8 Zufallsnäherung

Der Theolog mag dem angenehmen Berufe folgen, die Religion zu beschreiben, wie sie vom Himmel niederstieg, im Gewande ihrer ursprünglichen Reinheit. Eine traurigere Pflicht ist dem Historiker auferlegt. Er hat die unvermeidliche Mischung von Irrtum und Verderbtheit zu entdecken, welche sie während eines langen Aufenthaltes auf Erden unter einer schwachen und entarteten Gattung von Wesen annahm.

Edward Gibbon

Geschichte des Verfalls und Untergangs des Römischen Reiches, XV

Ellie ging nicht nach dem Zufallsprinzip vor, sondern machte einen systematischen Durchgang durch die einzelnen Fernsehprogramme. Die Sendungen Über das Leben von Massenmördern und Die Wette gilt lagen auf benachbarten Kanälen. Dann gab es ein temperamentvolles Basketballspiel zwischen den Johnson City Wildcats und den Union-Endicott Tigers. Die jungen Spieler und Spielerinnen waren mit ganzem Einsatz dabei. Auf dem nächsten Kanal wurde man feierlich in Parsi ermahnt, die vorgeschriebenen Riten während des Ramadan einzuhalten. Daneben lag ein Kanal, auf dem abnorme Sexualpraktiken gezeigt wurden. Ellie schaltete weiter. Sie kam zu einer der ersten Sendungen für Computerspiele, einer Branche, die jetzt einen schweren Stand hatte. Wenn man sich zu Hause mit dem eigenen Computer anschloß, wurde einem hier die Möglichkeit angeboten, in eine neue Welt des Abenteuers vorzudringen. Die heutige Sendung hieß Gilgamesch der Galaxis. Natürlich hoffte man, daß die Sendung so attraktiv war, daß die Zuschauer die entsprechende Diskette über einen der Verkaufskanäle bestellen würden. Ein elektronischer Kopierschutz verhinderte, daß man das Programm während der Sendung aufzeichnete. In Ellie stieg Ärger auf. Die meisten Videospiele waren voll von Klischees und keineswegs dafür geeignet, Heranwachsende auf eine unbekannte Zukunft vorzubereiten.

Sie kam zu einem der älteren Sender, in dem ein Sprecher mit ernster und besorgter Miene zu dem noch ungeklärten Angriff eines nordvietnamesischen Torpedoboots auf zwei Zerstörer der Siebten US-Flotte im Golf von Tongking Stellung nahm und die Bitte des Präsidenten an den Kongreß zitierte, ihn zu ermächtigen, „die notwendigen Vergeltungsschritte einzuleiten“. Es war eine ihrer Lieblingssendungen, in der die Nachrichten früherer Jahre wiederholt wurden. In der zweiten Hälfte der Sendung wurden die Nachrichten dann Punkt für Punkt analysiert, Fehlinformationen festgestellt und die unverbesserliche Leichtgläubigkeit der Nachrichtenorganisationen gegenüber den oft unbestätigten und eigennützigen Angaben der Behörden kritisiert. Die Sendung wurde von einer Gesellschaft produziert, die sich REALI-TV nannte. Weitere Sendungen dieser Gesellschaft waren Promises, Promises, in der unerfüllt gebliebene Wahlversprechen auf lokaler, Bundes- und nationaler Ebene untersucht wurden, und Bamboozles and Baloney, eine Serie, in der jede Woche aufs neue der Kampf gegen verbreitete Vorurteile, Propaganda und Märchen aufgenommen wurde. Das Datum auf dem Bildschirm zeigte den 15. August 1964.

Erinnerungen an ihre Schulzeit stiegen in Ellie auf. Sie drückte auf den nächsten Knopf.

Beim weiteren Durchgang durch die einzelnen Kanäle gelangte sie noch zu einem orientalischen Kochkurs, bei dem diese Woche Hibachi dran war, zu einer ausführlichen Werbung für die erste Generation von Haushaltsrobotern von Hadden Cybernetics, zu den russischen Nachrichten und den Kommentaren der sowjetischen Botschaft, zu mehreren Sendungen für Kinder, Nachrichtensendungen, dem Mathematikprogramm, das die bestechend schönen Computergraphiken des neu eingerichteten Kurses für analytische Geometrie an der Cornell-Universität vorführte, dem lokalen Wohnungs- und Immobilienkanal und einer Unmenge fürchterlicher Fortsetzungsserien. Schließlich kam sie zu den religiösen Sendern, auf denen immer noch aufgeregt und heftig über die BOTSCHAFT diskutiert wurde. Der Besuch der Gottesdienste war in ganz Amerika sprunghaft angestiegen. Ellie vermutete, daß die BOTSCHAFT eine Art Spiegel war, in dem jeder einzelne seine Überzeugungen bestätigt oder in Frage gestellt sah. Von sich gegenseitig ausschließenden apokalyptischen und eschatologischen Doktrinen wurde die BOTSCHAFT zur pauschalen Rechtfertigung der jeweiligen Lehre herangezogen. In den Ländern Peru, Algerien, Mexiko, Zimbabwe, Ekuador und bei den Hopi-Indianern wurde öffentlich darüber diskutiert, ob die Vorfahren aus dem All zurückgekehrt waren. Wer nicht dieser Meinung war, wurde als Kolonialist beschimpft. Katholiken sprachen vom außerirdischen Gnadenstaat. Protestanten diskutierten über frühere mögliche Missionen von Jesus zu benachbarten Planeten und natürlich über seine eventuelle Rückkehr zur Erde. Moslems befürchteten, daß die BOTSCHAFT gegen das Verbot von Götzenbildern verstoßen könnte. In Kuwait war ein Mann aufgetaucht, der den Anspruch erhob, der Irnam der Schiiten zu sein. Messianischer Eifer war unter den Sossafer Chassidim ausgebrochen. In anderen jüdisch-orthodoxen Gemeinden interessierte man sich plötzlich wieder für Astruk, einen religiösen Fanatiker, der gefürchtet hatte, daß Wissen den Glauben untergrabe. Dieser Mann hatte 1305 den Rabbi von Barcelona, den führenden jüdischen Geistlichen der damaligen Zeit, dazu veranlaßt, allen jungen Männern unter fünfundzwanzig das Studium der Naturwissenschaften und der Philosophie unter Androhung der Exkommunikation zu verbieten. Ähnliche Strömungen zeigten sich auch zunehmend im Islam. In Thessalien erregte ein Philosoph mit dem verheißungsvollen Namen Nikolas Polydemos große Aufmerksamkeit mit leidenschaftlichen Reden für eine — wie er es nannte — „Wiedervereinigung“ aller Religionen, Regierungen und Völker der Welt. Seine Kritiker stellten als erstes einmal das „Wieder“ in Frage.

