte. Ein großer Vogel vielleicht. Wovon lebte er wohl? Von dummen, unvorsichtigen Reisenden?

Schließlich wurde es Abend. Huma wartete auf ein Zeichen von Magus, doch weder Licht noch Geräusch durchdrangen die Dunkelheit. Als die Nacht hereinbrach, war Huma immer noch allein.

Die Nacht war zur Abwechslung einmal hell. Irgendwie schienen die Sterne die Wolkendecke immer zu durchdringen, auch wenn es der Sonne nicht gelang. Besonders ermutigend war, daß endlich Solinari aufging. Jetzt wachte der Gott der Weißen Roben über die Welt, und obwohl Magus die karmesinroten Roben trug, hoffte Huma, daß Solinari auch über seinen Freund wachen würde.

Irgendwann machte Huma dann müde und verwirrt halt für die Nacht. Er war fest entschlossen, bei Tagesanbruch weiterzugehen. Er kroch unter einen Felsvorsprung an einem ziemlich ebenen Platz und wickelte sich in seinen Mantel. Ein Feuer kam nicht in Frage. Huma hatte Schlimmeres überlebt, doch sein Magenknurren irritierte ihn weiterhin, selbst als er schon in Schlaf sank.


Huma bewegte sich. Ein Geräusch, das sich wie das Flattern mächtiger Schwingen anhörte, hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. Als er aus seinem Schutzort spähte, sah er nichts als Nacht und entschied, daß es Steinschlag oder Wind gewesen sein mußte. Bald schlief er wieder weiter.

Hinter einer entfernten Felsnase starrten zwei leuchtende, blutrote Augen den nichtsahnenden Menschen blicklos an. Der Schreckenswolf war nur zum Beobachten hergeschickt, nicht zum Töten – nicht dieses Mal. Doch der ruhende Mensch gab eine befriedigende Beute ab, und die Mißgeburt begann, sich mit gefletschten Zähnen heranzupirschen. Sie setzte zum Sprung an – und eine gigantische Klaue griff blitzschnell zu, um das untote Biest derart zu zerquetschen, daß es sich nie mehr erholen würde. Kein Laut durchbrach die Stille der Nacht.


Die Dämmerung weckte Huma mit dem Gefühl, daß er nicht allein war.

Huma suchte die Umgebung ab. Alles war noch genauso wie am Vortag; es war nur etwas wärmer geworden. Der Hunger quälte ihn noch immer, doch er bekam ihn allmählich unter Kontrolle. Oder er war vielleicht über den Punkt hinaus, wo so etwas noch zählte.

Er wagte es, nach seinen Kameraden zu rufen. Der Wind war schwächer, und Huma dachte, daß man ihn diesmal vielleicht hören würde. Wenn er deswegen das Wesen, das gestern gebrüllt hatte, auf sich aufmerksam machen würde, dann sollte es eben so sein.

Es kam keine Antwort auf seine Rufe, weder von Magier und Minotaurus noch von der unbekannten Kreatur. Huma gab das Rufen auf und folgte weiter dem seltsamen Pfad. Er kümmerte sich mittlerweile nicht mehr darum, ob er seine Schritte noch zurückverfolgen konnte.

Zu seiner freudigen Überraschung wurde der Pfad ebener und leichter begehbar. Und es gab Nahrung – Beeren von einer anderen Strauchart. Als sie sich als eßbar erwiesen, begann er alle zu verschlingen, die er finden konnte. Natürlich konnte das Gift auch langsam wirken, doch Huma kannte diese Pflanzen. Er vermutete, daß das Wesen, welches den Pfad geschaffen hatte, ihn gegenwärtig am Leben erhalten wollte.

Als er irgendwann glaubte, der Pfad würde ewig so weiterführen, hörte dieser unvermittelt vor einem schimmernden Teich inmitten eines Obstgartens auf. Durstig eilte Huma zum Ufer. Wenn so viel Leben das Wasser umgab, konnte es nicht giftig sein, daher bückte Huma sich und schöpfte eine Handvoll. Das Naß lief an seinem Kinn hinunter, während er trank. Weil er damit noch nicht zufrieden war, kniete er sich hin und beugte sich vor, um direkt aus dem Teich zu trinken.

Ein Drachengesicht starrte ihm aus dem Wasser entgegen.

Er sprang vom Ufer zurück und erkannte, daß der Drachenkopf eine Spiegelung war. Als er hochsah, riß er die Augen auf. Huma hatte sein Ziel erreicht.

