20

Stille.

Das Wichern der ankommenden Pferde; die Schreie der entsetzten Dorfbewohner, die glaubten, daß die Pest ausgebrochen war; der Tumult der Hufe – selbst der Wind: Alles verstummte plötzlich.

Die Stille wurde nur durch das ferne Hämmern von Metall auf Metall unterbrochen.

Langsam und ungläubig hob Huma den Kopf aus den Händen und sah sich mit großen Augen um. Die verwüsteten Felder um Burg Vingaard, die gesamte Umgebung war auf einmal verschwunden.

Was jetzt vor ihm stand, war der Spiegel – derselbe Spiegel, durch den er Tage zuvor gestürzt war. Alles, was er jetzt zeigte, war die Gestalt eines mitgenommenen Ritters.

Er war wieder in Wyrmvaters Höhle.

War es wirklich geschehen? Das erschien ihm zunächst unwahrscheinlich. Es war wohl eher eine Illusion gewesen. Aber Huma fühlte die Schmerzen, die er in diesem scheinbaren Traum erlitten hatte. Ein Alptraum also. Ein sehr lebensechter Alptraum. Denn Rennard war wirklich tot.

Huma lehnte sich zurück und streifte die Handschuhe ab. Während er sich die Augen rieb, starrte er den verfluchten Spiegel an. Er war gleichermaßen wütend wie erleichtert. Wütend, weil er sich wie eine willenlose Marionette vorkam; erleichtert, weil er nun seine Mission fortsetzen und sich vielleicht wieder mit Kaz und Magus treffen konnte.

Wo die wohl die ganze Zeit steckten?

Huma starrte weiter in den Spiegel. Der Schock über Rennards Verrat und Tod saß tief. Rennard war tot, und Huma würde für ihn beten, doch die Ritterschaft – nein, ganz Ansalon – hatte noch eine Chance, wenn das stimmte, was man Huma erzählte hatte: daß irgendwo in diesen Bergen der Schlüssel zum Sieg lag.

Sein Spiegelbild starrte ihn aus dem Spiegel an. Endlich wurde Huma bewußt, was er da sah.

Rasch stolperte er vorwärts. Einen Augenblick lang hatte Huma vergessen, was in der Schatzkammer vorgefallen und was ihm passiert war. So wenig es zu glauben war, er hatte Wyrmvater praktisch aus seinen Gedanken verdrängt.

Wenn hier genausoviel Zeit vergangen war wie in Burg Vingaard, dann hätte bei dem riesigen Körper bereits die Verwesung eingesetzt. Aasfresser aller Art wären aufgetaucht.

Der riesige Kopf und der Hals lagen immer noch genau da, wo sie hingefallen waren. So weit, so gut. Doch erstaunlicherweise hatte sich Wyrmvaters enormer Leib in Metall verwandelt, reinstes Metall, glänzender als Silber. Gleichzeitig ähnelte es jenem anderen Metall mehr als irgend etwas sonst. Er ließ seine Hände darüber gleiten, spürte die glatte Oberfläche und staunte über diese enorme Menge. Da ihm kein besserer Name einfiel, nannte er es Drachensilber.

Er stolperte ungeschickt um den Silberberg herum. Irgendwo in den massiven Kiefern verbarg der riesige Leichnam das Schwert, das zu Huma gesprochen hatte. Er war sich sicher, daß es ihn gerufen hatte, und er war sich ebenso sicher, daß er es haben mußte. Auch wenn Huma aus diesem Abenteuer keinen weiteren Gewinn ziehen konnte – dieses Schwert mußte er haben.

Der Kopf des toten Titanen lag verkehrt herum. Huma stellte fest, daß der Unterkiefer schwer auf dem Oberkiefer ruhte. Das bedeutete, daß das Schwert unter reinem Metall begraben und unmöglich zu bergen war. Wütend schlug Huma mit der Hand gegen die harte Drachenschnauze. Der Schmerz brachte ihn wieder zu Verstand, und er fragte sich, wieso ihn das alte Schwert so in Bann schlug. Am besten sollte er –

Sein Fuß stieß gegen etwas, und es schepperte. Huma sah nach unten und erblickte genau das, was er gesucht hatte. Mit einem überraschten Ausruf fiel er auf die Knie, um die Waffe regelrecht in die Arme zu schließen. Jetzt sollte sie ihm gehören. Wenn das kein Zeichen war!