UFO-Clubs organisierten rund um die Uhr Wachen beim Brooks-Luftwaffenstützpunkt in der Nähe von San Antonio, da dort angeblich die vollkommen erhaltenen Körper von vier Passagieren einer fliegenden Untertasse, die hier 1947 angeblich eine Bruchlandung gebaut hatte, in Kühlschränken schmachteten; angeblich waren die Außerirdischen einen Meter groß und hatten kleine, makellose Zähne. In Indien berichtete man von Erscheinungen Vischnus, in Japan war Amida Buddha erschienen. In Lourdes war von Hunderten von Wunderheilungen die Rede. In Tibet rief sich ein neuer Bodhisattva aus. In Australien wurde ein neuartiger, aus Neuguinea stammender Kult eingeführt, der den Nachbau primitiver Fetische in Form von Radioteleskopen predigte, die reiche außerirdische Geschenke anziehen sollten. Für die weltweite Vereinigung der Freidenker war die BOTSCHAFT die Widerlegung der Existenz Gottes. Die Mormonen erklärten sie zur zweiten Offenbarung des Engels Moroni.

Die BOTSCHAFT wurde von den verschiedensten Gruppierungen als Beweis für eine Vielzahl von Göttern, für einen Gott oder für überhaupt keinen Gott interpretiert. Chiliasmus war weitverbreitet. Einige prophezeiten das Ende der Welt für das Jahr 1999 — als kabbalistische Umkehrung des Jahres 1666, für das Sabbatai Zevi das Ende der Welt angenommen hatte. Andere wählten die Jahre 1996 oder 2033, in die vermutlich die zweitausendste Wiederkehr der Geburt und des Todes Jesu fielen. Der berühmte Kalender der alten Mayas sollte mit dem Jahr 2011 enden, in dem nach der Überlieferung dieser eigenständigen Kultur der Kosmos unterging. Das Zusammentreffen der Prophezeiung der Mayas und der christlichen Endzeitvorstellungen führte zu einer Art apokalyptischer Hysterie in Mexiko und Zentralamerika. Einige Chiliasten, die an den früheren Zeitpunkt glaubten, verschenkten ihren Reichtum an die Armen, weil Geld bald sowieso nichts mehr wert sein würde und weil sie sich für das Jüngste Gericht eine gute Ausgangsposition verschaffen wollten.

Fanatismus, Angst, Hoffnung, leidenschaftliche Diskussionen, stille Gebete, ekstatische Bekehrungsszenen, beispiellose Selbstlosigkeit, engstirnige Bigotterie und eine Begeisterung für neue Ideen breiteten sich wie eine Epidemie in fiebernder Hast über den winzigen Planeten Erde aus. Ellie glaubte zu erkennen, daß aus dieser gärenden Unruhe langsam die Erkenntnis der Welt als eines Fadens in dem riesigen kosmischen Teppich aufdämmerte. Unterdessen widersetzte sich die BOTSCHAFT noch immer allen Entschlüsselungsversuchen.

Auf einem jener üblen Propagandakanäle, die durch den ersten Zusatz zur amerikanischen Verfassung geschützt waren, beschuldigte ein geifernder Sprecher sie, Waygay, Der Heer und in geringerem Maß auch Peter Valerian verschiedener Vergehen, unter anderem des Atheismus, des Kommunismus und des Egoismus, weil sie angeblich den Inhalt der BOTSCHAFT geheimhielten. Ellie wußte, daß Waygay gar kein überzeugter Kommunist war und daß Valerian einen tiefen, gefestigten und weltoffenen christlichen Glauben besaß. Wenn sie jemals das Glück haben sollte, die BOTSCHAFT zu entschlüsseln, würde sie sie diesem scheinheiligen, verlogenen Fernsehkommentator persönlich übergeben. Der Held der Sendung dagegen war David Drumlin als der Mann, der den Primzahlen und der Olympiasendung auf die Spur gekommen war. Von solchen Wissenschaftlern bräuchten wir mehr, behauptete der Sprecher. Ellie seufzte und schaltete zum nächsten Programm um. Jetzt war sie bei TABS, dem Turner American Broadcasting System angelangt. Diese Gesellschaft hatte als einzige der großen kommerziellen Sendeanstalten, die früher das Fernsehen in den Vereinigten Staaten dominiert hatten, überlebt. Die anderen waren durch Fernsehübertragungen über direktstrahlende Satelliten und ein Kabelnetz von 180 Kanälen abgelöst worden. Gerade hatte Palmer Joss einen seiner seltenen Fernsehauftritte. Wie fast alle Amerikaner erkannte Ellie sofort seine volltönende Stimme, sein leicht ungepflegtes, aber attraktives Aussehen und die schwarzen Ränder unter den Augen, die einem den Eindruck machten, daß er vor lauter Sorgen um den Rest der Welt keinen Schlaf fand. „Was hat die Wissenschaft denn wirklich für uns getan?“ ereiferte er sich. „Sind wir glücklicher geworden? Ich meine damit nicht dreidimensionales Fernsehen oder Weintrauben ohne Kerne. Bestechen uns die Wissenschaftler denn nicht mit Spielzeug, mit technischen Spielereien, während sie zugleich unseren Glauben untergraben?“ Er war ein Mann, dem die Welt zu kompliziert geworden war, dachte Ellie, ein Mann, der sein ganzes Leben lang versucht hatte, krasse Gegensätze miteinander in Einklang zu bringen. Er hatte die Exzesse der religiösen Sekten verurteilt und glaubte, daß man jetzt konsequenterweise auch Evolution und Relativität bekämpfen mußte. Warum griff er nicht die Existenz des Elektrons an? Palmer Joss hatte nie eines gesehen, und in der Bibel kam Elektromagnetismus nicht vor. Warum also an Elektronen glauben? Obwohl Ellie ihn bisher noch nie über dieses Thema hatte sprechen hören, war sie sicher, daß er früher oder später auf die BOTSCHAFT kommen würde. Sie behielt recht.

