21

Huma sah den mächtigen Schmied verwirrt an und fragte: »Die was?«

»Die Drachenlanze. Bist du endlich der eine?« Die Augen des Schmiedes verengten sich, während er auf die Antwort wartete, und sein schmallippiger Elfenmund war nur mehr eine dünne Linie in dem überwiegend menschlichen Gesicht. Das »andere« verlieh ihm eine furchterregende, aber schöne Erscheinung, die für keine der anderen drei Rassen typisch war.

»Ich habe die Prüfungen bestanden, angeblich jedenfalls. Der graue Mann hat das gesagt.«

»Der graue Mann hat das gesagt, ja? Auch den alten Wyrmvater?« Die massige Gestalt wartete die Antwort nicht ab. »Ja, ich glaube schon. Er war in letzter Zeit ziemlich ruhig. Es ist irgendwie komisch, ihn nicht mehr toben und wüten zu hören. Ich kann mich nicht daran erinnern, daß es jemals so still war. Ich werde mich wohl daran gewöhnen müssen.« Er zuckte mit den Schultern.

»Habe ich Eure Frage zu Eurer Zufriedenheit beantwortet?« Huma hatte zwar sein Selbstvertrauen noch nicht ganz zurückgewonnen, aber wenigstens seine Würde. Er wollte nicht so maßlos überwältigt erscheinen.

»Allerdings«, flüsterte der Schmied, mehr zu sich selbst und zum Ritter. »Allerdings.«

Der Schmied brach in lautes, herzhaftes Gelächter aus. »Großer Reorx! Ich hab’ geglaubt, ich würde diesen Tag nie mehr erleben! Endlich ist mal jemand hier, der meine Arbeit zu würdigen weiß. Weißt du, wie lange es her ist, seit ich mit jemandem vom Fach geredet habe?«

»Was ist mit denen da?« Huma zeigte auf die schemenhaften Gestalten hinter dem Schmied. Sie wirkten ungerührt.

»Die? Das sind meine Gehilfen. Die müssen meine Arbeit mögen. Aber die können den wahren Wert einer Drachenlanze nicht so schätzen wie ein Ritter. Paladin, wie lange habe ich gewartet!« Die Stimme des Riesen dröhnte durch die Höhle.

»Aber ich vergesse mich.« Unvermittelt wurde die Stimme des Schmiedes leiser und sein Gesicht streng. Huma stellte fest, daß seine plötzlichen Stimmungswechsel sehr gut zu seinem eigenartigen Gesicht paßten. »Ich bin Dunkan Eisenwirker, Meisterschmied, Rüstungsbauer und Schüler von Reorx persönlich. Ich warte schon so lange auf dein Kommen, daß ich gar nicht mehr daran denken mag. Seit vielen Jahren befürchte ich, du würdest deinen Fuß nie an diesen Ort setzen, aber ich hätte es besser wissen sollen.« Dunkan Eisenwirker streckte Huma die Hand entgegen, der sie spontan ergriff und erst dann merkte, daß er warmes Metall anfaßte.

Der Schmied bemerkte, wie Huma den künstlichen Arm anstarrte, und grinste. »Wyrmvater hat meinen Arm schon vor Jahren erwischt, als ich noch ein dummer Junge war. Es hat zwar weh getan, aber ich habe den Verlust nie wirklich bereut. Der neue hier ist so praktisch, daß ich mich schon oft gefragt habe, wie es wäre, wenn mein ganzer Körper geschmiedet wäre.« Er schien sekundenlang darüber nachzugrübeln, bevor er merkte, daß er vom Thema abgeschweift war. »Ohne den Silberarm hätte ich natürlich nicht genügend Kraft, um aus dem herrlichen Drachensilber eine Drachenlanze zu schmieden.«

Wieder die Drachenlanze. »Was ist die Drachenlanze? Wenn es das ist, weswegen ich gekommen bin – darf ich sie sehen?«

Eisenwirker riß die Augen auf. »Habe ich sie dir noch nicht gezeigt?« Er schlug sich mit der Hand an die Stirn, ohne den Ruß zu beachten, der an beidem klebte. »Natürlich nicht! Was bin ich durcheinander! Also, los. Komm mit, dann werden wir das Wunder zusammen bestaunen.«

Der Schmied drehte sich um und marschierte in die dunkelsten Tiefen der Kammer. Die vier geisterhaften Gehilfen machten ihrem Meister und dem Ritter Platz. Als Huma sie erreichte, schienen die Helfer in die Dunkelheit geschmolzen zu sein, und das einzige, was er von ihnen sehen konnte, waren vier Augenpaare, die durch ihn hindurch zu sehen schienen.