In dem Moment, wo seine Hände es berührten, begann das Schwert wieder zu schimmern. Huma sonnte sich glücklich in seinem Glanz, der ihn die schrecklichen Ereignisse der letzten Tage vergessen ließ. Vorsichtig steckte er das Schwert in die Scheide und kletterte auf das Ungeheuer. Wyrmvaters Hals erwies sich als ausgezeichnete Rampe, von der aus Huma in einen der oberen Tunnel klettern konnte. Dort konnte er endlich nach dem geheimnisvollen Schmied suchen. Der mußte nämlich sein eigentliches Ziel sein.

Jetzt, nachdem er das Schwert hatte, interessierten ihn weder die unzähligen Goldhaufen noch die glitzernden Edelsteine. Zwar faszinierte ihn auch der Spiegel, aber den konnte er unmöglich in der Höhle mit sich herumschleppen. Er tröstete sich mit dem Gedanken, daß er schließlich zurückkehren konnte, wenn er seine Aufgabe mit Erfolg gelöst hatte.

Mit dem anständigen Schwert in der Hand war Huma nun sehr viel zuversichtlicher, als er den erstaunlich langen Hals von Wyrmvater hinaufkletterte.

In den darüberliegenden Tunneln leuchtete der Fels, wenn auch nicht so stark wie in den tiefer gelegenen. Huma konnte keine weiteren Unterschiede zwischen diesen und den anderen Gängen feststellen. Überall gab es dunkle Stellen. Da er jetzt eine Waffe hatte, die seiner wert war, stieg Huma kühn vom Hals des versteinerten Lindwurms und betrat den nächstbesten Tunnel.

Die Zeit verrann, und da er nur immer von einem Gang in den folgenden lief, wurde er ungeduldig. Wo warteten die Prüfungen auf ihn? Wyrmvater war die erste gewesen, doch Huma wußte, daß noch zwei weitere kommen mußten. Im Vergleich zu der Begegnung mit dem entsetzlichen Untier konnten sie nur leichter sein. Vielleicht reichte es sogar als Prüfung aus, Wyrmvater gegenüber zu treten.

Seine Hand strich über den Griff des Schwertes. Vielleicht brauchte er aus diesem Berg gar nichts anderes mehr. Das Schwert allein war eine ganze Armee wert, und Huma beherrschte es.

Seine Ungeduld wuchs, als er weiterhin den scheinbar endlosen Gängen folgte. Huma wollte diesen Ort nur noch hinter sich lassen. Die Prüfungen waren ihm inzwischen egal. Er brauchte doch nur die Klinge. Was konnte die Höhle ihm bieten, das besser wäre als eine so mächtige, herrliche Waffe?

Plötzlich schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf: Nach allem, was Huma geleistet hatte, würde Fürst Oswal ihn sicherlich belohnen. Er hatte nicht nur eine sehr wertvolle Waffe geholt, sondern auch Rennard entlarvt und dem alten Ritter das Leben gerettet.

Ein großes Kommando war immer Humas Traum gewesen. Dann konnte es auch nicht mehr lange dauern, bis er eine ganze Armee befehligen würde.

Ein Lächeln breitete sich langsam über sein Gesicht aus.

»Keinen Schritt weiter.«

Huma hatte die Gestalt vor ihm überhaupt nicht bemerkt. In dem langen, fließenden, grauen Mantel verschmolz die Gestalt völlig mit ihrer Umgebung, besonders hier, wo es so viel Schatten gab. Gesicht, Zähne und Zunge der Gestalt waren grau. Die einzige, auffällige Veränderung seit seiner vorherigen Begegnung mit dem grauen Mann war, daß er diesmal nicht lächelte.

»Du schon wieder!« Huma freute sich, den seltsamen Zauberer zu sehen – falls er denn einer war –, weil er jetzt jemanden hatte, vor dem er prahlen konnte. »Ich habe deine Prüfungen mit Leichtigkeit bestanden! Ich bin gekommen, um meinen Preis zu holen – auch wenn das eigentlich gar nicht mehr so wichtig ist.«

»Natürlich. Laß dein Schwert, wo du bist, und geh weiter.«

»Mein Schwert?« Der graue Mann hätte genausogut um seinen Arm bitten können.

»Dein Schwert. Ich habe die Akustik hier drin immer für ganz gut gehalten. Habe ich mich da getäuscht?« Jetzt war das Gesicht des Zauberers so undurchdringlich, wie das von Rennard immer gewesen war.

