5 Entschlüsselungsalgorithmus

O sprich noch einmal, holder Engel!

William Shakespeare

Romeo und Julia

Die Gästezimmer waren bereits von den prominentesten Wissenschaftlern der SETI belegt. Als die offiziellen Delegationen aus Washington eintrafen, gab es für sie keine passende Unterbringung auf dem Argus-Gelände mehr, und man mußte sie in Motels im benachbarten Socorro einquartieren. Kenneth Der Heer, der Wissenschaftsberater der Präsidentin, war die einzige Ausnahme. Er kam einen Tag nach der Entdeckung der Zeichen auf den dringenden Anruf von Eleanor Arroway hin angereist. In den darauffolgenden Tagen kamen nacheinander die Delegierten der National Science Foundation, der NASA, des Verteidigungsministerium, des Wissenschaftsrates der Präsidentin, des Nationalen Sicherheitsrates und der Nationalen Sicherheitsbehörde.

Am Abend zuvor hatten einige von ihnen am Sockel des Teleskops 101 gestanden und zum erstenmal die Wega gezeigt bekommen. Wie zum Gruß hatte deren blauweißes Licht besonders schön gefunkelt.

„Ich habe sie schon früher gesehen, aber nicht gewußt, daß es die Wega ist“, hatte einer der Wissenschaftler bemerkt. Die Wega schien heller zu sein als die anderen Sterne, aber das war auch schon alles, was sich an Besonderem sagen ließ: Sie war nur einer von den vielen tausend Sternen, die man mit bloßem Auge sehen konnte.

Die Wissenschaftler waren Teilnehmer eines Forschungsseminars über die Beschaffenheit, den Ursprung und die mögliche Bedeutung der Radiopulse. Das Büro für Öffentlichkeitsarbeit des Projekts — aufgrund des weitverbreiteten Interesses an der Suche nach extraterrestrischer Intelligenz war es größer als in den meisten anderen Observatorien — hatte die Aufgabe, die weniger bedeutenden Vertreter offizieller Stellen zu informieren. Jeder Neuankömmling bekam eine umfassende persönliche Einführung. Ellie selbst mußte die ranghöheren Delegierten einweisen, die laufenden Forschungsarbeiten überwachen und auf die nur zu verständlichen, mit Nachdruck vorgetragenen kritischen Fragen ihrer Kollegen eingehen. Sie war völlig erschöpft. Seit der Entdeckung hatte sie keine einzige Nacht mehr durchschlafen können.

Zunächst hatte man versucht, das Ganze geheimzuhalten. Trotz allem war man sich noch nicht absolut sicher, daß es sich um eine extraterrestrische Botschaft handelte. Eine vorzeitige oder falsche Bekanntgabe konnte in der Öffentlichkeit katastrophale Folgen haben. Und, was noch schlimmer war: Die Datenauswertung würde empfindlich gestört werden. Wenn erst die Presse auftauchte, mußte das die Arbeit der Wissenschaftler beeinträchtigen. Sowohl Washington als auch Argus hatten deshalb großes Interesse an einer Geheimhaltung. Aber die Wissenschaftler hatten bereits ihren Familien davon erzählt, das Telegramm der International Astronomical Union (IAU) war in die ganze Welt geschickt worden, und die noch in den Anfängen steckenden astronomischen Datenbanksysteme in Europa, Nordamerika und Japan hatten sämtliche Daten der Entdeckung gespeichert.

Obwohl man sich schon vorher überlegt hatte, wie man sich im Fall einer Entdeckung der Öffentlichkeit gegenüber verhalten wollte, war man auf die gegenwärtige Situation so gut wie nicht vorbereitet. Also wurde eine harmlos klingende Erklärung verfaßt und erst veröffentlicht, als es nicht mehr anders ging. Natürlich war die Sensation perfekt. Sie hatten die Medien um Geduld gebeten, waren sich aber gleichzeitig klar darüber, daß die Presseleute in Kürze scharenweise bei ihnen einfallen würden. Sie hatten versucht, die Reporter von einem Besuch des Geländes abzuschrecken, indem sie bekanntgaben, daß es sich bei den Signalen nicht um wirkliche Informationen, sondern nur um stumpfsinnig sich wiederholende Primzahlen handelte. Die Presse war ungehalten über die Verweigerung näherer Erklärungen. „Über Primzahlen kann ich nur ein paar Zeilen schreiben“, erklärte ein Reporter Ellie am Telephon. Kamerateams in Lufttaxis und gecharterten Hubschraubern glitten im Tiefflug über die Anlage und verursachten oft starke Störgeräusche, die die Teleskope allerdings sofort identifizierten. Einige Reporter lauerten den Delegierten aus Washington auf, wenn sie abends in ihre Motels zurückkehrten. Wagemutigere hatten sogar versucht, heimlich mit Jeeps oder Motorrädern, in einem Fall sogar zu Pferd in das Gelände einzudringen. Ellie sah sich gezwungen, sich nach den Preisen für einen Sicherungszaun um das Observatorium zu erkundigen.

