20 Grand Central Station

Es sind alle Dinge künstlich, denn Natur ist nichts anderes als die Kunst Gottes.

Thomas Browne

Religio Medici, I,16 (1642)

Nehmen die Engel, wie sich aus der Schrift ergibt, Leiber an, so können solcherweise Lebenstätigkeiten durch sie geschehen, aber nicht als wesenseigene von ihnen hervorgebracht werden.

Thomas von Aquin

Summa Theologica, I, 51,2

Der Teufel hat Gewalt, sich zu verkleiden In lockende Gestalt!

William Shakespeare

Hamlet, II, 2

Die Luftschleuse war so konstruiert, daß immer nur eine Person in ihr Platz hatte. Als auf der Erde Fragen der Priorität aufgetaucht waren — welche Nation als erste den Planeten eines anderen Sterns betreten sollte —, hatten die fünf entsetzt die Hände gehoben und den Direktoren des Projekts gesagt —, um so eine Mission handle es sich nicht. Auch untereinander hatten sie bewußt vermieden, über dieses Thema zu sprechen.

Die innere und die äußere Tür der Luftschleuse öffneten sich gleichzeitig. Sie hatten kein Kommando gegeben. Offenbar hatte dieser Sektor der Grand Central Station den richtigen Luftdruck und Sauerstoffgehalt. „Also, wer will vorgehen?“ fragte Devi.

Mit der Videokamera in der Hand wartete Ellie, bis sie an der Reihe war, auszusteigen. Im letzten Moment kam es ihr in den Sinn, den Palmwedel dabei haben zu wollen, wenn sie den Fuß auf diese neue Welt setzte. Als sie ging, ihn zu holen, hörte sie von draußen einen Schrei begeisterter Überraschung, aller Wahrscheinlichkeit nach von Waygay. Ellie eilte in den hellen Sonnenschein hinaus. Die Schwelle der äußeren Tür der Luftschleuse lag mit dem Sand auf gleicher Ebene. Devi stand bereits knöcheltief im Wasser und spritzte lachend Xi naß. Eda lächelte strahlend. Es war ein Strand. Wellen leckten am Ufersaum. Über den blauen Himmel zogen träge ein paar Haufenwölkchen. Ein Stück vom Wasser entfernt stand ein kleines Palmenwäldchen. Am Himmel war eine Sonne zu sehen. Eine Sonne. Eine gelbe Sonne. Genau wie auf der Erde. Ein schwacher Duft lag in der Luft. Nach Nelken vielleicht, und nach Zimt. Es hätte sich um einen Strand auf Sansibar handeln können. Also waren sie 30000 Lichtjahre weit gereist, um an einem Strand spazierenzugehen. Es hätte schlimmer kommen können, dachte Ellie. Eine schwache Brise kam auf, und vor ihr bildete sich ein kleiner Sandwirbel. War das alles nur eine ausgeklügelte Simulation der Erde, vielleicht nach den Daten rekonstruiert, die eine Erkundungsexpedition vor Millionen von Jahren mitgebracht hatte? Oder war das einzige Ergebnis ihrer langen Reise eine Erweiterung ihrer Kenntnisse in beschreibender Astronomie, wonach sie dann ohne weitere Umstände auf einem schönen Fleckchen der Erde wieder abgesetzt worden waren?

Als sie sich umdrehte, stellte sie fest, daß das Dodekaeder verschwunden war. Sie hatten den Echtzeitrechner und die dazugehörige Handbibliothek, desgleichen einige andere Instrumente an Bord zurückgelassen, machten sich darüber jetzt allerdings keine großen Sorgen. Sie waren sicher und wohlauf und hatten eine Reise überlebt, die es wert war, daß man zu Hause über sie berichtete. Waygay sah von dem Wedel, den Ellie mit so viel Mühe hierher mitgebracht hatte, zu dem Palmenwäldchen am Rande des Strandes und lachte. „Eulen nach Athen“, bemerkte Devi.

Liebevoll sah Ellie auf ihren Palmwedel. Vielleicht gab es hier ja andere Arten. Oder vielleicht waren die hiesigen von jemandem erschaffen worden, der nicht alle Details berücksichtigt hatte. Sie schaute auf das Meer hinaus. Unwillkürlich versuchte sie, sich die erste Besiedelung der Erde vor 400 Millionen Jahren vorzustellen. Wo auch immer sie waren — ob im Indischen Ozean oder im Zentrum der Galaxis —, sie hatten etwas noch nie Dagewesenes vollbracht. Sicher, die Bestimmung der Reiseroute und des Ziels lag nicht in ihrer Hand. Aber sie hatten den Ozean des interstellaren Raums überquert und etwas eingeleitet, was mit Sicherheit ein neues Zeitalter der menschlichen Geschichte genannt werden durfte. Sie war sehr stolz.

Xi zog sich die Schuhe aus und krempelte die Hosenbeine des sackartigen, mit Abzeichen übersäten Overalls, den sie auf Geheiß der Regierungen alle tragen mußten, bis zu den Knien hoch. Er watete durch die seichte Brandung. Devi verschwand hinter einer Palme und tauchte in einen Sari gekleidet wieder auf. Den Overall hatte sie sich über den Arm gelegt. Eda holte einen der Leinenhüte hervor, die auf der ganzen Welt als typisch für ihn galten. Ellie nahm die anderen in kurzen Einstellungen auf Video auf. Wenn sie zu Hause waren, würde es wahrscheinlich wie ein Amateurfilm aussehen. Sie stellte sich zu Xi und Waygay in die Brandung. Das Wasser war warm. Es war ein schöner Nachmittag, der alles in allem eine willkommene Abwechslung war vom Winter in Hokkaido, den sie vor wenig mehr als einer Stunde hinter sich gelassen hatten.

„Alle haben etwas Symbolisches mitgebracht“, sagte Waygay, „nur ich nicht.“

„Was meinst du damit?“

„Sukhavati und Eda bringen ihre Nationaltracht mit. Xi hat ein Reiskorn.“ Tatsächlich, Xi hielt das Korn in einem Plastikbeutel zwischen Daumen und Zeigefinger. „Du hast deinen Palmwedel“, fuhr Waygay fort. „Nur ich habe kein Symbol und kein Erinnerungsstück von der Erde mitgebracht. Ich bin der einzige echte Materialist der Gruppe, ich habe nur das mitgebracht, was ich im Kopf habe.“

Ellie trug unter ihrem Overall das Medaillon. Jetzt knöpfte sie den Kragen auf und zog den Anhänger heraus. Waygay sah ihn, und sie gab ihn ihm zum Lesen.

„Ich glaube, das ist Plutarch“, sagte er, als er die Inschrift gelesen hatte. „Die Spartaner haben tapfere Worte gesprochen. Aber vielleicht erinnerst du dich, daß die Römer die Schlacht gewonnen haben.“

Dem Ton seiner Belehrung nach zu schließen, hielt Waygay das Medaillon für ein Geschenk Der Heers. Sein Mißfallen an Ken — für das es sicherlich Gründe gab — und seine unentwegte Sorge für sie lösten in ihr ein Gefühl wohliger Wärme aus. Sie griff nach seinem Arm.

„Für eine Zigarette würde ich jetzt jemanden umbringen“, sagte er liebenswürdig und preßte ihre Hand an seinen Körper.

Zu fünft saßen sie an einem kleinen Wassertümpel, den die Ebbe zurückgelassen hatte. Die Brandung erzeugte ein sanftes weißes Rauschen, das sie an Argus erinnerte und an all die Jahre, in denen sie dem kosmischen Rauschen zugehört hatte. Die Sonne hatte den Zenit schon lang durchschritten und stand über dem Ozean. Ein Krebs eilte vorbei. Er hatte schielende Stielaugen. Von Krebsen, Kokosnüssen und dem beschränkten Proviant, den sie in der Tasche hatten, konnten sie sich eine Zeitlang ganz gut ernähren. Abgesehen von ihren eigenen, gab es am Strand keine Fußspuren. „Wir meinen, daß die Außerirdischen fast die ganze Arbeit getan haben.“ Waygay führte seine und Edas Gedanken über das aus, was sie alle fünf erlebt hatten. „Das Projekt hat lediglich eine kleine Falte im Raum-Zeit-Gefüge hergestellt, damit sie ihren Tunnel irgendwo festmachen konnten. In dieser ganzen multidimensionalen Geometrie muß es sehr schwierig sein, eine winzige Falte im Raum-Zeit-Gefüge zu finden. Und noch schwieriger ist es sicherlich, ein Mündungstück daran anzubringen.“

„Was wollt ihr damit sagen? Haben sie die Geometrie des Raums verändert?“

„Ja. Wir meinen, daß es in der Topologie des Weltraums nicht-einfache Verbindungen gibt. Der Raum ist — ich weiß, daß Abonneba diese Analogie nicht mag —, er ist wie eine flache, zweidimensionale Oberfläche, die kluge Seite, die durch ein Netzwerk von Röhren mit einer anderen flachen, zweidimensionalen Oberfläche, der dummen Seite, verbunden ist. Die einzige Art, wie man in annehmbarer Zeit von der klugen auf die dumme Seite gelangen kann, ist durch diese Röhren. Stellt euch jetzt vor, daß die Leute von der klugen Oberfläche eine Röhre mit einem Mündungsstück daran herunterlassen. Sie wollen einen Tunnel zwischen den beiden Oberflächen bauen, vorausgesetzt, die Dummen kooperieren und machen auf ihrer Oberfläche eine kleine Falte, damit man die Mündung verankern kann.“

„Also schicken die klugen Kerle eine Radiobotschaft los und sagen den Dummen, wie man eine Falte macht. Wenn sie aber wirklich zweidimensionale Wesen sind, wie konnten sie dann auf ihrer Oberfläche eine Falte bilden?“

„Indem sie sehr viel Masse an einer Stelle zusammenbrachten.“ Aber Waygay war sich selbst nicht ganz sicher. „Aber wir haben das auf der Erde nicht gemacht.“

„Ich weiß, ich weiß. Irgendwie sind die Benzel dafür verantwortlich.“

„Schau“, erklärte Eda leise, „wenn die Tunnel Schwarze Löcher sind, spielen dabei unauflösbare Widersprüche eine Rolle. In der genauen Kerr-Lösung der Einsteinschen Feldgleichung gibt es einen inneren Tunnel, aber er ist instabil. Durch die kleinste Störung würde er abgeriegelt und in eine physikalische Singularität verwandelt werden, durch die nichts hindurchkann. Ich habe mir eine überlegene Zivilisation vorzustellen versucht, die die innere Struktur eines kollabierenden Sterns unter Kontrolle halten könnte, damit der innere Tunnel stabil bleibt. Es ist sehr schwierig. Diese Zivilisation müßte den Tunnel für alle Zeit überwachen und stabilisieren. Besonders schwierig wäre das, wenn etwas so Großes wie das Dodekaeder hindurchfällt.“

„Auch wenn Abonneba herausfinden kann, wie man den Tunnel offenhält, gibt es noch viele Probleme“, sagte Waygay. „Viel zu viele sogar. Schwarze Löcher ziehen Probleme noch schneller an als Materie. Da sind die Gezeiten. Im Gravitationsfeld eines Schwarzen Lochs hätten wir zerrissen werden müssen. Wir hätten auseinandergezogen werden müssen wie die Leute auf den Bildern von El Greco oder die Skulpturen von diesem Italiener.?“ Hilfesuchend sah er Ellie an.