„Die Naturwissenschaftler behalten ihre Erkenntnisse für sich. Sie geben uns nur wenige Krumen ab, gerade soviel, daß wir stillhalten. Sie denken, daß wir zu dumm sind, sie zu verstehen. Und sie teilen uns nur die Ergebnisse mit, ohne sie zu beweisen. Sie verkünden ihre Erkenntnisse, als ob sie die Heilige Schrift und nicht Spekulationen, Theorien und Hypothesen wären — wie normale Menschen es nennen würden. Sie fragen nie danach, ob die neue Theorie genauso gut für die Menschen ist wie der Glaube, den sie zu ersetzen versucht. Sie überschätzen, was sie wissen, und unterschätzen, was wir wissen. Wenn wir sie um Erklärungen bitten, antworten sie, daß wir Jahre brauchten, bis wir ihre Theorien verstünden. Ich kenne das. Auch in der Religion gibt es Dinge, für die man Jahre braucht, um sie zu verstehen. Man kann sein ganzes Leben damit verbringen, das Wesen des allmächtigen Gottes verstehen zu wollen, ohne je ans Ziel zu gelangen. Aber es ist noch nie vorgekommen, daß Naturwissenschaftler religiöse Führer nach deren jahrelangem Studium im Dienste der Erkenntnis und des Gebetes gefragt haben. Sie denken nie ernstlich über uns nach, außer wenn sie uns irreführen und betrügen.

Und jetzt behaupten sie, sie hätten eine BOTSCHAFT von der Wega empfangen. Aber ein Stern kann keine Botschaft senden. Irgend jemand schickt sie. Wer? Kommt die BOTSCHAFT von Gott oder vom Satan? Wird es am Ende der BOTSCHAFT heißen: ‚Herzliche Grüße, Gott’… oder: ‚Mit freundlichen Grüßen, der Teufel’? Und wenn die Wissenschaftler uns berichten, was in der BOTSCHAFT steht, werden sie uns dann auch die ganze Wahrheit sagen? Oder werden sie etwas zurückhalten, weil sie der Meinung sind, daß wir es nicht verstehen, oder weil es nicht zu dem paßt, was sie glauben? Sind das nicht dieselben Leute, die uns beigebracht haben, wie wir uns selbst vernichten können? Ich sage euch, meine Freunde, die Naturwissenschaft ist zu wichtig, um sie nur den Wissenschaftlern zu überlassen. Vertreter aller Weltreligionen sollten von Anfang an bei der Entschlüsselung dabei sein. Wir müssen auch die grundlegenden Daten kennen. Sonst. wo kommen wir sonst hin? Man wird uns irgend etwas über die BOTSCHAFT erzählen. Vielleicht das, was die Wissenschaftler wirklich glauben. Vielleicht auch nicht. Wir müssen akzeptieren, was sie uns erzählen. Über bestimmte Dinge wissen die Wissenschaftler Bescheid. Aber es gibt fürwahr andere Dinge, wovon sie keine Ahnung haben. Vielleicht haben sie tatsächlich eine Botschaft von anderen Wesen des Himmels bekommen. Vielleicht auch nicht. Wie können sie sicher sein, daß die BOTSCHAFT kein Goldenes Kalb ist? Ich glaube nicht, daß sie ein Goldenes Kalb erkennen würden, wenn sie eines sähen. Diese Menschen haben die Wasserstoffbombe entwickelt. Vergib mir, Herr, daß ich ihnen dafür nicht dankbarer bin. Ich habe Gott gesehen, von Angesicht zu Angesicht. Ich bete zu Gott, ich vertraue ihm, ich liebe ihn von ganzem Herzen und von ganzer Seele. Ich glaube nicht, daß man einen festeren Glauben haben kann als ich. Kein Wissenschaftler kann so an seine Wissenschaft glauben wie ich an Gott.

Sie sind bereit, ihre ‚Wahrheiten’ über Bord zu werfen, wenn eine neue Idee auftaucht. Sie sind sogar stolz darauf. Sie bilden sich ein, daß wir Menschen bis in alle Ewigkeit mit Unwissenheit geschlagen sein werden und es nirgendwo in der Natur Gewißheit gibt. Newton hat Aristoteles gestürzt, Einstein stürzte Newton. Und morgen wird der nächste Einstein stürzen. Sobald wir die eine Theorie verstehen, tritt schon die nächste an ihre Stelle. Vielleicht wäre das ja nicht so schlimm, wenn man uns vorher gesagt hätte, daß die alten Ideen nur Hypothesen waren. Aber man sprach immer nur von Newtons Gravitationsgesetzen. Und sie heißen immer noch so. Aber wenn etwas ein Naturgesetz ist, wie kann es dann falsch sein? Wie kann es plötzlich überholt sein? Nur Gott kann Naturgesetze aufheben, nicht die Wissenschaftler. Hier liegt ihr grundsätzlicher Fehler. Wenn Albert Einstein recht hat, dann war Isaac Newton ein Amateur und Stümper. Bedenkt, auch Naturwissenschaftler sind nicht unfehlbar. Sie wollen uns unseren Glauben, unsere Überzeugungen nehmen, ohne uns dafür neue geistige Werte anzubieten. Ich habe keineswegs vor, von Gott abzulassen, nur weil ein paar Wissenschaftler ein Buch schreiben und dann behaupten, es sei eine Botschaft von der Wega. Ich will nicht die Wissenschaft anbeten. Ich will nicht gegen das Erste Gebot sündigen. Ich will nicht ein Goldenes Kalb verehren.“

Bevor Palmer Joss überall zu Ruhm und Ehre gekommen war, hatte er als junger Mann auf einem Rummelplatz gearbeitet. Das war in einer Kurzbiographie in der Timesweek nachzulesen gewesen; es war kein Geheimnis. Um seinem Glück nachzuhelfen, hatte er sich eine Weltkarte besorgt und sie mit allen Details auf seinen Oberkörper tätowieren lassen. Damit ließ er sich dann auf Jahrmärkten und Rummelplätzen von Oklahoma bis Mississippi bewundern, einer der letzten einer längst vergangenen Zeit umherziehender Schausteller. In den blauen Ozeanen waren die vier Windgötter zu sehen, die mit aufgeblähten Backen West- und Nordostwinde bliesen.

Wenn er seine Brust bewegte, stürmte Boreas, der Gott des Nordwinds, über den Atlantik. Dazu deklamierte er für die verblüfften Zuschauer aus dem 6, Buch von Ovids Metamorphosen:

Mir geziemt nur Gewalt: gewaltsam verjage ich düstre Wolken, gewaltsam peitsch ich das Meer, und knorrige Eichen Stürz ich.

So auch, wenn ich mich stürze hinab in die Klüfte der Erde Und mit dem Rücken mich wild in die untersten Höhlungen stemme,

Mach ich die Manen erbeben, und weithin zittert der Erdkreis.

Feuer und Schwefel aus dem alten Rom. Wenn er mit den Händen etwas nachhalf, konnte er sogar die Kontinentalbewegung vorführen. Er drückte Westafrika gegen Südamerika, so daß sie auf dem Längengrad, der durch seinen Bauchnabel lief, wie Teile eines Puzzles zusammenpaßten. Auf Plakaten wurde er als „Geos, der Erdmann“ angekündigt.