Gleich nach Der Heers Ankunft hatte Ellie ihm eine erste Version ihrer späteren Standardeinführung gegeben: Auffallend seien die Intensität des Signals, die unmittelbare Nähe der Quelle zur Wega und die Beschaffenheit der Pulse. „Ich bin vielleicht der Wissenschaftsberater der Präsidentin“, sagte er, „aber von Haus aus doch in erster Linie Biologe.

Deshalb erklären Sie mir bitte alles der Reihe nach. Soviel ich bis jetzt verstanden habe, muß die Botschaft vor sechsundzwanzig Jahren losgeschickt worden sein, wenn die Radioquelle sechsundzwanzig Lichtjahre entfernt ist. Ein paar verrückte Typen mit spitzen Ohren haben sich also in den sechziger Jahren gedacht, wir würden gerne wissen, ob die da unten auf Primzahlen stehen. Aber Primzahlen sind doch keine aufregende Sache. Nach Angeberei sieht es also nicht aus. Eher, als wollten sie uns Nachhilfeunterricht in Arithmetik erteilen. Vielleicht wollen sie uns auch nur beleidigen.“

„Nein, das müssen Sie anders sehen“, erwiderte Ellie mit einem Schmunzeln. „Das alles ist nur das Vorspiel, das unsere Aufmerksamkeit erregen soll. Wir empfangen von Quasaren, Pulsaren, Radiogalaxien und so weiter die seltsamsten Pulssequenzen. Aber Primzahlen sind etwas ganz Besonderes, etwas sehr Künstliches. Nicht jede ungerade Zahl ist zum Beispiel eine Primzahl. Und daß abstrahlendes Plasma oder eine explodierende Galaxie eine so regelmäßige Reihe mathematischer Signale sendet, ist einfach undenkbar. Die Primzahlen sind zweifellos dazu da, unsere Aufmerksamkeit zu erregen.“

„Aber warum?“ fragte Der Heer völlig durcheinander. „Ich weiß es nicht. Wir müssen jetzt viel Geduld haben. Vielleicht verschwinden die Primzahlen bald und etwas anderes, etwas Bedeutungsvolleres tritt an ihre Stelle. Die eigentliche Botschaft. Wir müssen einfach weiter hinhören.“.

Am schwersten war der Presse zu erklären, daß die Signale keinen Inhalt hatten, keine Bedeutung — daß es sich nur um die ersten paar hundert Primzahlen handelte, die immer wieder von vorne anfingen und im Binärcode dargestellt waren: 1, 2, 3, 5, 7, 11, 13, 17, 19, 23, 29, 31. Sie mußte erklären, daß die Neun keine Primzahl war, weil man sie durch drei teilen konnte (und natürlich auch durch neun und eins). Genauso die Zehn, die durch fünf und zwei teilbar war (und durch zehn und eins). Die Elf war eine Primzahl, weil sie nur durch eins und sich selbst geteilt werden konnte. Aber warum wurden ausgerechnet Primzahlen gesendet? Sie mußte an jene verrückten Gelehrten denken, die zu keinem normalen Gespräch in der Lage waren, im Kopfrechnen aber unglaubliche Kunststücke vollbrachten — zum Beispiel konnten sie nach kurzem Nachdenken sagen, auf welchen Wochentag der erste Juni des Jahres 11977 fallen wird. Und das taten sie nicht mit einem bestimmten Ziel, sondern einfach, weil es ihnen Spaß machte und weil sie es konnten.

Obwohl erst wenige Tage vergangen waren, seit sie die Botschaft empfangen hatten, fühlte sich Ellie euphorisch und zutiefst enttäuscht zugleich. Nach all den Jahren hatten sie endlich ein Signal empfangen — eine Art Signal zumindest. Aber sein Inhalt war hohl und leer. Eigentlich hatte sie sich vorgestellt, eine ganze Encyclopaedia Galactica gesendet zu bekommen.