„Giacometti“, schlug sie vor. „Aber er war Schweizer.“

„Ja, wie Giacometti. Dann weitere Probleme: Wie man von der Erde aus gemessen hat, würde es endlos dauern, durch ein Schwarzes Loch zu fallen, und wir könnten niemals wieder zur Erde zurückkehren. Vielleicht ist das geschehen. Vielleicht kommen wir nie wieder nach Hause. Außerdem müßte die Strahlung in der Nähe der Singularität höllisch stark sein. Das ist eine Instabilität der Quantenmechanik.“

„Und schließlich“, fuhr Eda fort, „kann ein Tunnel vom Typ Kerrs zu grotesken Veränderungen der Kausalität führen. Durch eine unbedeutende Veränderung der Flugbahn innerhalb des Tunnels könnte man am anderen Ende des Tunnels beliebig früh in der Geschichte des Universums auftauchen — zum Beispiel eine Pikosekunde nach dem Urknall. Da würde man sehen, was für ein Chaos damals im Universum geherrscht hat.“

„Hört zu, Freunde“, sagte Ellie, „ich bin keine Expertin der Allgemeinen Relativitätstheorie. Aber haben wir denn nicht Schwarze Löcher gesehen? Sind wir denn nicht in sie hineingefallen? Und sind wir nicht wieder aus ihnen herausgekommen? Wiegt ein Gramm Beobachtung denn nicht schwerer als eine Tonne Theorie?“

„Ich weiß, ich weiß“, sagte Waygay etwas gequält. „Wir haben die Lösung noch nicht gefunden. Aber unser Verständnis der Physik kann doch nicht derartig falsch sein. Oder?“

Er hatte die letzte Frage in kläglichem Ton an Eda gerichtet, der nur erwiderte: „Ein natürlich vorhandenes Schwarzes Loch kann kein Tunnel sein. Es hat eine undurchdringliche Singularität in der Mitte.“

Mit einem provisorisch zusammengebastelten Sextanten und ihren Armbanduhren bestimmten sie die Winkelgeschwindigkeit der sinkenden Sonne. Sie betrug 360 Grad in 24 Stunden, wie auf der Erde. Bevor das Licht der sinkenden Sonne dazu zu schwach sein würde, schraubten sie Ellies Kamera auseinander und benutzten die durch das Objektiv gebündelten Strahlen, um ein Feuer zu entfachen. Ellie legte den Palmwedel neben sich, weil sie fürchtete, jemand könnte ihn aus Versehen nach Einbruch der Dunkelheit in die Flammen werfen. Es stellte sich heraus, daß Xi Experte im Feuermachen war. Er ordnete an, daß sich alle auf die Seite des Feuers setzen sollten, aus der der Wind kam, und hielt es so in Gang.

Nach und nach erschienen die Sterne. Alle waren sie da, die vertrauten Sternbilder der Erde. Ellie meldete sich freiwillig dazu, eine Weile wachzubleiben und auf das Feuer aufzupassen, während die anderen schliefen. Sie wollte die Leier aufsteigen sehen. Nach ein paar Stunden war es so weit. Es war eine außergewöhnlich klare Nacht, und die Wega leuchtete gleichmäßig und hell. Aus der scheinbaren Bewegung der Sternbilder über den Himmel, aus den Konstellationen der südlichen Hemisphäre, die sie erkennen konnte, und aus der Position des Großen Wagens nahe des nördlichen Horizonts schloß sie, daß sie sich eigentlich in tropischen Breiten befinden mußten. Wenn das alles nur eine Simulation ist, ging es ihr vor dem Einschlafen durch den Kopf, dann haben sie sich ganz schön viel Mühe gemacht.

Sie hatte einen merkwürdigen kleinen Traum. Alle fünf schwammen sie nackt und unbefangen unter Wasser. Träge schwebten sie an einer Dornkoralle vorbei, dann glitten sie in Spalten, die im nächsten Moment schon von vorbeitreibendem Seetang verdeckt wurden. Einmal stieg sie zur Oberfläche auf. Ein Schiff in Form eines Dodekaeders flog dicht über der Wasseroberfläche vorbei. Seine Wände waren durchsichtig, und im Innern konnte sie Leute in Lendentüchern und Sarongs sehen. Sie lasen Zeitung und plauderten miteinander. Ellie tauchte wieder unter. Dorthin, wo sie hingehörte. Obwohl der Traum lange Zeit zu dauern schien, hatte keiner von ihnen Schwierigkeiten zu atmen. Sie atmeten Wasser ein und aus. Sie verspürten keine Erschöpfung — sie bewegten sich so natürlich wie die Fische im Wasser. Waygay sah sogar ein wenig wie ein Fisch aus — vielleicht wie ein Barsch. Das Wasser mußte ungeheuer viel Sauerstoff enthalten. Mitten im Traum erinnerte Ellie sich an die Maus, die sie einmal in einem physiologischen Labor gesehen hatte. Die Maus hatte in ihrem Gefäß voll Wasser, das mit Sauerstoff angereichert worden war, einen vollkommen zufriedenen Eindruck gemacht und sogar hoffnungsvoll mit ihren kleinen Vorderpfoten gerudert. Ein wurmförmiger Schwanz schwamm hinter ihr. Ellie versuchte, sich daran zu erinnern, wieviel Sauerstoff ein Mensch eigentlich brauchte, aber es war zu anstrengend. Es kam ihr vor, als ob sie immer langsamer dächte. Aber auch das schien seine Ordnung zu haben. Die anderen sahen jetzt eindeutig wie Fische aus. Devi hatte durchscheinende Flossen. Ellie spürte ein vages sinnliches Interesse in sich aufsteigen. Sie hoffte, es würde so weitergehen, damit sie die Frage beantworten konnte. Aber selbst die Frage, die sie beantworten wollte, hatte sie vergessen. Wie konnte man nur warmes Wasser atmen, dachte sie. Was wird ihnen als nächstes einfallen?

Ellie erwachte mit einem so starken Gefühl der Orientierungslosigkeit, daß es sie fast schwindlig machte. Wo war sie? In Wisconsin, Puerto Rico, New Mexico, Wyoming oder Hokkaido? Oder an der Malakka-Straße? Dann erinnerte sie sich. Es war bis auf 30000 Lichtjahre ungeklärt, wo in der Milchstraße sie sich befand. Wahrscheinlich ist das der Weltrekord an Orientierungslosigkeit, dachte sie. Trotz ihrer Kopfschmerzen lachte sie. Devi, die neben ihr schlief, bewegte sich. Weil der Strand leicht anstieg — sie hatten ihn am Nachmittag zuvor etwa einen Kilometer weit erkundet und nicht die Spur eines bewohnten Ansiedlung entdeckt —, hatte die direkte Sonneneinstrahlung sie noch nicht erreicht. Ellie ruhte auf einem Kopfkissen aus Sand. Devi, die gerade aufwachte, hatte den Kopf beim Einschlafen am Abend zuvor auf ihren zusammengerollten Overall gelegt gehabt. „Findest du nicht, daß eine Kultur, in der man weiche Kopfkissen braucht, etwas Verweichlichtes an sich hat?“ fragte Ellie.

Devi lachte und wünschte ihr einen guten Morgen. Von weiter oben am Strand hörten sie Geschrei. Die drei Männer winkten und gaben Zeichen. Ellie und Devi standen auf und gingen zu ihnen.

Aufrecht im Sand stand eine Tür. Eine hölzerne Tür — mit Türfüllung und einer Klinke aus Messing. Die Tür war mit schwarzgestrichenen Angeln an zwei Pfosten befestigt, die durch Sturz und Schwelle miteinander verbunden waren. Ein Namensschild war nicht zu sehen. Was in keiner Weise ungewöhnlich war. Für die Erde. „Jetzt geh mal auf die andere Seite“, forderte Xi sie auf. Von der Rückseite aus gesehen, war die Tür überhaupt nicht vorhanden. Sie konnte Eda, Waygay und Xi sehen und Devi, die etwas weiter weg stand. Zwischen den vier anderen und ihr selbst lag überall Sand. Sie bewegte sich seitwärts und dabei wurden ihre Fersen von der Brandung feucht. Von der Seite sah sie eine einzige, dunkle und rasiermesserdünne senkrechte Linie. Sie zögerte, sie zu berühren. Sie kehrte wieder auf die Rückseite zurück und versicherte sich, daß es in der Luft vor ihr weder Schatten noch Spiegelungen gab. Dann trat sie hindurch.

„Bravo“, lachte Eda. Sie drehte sich um und sah die geschlossene Tür vor sich.