Einige Schritte vor ihm pfiff Eisenwirker eine Melodie, die entfernt einem solamnischen Marsch ähnelte. Huma wunderte sich, in welchem Verhältnis der Schmied sich wohl zu den Rittern von Solamnia befand und wie lange das schon bestand. Mittlerweile wäre der Ritter nicht mehr überrascht gewesen, wenn er in Burg Vingaard aufgewacht wäre, um festzustellen, daß er alles nur geträumt hatte.

Sie kamen an eine weitere Tür, wo der riesige Schmied stehenblieb und sich Huma zuwendete. »Diese Tür mußt du allein durchschreiten. Ich geh’ zurück an meine Arbeit. Jemand anders wird dich nachher nach draußen zu deinen Gefährten führen.«

Gefährten? Woher wußte Dunkan Eisenwirker von Kaz und Magus? »Und die Drachenlanze?«

»Du wirst sie schon erkennen, wenn du sie siehst, kleiner Freund.«

»Wo kann –?« Huma wollte noch etwas fragen, kam jedoch nicht mehr dazu, seinen Satz zu beenden, weil er plötzlich mit der Luft redete. Er sah in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren, doch selbst die Schmiede war nicht mehr zu erkennen. Nur noch Dunkelheit. Huma ging zögernd ein paar Schritte zurück, um dann angeekelt zurückzuzucken, als sein Gesicht mit einem Spinnennetz von enormer Größe Bekanntschaft machte.

Er spuckte das gräßliche Zeug aus und untersuchte das Netz. Es war alt, ein Werk von Generationen. Dicker Staub bedeckte seine Oberfläche. Hier und da umschloß es rostige Ausrüstungsteile, Schwerter, alte Metallteile – Gegenstände, die ihre Schöpfer schon lange vergessen hatten, bevor Huma überhaupt geboren war.

Aber er war gerade erst aus dieser Richtung gekommen.

Ein beunruhigender Gedanke drängte sich ihm auf: Welche Spinne brauchte ein so großes Netz?

Ohne das Netz aus den Augen zu lassen, streckte Huma die Hand nach der Tür aus. Die Klinke war groß und vom Rost rauh. Sie gab erst nach einigem Rütteln langsam nach. Schließlich ging die Tür auf, nicht ohne eine dicke Staubwolke aufzuwirbeln. Langsam und voller Ehrfurcht betrat Huma den Raum mit der Drachenlanze.

Er sah einen heranstürmenden Hengst mit einer Rüstung aus reinstem Platin, der feurig schnaubte, während er durch den Wind galoppierte. Dann sah er den Reiter, einen kühnen, kampfbereiten Ritter, der seine lange Lanze zum Stoß erhoben hatte. Auch der Ritter war in Platin gekleidet, und das Wappen auf seinem Helm zeigte einen majestätischen Drachen. Über der Brust trug er einen Harnisch mit dem Symbol des Triumvirats: Krone, Schwert und Rose.

Hinter dem Visier, das das Gesicht verdeckte, strahlte lebensspendendes Licht, und Huma wußte, daß es Paladin war.

Der kühne Angreifer sprang plötzlich in die Luft, und gewaltige Schwingen wuchsen aus seinen Seiten. Sein Kopf wurde länger, sein Hals krümmte sich und wuchs, doch er verlor nichts von seiner majestätischen Schönheit. Der platingerüstete Hengst verwandelte sich in einen Platindrachen, und gemeinsam trieben Ritter und Drache die Finsternis vor sich mit Hilfe der Lanze zurück… der Drachenlanze. Sie glänzte aus eigener Kraft, und die Finsternis wich vor ihr zurück. Als Werk der Welt und des Himmels bewies sie die wahre Macht des wahrhaft Guten.