Joss war sehr belesen. Da er nach der Grundschule von höherer Bildung unbelastet geblieben war, war ihm nicht gesagt worden, daß Wissenschaft und klassische Literatur sich nicht für das einfache Volk schickten. Dank seines guten Aussehens und seiner sympathisch wirkenden Haarmähne konnte er sich bei den Bibliothekaren der Städte, in denen seine Truppe Station machte, einschmeicheln. Wenn er ihnen erzählte, daß er sich weiterbilden wollte, halfen sie ihm mit Titeln von Büchern aus, die er ihrer Meinung nach lesen müsse. Gehorsam las er, wie man Freunde gewann, in Immobilien investierte und seine Bekannten einschüchterte, ohne daß sie es merkten. Aber diese Bücher befriedigten ihn nicht. Dagegen meinte er, in der Literatur der alten Griechen und Römer und der modernen Naturwissenschaft das zu finden, was er suchte. In jeder freien Minute eilte er in die Gemeinde- oder Stadtbüchereien. Er brachte sich Geographie und Geschichte bei. Das hätte mit seinem Job zu tun, sagte er zu Elvira, dem Elefantenmädchen, die ihn eingehend darüber ausfragte, was er trieb, wenn er weg war. Sie hatte den Verdacht, daß er hinter Mädchen her war — eine Bibliothekarin in jeder Stadt, hatte sie einmal gesagt —, aber sie mußte zugeben, daß seine gelehrten Reden immer besser wurden. Vom Inhalt verstand sie zwar nichts, aber die Art des Vortrags und die Wahl seiner Worte taten ihre Wirkung. Als er eines Tages mit dem Rücken zum Publikum den Zusammenstoß Indiens mit Asien und die daraus entstehende Auffaltung des Himalayagebirges vorführte, fuhr plötzlich aus dem grauen, trockenen Himmel ein Blitzstrahl nieder und erschlug ihn. Im Südosten von Oklahoma hatte es Wirbelstürme gegeben, und überhaupt war das Wetter überall im Süden ungewöhnlich. Er merkte deutlich, wie er seinen Körper verließ, der jämmerlich zusammengekrümmt auf den mit Sägemehl bedeckten Holzplanken lag und von der kleinen Menge der Zuschauer aus sicherer Entfernung und mit einer Art heiliger Scheu betrachtet wurde, und wie er durch einen langen, schwarzen Tunnel nach oben stieg und sich langsam einem hellen Licht näherte. In dessen strahlendem Glanz konnte er immer deutlicher eine heldenhafte, ja göttliche Gestalt erkennen.

Als er aufwachte, war er fast etwas enttäuscht, daß er noch lebte. Er lag auf einem Feldbett in einem bescheiden eingerichteten Schlafzimmer. Über ihn beugte sich Reverend Billy Jo Rankin, nicht der gegenwärtige Namensträger, sondern dessen Vater, ein würdiger Stellvertreter Gottes in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Im Hintergrund meinte Joss ein Dutzend verhüllter Gestalten zu erkennen, die das Kyrieeleison sangen. Aber er war sich nicht sicher. „Werde ich leben oder sterben?“ fragte der junge Mann flüsternd.

„Beides, mein Junge, beides“, antwortete Reverend Rankin. Joss wurde übermannt von dem Gefühl, daß sich ihm das irdische Leben neu geoffenbart hätte. Aber auf schwer zu beschreibende Weise stand dieses Gefühl im Widerstreit mit jener beseligenden Vision, die ihm so unermeßliche Freude verkündet hatte. Zutiefst spürte er den Konflikt der beiden widerstreitenden Gefühle in seiner Brust. Manchmal kam es ihm mitten in einem Satz zu Bewußtsein und drängte nach Ausdruck durch Worte oder Taten. Nach einer Weile fand er sich damit ab, mit dem Konflikt leben zu müssen. Er war wirklich tot gewesen, erzählten ihm hinterher die, die dabeigewesen waren. Ein Arzt hätte seinen Tod festgestellt. Aber sie hätten Gebete gesprochen und Lieder zum Lobe Gottes gesungen. Sie hätten auch versucht, ihn mit Massagen wiederzubeleben. Und sie hatten ihn wieder ins Leben zurückgebracht. Er war wahrhaftig und buchstäblich wiedergeboren. Da diese Geschichte so gut zu seiner eigenen Erfahrung paßte, akzeptierte er sie mit Freuden. Obwohl er fast nie darüber sprach, war er von der großen Bedeutung seines Erlebnisses überzeugt. Er war nicht umsonst erschlagen worden. Er war nicht ohne Grund ins Leben zurückgerufen worden.

Unter Anleitung seines Förderers stürzte er sich in das Studium der Heiligen Schrift. Er war tief bewegt von der Idee der Auferstehung und der Heilslehre. Am Anfang half er Reverend Rankin nur im kleinen aus, indem er hin und wieder in weiter entfernten Gebieten Predigten für ihn übernahm — besonders seit der jüngere Billy Jo Rankin dem Ruf Gottes nach Odessa, Texas, gefolgt war. Joss fand sehr bald einen eigenen Predigtstil, der weniger ermahnend als erklärend war. In einfachen Worten und vertrauten Bildern erklärte er die Taufe, das Leben nach dem Tode, die Verbindung zwischen der christlichen Offenbarung und den Sagen des klassischen Altertums, die göttliche Weltordnung und die Übereinstimmung von Wissenschaft und Religion, wenn beide richtig verstanden wurden. Es war nicht die herkömmliche Art zu predigen, und viele nahmen Anstoß an seiner ökumenischen Einstellung. Aber aus unerklärlichen Gründen wuchs die Zahl seiner Anhänger rapide. „Du bist wiedergeboren worden, Joss“, sagte der ältere Rankin zu ihm. „Eigentlich solltest du einen neuen Namen bekommen. Aber Palmer Joss ist so ein schöner Name, daß du ein Narr wärst, ihn nicht zu behalten.“ Wie Ärzte und Rechtsanwälte kritisierten auch die Religionsverkäufer selten ihre Ware gegenseitig, stellte Joss fest. Aber eines Abends besuchte er den Gottesdienst in der neuen Kreuzfahrerkirche, um den jüngeren Billy Jo Rankin predigen zu hören, der gerade siegreich aus Odessa zurückgekehrt war. Billy Jo predigte von Strafe, Belohnung und Verklärung. Aber die heutige Nacht, verkündete er der Gemeinde, sei eine heilbringende Nacht. Werkzeug des Heils war die heiligste aller Reliquien — heiliger als ein Holzsplitter vom heiligen Kreuz, sogar heiliger als der Oberschenkelknochen der heiligen Theresa von Avila, den General Franco in seinem Büro aufbewahrt hatte, um die Frommen einzuschüchtern. Was Billy Jo Rankin in der Hand hielt, war nichts Geringeres als das Fruchtwasser, das unseren Herrn schützend umgeben hatte. Die Flüssigkeit war in einem alten irdenen Gefäß sorgsam verwahrt worden, das einstmals der heiligen Anna gehört habe. Schon der kleinste Tropfen davon, versicherte Rankin, heile durch einen besonderen Akt göttlicher Gnade von allen Schmerzen. Und dieses allerheiligste Wasser war heute abend unter ihnen. Joss war entsetzt, allerdings weniger über den offensichtlichen Schwindel Rankins als über die Gläubigkeit, mit der die Gemeindemitglieder auf ihn hereinfielen. In seinem früheren Leben war Joss oft Zeuge geworden, wie man versucht hatte, die Leute übers Ohr zu hauen. Aber das hatte mit zum Jahrmarkt gehört. Hier war es etwas ganz anderes. Es ging um Religion. In der Religion war es nicht erlaubt, die Wahrheit falsch auszulegen oder gar künstlich Wunder zu erzeugen. Er nahm sich fest vor, diesen Betrug von der Kanzel herab anzuprangern.