„Was habt ihr gesehen?“, fragte sie.

„Eine reizende Frau, die durch eine zwei Zentimeter dicke geschlossene Tür schlenderte.“

Waygay schien es trotz des Mangels an Zigaretten gut zu gehen.

„Habt ihr versucht, die Tür zu öffnen?“ fragte sie. „Noch nicht“, antwortete Xi.

Sie trat zurück und bewunderte die Erscheinung der Tür. „Das sieht aus wie etwas von — wie hieß doch dieser französische Surrealist?“ fragte Waygay. „Rene Magritte“, antwortete sie. „Er war Belgier.“

„Wenn ich recht verstehe, sind wir alle der Ansicht, daß dies hier nicht wirklich die Erde ist“, sagte Devi. Ihre Handbewegung schloß den Ozean, den Strand und den Himmel mit ein.

„Es sei denn, wir sind dreitausend Jahre vor unserer Zeit im Persischen Golf und hier treiben sich Jins herum.“ Ellie lachte.

„Beeindruckt es dich nicht, wie sorgfältig die Konstruktion ausgeführt ist?“

„Doch“, erwiderte Ellie. „Diese Leute sind sehr gut, das gestehe ich ihnen zu. Aber wozu das Ganze? Wofür die Mühe mit all den Details?“

„Vielleicht haben sie einfach eine Leidenschaft dafür, alles richtig zu machen.“

„Oder sie wollen uns beeindrucken.“

„Ich verstehe nicht“, fuhr Devi fort, „woher sie unsere Türen so gut kennen. Überlegt nur mal, wie viele unterschiedliche Möglichkeiten es gibt, eine Tür zu bauen. Wie konnten sie das wissen?“

„Es könnte das Fernsehen sein“, gab Ellie zur Antwort. „Auf der Wega hat man die Fernsehsignale von der Erde bis zu den Programmen von, sagen wir, 1974 empfangen. Offensichtlich können sie die interessanten Aufzeichnungen per Spezialversand in Null Komma Nichts hierher schicken. Wahrscheinlich waren zwischen 1936 und 1974 eine Menge Türen im Fernsehen zu sehen. Gut“, fuhr sie fort, ohne die Stimme zu heben, „was, meint ihr, passiert, wenn wir die Tür öffnen und hindurchgehen?“

„Wenn wir hier sind, um geprüft zu werden“, sagte Xi, „dann findet wahrscheinlich auf der anderen Seite der Tür die Prüfung statt, vielleicht eine für jeden von uns.“ Er war bereit. Ellie wünschte sich, es auch zu sein. Die Schatten der nächsten Palmen erreichten nun den Strand. Wortlos sahen sie einander an. Alle vier schienen darauf erpicht zu sein, die Tür zu öffnen und hindurchzutre-ten. Nur sie spürte eine gewisse. Zurückhaltung. Sie fragte Eda, ob er vorangehen wolle. Am besten stellen wir gleich unseren repräsentativsten Fuß in die Tür, dachte sie. Eda zog seinen Hut, machte eine leichte, anmutige Verbeugung, drehte sich um und ging auf die Tür zu. Ellie lief ihm nach und küßte ihn auf beide Wangen. Die anderen umarmten ihn auch. Dann drehte er sich wieder um, öffnete die Tür und löste sich in Luft auf: zuerst verschwand der rechte Fuß, zuletzt die Hand auf der Klinke. Während die Tür offenstand, schien es hinter ihm nur die Fortsetzung des Strandes und die Brandung zu geben. Die Tür schloß sich. Ellie lief um sie herum, aber von Eda war keine Spur zu sehen. Xi war der Nächste. Ellie fiel auf, wie erstaunlich fügsam sie alle sich bisher verhalten hatten. Sie waren jeder anonymen Einladung bereitwilligst gefolgt. Man hätte ihnen ja auch sagen können, wohin sie gebracht wurden und wozu das alles gut war, dachte sie. Es hätte ein Teil der BOTSCHAFT sein können, oder man hätte ihnen Informationen zukommen lassen können, nachdem die Maschine gestartet war. Man hätte ihnen sagen können, daß sie auf einem Strand landen würden, der wie ein Strand der Erde aussah. Man hätte ihnen sagen können, daß eine Tür sie erwartete. Gut, die Außerirdischen waren zwar gebildet, aber vielleicht konnten sie trotzdem nicht genügend Englisch, schließlich war ihr einziger Lehrmeister ja das Fernsehen. Ellies Kenntnisse des Russischen, des Mandarin, des Tamil und des Haussa war vermutlich noch lückenhafter. Aber die Außerirdischen hatten die Sprache erfunden, die sie in dem Schlüssel für die BOTSCHAFT eingeführt hatten. Warum benutzten sie nicht die? Um sie zu überraschen? Waygay sah, wie sie die geschlossene Tür anstarrte, und fragte, ob sie als Nächste eintreten wolle. „Danke, Waygay. Ich war in Gedanken. Ich weiß, es ist ein bißchen verrückt, aber ich habe gerade gedacht: Warum müssen wir durch jeden Reifen springen, den sie für uns hochhalten? Was ist, wenn wir nicht tun, worum sie uns bitten?“

„Du bist typisch amerikanisch, Ellie. Für mich ist das genau wie zu Hause. Ich bin es gewöhnt zu tun, was die Obrigkeit verlangt — vor allem, wenn mir nichts anderes übrigbleibt.“ Er lächelte und drehte sich schwungvoll auf dem Absatz um. „Glaube dem Großen Führer nicht jeden Mist“, rief sie ihm nach.

Hoch oben schrie eine Möwe. Waygay hatte die Tür offengelassen. Dahinter war noch immer nur Strand zu sehen. „Bist du in Ordnung?“ fragte Devi sie. „Ich bin okay. Wirklich. Ich möchte nur einen Augenblick allein sein. Ich komme gleich nach.“

„Im Ernst, ich frage als Ärztin. Du fühlst dich wie sonst?“

„Ich bin mit Kopfschmerzen aufgewacht, und ich glaube, ich habe ziemlich phantastische Sachen geträumt. Ich habe mir weder die Zähne geputzt noch meinen schwarzen Kaffee getrunken. Außerdem hätte ich nichts dagegen, die Zeitung zu lesen. Von all dem abgesehen, geht es mir gut.“

„Gut, das klingt normal. Schließlich habe ich auch ein wenig Kopfschmerzen. Paß auf dich auf, Ellie. Merk dir alles, was du erlebst, damit du es mir erzählen kannst. wenn wir uns das nächste Mal sehen.“

„Bestimmt“, versprach Ellie.

Sie küßten sich und wünschten sich alles Gute. Devi trat über die Schwelle und verschwand. Die Tür schloß sich hinter ihr. Später meinte Ellie sich zu erinnern, daß sie einen Hauch von Curry gerochen hätte.

Sie putzte sich die Zähne mit Salzwasser. In gewissen Dingen war sie schon immer ein wenig eigen gewesen. Zum Frühstück trank sie Kokosmilch. Sorgfältig wischte sie dann den Sand ab, der sich auf dem Gehäuse der Mikrokamera und auf ihrem winzigen Vorrat an Videokassetten, auf denen die Wunder aufgezeichnet waren, angesammelt hatte. Sie spülte den Palmwedel in der Brandung ab, wie sie es an dem Tag getan hatte, als sie ihn am Strand von Cocoa fand, kurz vor ihrem Aufbruch nach Methusalem. Der Morgen war schon warm, und sie beschloß, ein wenig zu schwimmen. Sie ließ ihre Kleider sorgfältig zusammengelegt auf dem Palmwedel zurück und lief mutig in die Brandung. Was immer eintreten mochte, es war unwahrscheinlich, daß die Außerirdischen sich vom Anblick einer nackten Frau erregen lassen würden, auch wenn sie noch ganz gut erhalten war. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie ein Mikrobiologe zum Sexualverbrecher wurde, nachdem er ein Pantoffeltierchen bei der Zellteilung ertappt und beobachtet hatte.

Träge ließ sie sich auf dem Rücken treiben und im langsamen Rhythmus der anrollenden Wellenkämme auf und ab schaukeln. Sie versuchte, sich Tausende von vergleichbaren. Kammern vorzustellen, simulierte Welten, welchen Ursprungs auch immer — von denen jede eine peinlich genaue Kopie des schönsten Fleckchens auf dem Heimatplaneten irgendeiner Spezies war. Tausende davon, jede mit Himmel und Wetter, Meer, Geologie und einheimischen Lebensformen ausgestattet, daß sie vom Original nicht zu unterscheiden war. Die Landschaft hier wirkte wie Verschwendung, aber zugleich weckte sie in Ellie Hoffnung auf einen befriedigenden Ausgang ihrer Reise. Auch wenn man noch so viel konnte, stellte man eine Landschaft dieser Größenordnung nicht für fünf Exemplare einer zum Untergang bestimmten Welt her.

Andererseits. Die Vorstellung von Außerirdischen, die sich einen Zoo hielten, war zwar schon zu einer Art Klischee geworden. Was aber, wenn dieser große Bahnhof mit seiner Fülle von Anlegestellen und Abteilungen tatsächlich ein Zoo war? Sie stellte sich einen schneckenköpfigen Anreißer vor, der schrie: „Erleben Sie die exotischsten Tiere in ihrer natürlichen Umgebung!“ Touristen kamen von überallher aus der Galaxis, vor allem während der Schulferien. Und wenn eine Prüfung anstand, sperrten die Wärter für eine Weile Viecher und Touristen aus, fegten die Fußspuren vom Sandstrand und gönnten den neuangekommenen Primitiven einen halben Tag Ruhe und Erholung, bevor die Quälerei begann.

Oder vielleicht füllten sie ihren Zoo auf diese Weise auf. Ellie dachte an die Tiere, die in irdischen Zoos eingesperrt waren und von denen es hieß, daß es mit der Nachzucht in Gefangenschaft Probleme gab. Sie drehte einen Salto im Wasser und tauchte unter die Oberfläche. Sie schwamm ein paar Züge auf den Strand zu und wünschte sich zum zweitenmal innerhalb von vierundzwanzig Stunden, ein Kind zu haben.