Nachdem die Dunkelheit vertrieben war, landete der Drache vor Huma, der vor ihm auf die Knie fiel. Der Ritter löste die Drachenlanze aus ihrer Halterung und hielt sie der sterblichen Gestalt hin. Zögernd erhob sich Huma und trat langsam vor. Er griff zu und nahm die Lanze entgegen. Dann waren Drache und Reiter verschwunden und ließen Huma mit seinem wundersamen Geschenk allein zurück. Er hielt es in die Höhe und jubelte vor Freude.

Er war schweißgebadet und hatte keine Kraft mehr, doch das störte Huma nicht, denn es war wie die Erschöpfung nach einer glücklichen Ekstase, wenn man das Ziel seiner Wünsche erreicht hatte. In seinem ganzen Leben würde er keinen solchen Freudentaumel mehr erleben.

In reines, weißes Licht getaucht, lag er auf dem Boden des Raumes. Als er auf die Knie kam, starrte Huma in das Licht und war wie erschlagen.

Über ihm stand lebensgroß der Drache. Seine Augen schauten auf den Sterblichen herab, als wäre er gerade erst gelandet. Er war aus reinem Platin, das Werk eines Künstlers mit göttlichen Fähigkeiten. Die Flügel waren ausgebreitet und reichten weit in den Raum hinein. Huma war erstaunt, daß das Metall dieser Belastung standhielt. Jede Schuppe des Drachen, von der kleinsten bis zur größten, war detailgetreu abgebildet. Huma hätte sich nicht gewundert, wenn er geatmet hätte, so echt wirkte er.

Auch der Reiter hätte geradewegs von seinem Himmelsgefährten abspringen können, so wirklich schien er. Wie bei dem Drachen schien auch sein Blick auf Huma zu liegen, selbst wenn man das bei geschlossenem Visier schlecht erkennen konnte. Die Rüstung war ebenso sorgfältig gearbeitet wie die Haut des Drachen. Huma konnte jedes Gelenk, jede Schnalle und sogar die heiligen Gravuren auf dem Brustharnisch erkennen.

Was den Raum erleuchtete, war die Drachenlanze.

Lang und schlank war die Lanze – über fünf Meter lang. Die Spitze lief so scharf zusammen, daß nichts ihren Stoß aufhalten konnte. Zwei Fuß hinter der Spitze ragten auf beiden Seiten scharfe Widerhaken hervor, damit ein Treffer den Gegner teuer zu stehen käme.

Hinten endete die Lanze mit einem geschickt gearbeiteten Schutzschild, der das schreckliche Gesicht eines angreifenden Drachen zeigte, aus dessen Maul der Schaft wie ein Feuerstrahl hervorschoß. Hinter dem Schild hielt der Arm des Platinritters die Lanze kampfbereit.

Huma fühlte sich unwürdig, die Drachenlanze von dem Ritter anzunehmen, so makellos war sie. Dennoch riß er sich zusammen. Er kletterte hoch, um sie aus der Halterung zu lösen, mit der sie am Sattel befestigt war. Die Halterung drehte sich, wodurch Huma mehr Bewegungsfreiheit bekam, doch er wußte nicht recht, wie er die Hand des Platinritters von der Waffe lösen sollte. Als er die Finger berührte, schienen sie sich freiwillig zu öffnen, und die Lanze fiel Huma regelrecht in die Arme.

Die Drachenlanze war schwer, doch das kümmerte Huma nicht. Er war überwältigt, daß ausgerechnet ihm so etwas passiert war – ihm, dem Einfachsten aller Ritter. Daß Paladin ihn damit segnete, war ein Wunder für sich, und als er die Lanze auf den Boden gelegt hatte, sank er für ein Dankgebet auf die Knie. Die Drachenlanze schien noch heller zu leuchten.

Als seine anfängliche Ehrfurcht endlich verflogen war, bemerkte er die anderen Lanzen an den Wänden um ihn herum. Es verdutzte ihn, daß er sie irgendwie übersehen hatte, doch er dankte Paladin wiederum, daß er die Dinge vorhergesehen hatte, denn eine Lanze allein würde sicher nicht reichen. Er zählte insgesamt zwanzig, neunzehn wie seine eigene und eine kleinere, die nicht weniger herrlich war und wohl für Fußsoldaten gedacht war.

Stück für Stück holte er die Lanzen aus ihren Halterungen, wobei er jede mit Ehrfurcht behandelte. Das waren die Werkzeuge, mit denen Krynn von der Drachenkönigin befreit werden sollte. Es würde unzählige Freiwillige geben.