Erst in den letzten Jahrzehnten hatte man auf der Erde die Radioastronomie entwickelt. In der Galaxis um sie herum waren aber die Sterne im Durchschnitt einige Milliarden Jahre alt. Die Wahrscheinlichkeit, ein Signal von einer genauso fortgeschrittenen Zivilisation wie der der Erde zu empfangen, war verschwindend gering. Wenn die anderen auch nur ein wenig rückständiger waren als wir, würde es ihnen an den technischen Mitteln fehlen, mit uns in Verbindung zu treten. Deshalb kam das Signal höchstwahrscheinlich von einer weiter fortgeschrittenen Zivilisation. Vielleicht konnte die sogar melodienreiche Spiegelfugen schreiben: Der Kontrapunkt war dann das rückwärts geschriebene Thema. Nein, das konnte es nicht sein, entschied Ellie. Obwohl es zweifellos genial gewesen wäre und ihre Fähigkeiten bei weitem überschritten hätte, wäre es nur eine winzige Weiterführung dessen gewesen,

zu dem die Menschen fähig waren. (Bach und Mozart hatten immerhin beachtliche Versuche in der Richtung unternommen.) Ellie versuchte einen noch größeren Sprung. Sie versuchte, sich in den Kopf von jemand zu versetzen, der viel intelligenter war als sie und klüger als beispielsweise Drumlin oder Eda, der junge Physiker aus Nigeria, der den Nobelpreis bekommen hatte. Aber es funktionierte nicht. Sie konnte zwar darüber nachgrübeln, wie man den großen Fermatschen Satz oder die Goldbachsche Vermutung mit einigen wenigen Gleichungen beweisen konnte. Sie konnte sich Probleme ausmalen, die jenseits unseres Fassungsvermögens lagen und für aridere Wesen vielleicht bereits alte Hüte waren. Aber in ihre Köpfe konnte sie nicht schlüpfen, sie konnte sich nicht vorstellen, wie man dachte, wenn man viel mehr konnte als die Menschen. Natürlich. Das war keine Überraschung. Was hatte sie denn erwartet? Ebensogut konnte sie versuchen, sich eine neue Primärfarbe vorzustellen oder eine Welt, in der man einige hundert Bekannte nur aufgrund ihres individuellen Geruchs wiedererkennen konnte. Man konnte über so etwas reden, aber die Erfahrung selbst konnte man nicht machen. Zu sagen, daß jemand viel klüger war als man selbst, bedeutete ja, daß man ihn kaum noch verstehen konnte. Aber trotz alledem: Warum waren es nur Primzahlen?

Die Argus-Astronomen hatten in den letzten Tagen einige Fortschritte gemacht. Die Bewegung der Wega war bekannt, man kannte ihre Geschwindigkeitskomponente. Die ArgusTeleskope, die mit den Radioobservatorien in West-Virginia und Australien zusammenarbeiteten, hatten festgestellt, daß sich die Quelle des Signals mit der Wega bewegte. Das Signal kam, soweit man es bei aller Sorgfalt messen konnte, nicht nur aus der Richtung der Wega, sondern es zeigte auch dieselben eigentümlichen und charakteristischen Bewegungen der Wega. Wenn es sich bei der ganzen Sache nicht um einen üblen Streich handelte, befand sich die Quelle der Primzahlenpulse tatsächlich im System der Wega. Es gab auch keinen zusätzlichen Doppler-Effekt, der sich auf die Bewegung eines auf einem Planeten installierten Senders im Umkreis der Wega hätte zurückführen lassen. Die extraterrestrischen Wesen hatten die Bahnbewegung eliminiert. Vielleicht waren das ihre höflichen Umgangsformen im interstellaren Verkehr.

„Es ist das Interessanteste, was ich je gehört habe. Aber mit unserer Abteilung hat es nichts zu tun“, sagte ein Abgeordneter der Forschungsabteilung des Verteidigungsministeriums, der sich anschickte, wieder nach Washington zurückzukehren.

Gleich nach der Entdeckung hatte Ellie einige der Teleskope dazu abgestellt, die Wega auf anderen Frequenzbereichen abzuhören. Und tatsächlich hatten die Teleskope auf der 1420- Megahertz-Wasserstoff-Linie, der 1667-Megahertz-Hydroxyl- Linie und vielen anderen Frequenzen dasselbe Signal, dieselbe eintönige Abfolge von Primzahlen ausfindig gemacht. Im gesamten Radiospektrum plärrte die Wega mit einem elektromagnetischen Orchester Primzahlen aus. „Ich werde nicht schlau daraus“, sagte Drumlin und schob die Daumen unter den Gürtel. „Das kann uns früher doch nicht entgangen sein. Alle haben sich die Wega schon einmal angeschaut. Auch Arroway hat sie vor zehn Jahren von Arecibo aus beobachtet. Und letzten Dienstag fängt die Wega plötzlich an, Primzahlen zu senden! Warum gerade jetzt? Jetzt, nachdem Argus seit einigen Jahren das Weltall abhört?“