Es war niemand in der Nähe, und man sah kein Segel am Horizont. Einige Möwen stelzten am Strand entlang. Offenbar suchten sie Krebse. Ellie wünschte sich Brot, um sie zu füttern. Sie trocknete sich ab, zog sich an und untersuchte den Eingang noch einmal. Die Tür stand genauso da wie vorher und wartete. Aber irgend etwas hielt Ellie immer noch davon ab, hineinzugehen. Es war mehr als ein Zögern. Vielleicht war es Furcht.

Sie entfernte sich ein paar Schritte, behielt aber die Tür im Auge. Sie setzte sich unter eine Palme, zog die Knie zum Kinn und schaute über die ausgedehnte Fläche des weißen Sandstrandes.

Nach einiger Zeit stand sie auf und streckte sich. Sie hielt Palmwedel und Mikrokamera in einer Hand, als sie auf die Tür zuging und die Klinke drückte. Die Tür öffnete sich ein Stück weit. Durch den Türspalt konnte sie die Schaumkronen vor der Küste sehen. Sie stieß noch einmal gegen die Tür, die ohne zu quietschen aufschwang. Der Strand begegnete ihrem Blick höflich und desinteressiert. Sie schüttelte den Kopf, kehrte zu ihrer Palme zurück und nahm wieder ihre nachdenkliche Haltung ein.

Sie überlegte, was mit den anderen geschehen sein mochte. Befanden sie sich jetzt in einer exotischen Testeinrichtung und kreuzten eifrig MuItiple-choice-Fragebogen an? Oder handelte es sich um eine mündliche Prüfung? Und wer waren die Prüfer? Wieder fühlte sie die Unruhe in sich aufsteigen. Ein anderes intelligentes Wesen — eines, das sich unabhängig auf einer fernen Welt unter unirdischen physikalischen Bedingungen entwickelt hatte und Produkt einer ganz anderen Folge zufälliger genetischer Mutationen war — ein solches Wesen würde in nichts den Wesen ähnlich sein, die sie kannte. Oder sich überhaupt vorstellen konnte. Wenn das hier eine Teststation war, gab es auch Aufsichtspersonal. Und dieses Personal war durch und durch, auf ganz phantastische Weise, nichtmenschlich. Tief in ihrem Innern hatte sie etwas gegen Insekten, Schlangen und Maulwürfe. Sie gehörte zu denen, die ein wenig schauderte, ja denen es, offen gestanden, kalt über den Rücken lief, wenn sie mit auch nur geringfügig mißgestalteten Menschen zusammentrafen. Krüppel, mongoloide Kinder, ja sogar die Parkinsonsche Krankheit riefen in ihr — trotz ihrer Anstrengungen, das Gefühl zu unterdrücken — Abscheu hervor und den Wunsch zu fliehen. Im allgemeinen hatte sie ihre Furcht immer beherrschen können, obwohl sie nicht sicher war, ob sie nicht doch schon einmal jemanden verletzt hatte. Sie dachte nicht oft darüber nach. Sobald sie ihre eigene Hilflosigkeit merkte, konzentrierte sie sich auf ein anderes Thema. Jetzt aber machte sie sich Sorgen, daß sie vielleicht nicht in der Lage sein würde, einem außerirdischen Wesen angemessen zu begegnen — geschweige denn, es für die menschliche Rasse einzunehmen. Auf der Erde hatte man nicht daran gedacht, die fünf Wissenschaftler daraufhin zu überprüfen. Man hatte nicht versucht herauszufinden, ob sie sich vor Mäusen oder Zwergen oder Marsmenschen fürchteten. Das war den Prüfungskomitees einfach nicht eingefallen. Ellie fragte sich, warum ihnen das entgangen war. Jetzt erschien es ihr recht naheliegend.

Es war ein Fehler gewesen, sie hierher zu schicken. Wenn sie einem schlangenhaarigen galaktischen Beamten gegenüberstand, würde sie sich blamieren — oder noch schlimmer, sie würde schuld daran sein, wenn die Note, mit der die menschliche Rasse in dem geheimnisvollen Test beurteilt wurde, von „bestanden“ zu „durchgefallen“ kippte. Besorgt und sehnsüchtig zugleich schaute sie die rätselhafte Tür an, deren unterer Rand jetzt unter Wasser lag. Die Flut stieg. Ein paar hundert Meter entfernt stand eine Gestalt am Strand. Zuerst dachte sie, es sei Waygay, der vielleicht früher aus dem Prüfungsraum gekommen war, um ihr die gute Nachricht zu überbringen. Aber wer auch immer es war, er trug nicht den Overall der Besatzung der Maschine. Er schien auch jünger und kräftiger zu sein. Sie griff nach dem Teleobjektiv und zögerte dann. Sie stand auf und beschattete die Augen mit der Hand. Nur einen Moment lang hatte es so ausgesehen. Das war natürlich unmöglich. So schamlos würden sie sie nicht ausnutzen.

Dann konnte sie einfach nicht anders. Mit fliegenden Haaren rannte sie über den harten Sand am Wassersaum auf ihn zu.

Er sah aus wie auf dem letzten Bild, das sie von ihm hatte, kräftig und glücklich. Er hatte einen Tag alte Bartstoppeln. Schluchzend warf sie sich in seine Arme. „Hallo, mein Mädchen“, sagte er und strich ihr mit der rechten Hand über den Kopf.

Es war seine Stimme. Sie erinnerte sich sofort. Und an seinen Geruch, seine Haltung, sein Lachen. Die Art, wie sein Bart an ihrer Wange kratzte. Das alles brachte ihre Selbstbeherrschung ins Wanken. Sie fühlte, wie eine massive Steinplatte aufgestemmt wurde und die ersten Lichtstrahlen in ein altes, fast vergessenes Grab fielen.

Sie schluckte und versuchte, die Kontrolle über sich wiederzugewinnen. Aber in endlos scheinenden Wellen strömte der Schmerz durch sie, und sie mußte wieder weinen. Er stand da und beruhigte sie mit dem gleichen Blick, den er ihr damals vom Fuß der Stufen her zugeworfen hatte, als sie die Reise die große Treppe hinab zum ersten Mal allein gewagt hatte. Nach nichts hatte sie sich so sehr gesehnt wie danach, ihn wiederzusehen, aber sie hatte das Gefühl unterdrückt, sie war darüber ungehalten gewesen, weil der Wunsch so offensichtlich unerfüllbar war. Sie weinte um all die Jahre, die zwischen ihr und ihm standen.

Als sie noch ein Mädchen und dann eine junge Frau gewesen war, hatte sie oft geträumt, er käme zu ihr, um ihr zu sagen, daß sein Tod ein Irrtum gewesen sei. In Wirklichkeit ginge es ihm gut. Dann nahm er sie stürmisch in die Arme. Aber stets bezahlte sie diese kurzen Ruhepausen mit einem bitteren Erwachen in einer Welt, in der es ihn nicht mehr gab. Trotzdem hatte sie diese Träume genährt und bereitwillig den übergroßen Preis dafür bezahlt, wenn sie am nächsten Morgen gezwungen war, den Verlust wieder neu zu entdecken und den Schmerz noch einmal zu durchleben. Diese Augenblicke mit einem Trugbild waren alles, was ihr von ihm geblieben war.

Und nun stand er hier — nicht als Traum oder Geist, sondern in Fleisch und Blut. Leibhaftig stand er vor ihr. Er hatte sie von den Sternen aus gerufen, und sie war gekommen. Sie drückte ihn an sich, so fest sie konnte. Sie wußte, daß es ein Trick war, eine Nachbildung, eine Simulation, aber die war fehlerlos. Einen Augenblick lang hielt sie ihn an den Schultern von sich weg. Er war vollkommen. Es war, als ob ihr Vater vor all den vielen Jahren gestorben und in den Himmel gekommen wäre. Und als ob sie es schließlich — auf diesem ungewöhnlichen Weg — geschafft hätte, wieder zu ihm zu kommen. Sie schluchzte und umarmte ihn von neuem.

Es dauerte noch eine Weile, bis sie sich wieder in der Gewalt hatte. Wenn es zum Beispiel Ken gewesen wäre, hätte sie zumindest mit dem Gedanken gespielt, daß ein weiteres Dodekaeder — möglicherweise die reparierte sowjetische Maschine — ihnen von der Erde zum Zentrum der Galaxis gefolgt wäre. Aber in diesem Fall kam die Möglichkeit nicht eine Sekunde in Betracht. Die sterblichen Überreste ihres Vaters ruhten auf einem an einem See gelegenen Friedhof.

Sie rieb sich die Augen und weinte und lachte gleichzeitig. „Also, wem verdanke ich diese Erscheinung — den Fortschritten im Roboterbau oder der Hypnose?“

„Künstlich geschaffen oder einem Traum entstiegen? Das kannst du bei allem fragen.“

„Auch heute noch vergeht keine Woche, in der ich nicht denke, daß ich alles dafür geben würde — alles, was ich habe —, nur um wieder ein paar Minuten mit meinem Vater zu verbringen.“

„Nun, hier bin ich“, sagte er fröhlich. Mit erhobenen Händen drehte er sich um, damit sie sich überzeugen konnte, daß auch sein Rücken vorhanden war. Aber er war so jung, sicherlich jünger als sie. Er war erst sechsunddreißig gewesen, als er starb.

Vielleicht war das die Art der Außerirdischen, ihre Ängste zu beruhigen. Wenn das zutraf, dann waren sie wirklich. aufmerksam. Ellie legte den Arm um ihren Vater und ging mit ihm zu ihren wenigen Habseligkeiten zurück. Zumindest fühlte er sich so an, als ob er körperlich vorhanden wäre. Wenn unter seiner Haut Kabelstränge und integrierte Schaltkreise lagen, waren sie gut versteckt.