Mit wachsendem Eifer schimpfte er gegen verderbte Formen eines bigotten Fundamentalismus, gegen die übereifrigen Herpetologen, die ihren Glauben prüften, indem sie giftige Schlangen anfaßten, da in der Bibel geschrieben stand, daß die, die ein reines Herz hatten, das Gift der Schlange nicht zu fürchten brauchten. In einer später oft zitierten Predigt nahm er Bezug auf Voltaire. Er hätte nie gedacht, sagte er, daß die Männer der Kirche so käuflich waren, daß sie jene gotteslästerlichen Zungen bestätigten, die behaupteten, Priester gebe es seit der Zeit, als zum erstenmal ein Spitzbube einen Narren getroffen hätte. Solche Irrlehren zerstörten die Religion. Mahnend hob er seinen Finger.

Joss erklärte, jede Religion müsse in ihrer Lehre eine Grenze beachten, bei deren Überschreiten der Verstand ihrer Anhänger provoziert werde. Vernünftige Menschen stritten sich vielleicht darüber, wo die Grenze gezogen werden sollte, aber Religionen überschritten sie oft weit und gefährdeten sich so selbst. Die Menschen waren keine Narren. Der ältere Rankin ließ Joss am Tag vor seinem Tod, als er seine letzten Angelegenheiten ordnete, die Nachricht zukommen, er solle ihm niemals mehr unter die Augen kommen. Zu dieser Zeit begann Joss zu predigen, daß auch die Naturwissenschaften nicht alle Fragen beantworten könnten. Er fand Ungereimtheiten in der Evolutionstheorie. Erkenntnisse, die störten, Tatsachen, die nicht ins Bild paßten, würden von den Wissenschaftlern einfach unter den Teppich gekehrt. Sie wüßten gar nicht sicher, daß die Erde 4,6 Milliarden Jahre alt ist, genausowenig wie Erzbischof Usher sicher wußte, daß sie 6000 Jahre alt war. Hatte doch niemand bei der Evolution zugesehen und die Zeit seit der Schöpfung gemessen. („Zweihundertquadrillionen, zweihundertquadrillionenund- eins…“, so malte er einmal aus, wie ein solcher Zeitnehmer geduldig die Sekunden seit dem Ursprung der Welt zählte.)

Und Einsteins Relativitätstheorie war auch nicht bewiesen. Man konnte sich nicht schneller als Licht fortbewegen, hatte Einstein gesagt. Woher wußte er das? Wie nahe war er an die Lichtgeschwindigkeit herangekommen? Die Relativität war nur eine Hilfe, die Welt zu verstehen. Einstein konnte doch nicht ein für allemal festlegen, wozu die Menschen in der fernen Zukunft imstande sein mochten. Und ganz sicher konnte Einstein Gott keine Grenzen setzen. Vielleicht konnte sich Gott, wenn er wollte, schneller als Licht fortbewegen? Vielleicht konnten auch wir uns schneller als Licht fortbewegen, wenn Gott es wollte! Sowohl in der Wissenschaft als auch in der Religion gab es Übertreibungen. Ein vernünftiger Mensch ließ sich weder hier noch dort überrumpeln. Es gab viele verschiedene Interpretationen der Heiligen Schrift und viele verschiedene Interpretationen der natürlichen Welt. Beide waren von Gott geschaffen, deshalb mußten beide in Einklang miteinander stehen. Wenn es einen Widerspruch gab, dann hatten entweder der Wissenschaftler oder der Theologe oder beide zusammen ihre Aufgabe nicht richtig erfüllt.

Palmer Joss verband seine unparteiische Kritik an Wissenschaft und Religion mit einer leidenschaftlichen Aufforderung zu moralischer Rechtschaffenheit, und er nahm eigene Gedanken seiner Gemeinde ernst. Bald hatte er im ganzen Land einen Namen. In Diskussionen über eine „wissenschaftliche Schöpfungslehre“ als Unterrichtsfach an den Schulen, über die ethischen Implikationen der Abtreibung und eingefrorener Embryos und über die Zulässigkeit der Gentechnik versuchte er auf seine Weise, einen vermittelnden Kurs zu steuern. So hoffte er, Wissenschaft und Religion über den Abbau gegenseitiger Vorurteile miteinander zu versöhnen. Die beiden streitenden Lager beschimpften ihn dafür, aber seine Popularität wuchs. Er wurde Vertrauensmann der Präsidenten. Teile seiner Predigten wurden als Leitartikel in den großen weltlichen Zeitungen nachgedruckt. Aber er widerstand vielen Angeboten und Lockungen, darunter auch der, eine Fernsehkirche zu gründen. Er lebte weiterhin einfach, und nur selten — außer bei Einladungen ins Weiße Haus und zu ökumenischen Kongressen — verließ er den ländlichen Süden. Abgesehen von einem durchschnittlichen Maß an Patriotismus, machte er sich zur Regel, sich nicht in die Politik einzumischen. So wurde Palmer Joss auf einem Gebiet, wo so viele Lehren von oft zweifelhafter Redlichkeit miteinander in Konkurrenz standen, der an Gelehrsamkeit und moralischer Autorität alle anderen christlichen Fundamentalisten überragende Prediger seiner Zeit.