„Vielleicht ist ihr Sender wegen Reparaturen einige Jahrhunderte lang ausgefallen“, schlug Valerian vor, „und sie haben ihn gerade wieder in Betrieb genommen. Oder vielleicht haben sie die dienstliche Vorschrift, an uns nur einmal alle Million Jahre eine Nachricht zu senden. Es gibt noch so viele andere Planeten, auf denen vielleicht Leben existiert. Wir sind sicher nicht die einzigen Bewohner der Galaxis.“ Aber Drumlin schüttelte nur völlig unbefriedigt den Kopf. Obwohl Valerian an das Gute im Menschen glaubte und nirgends Intrigen vermutete, ließ ihn der Unterton nicht los, den er aus Drumlins letzter Frage herausgehört hatte: War alles nur ein kühner und verzweifelter Versuch der Argus-Wissenschaftler, die vorzeitige Beendigung ihres Projekts zu verhindern? Valerian schüttelte den Kopf. Nein, er konnte nicht daran glauben. Als auch Der Heer noch zu ihm und Drumlin stieß, sah er sich zwei der bekanntesten Experten der SETI gegenüber, von denen jeder über den anderen schweigend den Kopf schüttelte.

Zwischen den Wissenschaftlern und den Bürokraten herrschte wechselseitiges Unbehagen aufgrund fundamental entgegengesetzter Ausgangspositionen. Ein Elektroingenieur hatte es als die ständig drohende Gefahr eines Kurzschlusses bezeichnet. In den Augen der Bürokraten spekulierten die Wissenschaftler zu viel und zu leichtfertig. Für die Wissenschaftler dagegen waren die Bürokraten phantasielos und unkommunikativ. Ellie und besonders Der Heer taten ihr Bestes, die Kluft zu überbrücken, aber ihre Brücke wurde immer wieder weggeschwemmt.

An diesem Abend standen überall überquellende Aschenbecher und leere Kaffeetassen herum. Salopp gekleidete Wissenschaftler, Delegierte aus Washington in leichten Anzügen und einige Offiziere bevölkerten den Kontrollraum, den Seminarraum und den kleinen Hörsaal und drängten nach Beendigung der Veranstaltungen durch die Türen nach draußen, wo die Diskussionen im Licht der Zigaretten und Sterne fortgeführt wurden. Die Stimmung war voller Kampflust. Die Anspannung der letzten Tage war deutlich zu spüren.

„Frau Dr. Arroway, darf ich vorstellen, Michael Kitz, Ressortleiter für C3 I im Verteidigungsministerium.“ Der Heer stellte Kitz vor und trat selbst einen Schritt zurück. Ellie hatte den Eindruck, er wolle ihr einen Wink geben. Worauf wollte er hinaus? Sie wurde nicht schlau aus ihm. Wollte er sie zu Vernunft und Zurückhaltung mahnen? Aber hielt er sie für einen solchen Heißsporn? C3 I war eine wichtige Abteilung des Verteidigungsministeriums, der große Verantwortung zukam in einer Zeit, in der die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion wirkliche Bereitschaft zum stufenweisen Abbau ihrer strategischen Atomwaffenarsenale zeigten. Es war eine Arbeit für überlegte Männer. Kitz setzte sich in einen der zwei Sessel gegenüber von Ellies Schreibtisch, beugte sich vor und las das Kafka-Zitat. Er schien nicht beeindruckt.

„Frau Dr. Arroway, lassen Sie mich gleich zur Sache kommen. Wir machen uns Gedanken darüber, ob es im Interesse der Vereinigten Staaten ist, daß diese Entdeckung allgemein bekannt wird. Wir waren nicht gerade entzückt darüber, daß Sie ein Telegramm in alle Welt geschickt haben.“

„Sie meinen nach China? Nach Rußland? Nach Indien?“, fragte sie, wobei der scharfe Klang in ihrer Stimme trotz ihrer Bemühungen nicht zu überhören war. „Sie wollten die ersten 261 Primzahlen geheimhalten? Glauben Sie wirklich, Mr. Kitz, daß die extraterrestrischen Wesen nur mit den Amerikanern Kontakt aufnehmen wollen? Glauben Sie nicht auch, daß eine Botschaft von einer anderen Zivilisation der ganzen Welt gehört?“

„Sie hätten uns zu Rate ziehen sollen.“

„Um zu riskieren, daß das Signal verloren geht? Unseres Wissens war es durchaus möglich, daß einzigartige Dinge gesendet wurden, nachdem die Wega hier in New Mexico untergegangen war und in Peking hoch am Himmel stand.