»Warum?« Huma befürchtete nicht, sich verdächtig zu machen. Der graue Mann war höchstwahrscheinlich ein Handlanger der Drachenkönigin. Inzwischen fürchteten wohl selbst die Götter Humas Macht – und warum auch nicht?

»Dieser Gegenstand ist in den Höhlen nicht erlaubt. Er sollte nirgendwo erlaubt sein.«

»Der hier?« Der Ritter hielt das prachtvolle Schwert über seinen Kopf und bewunderte dabei seinen hellen Glanz. Er hatte es gleich für eine gute Arbeit gehalten, aber seine jetzt erst zu vollem Glanz erweckte Schönheit ließ einem den Atem stocken. Es aufgeben? Nicht ohne Kampf!

»Dieses ›herrliche‹ Schwert, das du da hast, trägt den Namen Schwert der Tränen. Es stammt aus dem Zeitalter der Träume. Mit dieser Klinge hat Takhisis die Rasse der Oger verführt, sie von der Schönheit entfremdet, bis fast alle vom Pfad abgekommen waren. Man sagt, es sei die Waffe, mit der der Held der Finsternis im letzten Gefecht vor dem Jüngsten Tag das Licht herausfordern wird. Es ist von Grund auf böse und sollte verbannt werden. Wenn man sich das aussuchen könnte.«

»Du täuschst dich. Es ist der Schlüssel zu unserem Sieg. Sieh doch!«

Der graue Mann bedeckte seine Augen. »Ich habe hingesehen. Viele Male. Seine verruchte Leuchtkraft erzürnt mich noch nach all diesen Jahrhunderten.«

Huma senkte die Klinge, aber nur soweit, daß er damit auf den Mann deuten konnte, der ihm im Weg stand. »Ist es das wirklich? Oder bist du einer, der das Licht als solches scheut? Ich glaube, du bist derjenige, der gefährlich ist.«

»Wenn du nur dein Gesicht sehen könntest.«

»Mein Gesicht?« Huma lachte hochmütig. »Das Schwert der Tränen, sagst du. Könnte es nicht so heißen, weil die Drachenkönigin Tränen vergießen wird, wenn sie schließlich einer stärkeren Macht als ihrer eigenen gegenüber steht?«

Das Gesicht des grauen Mannes verzog sich zu einer Miene des Abscheus. »Ich merke, daß diese scheußliche Klinge nichts von ihrer Zauberkraft verloren hat.«

»Ich habe dein Gezeter lang genug ertragen. Läßt du mich jetzt endlich durch?«

Der Wächter hob seinen Stab auf Augenhöhe. »Nicht mit dem Schwert.«

Huma lächelte und stach mit dem Schwert in die linke Wand. Die Klinge senkte sich in den Stein, als bestünde der Fels aus geronnener Milch. Die Waffe glühte smaragdfarben auf. Mit der gleichen Leichtigkeit zog der Ritter sie heraus. Sie war unversehrt, doch die Stelle in der Wand hatte ihr natürliches Leuchten verloren.

Der graue Mann verzog nur die Lippen und sagte spöttisch: »Stich doch noch einmal zu. Aber paß auf, der Berg könnte zurückschlagen.«

Huma funkelte ihn wütend an. »Deine letzte Chance. Gehst du zur Seite?«

»Nicht bevor du dich von dem Schwert getrennt hast.«

»Dann bahne ich mir einen Weg durch dich.«

»Wenn du kannst.«

Der Ritter erhob das Schwert der Tränen, das noch heller zu strahlen schien, und machte einen Schritt vorwärts. Der graue Mann gab seine Verteidigungshaltung auf und warf seinen Stab zu Boden. Huma stand verblüfft da.

»Du gibst also auf?«

Die verhüllte Gestalt schüttelte den Kopf. »Wenn du weitergehen willst, mußt du mich erschlagen.«

›Erschlag ihn!‹ rief eine Stimme in Humas Kopf. Der grüne Glanz des Schwerts der Tränen erhellte jetzt den ganzen Tunnel. ›Erschlag ihn!‹ wiederholte die Stimme.

»Das ist – « Huma kämpfte, um den Gedanken zu Ende zu denken. Die Stimme wurde drängender. ›Erschlag ihn und hol dir deinen Preis.‹

» – unrecht!«

»Gib das Schwert auf, Huma. Dann bist du frei.«

»Nein!« Das Wort drang aus dem Mund des Ritters, doch nicht er war es, der es ausgesprochen hatte. Es schien vielmehr aus der Klinge selbst zu kommen, die jetzt auch Humas Arm hob, als wolle er den grauen Zauberer zermalmen.