Der Heer fragte Ellie, wo sie in Ruhe zu Abend essen könnten. Er war mit dem Flugzeug zu einer Kurzbesprechung mit Waygay und der sowjetischen Delegation über die neuesten Interpretationsergebnisse gekommen. Aber es wimmelte in diesem Teil New Mexicos nur so von Reportern aus der ganzen Welt, und man hätte im Umkreis von mehr als hundert Kilometern kein Restaurant finden können, in dem man unbeobachtet und ungestört essen konnte. Deshalb kochte Ellie selbst in ihrer kleinen Wohnung, die direkt an das Gästehaus anschloß. Während des Essens hatten sie eine Menge zu besprechen; manchmal sah es so aus, als liege das Schicksal des ganzen Projekts allein in den Händen der Präsidentin. Aber Ellie fühlte dunkel, daß die aufgeregte Erwartung, die plötzlich in ihr aufgestiegen war, bevor Ken kam, noch andere Gründe hatte. Joss gehörte nicht direkt zum offiziellen Teil ihrer Besprechung, deshalb sprachen sie erst über ihn, als sie gemeinsam das Geschirr in die Spülmaschine füllten.

„Der Mann ist völlig gelähmt vor Angst“, sagte Ellie. „Und er ist engstirnig. Er befürchtet, daß die BOTSCHAFT entweder zu einer unannehmbaren Interpretation der Bibel führt oder seinen Glauben erschüttern könnte. Er hat überhaupt keine Ahnung, wie sich ein neues wissenschaftliches Paradigma in ein altes einfügt. Er will wissen, was die Naturwissenschaft in letzter Zeit an Gutem gebracht hat. Und er will die Stimme der Vernunft sein.“

„Verglichen mit Weltuntergangschiliasten und Erdpatrioten ist Palmer Joss noch gemäßigt“, antwortete Der Heer. „Vielleicht hätten wir die naturwissenschaftlichen Vorgehensweisen besser erklären sollen. Darüber habe ich mir in letzter Zeit viele Gedanken gemacht. Und, Ellie, weiß man denn sicher, daß die Botschaft nicht von — “

„Von Gott oder vom Teufel ist? Ken, das fragen Sie mich doch nicht im Ernst?“

„Aber wie steht es mit fortgeschrittenen Wesen, die ein unseren Vorstellungen von Gut und Böse entsprechendes Verhalten kennen, sich also nach Ideen richten, die für jemand wie Joss von Gott oder vom Teufel kommen?“

„Ken, wer diese Wesen im Wega-System auch immer sein mögen, ich garantiere Ihnen, daß sie das Universum nicht erschaffen haben. Und sie sind auch nicht so etwas wie der Gott des Alten Testaments. Überlegen Sie doch. Die Wega, die Sonne und alle anderen Sterne unseres Sonnensystems befinden sich irgendwo ganz am Rand einer absolut langweiligen Galaxis. Warum soll der ‚Ich bin, der ich bin’

sich hier bei uns herumtreiben? Er hat doch sicher Dringenderes zu tun.“

„Ellie, wir sind nicht frei in unseren Entscheidungen. Sie wissen, daß Joss großen Einfluß besitzt. Er stand zwei Präsidenten sehr nahe und jetzt der gegenwärtigen Amtsinhaberin. Die Präsidentin ist geneigt, Konzessionen an Joss zu machen, obwohl ich nicht glaube, daß sie ihn und einige andere Prediger in den geplanten Ausschuß zur Entschlüsselung der BOTSCHAFT berufen wird, in dem Sie, Valerian und Drumlin sein werden — von Waygay und seinen Kollegen ganz zu schweigen. Ich kann mir kaum vorstellen, daß die Russen mit fundamentalistischen Geistlichen in einem Ausschuß zusammenarbeiten. Das ganze Unternehmen könnte daran scheitern. Aber vielleicht sollten wir mit Joss reden. Die Präsidentin hat mir erzählt, daß er von den Naturwissenschaften wirklich fasziniert ist. Vielleicht könnten wir ihn für uns gewinnen.“

„Wir sollen Palmer Joss bekehren!“

„Ich meine nicht, daß wir ihn dazu bringen sollten, einen anderen Glauben anzunehmen — nur, daß wir ihm begreiflich machen, worum es bei Argus geht, daß wir die BOTSCHAFT nicht zu beantworten brauchen, wenn wir nicht wollen, und daß für uns schon die Entfernung von der Wega ein Schutz ist.“

„Ken, er glaubt ja noch nicht einmal, daß die Lichtgeschwindigkeit die größtmögliche Geschwindigkeit im Kosmos ist. Wir werden aneinander vorbeireden. Außerdem bin ich nie mit den konventionellen Religionen zurechtgekommen. Und ich verliere schnell die Geduld, wenn ich es mit ihren Ungereimtheiten und ihrer Verlogenheit zu tun bekomme. Ich bin nicht so sicher, daß eine Begegnung zwischen Joss und mir so abliefe, wie Sie es sich wünschen. Oder wie die Präsidentin es wünscht.“

„Ellie“, erwiderte er, „ich weiß nicht, auf wen ich mein Geld setzen würde. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Zusammentreffen zwischen Ihnen und Joss die Sache noch verschlimmern könnte.“ Ellie erwiderte sein Lächeln.

Die Beobachtungsschiffe waren jetzt am Einsatzort, und einige kleinere, aber ausreichend starke Radioteleskope waren an Orten wie Reykjavik und Djakarta aufgestellt worden. Damit war der Empfang des Signals von der Wega über die gesamte Länge mehr als ausreichend gesichert. In Paris sollte nun eine große Konferenz des eigens für dieses Unternehmen gegründeten Weltkonsortiums stattfinden. Die Länder mit dem größten Datenanteil veranstalteten eine viertägige wissenschaftliche Vorbereitungsrunde. Diese Kurzkonferenz sollte vor allem Leute wie Der Heer, der zwischen Wissenschaftlern und Politikern vermitteln mußte, auf den neuesten Stand der Untersuchungen bringen. Zur sowjetischen Abordnung gehörten neben Lunatscharski als nominellem Leiter noch mehrere Wissenschaftler und Techniker, die ihm an Können nicht nachstanden. Unter ihnen waren Henrich Archangelski, der gerade erst zum Chef der sowjetisch geführten internationalen Weltraumbehörde Interkosmos ernannt worden war, Timotei Gotsridse als Minister der mittleren Schwerindustrie und ein Mitglied des Zentralkomitees.

Man sah es Waygay an, daß er unter Druck stand. Er war wieder zum Kettenraucher geworden. Noch während er sprach, hielt er eine Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger.