„Wie geht es?“ fragte sie. Die Frage war mißverständlich. „Ich meine, sind wir.“

„Ich verstehe schon. Vom Empfang der BOTSCHAFT bis zu eurer Ankunft hier hat es lange gedauert.“

„Beurteilst du damit unsere Geschwindigkeit oder unsere Genauigkeit?“

„Weder noch.“

„Willst du damit sagen, wir sind mit dem Test noch gar nicht fertig?“

Er antwortete nicht.

„Kannst du mir nicht alles erklären?“ Ihre Stimme klang unglücklich. „Manche von uns haben Jahre damit verbracht, die BOTSCHAFT zu entziffern und die Maschine zu bauen. Willst du mir nicht sagen, was das alles soll?“

„Du bist richtig streitlustig geworden“, sagte er, als ob er wirklich ihr Vater wäre und seine letzten Erinnerungen an sie mit ihrem jetzigen, immer noch unvollkommen entwickelten Selbst vergleichen würde.

Liebevoll zauste er ihr das Haar. Auch daran erinnerte sie sich noch von ihrer Kindheit her. Aber wie konnten die Außerirdischen in 30000 Lichtjahren Entfernung von der Erde die liebevollen Gesten ihres Vaters kennen, wie sie vor langer Zeit im fernen Wisconsin seine Eigenart gewesen waren? Plötzlich wußte sie es.

„Träume“, sagte sie. „Als wir heute nacht alle geträumt haben, wart ihr in unseren Köpfen, nicht wahr? Ihr habt alles aus uns herausgesaugt, was wir wissen.“

„Wir haben nur Kopien gemacht. Ich glaube, alles, was sonst in deinem Kopf ist, ist auch jetzt noch dort. Sieh mal nach. Sag mir, wenn etwas fehlt.“ Er grinste und fuhr fort: „Eure Fernsehsendungen haben uns so vieles nicht gezeigt. Wir konnten zwar eure technologische Entwicklungsstufe sehr gut abschätzen und auch sonst viel über euch erfahren. Aber in eurer Rasse steckt noch sehr viel mehr, Dinge, die wir keinesfalls auf so indirekte Weise herausfinden konnten. Wahrscheinlich wirst du das als Einbruch in deine Privatsphäre empfinden.“

„Du machst Witze.“

„. aber wir haben nur wenig Zeit.“

„Soll das heißen, daß die Prüfung vorbei ist? Haben wir all eure Fragen beantwortet, während wir nachts schliefen? Also? Haben wir bestanden oder sind wir durchgefallen?“

„So ist das nicht“, sagte er. „Es ist keine Aufnahmeprüfung.“

In dem Jahr, in dem er starb, hatte sie vor dem Übergang in die High School gestanden.

„Du darfst dir uns nicht wie interstellare Sheriffs vorstellen, die vogelfreie Zivilisationen abknallen. Nimm uns eher als eine Art Institut für Galaktische Volkszählung. Wir sammeln Informationen. Ich weiß, daß ihr denkt, niemand könne von euch etwas lernen, weil ihr technologisch so rückständig seid. Aber eine Zivilisation kann auch andere Vorzüge haben.“

„Zum Beispiel?“

„Oh, Musik. Herzensgüte — übrigens ein Wort, das mir besonders gut gefällt. Träume. Die Menschen sind sehr gut im Träumen, obwohl man das aus euren Fernsehprogrammen nie schließen würde. Überall in der Galaxis gibt es Kulturen, die mit Träumen Handel treiben.“

„Ihr betreibt einen interstellaren Kulturaustausch? Ist es das? Ist es euch egal, wenn eine raubgierige, blutrünstige Zivilisation interstellare Raumfahrt betreibt?“

„Ich sagte, wir bewundern Herzensgüte.“

„Wenn die Nazis die Herrschaft über unsere Welt übernommen und die interstellare Raumfahrt entwickelt hätten, wärt ihr dann nicht eingeschritten?“

„Du wärst überrascht, wenn du wüßtest, wie selten so etwas vorkommt. Auf lange Sicht zerstören sich die aggressiven Zivilisationen fast immer selbst. Es liegt in ihrer Natur. Sie können nicht anders. In einem solchen Fall wäre es unsere Aufgabe, sie in Ruhe zu lassen. Dafür zu sorgen, daß niemand sie belästigt. Damit sie ihr Schicksal erfüllen können.“

„Warum habt ihr dann uns nicht in Ruhe gelassen? Ich beschwere mich nicht, verstehe mich nicht falsch. Ich bin nur neugierig, wie das Institut für Galaktische Volkszählung arbeitet. Das erste, was ihr von uns aufgefangen habt, war die Sendung mit Hitler. Warum habt ihr dann doch noch Kontakt aufgenommen?“

„Die Bilder waren natürlich beunruhigend. Wir konnten sehen, daß ihr in großen Schwierigkeiten steckt. Aber die Musik hat uns etwas anderes gesagt. Dieser Beethoven sagte uns, daß es Hoffnung gibt. Grenzfälle sind unsere Spezialität. Wir dachten, ihr könntet ein wenig Hilfe gebrauchen. Freilich können wir euch nur wenig anbieten. Du verstehst schon. Es gibt gewisse Grenzen, die uns von der Kausalität gesetzt sind.“

Er hatte sich hingehockt und die Hände ins Wasser getaucht. Jetzt trocknete er sie an seiner Hose ab. „Letzte Nacht haben wir in euch hineingeschaut. In alle fünf. Es steckt viel in euch: Gefühle, Erinnerungen, Instinkte, angelerntes Verhalten, Einsichten, Verrücktheit, Träume, Liebe. Liebe ist sehr wichtig. Ihr seid eine interessante Mischung.“

„Und das alles in einer Nacht?“ zog sie ihn ein wenig auf. „Wir mußten uns beeilen. Unser Zeitplan ist ziemlich eng.“

„Warum, soll etwas…“

„Nein, es ist nur so: Wenn nicht wir eine konsistente Kausalität konstruieren, entwickelt sie sich von selbst. Das ist fast immer schlechter.“

Sie hatte keine Ahnung, was er meinte. „‚Eine konsistente Kausalität konstruierend So hat mein Papa nie geredet.“

„Aber sicher. Kannst du dich nicht erinnern? Er war ein belesener Mann, und seit du ein kleines Mädchen warst, hat er — habe ich — mit dir wie mit seinesgleichen geredet. Erinnerst du dich nicht?“

Sie erinnerte sich. Ja, sie erinnerte sich. Und sie mußte an ihre Mutter im Pflegeheim denken.

„Was für ein hübscher Anhänger“, sagte er in genau dem Tonfall väterlicher Anteilnahme, den sie sich als Heranwachsende immer sehnsüchtig ausgemalt hatte, als er schon tot war. „Von wem hast du ihn?“

„Ach das“, sagte sie und nestelte an dem Medaillon herum.

„Eigentlich ist es von jemandem, den ich gar nicht so gut kenne. Er wollte meinen Glauben auf die Probe stellen. Er. Aber das mußt du eigentlich schon alles wissen.“ Wieder das breite Lächeln.

„Ich möchte wissen, was du von uns hältst“, sagte sie kurz angebunden, „was du wirklich von uns hältst.“ Er zögerte keinen Augenblick. „Gut. Ich finde es erstaunlich, daß ihr euch so gut gehalten habt. Ihr habt so gut wie keine soziologische Theorie, erstaunlich rückständige Wirtschaftssysteme, keine Vorstellung von der Funktionsweise historischer Voraussage und sehr wenig Wissen über euch selbst. Wenn man in Betracht zieht, wie schnell sich eure Welt verändert, ist es verwunderlich, daß ihr euch bis jetzt noch nicht in die Luft gejagt habt. Deshalb wollten wir euch noch nicht abschreiben. Ihr Menschen habt ein gewisses Talent zur Anpassung — jedenfalls kurzfristig.“

„Das ist der eigentliche Kernpunkt, nicht wahr?“

„Das ist ein Kernpunkt. Man kann sehen, daß die Zivilisationen, die nur kurzfristige Perspektiven haben, nach einer Weile einfach nicht mehr da sind. Auch sie erfüllen ihr Geschick.“

Sie wollte ihn fragen, was er für die Menschen wirklich empfand. Neugier? Mitleid? Oder überhaupt nichts? War es nur ein Job? Dachte er im Grunde seines Herzens — oder des entsprechenden inneren Organs, das er besaß — von ihr wie sie von einer. Ameise? Aber sie brachte es nicht über sich, die Frage zu stellen. Sie hatte zu viel Angst vor der Antwort. Aus dem Klang seiner Stimme und zwischen seinen Worten versuchte sie herauszuhören, wer sich hier als ihr Vater getarnt hatte. Sie hatte außerordentlich viel Erfahrung im Umgang mit Menschen. Die Beamten der Station hier hatten dagegen erst seit heute solche Erfahrungen sammeln können. Ob es ihr gelingen konnte, hinter dieser liebenswürdigen und so gesprächsbereiten Fassade etwas von ihrer wahren Natur zu erkennen? Sie konnte es nicht. Dem Inhalt seiner Worte nach war er natürlich nicht ihr Vater und gab auch gar nicht vor, es zu sein. Aber in jeder anderen Hinsicht war er Theodore F. Arroway, geboren 1924, gestorben 1960, Führer eines Haushaltswarengeschäfts und liebender Vater und Ehemann,

unheimlich ähnlich. Wenn sie sich nicht bewußt zusammennahm, würde sie für diese. Kopie bald kindisch schwärmen, das wußte sie. Ein Teil von ihr wollte ihn immer noch fragen, wie es ihm ergangen sei, seit er in den Himmel gekommen war. Was hielt er von Christi Wiederkunft und der Himmelfahrt der Gläubigen? Hatten die Vorbereitungen auf das Reich Gottes einen Sinn? Es gab menschliche Kulturen, in denen man sich für die Seligen ein Leben nach dem Tode auf Bergspitzen oder in Wolken vorstellte, oder in Höhlen oder Oasen, aber ihr fiel keine ein, die lehrte, daß man, wenn man vor dem Tode sehr, sehr brav war, ans Meer kam.