Komischerweise schien es keinen anderen Ausgang zu geben als die Tür, durch die er eingetreten war. Huma fragte sich, wie er die Lanzen aus dem Berg und nach Solamnia bringen sollte. War er so weit gekommen, um dann an einer solchen Kleinigkeit zu scheitern?

Als er sich in der Kammer umsah, fielen seine Augen auf die Gestalt des Ritters, der etwas seitwärts und nach oben blickte, als ob er in einer entfernten Ecke an der Decke etwas suchen würde. Huma drehte sich unwillkürlich um und schaute in dieselbe Richtung.

Zuerst entdeckte er nichts. Doch dann erkannte Huma die fast unsichtbaren Umrisse einer Falltür. Als er hinüber hastete, um die Entdeckung zu untersuchen, fand der Ritter Tritte und Griffe in der Wand unter der Falltür. Es waren einfache Vertiefungen, die man erst sehen konnte, wenn man genau davor stand.

Huma blickte besorgt zu den Lanzen hinüber, die er zusammengetragen hatte. Er ließ sie nur schweren Herzens zurück, aber er wußte, daß er für jede einzelne Hilfe brauchte, wenn er sie aus der Höhle schaffen wollte. Er brauchte Kaz und Magus.

Voller Elan begann er zu klettern. Es war nicht so schwer, wie er erwartet hatte, und bald war er an der Decke. Es erwies sich jedoch als schwierig, die Tür zu öffnen, denn Huma mußte sich gefährlich weit zurücklehnen, um ordentlich drücken zu können. Die Muskeln in der Hand, die ihn vor dem tödlichen Sturz bewahrte, verkrampften sich. Huma hatte seine Handschuhe ausziehen müssen, um besser klettern zu können, und bezahlte jetzt dafür, weil es ihm langsam die Haut von den Fingerspitzen riß.

Als die Tür endlich offen war, seufzte er erleichtert. Wer auch immer diese Tür gebaut hatte, er hatte es besonders schwierig gemacht. Huma bezweifelte, daß er die Gründe dafür erraten konnte. Aber was zählte, war der Weg nach draußen.

Er griff nach oben und fühlte einen kühlen Windhauch über seine Finger streichen. Beim Umhertasten fühlte er, daß etwas Weiches, vielleicht Schnee, den Boden bedeckte. Huma zog sich hoch, indem er beide Seiten des Loches packte.

Draußen war hellichter Tag. Kein Regen. Keine Wolkendecke. Die Sonne schien auf die Berge, und Huma blieb halb im Loch, um sich zuerst an dem Anblick sattzusehen. Wie lange war es her, seit er die Sonne gesehen hatte? Huma konnte sich nicht mehr erinnern. Es war ein herrlicher Anblick und vielleicht ein Zeichen, daß das Schicksal sich gewendet hatte.

Tatsächlich bedeckte eine dünne Schneedecke den Boden. Es gab keine Spuren im Schnee, so daß er allein sein mußte, wenn nicht gerade etwas über ihm flog. Der Himmel war jedoch klar. Klar und blau. Huma hatte fast vergessen, daß der Himmel eigentlich blau war.

Er zog sich aus dem unscheinbaren Loch und prägte sich den Ort dann sorgfältig ein. Der Ritter bemerkte einen großen Stein in der Nähe, den er als Markierung neben das Loch wälzte.

»Ich hatte gehofft, daß du es schaffen würdest. Ich habe darum gebetet. Wenn du es nicht geschafft hättest, weiß ich nicht, was ich getan hätte.«

»Gwyneth!«

Sie trug einen einfachen, silbrigen Umhang. Ihr Haar hing wallend herunter. Jene junge Frau, die sich um seine Genesung gekümmert hatte, hatte keine Ähnlichkeit mit dieser würdevollen – Priesterin? Welche Rolle spielte sie bei der ganzen Geschichte?

»Ich habe es wirklich geschafft, Gwyneth! Gleich unter deinen Füßen liegen die Waffen, die diese Welt von der Drachenkönigin befreien werden!«

Sie lächelte angesichts seiner Überschwenglichkeit und ging auf ihn zu. Ihre Füße schienen den verschneiten Untergrund kaum zu berühren. Huma bemerkte, daß sie keinerlei Spuren hinterließ.