„Es stimmt ja, daß es auf der ganzen Strecke viele Überlappungen gibt. Aber trotzdem mache ich mir deswegen Sorgen. Es braucht nur der Heliumverflüssiger an Bord der Mar schal Nedelin zu versagen oder der Strom in Reykjavik auszufallen, und der kontinuierliche Empfang der BOTSCHAFT ist gefährdet. Angenommen, die BOTSCHAFT braucht zwei Jahre, bis sie wieder von vorn beginnt. Wenn wir ein Stück verpassen, müssen wir also zwei Jahre warten, um die Lücke zu füllen. Und nicht zu vergessen, wir wissen noch nicht einmal, ob die BOTSCHAFT wiederholt wird. Wenn es keine Wiederholung gibt, werden die Lücken nie geschlossen werden können. Ich meine, daß wir alle Eventualitäten in unseren Plan mit einbeziehen müssen.“

„Woran denken Sie also?“ fragte Der Heer. „An Notgeneratoren für jedes Observatorium des Konsortiums?“

„An Notgeneratoren und an von der Hauptversorgung unabhängige Verstärker, Spektrometer, Autokorrelatoren, Plattenlaufwerke und so weiter. Und an Vorkehrungen für den schnellen Lufttransport von flüssigem Helium an abgelegene Observatorien in Notfällen.“

„Sind Sie auch dieser Meinung, Ellie?“

„Absolut.“

„Noch etwas?“

„Ich bin der Auffassung, daß wir die Wega weiterhin in einem breiten Frequenzbereich beobachten sollten. Wir sollten auch andere Himmelsregionen abhören. Vielleicht kommt der Schlüssel für unsere BOTSCHAFT gar nicht von der Wega, sondern von ganz woanders her — “

„Auch ich halte Waygays Vorschlag für wichtig und kann ihn nur bekräftigen“, warf Valerian ein. „Wir sind in der ungewöhnlichen Lage, daß wir eine BOTSCHAFT empfangen, aber keinerlei Fortschritte bei ihrer Entschlüsselung machen. Wir haben überhaupt keine Erfahrungen auf diesem Gebiet, wir müssen ganz unten anfangen. Und wir wollen nicht ein oder zwei Jahre verlieren, nur weil wir eine einfache Vorsichtsmaßnahme nicht getroffen oder eine simple Messung übersehen haben. Daß die BOTSCHAFT wieder von vorn anfängt, ist ja nur eine reine Vermutung. Die BOTSCHAFT

selbst gibt uns dafür keinen Anhaltspunkt. Jede Möglichkeit, die wir jetzt verpassen, ist vielleicht für immer verpaßt. Ich stimme auch damit überein, daß wir noch viel für die Entwicklung besserer Instrumente tun müssen. Soviel wir wissen, gibt es noch eine vierte Schicht des Palimpsests.“

„Auch Personalfragen müssen wir klären“, fuhr Waygay fort. „Nehmen wir einmal an, daß die Übermittlung der Botschaft nicht nur ein oder zwei Jahre dauert, sondern noch Jahrzehnte. Oder, daß es sich hier nur um den ersten Teil einer ganzen Serie von Botschaften von überallher aus dem Weltraum handelt. Es gibt auf der ganzen Welt nur ein paar hundert wirklich qualifizierte Radioastronomen. Gemessen an dem Einsatz, um den es geht, ist das sehr wenig. Die Industrieländer müssen unbedingt mehr erstklassige Radioastronomen und Radioingenieure ausbilden.“ Ellie sah, daß sich Gotsridse, der bisher wenig gesagt hatte, Notizen machte. Und wieder wurde ihr deutlich, wieviel besser die Russen Englisch lesen und schreiben konnten als die Amerikaner Russisch. Um die Jahrhundertwende hatten fast alle Wissenschaftler der Welt Deutsch sprechen oder zumindest lesen können. Davor war es Französisch gewesen und davor Latein. In einem Jahrhundert würde es vielleicht wieder eine andere Wissenschaftssprache geben — vielleicht Chinesisch. Zur Zeit war es Englisch. Und alle Wissenschaftler unseres Planeten mußten sich plagen, die Feinheiten und Ausnahmen des Englischen zu erlernen. Waygay sprach weiter, während er sich mit dem Ende der alten Zigarette ein neue anzündete: „Noch etwas sollte hier zur Sprache kommen. Es ist reine Spekulation, die noch nicht einmal so plausibel ist wie der Gedanke, daß die BOTSCHAFT wieder von vorn beginnen könnte — was, wie Professor Valerian richtig betonte, ebenfalls nur eine Vermutung ist. Normalerweise würde ich eine so spekulative Idee nicht in einem so frühen Stadium erwähnen. Aber wenn etwas an der Spekulation dran ist, dann müssen wir uns sofort noch über weitere Maßnahmen Gedanken machen. Ich würde kaum den Mut haben, von meiner Spekulation zu sprechen, wenn nicht das Akademiemitglied Archangelski zu demselben Schluß gekommen wäre. Über die Rotverschiebungen von Quasaren, die Erklärung der extrem hellen Lichtquellen, die Restmasse des Neutrino, die Physik der Quarks in Neutronensternen waren wir nicht einer Meinung. Wir hatten immer viele Meinungsverschiedenheiten. Und ich muß zugeben, daß manchmal er und manchmal ich recht hatte. So gut wie nie waren wir im spekulativen Anfangsstadium einer Idee einer Meinung. Aber dieses Mal sind wir uns einig.“

„Henrich, würden Sie uns das bitte genauer erklären?“ Archangelski wirkte fast belustigt. Seit Jahren war er in heißen wissenschaftlichen Diskussionen und der berühmtberüchtigten Kontroverse, wie weit man sowjetische Projekte in der Kernforschung fördern sollte, der Kontrahent Lunatscharskis.

„Wir vermuten“, fuhr Waygay fort, „daß die BOTSCHAFT die Anleitung zum Bau einer Maschine ist. Wir haben natürlich keine Ahnung, wie man die BOTSCHAFT entschlüsseln könnte. Unsere Vermutung leitet sich vielmehr aus Hinweisen ab, die in der Struktur der BOTSCHAFT enthalten sind. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Hier auf Seite 15441 ist ein klarer Verweis auf eine frühere Seite, nämlich die Seite 13097, die wir glücklicherweise auch haben. Die spätere Seite wurde hier in New Mexico empfangen, die frühere an unserem Observatorium in der Nähe von Taschkent. Auf Seite 13097 findet sich ein weiterer Verweis. Aber zu diesem Zeitpunkt hatten wir noch nicht die gesamte Länge abgedeckt. Man könnte noch viele andere Beispiele für solche Rückverweise anführen. Im allgemeinen gilt, und das ist das Entscheidende, daß die Anweisungen auf späteren Seiten viel komplexer, die Anweisungen auf früheren Seiten dagegen einfacher sind. In einem Fall wird auf einer einzigen Seite achtmal auf frühere Ausführungen verwiesen.“