»Nein!« Diesmal war es Huma, der sprach. Er taumelte gegen die Wand und betrachtete mit entsetztem Abscheu das Ding in seiner Hand. Es glänzte so hell, daß sogar der graue Mann sich abwendete.

›Nimm mich! Schwing mich! Laß mich in Blut schwelgen! Ich muß meiner Herrin die Welt erobern!‹

»Nein!« Humas Widerstand wurde standhafter, und der Schreck in seinen Augen machte Zorn Platz. Er hatte sich von dem bösen Zauber des Gegenstands befreit. Die Klinge hatte das Unmögliche von ihm verlangt – jemanden zu erschlagen, der das weder verdient hatte, noch sich zu verteidigen versuchte. Huma war bei Rennard nicht zu einer solchen Tat in der Lage gewesen, und auch jetzt war er nicht dazu fähig.

Machtwellen drangen aus dem Schwert in Humas Körper ein, so daß er vor Schmerz aufschrie und zu Boden geworfen wurde. Es war, als würde jede Faser seines Körpers entzweigerissen. Er sah nur das Grün, fühlte nur den Schmerz, hörte nur das unablässige Kommando des Schwertes der Tränen, das seinen Willen brechen wollte.

»Huma!« Eine andere, bekannte Stimme versuchte, Einfluß auf ihn zu nehmen. Er griff nach der Rettungsleine und konzentrierte sich.

»Du mußt dich willentlich von ihm trennen – völlig –, sonst nimmt sich das Teufelsschwert deinen Körper und deine Seele.«

Völlig? Huma kämpfte wieder gegen den Schmerz. Jetzt sah er nur zu deutlich, daß das Schwert der Tränen auf seine eigenen, verschlagenen Ziele hinarbeitete und niemals jemandem wirklich dienen würde. Diese Erkenntnis verlieh Huma die Willenskraft, die er brauchte.

»Ich will dich nicht!« Er hielt das Schwert mit ausgestreckten Armen vor sich. Es machte ihn krank. »Ich will nichts von dir, und deshalb hast du keine Macht über mich!«

Der Schmerz ließ nach. Huma nutzte seinen Vorteil. Langsam verdrängte er die Gegenwart des Gegenstands aus seinem Kopf, denn er verschmähte es, weil es keine wahre Macht besaß. Der Smaragdglanz ließ zusehends nach.

›Meister‹, rief es. ›Du bist ein wahrer Meister.‹

Es unterwarf sich seinem Geist. Humas Selbstvertrauen wuchs, bis ihm ein Gedanke durch den Kopf schoß. Jetzt, wo er es besiegt hatte, konnte er es da nicht ungefährdet benutzen?

Nein! Huma schob den Gedanken beiseite. Schweiß tropfte von seiner Stirn. Aus seinem Gesicht war das Blut gewichen.

Huma schleuderte das dämonische Schwert weit durch den Gang, und im gleichen Moment glaubte er einen irren Schrei zu hören. Das Schwert prallte klirrend an die gegenüberliegende Wand, wo es auf den Boden fiel. Sein Glanz war fast völlig verschwunden.

»Niemals«, keuchte Huma. Mit den Händen auf den Knien lehnte er an der Wand. »Nicht um alle Macht der Welt.«

Die starke Hand des grauen Mannes legte sich auf Humas Schulter. »Du hast nichts mehr zu befürchten. Das Schwert der Tränen ist nichts. Nichts als Rauch im Wind. Siehst du?«

Huma sah auf. Das Teufelsschwert zuckte und begann zu verschwimmen und durch den Stein ins Nichts zu sinken. Innerhalb von Sekunden war keine Spur mehr von ihm oder dem bösen Wesen darin zu sehen.

»Wo ist es?«

»Hoffentlich wieder da, wo es hingehört. Dieses Ding hat seinen eigenen Kopf, aber das weißt du ja jetzt. Ich glaube, ich habe es an einen Ort geschickt, von dem es sich nicht so schnell wieder befreien kann.«

Der Ritter schaute ihn an. »Du hast mich gerettet – und meine Seele.«

»Ich?« Der graue Mann wirkte leicht amüsiert. »Ich habe dir doch bloß ein paar nette Vorschläge gemacht. Du warst es, der den eigentlichen Kampf bestehen mußte. Und du hast es überstanden.«

»Was jetzt?« Huma richtete sich langsam auf. Sein Kopf schmerzte. Er glaubte nicht, daß er jetzt zu irgend etwas in der Lage war. Huma lehnte sich wieder an die Wand.