Solche Signale sind kein einfacher Telephonanruf nach den Vereinigten Staaten. Sie sind noch nicht einmal direkt an die Erde gerichtet. Sie gelten jedem Planeten im Sonnensystem. Wir hatten nur das Glück, gerade im richtigen Moment am Hörer zu sein.“

Der Heer versuchte schon wieder, ihr etwas zu bedeuten. Was wollte er ihr sagen? Daß ihm ihr einfacher Vergleich gefiel, sie sich aber wegen Kitz nicht so aufregen sollte? „Jedenfalls“, fuhr Ellie fort, „ist es jetzt zu spät. Alle wissen, daß es irgendwelche intelligenten Lebewesen im System der Wega geben muß.“

„Ich bin mir nicht so sicher, daß es schon zu spät ist, Frau Dr. Arroway. Sie scheinen davon auszugehen, daß eine genauere, entschlüsselbare Botschaft noch zu erwarten sei. Dr. Der Heer hier sagte mir, daß Sie diese Primzahlen für die Vorankündigung einer Botschaft halten, mit der unsere Aufmerksamkeit erregt werden soll. Wenn es tatsächlich eine solche Botschaft geben und diese kompliziert verschlüsselt sein sollte, so daß andere Länder sie nicht sofort mitbekommen“ — hier machte er eine Pause, um seinen Worten den nötigen Nachdruck zu verleihen — „sollte es also zu einer solchen Botschaft kommen, so wünsche ich, daß sie geheimgehalten wird, bis wir darüber gesprochen haben.“

„Wir alle haben unsere Wünsche, Mr. Kitz“, sprach Ellie zu ihrer eigenen Überraschung honigsüß weiter und ignorierte Der Heers hochgezogene Augenbrauen einfach. Kitz’ Art hatte etwas Aufreizendes, fast Provokatives. Wahrscheinlich hatte er denselben Eindruck von ihr. „Ich zum Beispiel habe den Wunsch, zu verstehen, was das Signal bedeutet, was auf der Wega vor sich geht und was wir auf der Erde davon halten sollen. Möglicherweise können die Wissenschaftler der anderen Nationen uns entscheidend dabei helfen. Vielleicht brauchen wir ihre Daten. Vielleicht brauchen wir ihren Verstand. Ich könnte mir vorstellen, daß dieses Problem über die Kräfte eines einzelnen Landes geht.“

Der Heer wirkte jetzt fast erschrocken. „Aber Frau Dr. Arroway, der Vorschlag von Minister Kitz ist doch nicht so unsinnig. Die anderen Nationen können wir ja immer noch einbeziehen. Er bittet doch nur darum, daß wir zuerst mit ihm darüber sprechen. Und das auch nur, wenn es zu einer Botschaft kommen sollte.“

Seine Stimme klang beruhigend und hatte kein falsches Pathos. Ellie sah ihn nochmals scharf an. Der Heer war kein besonders gutaussehender Mann, aber er hatte ein freundliches und intelligentes Gesicht. Er trug einen blauen Anzug und ein Baumwollhemd in bunten Farben. Sein ernstes und beherrschtes Auftreten wurde durch sein warmes Lächeln gemildert. Warum unterstützte er diesen Burschen vom Ministerium? Gehörte es zu seinem Job? Oder war es tatsächlich sinnvoll, was Kitz sagte?

„Man könnte es ja wenigstens in seine Überlegungen einbeziehen“, sagte Kitz mit einem Seufzer und stand auf. „Der Verteidigungsminister würde Ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit begrüßen.“ Er bemühte sich um ein gewinnendes Lächeln. „Einverstanden?“

„Ich muß erst darüber nachdenken“, antwortete Ellie und nahm die dargebotene Hand, als ob sie ein toter Fisch wäre. „Ich komme gleich nach, Mike“, sagte Der Heer munter. Kitz war fast schon zur Tür draußen, als ihm noch etwas einfiel. Er zog ein Dokument aus der Brusttasche, kam zurück und legte es behutsam auf ihren Schreibtisch. „Oh, fast hätte ich es vergessen“, sagte er. „Das ist eine Kopie der Hadden Decision. Die kennen Sie wahrscheinlich. Es geht um das Recht der Regierung, Material, das für die Sicherheit der Vereinigten Staaten von Bedeutung ist, mit einer Geheimhaltungsstufe zu versehen. Auch wenn es von einem nicht zur Geheimhaltung verpflichteten Observatorium kommt.“