»Erzähl mir davon.«

Er versuchte es, doch die Worte, die aus seinem Mund strömten, waren zu schwach, zu verworren, zu einfach für das, was er beschreiben wollte. Es klang alles so unglaublich, was er Gwyneth von seinen Aufgaben erzählte. Hatte er das wirklich alles erlebt? Wie war der alte Unhold namens Wyrmvater zu dem glänzenden Metallklotz geworden, der viele Male größer war als der Ritter? War die Vision in der Lanzenkammer real gewesen oder nur ein Produkt seiner Phantasie?

Gwyneth hörte mit unbewegter Miene zu. In ihren Augen lag etwas Unergründliches. Als er fertig war, nickte sie weise und sagte: »Beim ersten Mal, als ich dich traf, sah ich deine Größe. In dir fand ich, was so viele andere vor dir nicht besaßen. Du sorgst dich von ganzem Herzen um das Leben auf Krynn. Deshalb haben die anderen versagt: Sie sorgen sich auch, doch an erster Stelle stehen ihre persönlichen Ziele.«

Huma hielt sie an den Armen fest. »Wirst du jetzt genauso verschwinden wie der graue Mann und der Schmied?«

»Das werde ich – für eine Zeitlang. Du mußt deine Gefährten suchen. Wenn du zurückkehrst, wird jemand anderes auf dich warten. Jemand, den du bereits kennst und der dir in der kommenden Zeit beistehen wird.«

»Und Kaz und Magus?«

»Sind ganz nah.« Sie lächelte. »Ich staune, daß die beiden einander so lange ertragen haben.«

»Ich muß sie suchen«, beschloß Huma plötzlich. Es gab viel zu tun. Er verließ Gwyneth nur sehr ungern, auch wenn sie sich wiedersehen würden. Oder nicht?

Ein verlegener Ausdruck trat in ihre Augen, und sie wand sich aus seinem Griff. Sie lächelte noch immer, doch es ließ nach. Jetzt war es eher maskenhaft. »Deine Freunde sind dort.« Sie zeigte nach Osten. »Du gehst jetzt besser zu ihnen. Sie machen sich schon Sorgen um dich.«

Sie drehte sich um und lief schnell und leichtfüßig davon. Huma wäre ihr am liebsten gefolgt, doch er machte sich zu viel aus ihr, um ihre Wünsche nicht zu respektieren. Daß er sie vielleicht nie wiedersehen würde, quälte ihn, doch er mußte sie gehen lassen.

Huma machte sich über den weichen Schnee nach Osten auf. Er stellte fest, daß die Wolkendecke sich nicht verzogen hatte, sondern daß sie nur diesem Gipfel ausgewichen war.

Er war erst zehn Minuten gelaufen, als er eine Stimme vernahm. Da gab es keinen Irrtum: Es war der wütende Kaz. Der Ritter legte einen Schritt zu. Nur eine Person konnte den Minotaurus derart aufregen.

»Wenn ich nur getan hätte, was ich wollte, und dein erbärmliches Leben auf der Stelle beendet hätte. Du hast keine Ehre im Leib und kein Gewissen.« Der Minotaurus hatte sich hoch aufgerichtet. Seine Fäuste verliehen seinen Worten Nachdruck, indem sie die Luft bearbeiteten, als wenn sie das Ziel seiner Vorwürfe wäre.

Magus saß merkwürdig still auf einem großen Stein. Er hatte seinen Kopf in die Hände gestützt und rührte sich nicht, während der Minotaurus ihn beschimpfte. Huma ging langsam auf die beiden zu.

Es war Magus, der sein Kommen als erster spürte. Das Gesicht des Zauberers war blaß und verhärmt, sein Haar stand wild vom Kopf ab. Seine Augen waren tief in ihren Höhlen versunken. Sie weiteten sich, als er den Kopf hob und sein benommener Verstand die Gestalt seines einzigen Freundes erkannte.

»Huma!«

»Was?« Bei Magus’ Ruf fuhr Kaz herum. Er folgte dem Blick des Zauberkundigen. Die Wut in seinen Augen verschwand, und ein breites Grinsen legte sich über das Stiergesicht. Jeglicher Zorn war vorerst verflogen. »Huma!«

Als der Minotaurus vorwärts rannte, schien Magus sich einzuigeln. Er schaut mitleidig in Humas Richtung, schloß sich jedoch Kaz nicht an, um den verlorenen Gefährten zu begrüßen.