„Haben wir noch Zeit für ein paar Fragen, bevor. wir tun, was wir als nächstes tun sollen?“

„Sicher. Für ein oder zwei jedenfalls.“

„Erzähle mir von eurem Verkehrssystem.“

„Da weiß ich etwas Besseres“, sagte er. „Ich kann es dir zeigen. Erschrecke jetzt nicht.“

Formlose Schwärze tropfte vom Zenit und verdunkelte die Sonne und den blauen Himmel. „Das ist ja ungeheuerlich“, stammelte sie. Unter ihren Füßen war noch derselbe sandige Strand. Sie grub die Zehen in den Sand. Über ihr. war der Kosmos. Sie befanden sich, wie es schien, hoch über der Galaxis, sahen auf ihre spiralförmige Beschaffenheit hinab und stürzten mit einer unmöglichen Geschwindigkeit auf sie zu. Sachlich erklärte er ihr, indem er die ihr vertraute wissenschaftliche Ausdrucksweise benutzte, die riesige, windmühlenartige Struktur. Er zeigte ihr den Spiralarm des Orion, in den die Sonne in dieser Epoche eingebettet war. In seinem Innern, in absteigender Reihenfolge gemäß ihrer mythologischen Bedeutung angeordnet, befanden sich der Sagittarius-Arm, der Norma/Scutum-Arm und der Drei- Kiloparsec-Arm. Ein Netz gerader Linien wurde sichtbar. Es stellte das Verkehrssystem dar, das sie benutzt hatten. Es sah aus wie die beleuchteten Pläne in der Pariser Metro. Eda hatte recht gehabt. Die Stationen befanden sich in Sternensystemen mit einem doppelten Schwarzen Loch niedriger Masse. Sie wußte, daß die Schwarzen Löcher nicht aus kollabierenden Sternen, aus der normalen Evolution massiver Sternensysteme, entstanden sein konnten, denn dafür waren sie zu klein. Vielleicht gab es sie von allem Anfang an, vielleicht waren sie vom Urknall übriggeblieben und von irgendeinem unvorstellbaren Sternenschiff eingefangen und an den entsprechenden Stationen befestigt worden. Oder man hatte sie gebaut. Sie wollte ihn danach fragen, aber ihre Fahrt ging mit atemberaubender Geschwindigkeit weiter. Etwa im Zentrum der Galaxis drehte sich eine Scheibe aus glühendem Wasserstoff, und aus ihrem Innern stob ein Ring von Molekülwolken heraus, auf die Peripherie der Milchstraße zu. Ihr Vater zeigte ihr die geordneten Bewegungen in dem gigantischen Komplex der Molekülwolke Schütze B 2, die jahrzehntelang für ihre irdischen Kollegen in der Radioastronomie einer der beliebtesten Jagdgründe für komplexe organische Moleküle gewesen war. Näher beim Zentrum trafen sie eine weitere riesenhafte Molekülwolke an und dann Schütze A West, eine starke Quelle von Radiowellen, die Ellie selbst von Argus aus beobachtet hatte. Unmittelbar daran anschließend, im Zentrum der Galaxis und in einer leidenschaftlichen Schwerkraftumarmung verbunden, befand sich ein Paar gewaltiger Schwarzer Löcher. Jedes von ihnen hatte die Masse von fünf Millionen Sonnen. Gasströme von der Größe eines Sonnensystems ergossen sich in ihren Rachen. Zwei kolossale oder supermassive — Ellie konnte es gar nicht mit Hilfe einer irdischen Sprache ausdrücken — Schwarze Löcher umkreisten einander im Zentrum der Galaxis. Eines davon war bekannt, oder zumindest vermutete man, daß es existierte. Aber zwei? Hätte sich das nicht als Doppler-Verschiebung der Spektrallinien bemerkbar machen müssen? Sie stellte sich vor, daß unter dem einen ein Schild mit der Aufschrift EINGANG hing und unter dem anderen eines mit AUSGANG. Im Augenblick war der Ausgang in Betrieb, während der Eingang einfach nur da war. Und sie waren also hier in diesem Bahnhof, der Grand Central Station — gerade in sicherer Entfernung von den Schwarzen Löchern im Zentrum der Galaxis. In der Nähe leuchtete der Himmel von Millionen junger Sterne. Aber die Sterne, das Gas und der Staub wurden im Laufe langer Zeitalter von dem Schwarzen Loch, das den Eingang bildete, verschluckt.

„Das führt doch irgendwohin, oder?“ fragte sie. „Natürlich.“

„Kannst du mir sagen, wohin?“

„Sicher. Das ganze Zeug landet in Cygnus A.“ Cygnus A war etwas, womit sie sich auskannte. Mit Ausnahme des in der Nähe liegenden Supernovaüberrestes in der Kassiopeia war es die klarste Radioquelle am Himmel über der Erde. Ellie hatte errechnet, daß Cygnus A in einer Sekunde mehr Energie freisetzte als die Sonne in 40000 Jahren. Die Radioquelle lag 600 Millionen Lichtjahre weit entfernt, weit hinter der Milchstraße, draußen in der Sphäre der Galaxien. Wie das bei vielen außerhalb der Galaxis liegenden Radioquellen der Fall war, verursachten zwei gewaltige Gasströme, die sich fast mit Lichtgeschwindigkeit voneinander fortbewegten, zusammen mit dem dünnen, intergalaktischen Gas ein komplexes Geflecht von Rankine-Hugoniotschen Schockfronten. Dabei entstand ein Funksignal, das deutlich über den größten Teil des Universums hinweg zu erkennen war. Die gesamte Materie dieser riesenhaften Struktur von 50000 Lichtjahren Durchmesser floß aus einem winzigen, fast unsichtbaren Punkt im Raum genau in der Mitte zwischen den beiden Strömen. „Ihr stellt Cygnus A selber her?“

Sie erinnerte sich vage an eine Sommernacht in Michigan, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Sie hatte gefürchtet, in den Himmel zu stürzen. „Das sind nicht nur wir. Es ist ein. Gemeinschaftsprojekt vieler Galaxien. Damit beschäftigen wir uns hauptsächlich — mit fortgeschrittener Technik. Dagegen haben nur wenige von uns mit Zivilisationen zu tun, die sich erst noch entwickeln müssen.“

Jedesmal, wenn er stockte, spürte sie eine Art Prickeln im Kopf, in der Gegend des linken Scheitellappens.

„Es gibt also Gemeinschaftsprojekte mehrerer Galaxien?“ fragte sie. „Vieler Galaxien, von denen jede ihre eigene Zentralverwaltung hat? Und jede Galaxie besteht aus hundert Milliarden Sternen. Und diese Verwaltungen arbeiten dann zusammen. Um Millionen von Sonnen in den Centaurus… Entschuldigung, in Cygnus A zu stürzen? Die. entschuldige bitte, ich bin von den Ausmaßen ganz durcheinander. Warum tut ihr das alles? Wofür denn?“

„Du darfst dir das Universum nicht als Wildnis vorstellen. Das ist es seit Milliarden von Jahren nicht mehr“, sagte er. „Stelle es dir eher. kultiviert vor.“ Wieder das Prickeln.

„Aber wofür? Was gibt es da zu kultivieren?“

„Das grundlegende Problem läßt sich leicht darlegen. Laß dich nicht von großen Zahlen abschrecken. Schließlich bist du doch Astronomin. Das Problem besteht darin, daß sich das Universum ausdehnt und nicht genügend Materie enthält, die das Auseinanderfallen aufhalten könnte. Nach einiger Zeit gibt es dann keine neuen Galaxien mehr, keine neuen Sterne, keine neuen Planeten, keine neu entstehenden Lebensformen — nur immer die alte Besetzung. Alles wird baufällig. Das wird langweilig. Deshalb erproben wir in Cygnus A eine Technologie, mit der man etwas Neues machen kann. Man könnte es ein Experiment in Stadtsanierung nennen. Es ist nicht unser einziger Testlauf. Irgendwann einmal möchten wir einen Teil des Universums abriegeln, um zu verhindern, daß der Weltraum im Laufe der Äonen immer leerer wird. Dazu müssen wir natürlich die Dichte der Masse vor Ort erhöhen. Das ist eine harte, aber lohnende Arbeit.“

Wie das Führen eines Haushaltswarengeschäfts in Wisconsin.

Wenn Cygnus A 600 Millionen Lichtjahre entfernt war, dann sahen ihn die Astronomen auf der Erde — oder in diesem Fall auf der Milchstraße — so, wie er vor 600 Millionen Jahren gewesen war. Auf der Erde jedoch hatte es vor 600 Millionen Jahren, wie sie wußte, sogar in den Ozeanen kaum Lebewesen von nennenswerter Größe gegeben.

Vor 600 Millionen Jahren an einem Strand wie diesem hier. nur ohne Krebse, Möwen und Palmen. Sie versuchte, sich eine mikroskopisch kleine Pflanze vorzustellen, die an Land gespült wurde und zitternd knapp oberhalb der Wasserlinie Fuß faßte, während sich diese Wesen mit experimenteller Galaktogenese und den Anfangsgründen kosmischer Technologie befaßten.

„Ihr habt während der letzten 600 Millionen Jahre Materie in Cygnus A geschüttet?“

„Na ja, was ihr mit Hilfe der Radioastronomie entdeckt habt, war nur einer unserer frühen Testläufe. Wir sind jetzt viel weiter.“

Und in der entsprechenden Zeit von einigen weiteren hundert Millionen Jahre würden die Radioastronomen auf der Erde — wenn es dann noch welche gab — wesentliche Fortschritte im Wiederaufbau des Universums um Cygnus A entdecken. Sie wappnete sich für weitere Enthüllungen und nahm sich vor, sich nicht einschüchtern zu lassen. Es gab eine Hierarchie der Lebewesen von einem Umfang, wie sie es sich nicht vorgestellt hatte. Aber die Erde hatte ihren Platz, ihre Bedeutung in dieser Hierarchie. Sonst hätte man sich hier nicht so viel Mühe mit ihr gemacht. Die Schwärze zog sich wieder zum Zenit zurück und wurde aufgesogen. Wieder erschienen die Sonne und der blaue Himmel. Um sie sah es aus wie zuvor: Brandung, Sand, Palmen, die Magritte-Tür, Mikrokamera und Palmwedel und ihr. ihr Vater.