„Sie wollen die Primzahlen mit einer Geheimhaltungsstufe versehen?“ fragte Ellie, die Augen vor ungläubigem Spott weit aufgerissen. „Wir sehen uns draußen, Ken.“ Als Kitz das Büro verlassen hatte, konnte Ellie sich nicht mehr zurückhalten. „Hinter was ist der her? Hinter Todesstrahlen von der Wega? Oder hinter Weltzerstörern? Worum geht es hier eigentlich wirklich?“

„Er ist nur vorsichtig, Ellie. Aber ich kann verstehen, wenn Sie glauben, daß noch mehr dahintersteckt. Okay, ich will versuchen, Ihnen eine Erklärung zu geben. Also, angenommen, es gibt tatsächlich eine Botschaft — Sie wissen, was ich meine, eine Botschaft mit einem verständlichen Inhalt — und diese Botschaft ist gegen, sagen wir mal, die Moslems oder Methodisten gerichtet. Sollten wir in einem solchen Fall nicht vorsichtig mit einer öffentlichen Bekanntgabe sein, damit sich die Vereinigten Staaten kein blaues Auge holen?“

„Ken, nehmen Sie mich bloß nicht auf den Arm. Dieser Mann ist ein Stellvertreter des Verteidigungsministers. Wenn die sich wegen der Moslems oder Methodisten Sorgen machen würden, dann hätten sie mir einen Stellvertreter des Außenministers geschickt. Oder so einen religiösen Fanatiker, der bei den Gebetsfrühstücken im Weißen Haus den Vorsitz führt. Sie sind doch Wissenschaftsberater der Präsidentin. Was haben Sie ihr geraten?“

„Gar nichts habe ich ihr geraten. Seit ich hier bin, habe ich erst einmal kurz am Telephon mit ihr gesprochen. Und ich will offen zu Ihnen sein: Bezüglich einer Geheimhaltungsstufe hat sie mir keine Anweisungen gegeben. Meiner Meinung nach hatte Kitz für das, was er sagte, keine Rückendeckung. Ich glaube, daß er eigenmächtig handelt.“

„Was ist er eigentlich von Beruf?“

„Soviel ich weiß, Rechtsanwalt. Er war Topmanager in der Elektroindustrie, bevor er zur Regierung stieß. Über C3 I weiß er wirklich Bescheid, aber damit weiß er noch lange nicht alles.“

„Ken, ich vertraue Ihnen. Ich glaube nicht, daß Sie die Hadden Decision als Drohung gegen mich ausspielen“, sagte Ellie mit einem Blick auf das Dokument auf ihrem Schreibtisch. Sie hielt inne und sah ihm in die Augen. „Wissen Sie, daß Drumlin noch eine andere Botschaft in der Polarisation vermutet?“

„Wie, das verstehe ich nicht.“

„Vor wenigen Stunden hat Dave eine erste statistische Untersuchung der Polarisation abgeschlossen. Dabei ist ein hübscher Film herausgekommen.“

Der Heer schaute sie verständnislos an. Ellie war überrascht. Arbeiteten Biologen in ihren Mikroskopen denn nicht mit polarisiertem Licht?

„Wenn eine Lichtwelle auf Sie trifft — sichtbares Licht, Radiolicht, jede Art Licht —, dann schwingt sie im rechten Winkel zu Ihrer Blickrichtung. Wenn sich diese Schwingung dreht, dann spricht man von einer elliptisch polarisierten Welle. Wenn sie sich im Uhrzeigersinn dreht, bezeichnet man sie als rechtsdrehend; gegen den Uhrzeigersinn ist sie linksdrehend. Wenn man nun zwischen diesen zwei Arten der Polarisation wechselt, kann man Informationen übermitteln. Eine Polarisation nach rechts bedeutet eine Null, und eine Linkspolarisation eine Eins. Können Sie folgen? So etwas ist durchaus möglich. Wir arbeiten mit Amplitudenmodulation und Frequenzmodulation, aber unsere Zivilisation macht in stillschweigender Übereinkunft normalerweise keine Polarisationsmodulation.