Der Minotaurus zerquetschte Huma beinahe mit seiner Umarmung. Kaz sah mit strahlendem Lächeln auf ihn herunter, dann hob er den fassungslosen Ritter plötzlich hoch und wirbelte ihn herum. In den Händen des riesigen Tiermenschen kam sich Huma vor wie ein Kind.

»Wo warst du denn? Ich habe dich gesucht, aber ich konnte dich nicht finden. Ich habe immer wieder gesucht und gerufen, aber nur der Wind und dieses schreckliche Wesen haben geantwortet. Sarg… Götter! Irgendwann dachte ich, du müßtest tot sein.« Er setzte Huma ab. Kaz drehte sich zu Magus um, der zurückwich, als hätte man ihn geschlagen. »Als ich dem da erzählt habe, was passiert war, hat er als erstes einen richtigen Freudenschrei ausgestoßen.«

»WAS?« Huma starrte Magus an. Sein Jugendfreund wich dem Blick aus.

Kaz zeigte mit dem Finger auf den Ritter. »Weißt du, warum du ihm so wichtig warst? Nicht aus Freundschaft. Nicht wegen deiner Fähigkeiten. Seine verrückte Vision hat ihn davon überzeugt, daß hier in der Gegend irgendwo ein Geschenk von Paladin liegt, aber daß er bei dem Versuch, es zu holen, sterben würde. Deshalb wollte er dich an seiner Stelle schicken. Du solltest die Gefahren auf dich nehmen, die ihn getötet hätten! Dein Leben war nicht so wichtig!« Der wütende Krieger lachte kalt. »Kannst du das begreifen? Er behauptet, ein Ritter in sonnenstrahlender Rüstung würde ihn mit einer Lanze von unermeßlicher Macht durchbohren – hast du jemals so einen Blödsinn gehört?

Als er dich für tot hielt, glaubte er, die Vision wäre für immer verändert. Er glaubte fest daran, daß er das große Geheimnis sofort entdecken würde und es dann im Andenken an dich und zu seinem Ruhm benutzen könnte.«

Kaz hielt inne, um Luft zu holen. Diesen Augenblick nutzte Huma, um Magus zu stellen. Der Zauberer sah ihn fast ängstlich an und wich zurück. Huma streckte die Hand aus, doch Magus wollte sie nicht nehmen.

Der Minotaurus tauchte hinter Huma auf. »Als wir weder Pfad noch Höhle fanden, brach er allmählich zusammen. Ich hätte nie gedacht, daß er ein schlechtes Gewissen haben könnte. Ich schätze, daß ich da etwas nachgeholfen habe. Ich habe ihn nämlich Tag und Nacht daran erinnert, was er getan hat. Wie du ihn für einen guten Freund gehalten hast.«

Huma beugte sich vor. Mit leiser Stimme sagte er: »Magus. Hab keine Angst. Ich hasse dich nicht für das, was du getan hast. Du warst nicht du; das warst du nie.«

Der Schatten des Minotaurus fiel über die beiden. Magus drehte sich weg.

»Was redest du da, Huma?« wollte der Minotaurus wissen.

»Der da hat dich verraten, hat schon geplant, dich zu verraten, bevor wir beide uns überhaupt getroffen haben. Und nur wegen so einer dummen, blödsinnigen Wahnidee!«

»Du warst nicht dabei!« fuhr Huma ihn an. »Ich habe davon gehört, wie echt die Prüfungen sind. Manchmal passieren sie nur im Kopf; manchmal finden sie tatsächlich statt. In jedem Fall kann der geprüfte Zauberer sterben.«

»Magus«, flüsterte Huma seinem von Reue geplagten Freund zu. Der Zauberkundige schien am Rande des Zusammenbruchs zu stehen. Es war ihm wahrscheinlich so vorgekommen, als ob der Geist des Ritters zurückgekehrt war, um den zu verfolgen, der ihn verraten hatte. »Magus. Vergiß die Vision. Du hattest recht mit dem Berg. Ich habe gefunden, wonach wir gesucht haben.«

Die Augen des Zauberers wurden groß, um sich dann wieder zu verengen. Er begann sich zu beruhigen. »Du hast es gefunden?«