„Die sich bewegenden interstellaren Wolken und Ringe in der Nähe des Zentrums der Galaxis — die entstehen doch durch regelmäßige Explosionen hier in der Gegend? Ist es aber dann nicht gefährlich, die Station hier einzurichten?“

„Ab und zu gibt es Explosionen, nicht regelmäßig. Relativ selten sogar. Es ist nicht das gleiche wie das, was wir bei Cygnus A machen. Mit den Explosionen hier werden wir leicht fertig. Wir wissen, wann es soweit ist, und im allgemeinen ziehen wir dann einfach den Kopf ein. Wenn es wirklich gefährlich wird, verlegen wir die Station für eine Weile. Das ist für uns Routinearbeit, verstehst du?“

„Natürlich. Routine. Ihr habt das alles gebaut? Ich meine die U-Bahnen. Ihr und diese anderen. Ingenieure von anderen Galaxien?“

„Nein, nein, wir haben nichts davon gebaut.“

„Dann habe ich etwas nicht mitbekommen. Hilf mir, es zu verstehen.“

„Es scheint überall das gleiche zu sein. In unserem Fall war es so: Wir tauchten vor langer Zeit auf verschiedenen Welten der Milchstraße auf. Zuerst entwickelten wir den interstellaren Raumflug, dann kamen wir schließlich durch Zufall zu einer der Durchgangsstationen. Natürlich wußten wir zunächst nicht, was das war. Wir waren nicht einmal sicher, ob es etwas Künstliches war, bis die ersten von uns mutig genug waren, hinunterzurutschen.“

„Wer ist ‚wir’? Meinst du die Vorfahren deiner. Rasse, deiner Art?“

„Nein, nein. Wir sind viele Arten aus vielen Welten. Schließlich fanden wir eine große Anzahl U-Bahnen — sie waren unterschiedlich alt, auf unterschiedliche Weise gestaltet und alle verlassen. Die meisten waren noch in gutem Zustand. Wir haben sie nur repariert und ein paar Verbesserungen angebracht.“

„Und es gab keine anderen solcher Artefakte? Keine toten Städte? War von den Erbauern der Untergrundbahn niemand übrig?“ Er schüttelte den Kopf.

„Keine industrialisierten, verlassenen Planeten?“ Wieder schüttelte er den Kopf.

„Es gab also eine über die gesamte Galaxis verbreitete Zivilisation, die ihre Sachen gepackt hat und weggegangen ist, ohne eine Spur zu hinterlassen — abgesehen von den Bahnhöfen?“

„Das ist mehr oder weniger richtig. In anderen Galaxien war es das gleiche. Vor Milliarden von Jahren sind sie alle irgendwohin gegangen. Wir haben nicht die leiseste Ahnung, wohin.“

„Aber wo hätten sie denn hingehen können?“ Er schüttelte zum dritten Mal den Kopf, jetzt sehr langsam.

„Ihr seid also nicht.“

„Nein, wir sind nur die Verwalter“, sagte er. „Vielleicht werden sie eines Tages zurückkommen.“

„Gut, noch eine Frage“, bat sie. Sie streckte den Zeigefinger bittend in die Höhe, wie sie es wahrscheinlich im Alter von zwei Jahren immer getan hatte. „Noch eine Frage.“

„In Ordnung“, antwortete er geduldig. „Aber wir haben nur noch wenige Minuten Zeit.“

Sie warf einen Blick auf die Tür und unterdrückte ein Schaudern, als ein kleiner, fast durchsichtiger Krebs vorbeikrabbelte.

„Ich möchte etwas über eure Mythen wissen, über eure Religionen. Wovor habt ihr Ehrfurcht? Oder können die, die selbst das Numinose sind, keine Ehrfurcht davor empfinden?“

„Auch ihr seid ein Teil des Numinosen. Nein, ich weiß, wonach du fragst. Sicher empfinden wir es. Du merkst, daß ich dir manches davon nur schwer vermitteln kann. Ich will dir ein Beispiel dafür geben. Vielleicht trifft es nicht ganz exakt, aber es wird dir einen.“

Er hielt kurz inne, und wieder spürte sie ein Prickeln, dieses Mal im linken hinteren Scheitellappen. Sie hatte den Eindruck, daß er zwischen ihren Neuronen herumsuchte. War ihm in der Nacht etwas entgangen? Wenn ja, war sie froh. Das bedeutete, daß auch diese Wesen nicht vollkommen waren.

„.Eindruck von dem geben, was für uns das Numinose ist. Es geht um Pi, um das Verhältnis des Umfangs eines Kreises zu seinem Durchmesser. Du kennst das natürlich genau und weißt auch, daß man das Ende von Pi nie erreicht. Es gibt kein Wesen im Universum, es mag auch noch so klug sein, das Pi bis auf die letzte Stelle errechnen könnte — weil es keine letzte Stelle gibt, sondern nur eine unendliche Anzahl von Stellen. Eure Mathematiker haben sich bemüht, das auszurechnen bis auf die.“ Wieder spürte sie das Prickeln.

„. keiner von euch scheint das so genau zu wissen. sagen wir, bis auf die zehnmilliardste Stelle genau. Es wird dich nicht überraschen zu hören, daß andere Mathematiker weiter gegangen sind. Nun, schließlich — nehmen wir an, bei der zehn hoch zwanzigsten Stelle — passiert etwas. Die zufällig wechselnden Ziffern verschwinden und eine unglaublich lange Zeit gibt es nur Einsen und Nullen.“ Träge zeichnete er mit der Zehe einen Kreis in den Sand. Sie wartete einen Augenblick, bevor sie etwas sagte. „Und die Nullen und Einsen hören schließlich auf? Folgt dann wieder eine Zufallsfolge von Ziffern?“ Als sie ein schwaches Zeichen der Zustimmung sah, fuhr sie schnell fort: „Und die Anzahl der Nullen und Einsen? Ist sie ein Produkt aus Primzahlen?“

„Ja, aus elf Primzahlen.“

„Du willst sagen, tief im Innern der Zahl Pi sei eine elfdimensionale Botschaft verborgen? Jemand im Universum kommuniziere mittels. der Mathematik? Aber. hilf mir weiter, es fällt mir wirklich schwer, deine Ausführungen zu verstehen. Die Mathematik ist nicht willkürlich. Ich meine, Pi muß überall denselben Wert haben. Wie kann man im Innern von Pi eine Botschaft verstecken? Pi gehört zum Aufbau des Universums.“

„Genau.“ Sie starrte ihn an.

„Es kommt noch besser“, fuhr er fort. „Angenommen, die Folge von Nullen und Einsen taucht nur beim Rechnen mit der Grundzahl Zehn auf, obwohl man auch bei jeder anderen Art zu rechnen merken würde, daß sich etwas Sonderbares tut. Nehmen wir auch an, daß die Wesen, die als erste diese Entdeckung gemacht haben, zehn Finger hatten. Verstehst du, was das heißt? Es ist, als ob Pi Milliarden von Jahren lang darauf gewartet hätte, daß zehnfingrige Mathematiker mit schnellen Computern daherkommen. Du verstehst, die BOTSCHAFT war in gewisser Weise an uns gerichtet.“

„Aber das ist doch nur eine Metapher, oder? Es dreht sich nicht wirklich um Pi und die zehn hoch zwanzigste Stelle? In Wirklichkeit hast du nicht zehn Finger.“

„Eigentlich nicht.“ Er lächelte sie wieder an. „Also, in Gottes Namen, wie heißt die BOTSCHAFT?“

Er hielt einen Moment inne, dann hob den Zeigefinger und deutete auf die Tür. Sie hatte sich geöffnet und aus ihr strömte eine kleine Gruppe von Leuten, die sich angeregt miteinander unterhielten.

Sie waren vergnügter Stimmung, wie auf einem lange aufgeschobenen Picknickausflug. Eda war in Begleitung einer umwerfenden jungen Frau, die mit Rock und Bluse in leuchtenden Farben bekleidet war und das Haar ordentlich mit einem gele bedeckt hatte, einem Spitzentuch, das die moslemischen Frauen im Land der Yoruba zu tragen pflegten. Offensichtlich war er überglücklich, sie zu sehen. Ellie erinnerte sich an Photos, die er ihr gezeigt hatte, und erkannte sie als Edas Frau. Devi Sukhavati hielt einen ernsten jungen Mann mit großen, melancholischen Augen bei der Hand. Sie nahm an, daß es Surindar Ghosh war, der vor langer Zeit verstorbene Medizinstudent, mit dem Devi verheiratet gewesen war. Xi unterhielt sich angeregt mit einem kleinen, kräftigen Mann von gebieterischem Auftreten. Er trug einen dünnen, herabhängenden Oberlippenbart und war in ein reich mit Brokat besetztes und mit Perlen besticktes Gewand gekleidet. Ellie stellte sich vor, wie er den Bau des Modells des Reichs der Mitte persönlich überwachte und den Männern, die das Quecksilber in die Flüsse gössen, Anweisungen erteilte. Waygay kam mit einem Mädchen von elf oder zwölf Jahren zu ihr, dessen blonde Zöpfe beim Gehen wippten. „Das ist meine Enkelin Nina. mehr oder weniger. Meine Große Führerin. Ich hätte sie euch schon früher vorstellen sollen. In Moskau.“