Das Wega-Signal sieht aber so aus, als ob es auf einer Polarisationsmodulation basiere. Wir sind gerade dabei, das zu überprüfen. Dave hat außerdem festgestellt, daß die beiden Polarisationsarten nicht gleich oft vorkommen. Die Wellen sind häufiger rechts- als linkspolarisiert. Vielleicht steckt noch eine andere Botschaft in der Polarisation, die uns bisher entgangen ist. Deshalb traue ich Ihrem Freund auch nicht. Kitz gibt mir doch nicht ohne Anlaß einen gutgemeinten Rat. Vielleicht ahnt er, daß wir noch mehr entdecken könnten.“

„Ellie, machen Sie sich nicht so viele Gedanken. Sie haben in den letzten vier Tagen kaum ein Auge zugetan. Sie mußten sich mit der Wissenschaft, der Verwaltung und der Presse auf einmal herumschlagen. Sie haben bereits eine der größten Entdeckungen unseres Jahrhunderts gemacht, und wenn ich Sie richtig verstanden habe, sind Sie vielleicht einer noch bedeutenderen auf der Spur. Ich verstehe vollkommen, daß Sie so gereizt reagiert haben. Und die Drohung, das Projekt in militärische Überlegungen einzubeziehen, war ungeschickt von Kitz. Ich kann Ihr Mißtrauen gegen ihn voll und ganz verstehen. Aber so abwegig ist es nicht, was er sagt.“

„Wie genau kennen Sie ihn?“

„Ich habe ihn auf einigen Konferenzen erlebt. Von wirklich kennen kann nicht die Rede sein. Ellie, was halten Sie von folgendem Vorschlag: Falls tatsächlich eine richtige Botschaft hereinkommt, soll nicht jeder gleich davon wissen.“

„Gut. Helfen Sie mir, einige der Blindgänger aus Washington auf Abstand zu halten.“

„Okay. Übrigens, wenn Sie dieses Dokument auf Ihrem Schreibtisch liegenlassen, wird jemand, der hier hereinkommt, die falschen Schlüsse ziehen. Wollen Sie es nicht forträumen?“

„Sie werden mir also helfen?“

„Solange die Situation so bleibt wie jetzt, werde ich zu Ihnen stehen. Wir werden nicht mehr gut arbeiten können, wenn die Sache mit einer Geheimhaltungsstufe versehen wird.“ Mit einem Lächeln ließ Ellie sich vor ihrem kleinen Bürosafe auf die Knie und tippte die sechsstellige Zahlenkombination ein: 314159. Sie warf einen letzten Blick auf das Dokument, auf dem in großen schwarzen Buchstaben THE UNITED STATES VS. HADDEN CYBERNETICS stand. Dann schloß sie es weg.

Alles in allem waren es ungefähr dreißig Leute — die Techniker und Wissenschaftler, die zum Projekt Argus gehörten, und einige hochgestellte Regierungsbeamte, darunter in Zivil der stellvertretende Direktor der Spionageabwehr. Weiter waren Valerian, Drumlin, Kitz und Der Heer anwesend. Ellie war die einzige Frau. Man hatte eine riesige Fernsehanlage aufgebaut, die auf einen Bildschirm von zwei Quadratmetern an der gegenüberliegenden Wand gerichtet war. Während Ellie zu der Gruppe sprach, bewegten sich ihre Finger über die Tastatur vor ihr.

„In den letzten Jahren haben wir uns mit Hilfe von Computern auf die Entschlüsselung eventueller Botschaften verschiedenster Art vorbereitet. Jetzt haben wir durch Dr. Drumlins Analyse herausgefunden, daß in der vorliegenden Polarisationsmodulation Information steckt, daß also, mit anderen Worten, der rasende Wechsel zwischen links und rechts eine Bedeutung hat. Es handelt sich nicht um ein zufälliges Rauschen. Stellen Sie sich vor, Sie werfen eine Münze. Natürlich erwarten Sie, daß Kopf und Zahl mit gleicher Häufigkeit oben liegen werden. Aber dann merken Sie, daß statt dessen eine Seite doppelt so oft erscheint wie die andere. Sie schließen daraus, daß die Münze nicht echt ist oder, wie in unserem Fall, daß die Polarisation nicht zufällig ist, sondern einen Inhalt. Oh, schauen Sie sich das an. Was uns der Computer gerade mitteilt, ist sogar noch viel interessanter. Die Folge von Kopf und Zahl wiederholt sich sozusagen exakt. Die Sequenz ist lang, also handelt es sich um eine komplexe Botschaft, und die sendende Zivilisation will wahrscheinlich sicherstellen, daß wir sie richtig empfangen. Hier, sehen Sie das? Da wiederholt sich die Botschaft. Wir befinden uns jetzt in der ersten Wiederholung. Jedes Bit an Information, jeder Punkt und jeder Strich — wenn Sie es sich so vorstellen wollen — ist identisch mit dem vorherigen Datenblock. Jetzt analysieren wir die Gesamtzahl der Bits. Dabei handelt es sich um mehrere Milliarden. Aha! Sie ist das Produkt dreier Primzahlen.“

Obwohl Drumlin und Valerian beide strahlten, kam es Ellie so vor, als ob sie dabei völlig verschiedene Gefühle durchlebten.