»Ja. Ich habe mich den Prüfungen des Berges gestellt und sie bestanden.«

»Wovon redest du da?« schnaubte Kaz. »Was für Prüfungen?«

Huma erzählte kurz, was sich im Berg abgespielt hatte. Bei der Geschichte von Wyrmvater flackerte ein seltsames Licht in Magus’ Augen auf, der stammelnd bekannte, daß er vor Jahren die Herkunft der kleinen Statue zurückverfolgt hatte, ohne jedoch mehr als ein paar Bruchstücke von Legenden in Erfahrung zu bringen. Rennards Verrat erschütterte beide Zuhörer. Magus war mit Huma aufgewachsen und hatte sich oft gefragt, wer wohl der Vater des Ritters sein mochte.

»Bei fünfundzwanzig Generationen meiner Vorfahren! Wenn ich nur hätte dabei sein können, als du mit dem Vater aller Drachen gekämpft hast. So ein Kampf, und ich mußte ihn verpassen.« Der Minotaurus schüttelte den Kopf.

Der Ritter verzog das Gesicht. »Es war mehr ein Kampf auf Leben und Tod als alles andere. Und ich hatte viel Glück dabei.«

»Das finde ich nicht. Ich glaube nicht, daß Glück bei diesen Prüfungen eine Rolle spielt. Wie viele hätten so gehandelt wie du? Wie viele wären davongerannt oder hätten zitternd vor dem Drachen gestanden? Viele Minotauren hätten die ganze Sache für Wahnsinn gehalten.«

Magus zupfte Huma am Arm wie ein kleines Kind. »Die Drachenlanze? Hast du sie dabei? Ich muß sie sehen!«

Eine dicke, geballte Faust erschien vor dem Gesicht des Magiers. »Du wirst überhaupt nichts sehen!«

Huma nahm den Zorn des Minotaurus in Kauf, als er dessen Faust nach unten stieß. Kaz funkelte Huma an, riß sich dann aber zusammen.

»Dazu brauche ich eure Hilfe«, erklärte Huma den beiden. »Vielleicht wartet noch jemand darauf, uns zu helfen, aber ich brauche euch jetzt, um die Lanzen aus der Höhle zu ziehen. Bis auf eine sind alle mehr als doppelt so lang wie du, Kaz. Das wird schwierig.«

»Wir schaffen das schon, und dieser Wurm da wird uns helfen.«

Magus wurde blaß, aber er stand seinen Mann. »Ich tue genauso viel wie du – wahrscheinlich sogar mehr.«

Der Wind peitschte dem Minotaurus seine Mähne ins Gesicht, was ihm ein besonders wildes Aussehen verlieh. »Das werden wir ja sehen, Zauberer.«

»Schluß jetzt!« schrie Huma. Wenn nötig, würde er die Lanzen alleine herausholen. »Wenn ihr mitkommen wollt, dann kommt. Von mir aus könnt ihr auch hierbleiben und euch streiten, bis ihr eingeschneit seid!«

Er stapfte davon. Einen Augenblick später folgten ihm die anderen ohne weiteren Kommentar.

Er hatte den Ort so gut wie möglich markiert. Der Stein lag noch da, wo er ihn hinterlassen hatte. Er machte einen Schritt darüber und griff nach unten. Kaz und Magus sahen neugierig zu, besonders als Humas Hand nur auf harte Erde stieß und nicht das fand, was da sein sollte.

»Was ist los?« fragte Kaz.

»Ich kann es nicht finden! Ich kann es nicht finden!«

Die anderen gingen ebenfalls auf die Knie und begannen, den Boden abzusuchen.

»Ihr braucht nicht weiter zu suchen«, sagte eine Stimme. »Die Drachenlanzen sind in Sicherheit und erwarten ihre Reise in die Welt!«

Die Stimme kam von oben. Kräftiger Wind beutelte die drei und zwang sie, zurückzuweichen. Die Stimme entschuldigte sich, und die großen Flügel schlugen langsamer, als der majestätische Drache auf einem nahen Felsvorsprung landete.

»Ich habe den Ruf vernommen«, sagte eben jener Silberdrache, der Huma und Kaz vor so langer Zeit beigestanden hatte. »Die Lanzen sind bereit und erwarten uns an einem sicheren Ort.« Die Drachendame schaute den Ritter an. »Über den nächsten Schritt mußt du entscheiden, Huma.«

Загрузка...