»Jetzt?« Der graue Mann lachte erheitert. Huma wußte nicht, was so lustig sein sollte. »Jetzt… gehst du vorbei und holst dir deinen Preis. Du hast alle drei Prüfungen bestanden.«

»Bestanden – « Der Ritter schüttelte traurig den Kopf. »Du mußt dich irren. Ich bin gerade noch mal mit dem Leben davongekommen, von meiner Seele ganz zu schweigen.«

»Du lebst. Ja. Das ist der Sinn des Ganzen. Um das Leben zu kämpfen.«

»Wyrmvater. Das Schwert der Tränen. Das sind nur zwei Prüfungen. Außer – «

Die Wahrheit traf Huma unvorbereitet.

Der graue Mann zeigte ein betrübtes, graues Lächeln. »Dein Ausflug durch den Spiegel war kein Zufall. Ein dunkler Fleck hatte sich im Herzen der Ritterschaft breit gemacht, und wer könnte es besser von solcher Verruchtheit befreien als einer aus ihren eigenen Reihen? Die meisten wären wohl glücklich darüber gewesen, Rennard zu erschlagen, ohne ihm Gelegenheit zu lassen, sich zu ergeben. Du wolltest ihn auch da noch retten. Das – die Hingabe an das Leben – ist es, was die Ritterschaft in erster Linie anstrebt.«

Huma richtete sich wieder auf, um in den scheinbar endlosen Tunnel hinter dem grauen Mann zu starren. Dann drehte er sich zu der verhüllten Gestalt zurück.

»Bist du Paladin?«

Der graue Zauberer lächelte verschmitzt und rieb sich die Nase. »Das könnte ich so sagen, aber ich tue es nicht. Sagen wir es mal so: Das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse muß aufrechterhalten werden, und ich bin einer von denen, die sich darum zu kümmern haben – so wie du, auch wenn ich fürchte, daß mein Beitrag nur gering ist im Vergleich zu deinem.«

Er ließ Huma keine Gelegenheit, etwas zu entgegnen. »Es ist Zeit, daß du durch diesen letzten Tunnel gehst und dir deine Belohnung holst. Wie schon gesagt, du mußt ohne Waffen gehen. Deine einzige Waffe ist dein Glaube.«

Der graue Mann hob die Hand und hielt zwei Dolche darin. Huma faßte sich an den Gürtel: Seine Dolche waren verschwunden. Jetzt gehörten sie dem grauen Mann, doch dieser war inzwischen genauso verschwunden. Nur der Gang tat sich vor Huma auf.

Er machte einen Schritt vorwärts in den dunklen Tunnel.

Huma sprach zwei Gebete – eins an Paladin, das zweite an Gilean, den Herrn der Neutralität – und ging in die Finsternis.

Huma war lange gelaufen, als ihn die ersten Echos des Hammers erreichten. Sie schienen weder nah noch fern zu sein, und die Lautstärke war immer die gleiche. Es war nicht mehr so laut wie in der großen Höhle, wo der riesige, zum Wahnsinn getriebene Lindwurm unter Qualen gebrüllt hatte. Statt dessen erfreuten die Klänge des fleißigen Schmieds den Ritter, weil sie ihm den Teil seiner Ausbildung ins Gedächtnis riefen, bei dem er Grundbegriffe des Handwerks gelernt hatte. Alle Ritter mußten sich eine gewisse Fertigkeit darin aneignen, denn jeder konnte in die Lage kommen, daß er eine Rüstung reparieren oder ein Pferd beschlagen mußte. Ein guter Schmied, so hieß es in der Ritterschaft, konnte mit einem Amboß, einem Hammer und rotglühendem Metall praktisch alles anstellen.

Wer auch immer an diesem Amboß arbeitete – es mußte ein starker Mann sein, überlegte Huma, denn der Hammer tönte so regelmäßig und so ausdauernd, daß die meisten Männer schon längst in die Knie gegangen wären. Allerdings, wer sagte denn, daß es ein Mensch sein mußte? Konnte es nicht Reorx persönlich sein? Er wußte, daß er sich an einem Ort der Götter und der Macht befand. Vor ihm konnte einfach alles liegen.