„Und jetzt? Was bedeuten ein paar Primzahlen mehr?“ fragte ein Besucher aus Washington.

„Es könnte bedeuten, daß man uns ein Bild schickt. Sehen Sie, die Botschaft besteht aus einer großen Zahl an Bits. Nehmen wir einmal an, daß diese große Zahl das Produkt dreier kleinerer Zahlen ist, Zahlen also, die miteinander multipliziert diese Zahl ergeben. Dann haben wir drei Dimensionen in der Botschaft. Ich vermute, daß es entweder ein statisches dreidimensionales Bild in der Art eines Hologramms ist oder ein zweidimensionales Bild, das sich in der Zeit verändert, also ein Film. Nehmen wir einfach einmal an, daß es sich um einen Film handelt. Wenn es ein Hologramm ist, brauchen wir jedenfalls länger, um das zu zeigen. Für den Film haben wir einen idealen Entschlüsselungs-Algorithmus.“

Auf dem Bildschirm war undeutlich ein sich bewegendes Muster aus Schwarz und Weiß zu sehen. „Willie, würden Sie bitte ein Interpolationsprogramm dazu schalten? Egal welches. Und versuchen Sie, es ungefähr neunzig Grad gegen den Uhrzeigersinn zu drehen.“

„Frau Dr. Arroway, es gibt hier offensichtlich noch einen Nebenkanal. Vielleicht ist es der Ton zum Film.“

„Schalten Sie ihn ein.“

Die einzige praktische Anwendung von Primzahlen, die Ellie einfiel, war ein Code, der gegenwärtig bei vielen geschäftlichen und nationalen Sicherheitsangelegenheiten Verwendung fand. Man konnte mit Primzahlen eine Botschaft verschlüsseln, die auch der Dümmste verstand; man konnte sie aber genauso gut dazu verwenden, um eine Botschaft vor intelligenteren Geistern zu verbergen.

Ellie blickte forschend in die auf sie gerichteten Gesichter. Kitz sah beunruhigt aus. Vielleicht sah er schon einen fremden Eindringling vor sich, oder, noch schlimmer, den Bauplan einer Waffe, die so geheim war, daß Ellie und ihr Team sie gar nicht sehen durften. Willie blickte ernsthaft drein und mußte vor lauter Aufregung immer wieder schlucken. Ein Bild ist etwas ganz anderes als bloße Zahlen. Die Möglichkeit einer sichtbaren Botschaft weckte in den Zuschauern unbewußte Ängste und Phantasien. Nur Der Heers Gesicht strahlte eine wunderbare Gelassenheit aus. Er war jetzt nicht mehr der Funktionär und Bürokrat, der Berater der Präsidentin, sondern ganz Wissenschaftler.

Das immer noch unkenntliche Bild wurde von einem tiefen, rumpelnden Glissando begleitet. Die Töne glitten das akustische Spektrum erst hinauf und dann wieder hinunter, bis sie sich etwa eine Oktave unter dem mittleren C einpendelten. Ganz allmählich konnte die Gruppe ein zarte, aber anschwellende Musik vernehmen. Das Bild drehte sich, stellte sich auf und wurde scharf.

Ellie starrte auf das grobkörnige Schwarzweißbild einer massigen Tribüne, die mit einem riesigen Jugendstil-Adler geschmückt war. Die Betonkrallen des Adlers schlossen sich um.

„Ein Scherz. Jemand hat sich einen Scherz erlaubt!“ Überall waren erstaunte und ungläubige Ausrufe, Gelächter und erregte Wortwechsel zu hören.

„Sehen Sie? Sie haben sich hinters Licht führen lassen“, sagte Drumlin fast leutselig zu Ellie. Er grinste. „Ein raffiniert inszenierter Schabernack. Und damit haben Sie die Zeit von uns allen verschwendet.“

In den Betonkrallen des Adlers konnte sie jetzt ganz deutlich ein Hakenkreuz erkennen. Die Kamera fuhr langsam an dem Adler nach oben und bekam das lächelnde Gesicht von Adolf Hitler vor die Linse, der einer zu Marschmusik singenden Menge zuwinkte. Seine Uniform ohne einen einzigen Orden vermittelte bescheidene Einfachheit. Der tiefe Bariton eines Ansagers, der kratzend, aber unverkennbar Deutsch sprach, füllte den Raum. Der Heer trat zu Ellie.

„Können Sie Deutsch?“ flüsterte sie ihm zu. „Was sagt er?“

„Der Führer“, übersetzte er langsam, „heißt die ganze Welt willkommen im deutschen Vaterland zur Eröffnung der Olympischen Spiele 1936.“

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