Ein großer Steindrache, sechsmal so groß wie Huma, saß an der Seite des Teiches. Der Ritter sah, daß er einst ein Gegenstück auf der anderen Seite gehabt hatte. Von dem zweiten Drachen waren nur noch das Podest und ein Teil des Kopfes übrig. Beide schienen aus Marmor oder einem ähnlichen Stein gehauen zu sein.

Der noch Stehende erwies sich als Silberdrache, während der Zerbrochene ein Golddrache gewesen war.

Huma trank, bis er seinen Durst gelöscht hatte. Als er fertig war, blickte er geradeaus, wo er einen von Schlingpflanzen überwucherten Eingang entdeckte, der buchstäblich in den Berg geschnitten war. Um die Öffnung herum waren kleine Zeichen gemeißelt, von denen die meisten verwittert waren. Ein paar jedoch waren noch klar und deutlich erkennbar, vielleicht weil sie von dem dichten Bewuchs geschützt gewesen waren. Huma wünschte sich verzweifelt, die Symbole entziffern zu können.

Er schob die dicken Lianen zur Seite, um hineinzusehen. Innen hätte es dunkel sein müssen, doch er konnte einen schwachen Schein sehen. Fast als hätte jemand Fackeln angezündet, um ihm den Weg zu weisen, dachte er beunruhigt.

Mit einem resignierten Seufzer trat er in den Berg ein. Der höhlenartige Eingang hätte feucht und modrig sein sollen. Statt dessen war es, als hätte er die Ratskammer von Burg Vingaard betreten. Es war warm und trocken, und Wände und Decke waren glatt.

Er brauchte eine Weile, um den gesamten Gang zu durchmessen, wobei er sich ständig auf das vor ihm flackernde Licht konzentrierte. Er brachte das letzte Stück hinter sich. Etwas spät erinnerte er sich an sein Schwert und zog die Waffe. Der Gang führte in eine große Halle, die einst der Thronsaal eines großen Königs oder Kaisers gewesen sein mußte. Sie war sehr hoch; es war eine perfekte, natürliche Höhle. Das Licht stammte wirklich von Fackeln, und Huma fragte sich, wer sie wohl angezündet hatte.

Metallstatuen von Rittern mit Rüstung säumten die Wände. Sie waren leblos – aber sehr lebensecht. Es konnten durchaus Posten sein, die bis zum Einsatz schlafen geschickt worden waren – oder Untote, die jeden Eindringling erschlagen sollten.

Huma trat mitten in den Raum und betrachtete den Boden. Jetzt konnte er das in den Stein eingelassene Bild erkennen. Mehr als alles andere machte es ihm Mut, denn es war eine riesige Darstellung von Paladin selbst: als Platindrache. Der Drache ringelte sich von einem Ende des Raums zum anderen, und wenn der Ritter seinem Urteil trauen durfte, waren die Konturen wirklich aus Platin. Huma bestaunte das kunstvolle Werk.

Sein Blick schweifte zu dem einzigen Möbelstück in der Halle, einem hohen, geschnitzten Thron aus einem Holz, das Huma noch nie gesehen hatte, Holz, das einen lebendigen Schein ausstrahlte. Die Ränder des Throns waren mit Edelsteinen besetzt, und auch diese schimmerten im Fackellicht.

Staunend wie ein kleiner Junge wanderte er in der Höhle umher. Viele verschiedene Rüstungen aus verschiedenen Zeiten waren hier versammelt. Mehrmals klappte er ein Visier hoch und sah hinein, fand jedoch nur Staub.

Schließlich stand er einfach da und dankte Paladin, daß er ihn so weit hatte kommen lassen. Er betete auch, daß das Triumvirat über seine beiden so unterschiedlichen Gefährten wachen würde. Dann kniete er ehrfürchtig vor dem Thron.

Seine Ehrenbezeugung wurde jedoch fast augenblicklich gestört. Ein Hämmern wie von Metall auf Metall hallte aus einem der dunklen Korridore. Huma sprang auf und sah sich um, um festzustellen, aus welchem Gang das Geräusch kam.

Das Hämmern erstarb, noch während er so dastand, so daß Huma seinen Ursprung nicht herausfinden konnte.

Huma fiel ein, wo er ein solches Geräusch früher bereits gehört hatte – daheim in Burg Vingaard.

Es war der Klang eines schweren Hammers, der auf einem Amboß glühendes Metall bearbeitete.

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