Dann stand Huma plötzlich in einer riesigen Waffenkammer, ohne zu wissen, wie er dahin gekommen war.

Zahllose Gerätschaften für Krieg und Frieden hingen, standen oder lagen von Wand zu Wand herum und sogar von der Decke herunter, so weit er das im Dämmerlicht beurteilen konnte. Eine Sichel, deren gebogene Klinge geradegezogen mindestens die Länge von Humas Körper haben würde. Schwerter in allen Formen und Größen, manche gekrümmt, manche gerade, manche dünn, manche schwer. Edelsteinbesetzt oder schlicht. Einhänder und Zweihänder.

Hier gab es noch mehr Rüstungen als zuvor in den Schatzkammern. Die Auswahl reichte von primitivsten Brustpanzern bis zu Prunkharnischen, wie sie der ergodianische Kaiser trug. Über den Rüstungen hingen Schilde, die jedes erdenkliche Wappen trugen, eingeschlossen die der Ritter von Solamnia.

Es gab noch so viel mehr, und Huma hätte sich gern alles angesehen. Er kam sich vor, als hätte er die verschollene Grabstätte eines mächtigen Kriegers betreten. Doch das hier war keine Ruhestätte von Toten, denn auf den Waffen und sonstigen Gegenständen lag kein Staub, und sie zeigten kein Zeichen von Alter. Jedes Teil, das er begutachtete, hätte erst gestern geschmiedet sein können, so scharf waren die Klingen, so glatt die Seiten. Kein Rost befleckte die Rüstungen; die hölzernen Griffe der Sicheln waren makellos. Huma wußte jedoch, daß diese Werke älter waren als die tiefer liegenden Höhlen. In diesem Labyrinth unter dem Berg waren diese Kammern als erstes entstanden. Huma konnte nicht erklären, woher er das wußte; er wußte es einfach.

Seine Ohren hatten sich an den regelmäßigen Schlag des Hammers gewöhnt. Zuerst bemerkte er gar nicht, daß er aufgehört hatte. Als es ihm auffiel, war er bereits staunend mitten in die Waffenkammer hineingewandert. Huma blieb verunsichert stehen. Dann sah er vor sich das flackernde Licht und hörte, wie der unbekannte Schmied seine Arbeit wieder aufnahm. Zwei massive Türen versperrten ihm den Weg.

Huma streckte die Hand aus, um an eine der Türen zu klopfen, als diese aufflog. Ein ohrenbetäubendes Quietschen begleitete die fließende Bewegung, und der Ritter wunderte sich, daß die Hammerschläge nicht endeten, so als ob der Schmied nichts gehört hätte oder sich nicht darum kümmerte.

Es war eine Schmiede von göttlichen Ausmaßen. Ein riesiger Wassertank, der nur dazu dienen konnte, die fertigen Werke abzukühlen. Eine gewaltige Esse, an der – Huma zuckte zusammen – schattenhafte Gestalten den Schmelzofen mit Eifer anheizten.

Wieder hörte das Gehämmer auf. Huma riß seinen Blick von der sonnenheißen Esse los und drehte sich um.

Der Amboß reichte Huma bis zur Taille und mußte mindestens sechsmal soviel wiegen wie ein Ritter in voller Rüstung. Die rußverschmierte Gestalt daneben, die mit Leichtigkeit einen Hammer in der einen Hand hielt, der eigentlich als Zweihänder gedacht war, drehte sich ihrerseits um, um den Besucher zu mustern. Die Gestalten an der Esse hielten ebenfalls in ihrem Tun inne, genauso wie zwei weitere am Amboß. Der Schmied senkte den Arm und trat vor. Humas Blick wanderte nicht sofort zu seinem Gesicht, sondern blieb wie gebannt an seinem Arm hängen. Er war aus Metall, einem Metall, das glänzte wie jenes Material, in das sich Wyrmvater verwandelt hatte.

Dann sah Huma dem Schmied ins Gesicht. Wie der restliche Körper war er rußig, doch Huma konnte erkennen, daß der Schmied die Merkmale verschiedener Rassen trug: Seine Züge waren gleichzeitig elfisch, menschlich, zwergisch und etwas – Undefinierbares.

Der Schmied musterte ihn von Kopf bis Fuß und fragte mit erstaunlich gelassener Stimme: »Bist du endlich gekommen, um die Drachenlanze zu holen?«

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