Ellie umarmte das Mädchen. Sie war erleichtert, daß Waygay nicht mit Meera, der Striptänzerin, erschienen war. Ellie merkte, wie zärtlich er Nina gegenüber war, und entschied, daß sie ihn noch mehr als zuvor mochte. Während all der Jahre, die sie ihn kannte, hatte er diesen geheimen Platz in seinem Herzen gut verborgen gehalten. „Ich bin ihrer Mutter kein guter Vater gewesen“, vertraute er Ellie an. „In letzter Zeit sehe ich Nina kaum noch.“ Sie sah sich um. Die Stationsbeamten hatten jedem der fünf das herbeigezaubert, was ihm das liebste war. Vielleicht war das ihre Methode, Kommunikationsbarrieren gegenüber anderen, so erschreckend andersartigen Rassen zu verringern. Ellie war zumindest froh darüber, daß keiner sich glücklich mit einer Kopie von sich selbst unterhielt. Was wäre, wenn man das auch auf der Erde tun könnte? fragte sie sich. Was wäre, wenn man sich trotz aller Verstellungs- und Geheimhaltungsversuche in der Öffentlichkeit mit der Person zeigen müßte, die man am meisten liebte? Man stelle sich vor, es wäre eine Bedingung für den gesellschaftlichen Umgang auf der Erde! Das würde alles verändern. Sie stellte sich vor, wie eine Phalanx von Angehörigen eines Geschlechts ein einzelnes Mitglied des anderen Geschlechts umringte. Oder Ketten von Leuten. Kreise. Die Buchstaben „H“ oder „Q“. Faule Achter. Man könnte Zuneigung mit einem Blick auf ihre Tiefe überprüfen, indem man einfach die geometrische Form anschaute — eine Art allgemeiner Relativität, angewandt auf die Sozialpsychologie. Die praktischen Schwierigkeiten einer solchen Konstruktion wären beträchtlich, aber niemand würde mehr in der Liebe lügen können.

Die Stationsbeamten mahnten höflich, aber bestimmt zur Eile. Es war nicht mehr viel Zeit zum Reden. Der Eingang zur Luftschleuse des Dodekaeders war wieder sichtbar, ungefähr dort, wo er bei ihrer Ankunft gewesen war. Zum Ausgleich, oder vielleicht aufgrund eines interdimensionalen Erhaltungsgesetzes, war die Magritte-Tür verschwunden. Sie stellten sich einander vor. Ellie kam sich in mehr als einer Hinsicht albern vor, als sie Kaiser Qin auf englisch erklärte, wer ihr Vater war. Aber Xi übersetzte pflichtschuldigst, und die beiden gaben sich feierlich die Hand wie bei einer zufälligen ersten Begegnung, etwa bei einer Grillparty in der Vorstadt. Edas Frau war eine richtige Schönheit, und Surindar Ghosh sah sie nicht nur einmal kurz an. Devi schien das nichts auszumachen. Vielleicht war sie einfach zufrieden mit der Genauigkeit des Trugbilds.

„Wo hast du dich wiedergefunden, als du durch die Tür getreten bist?“ fragte Ellie sie leise.

„Maidenhall Way 416“, antwortete sie. Ellie sah sie verständnislos an. „London 1973. Mit Surindar.“

Sie deutete mit dem Kopf zu ihm hinüber. „Vor seinem Tod.“ Ellie fragte sich, was sie wohl vorgefunden hätte, wenn sie die Schwelle auf dem Strand überschritten hätte. Wahrscheinlich Wisconsin in den späten fünfziger Jahren. Sie war nicht planmäßig aufgetaucht, also war er gekommen, um sie abzuholen. In Wisconsin hatte er das mehr als einmal getan. Auch Eda hatte von einer Botschaft tief im Innern einer transzendenten Zahl erfahren, aber in seiner Geschichte handelte es sich weder um p noch um e, die Basis der natürlichen Logarithmen, sondern um eine Klasse von Zahlen, von der Ellie noch nie gehört hatte. Da es unendlich viele transzendente Zahlen gab, würden sie nie sicher wissen, welche Zahl sie nach ihrer Rückkehr zur Erde untersuchen sollten.

„Ich wäre so wahnsinnig gerne geblieben, um daran zu arbeiten“, erzählte Eda ihr leise, „und ich habe gespürt, daß sie Hilfe brauchen — neue, unkonventionelle Methoden, über Lösungen nachzudenken. Aber ich glaube, ihnen bedeutet das etwas sehr Persönliches. Sie wollen es mit niemandem teilen. Und wenn ich es realistisch sehe, muß ich davon ausgehen, daß wir einfach nicht klug genug sind, um ihnen zu helfen.“

Sie hatten die Botschaft in p nicht entziffert? Die Stationsbeamten, die Verwalter, die Planer neuer Galaxien hatten eine Botschaft noch nicht ausgerechnet, mit der sie schon seit ein oder zwei galaktischen Umdrehungen konfrontiert waren? War die Botschaft so schwierig, oder waren sie.? „Zeit zur Heimreise“, sagte ihr Vater freundlich. Es war schmerzlich. Sie wollte nicht gehen. Sie starrte den Palmwedel an. Sie versuchte, noch weitere Fragen zu stellen. „Was meinst du mit ‚Heimreise’? Werden wir irgendwo im Sonnensystem auftauchen? Wie kommen wir auf die Erde zurück?“

„Ihr werdet sehen“, antwortete er. „Es wird euch interessieren.“

Er legte den Arm um ihre Taille und führte sie zur Tür der Luftschleuse, die offen stand.

Es kam ihr vor, als ob es Zeit wäre, ins Bett zu gehen. Wenn man nett war und kluge Fragen stellte, ließen sie einen vielleicht noch ein bißchen aufbleiben. Es hatte immer gewirkt, wenigstens ein bißchen.

„Die Erde ist jetzt an das Verkehrsnetz angeschlossen, nicht wahr? In beiden Richtungen. Wenn wir heimfahren können, könnt auch ihr ganz rasch zu uns herunterkommen. Weißt du, das macht mich schrecklich nervös. Warum löst ihr die Verbindung nicht einfach? Wir nehmen sie einfach von hier mit.“

„Tut mir leid, mein Mädchen“, erwiderte er, als ob sie ihre Schlafenszeit von acht Uhr bereits unverschämt weit überzogen hätte. Tat es ihm leid wegen der Schlafenszeit oder weil er nicht bereit war, den Tunnel abzukoppeln? „Zumindest eine Zeitlang wird er nur für den ankommenden Verkehr geöffnet sein“, sagte er. „Aber wir haben nicht vor, ihn zu benutzen.“

Über die Isolation der Erde von der Wega wäre sie froh gewesen. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn zwischen ungehörigem Betragen auf der Erde und der Ankunft einer Strafexpedition ein Spielraum von zweiundfünfzig Jahren gelegen hätte. Die Verbindung durch die Schwarzen Löcher war ihr unbehaglich. Sie konnten fast augenblicklich ankommen, vielleicht nur in Hokkaido, vielleicht überall auf der Erde. Es war ein Übergangsstadium zur Mikrointervention, wie Hadden sie genannt hatte. Was für Versicherungen sie ihnen auch gaben, sie würden die Menschen jetzt genauer beobachten. Nicht mehr nur alle paar Millionen Jahre einmal kurz nachschauen.

Sie dachte genauer über ihr Unbehagen nach. Die Umstände waren so. theologisch. geworden. Hier waren Wesen, die im Himmel lebten, ungeheuer viel wußten und mächtig waren, Wesen, die sich um das Überleben der Menschen sorgten, Wesen, die bestimmte Erwartungen hatten, wie die Menschen sich verhalten sollten. Sie stritten diese Rolle ab, aber es gab keinen Zweifel: Sie konnten Belohnung und Strafe, Leben und Tod über die kümmerlichen Bewohner der Erde verhängen. Wie unterschied sich das überhaupt von den Religionen früherer Zeiten? Die Antwort fiel ihr sofort ein: Es war eine Frage des Beweismaterials. Ihre Videobänder und die Daten, die die anderen gesammelt hatten, enthielten harte Beweise für die Existenz der Station und alles, was dort vorging. Beweise für das Verkehrssystem der Schwarzen Löcher. Es würde fünf voneinander unabhängige, sich gegenseitig bestätigende Geschichten geben, die von zwingenden, greifbaren Beweisen gestützt wurden. Das hier war Tatsache, kein Gerücht und erst recht kein Hokuspokus.

Sie drehte sich zu ihm um und ließ den Palmwedel fallen. Wortlos bückte er sich und gab ihn ihr wieder. „Du hast mir alle meine Fragen sehr großzügig beantwortet. Kann ich dir jetzt vielleicht auch noch ein paar beantworten?“

„Danke. Das hast du bereits gestern nacht getan.“

„Und das ist alles? Keine Gebote? Keine Vorschriften für die Provinzler?“

„So funktioniert das nicht, Liebes. Du bist jetzt erwachsen. Du mußt auf eigenen Füßen stehen.“ Er legte den Kopf auf die Seite, grinste sie an, und sie warf sich in seine Arme. Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. Sie umarmten sich lange. Schließlich spürte sie, wie er sich sanft aus ihren Armen löste. Es war Zeit, ins Bett zu gehen. Sie dachte daran, den Zeigefinger hochzustrecken, um noch um eine Minute Aufschub zu bitten. Aber sie wollte ihn nicht enttäuschen. „Leb wohl, mein Mädchen“, sagte er. „Grüß deine Mutter von mir.“

„Paß auf dich auf“, antwortete sie leise. Sie warf einen letzten Blick auf die Küste im Zentrum der Galaxis. Ein Paar Seevögel, vielleicht Sturmvögel, schwebten mit ausgebreiteten Schwingen bewegungslos auf einer aufsteigenden Luftsäule. Vor dem Eingang zur Luftschleuse drehte sich Ellie noch einmal um und rief ihm zu: „Wie lautet eure BOTSCHAFT? Die in Pi!“

„Wir wissen es nicht“, antwortete er ein wenig traurig und kam ein paar Schritte auf sie zu. „Vielleicht ist das Ganze ein statistischer Zufall. Wir arbeiten noch daran.“

Ein Brise kam auf und zauste ihr Haar.

„Ruft uns an, wenn ihr es ausgerechnet habt“, erwiderte sie.

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