„Das ist allerdings kein besonders zwingendes Argument“, erwiderte Ellie. „Vielleicht handelt es sich nur um eine Reihe mathematischer Übungen, bei denen die späteren auf den früheren aufbauen. Es könnte auch ein langer Roman sein — vielleicht leben diese Menschen länger als wir und können längere Bücher lesen —, in dem bestimmte Ereignisse an Erlebnisse der Kindheit anknüpfen, oder wie man es eben auf der Wega nennt, wenn man jung ist. Oder vielleicht ist es ein religiöses Handbuch mit vielen Querverweisen.“

„Und zehn Milliarden Geboten“, sagte Der Heer lachend. „Vielleicht“, sagte Lunatscharski, der durch eine Wolke von Zigarettenrauch zum Fenster hinaus auf die Teleskope starrte, die sehnsüchtig zum Himmel gerichtet waren. „Aber wenn Sie sich die Muster der Querverweise genauer ansehen, dann werden Sie wahrscheinlich auch zu dem Schluß kommen, daß es sich eher um die Anleitung zum Bau einer Maschine handelt. Gott allein weiß, was für einen Zweck die Maschine haben könnte.“

Das Numinose Bewunderung ist die Basis der Anbetung Thomas Carlyle Sartor Resartus (1833-34)

Das kosmische Erlebnis der Religion ist das stärkste und edelste Motiv naturwissenschaftlicher Forschung.

Albert Einstein Ideas and Opinions (1954)

Sie konnte sich später noch genau daran erinnern, auf welcher ihrer vielen Reisen nach Washington sie gemerkt hatte, daß sie sich in Ken Der Heer verliebt hatte. Die Vorbereitungen für das Treffen mit Palmer Joss schienen sich endlos hinzuziehen. Joss weigerte sich, die Argus-Station zu besuchen. Die Gottlosigkeit der Wissenschaftler und nicht ihre Entschlüsselung der BOTSCHAFT interessiere ihn, sagte er jetzt. Und um den Charakter der Wissenschaftler auf die Probe zu stellen, müsse ein neutraler Boden gefunden werden. Ellie war bereit, überall hinzukommen. Ein Sonderbeauftragter der Präsidentin führte die Verhandlungen. Andere Radioastronomen kamen nicht in Frage, da die Präsidentin wünschte, daß Palmer sich mit Ellie traf. Zugleich fieberte Ellie dem Tag entgegen, an dem sie zu der ersten Konferenz des Weltkonsortiums nach Paris fliegen würde. Bis dahin würden allerdings noch einige Wochen vergehen. Zusammen mit Waygay war sie für die Koordination des weltweiten Datenerfassungsprogramms zuständig. Die Signalerfassung war fast schon zur Routine geworden. Und während der letzten Monate hatte es keine einzige Lücke gegeben. So stellte Ellie zu ihrer eigenen Überraschung fest, daß sie plötzlich auch ein bißchen Zeit für sich selbst hatte. Sie nahm sich fest vor, ausführlich mit ihrer Mutter zu telephonieren und dabei nett und freundlich zu sein und sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen. Auf ihrem Schreibtisch hatten sich Berge von Briefen und Telegrammen angesammelt, die sie jetzt durchgehen wollte. Darunter waren nicht nur Glückwünsche und Kritik von Kollegen, sondern auch Ermahnungen religiöser Sekten, im Brustton der Überzeugung vorgetragene pseudowissenschaftliche Spekulationen und Post ihrer Fans aus der ganzen Welt. Monatelang hatte sie das Astrophysical Journal nicht mehr gelesen, obwohl sie für eine der letzten Nummern selbst einen Artikel geschrieben hatte, der sicher das Außergewöhnlichste war, was diese Zeitschrift je veröffentlicht hatte. Das Signal von der Wega war so stark, daß viele Amateure, die vom Amateurfunken die Nase voll hatten, angefangen hatten, sich ihre eigenen kleinen Radioteleskope und Empfangsgeräte zu bauen. Als man mit der Erfassung der Botschaft noch ganz am Anfang gewesen war, hatten sie einige nützliche Daten geliefert, und auch jetzt noch wurde Ellie von Amateuren belagert, die meinten, daß sie etwas herausbekommen hätten, was die Profis von SETI noch nicht wußten. Ellie fühlte sich verpflichtet, ermutigende Antwortbriefe zu schreiben. Und zu guter Letzt gab es auf der Station selber auch noch andere wichtige radioastronomische Programme wie die Quasaruntersuchungen, die betreut werden mußten. Aber statt all diese Dinge zu erledigen, verbrachte sie fast ihre ganze Zeit mit Ken.

Natürlich gehörte es zu ihren Aufgaben, den Wissenschaftsberater der Präsidentin so weit in das Projekt Argus einzuführen, wie er es wünschte. Es war sehr wichtig, daß die Präsidentin umfassend und fachkundig informiert wurde. Ellie hoffte, daß die Regierungschefs der anderen Länder genauso sorgfältig über den neuesten Stand unterrichtet wurden wie die Präsidentin der Vereinigten Staaten. Die Präsidentin, die keine naturwissenschaftliche Ausbildung hatte, war dennoch von den Naturwissenschaften fasziniert und bereit, sie nicht nur wegen ihres praktischen Nutzens, sondern auch ein wenig aus Freude am Wissen zu unterstützen. Das waren seit James Madison und John Quincy Adams nur ganz wenige der früheren amerikanischen Präsidenten gewesen.

Trotzdem war es erstaunlich, wieviel Zeit Der Heer an der Station verbringen konnte. Eine Stunde oder länger widmete er täglich dem chiffrierten Informationsaustausch mit seinem Büro für Wissenschaft und Technologie im Old Executive Office Building in Washington. Den Rest der Zeit war er, soweit Ellie feststellen konnte, einfach da. Er arbeitete sich in die Geheimnisse des Computersystems ein oder besuchte einzelne Radioteleskope. Manchmal begleitete ihn ein Mitarbeiter aus Washington, meistens war er jedoch allein. Durch die offene Tür des Büros, das man ihm zugewiesen hatte, konnte sie sehen, wie er mit den Füßen auf dem Tisch einen Bericht las oder telephonierte. Er winkte ihr fröhlich zu und wandte sich dann wieder seiner Arbeit zu. Sie traf ihn im zwanglosen Gespräch mit Drumlin oder Valerian, mit jüngeren Technikern oder Sekretärinnen, die ihn öfters in Ellies Gegenwart als charmant bezeichneten. Auch an Ellie hatte Der Heer viele Fragen. Anfangs waren sie rein technischer Natur,

aber bald wurden daraus Spekulationen über alle möglichen zukünftigen Ereignisse, die sich immer ungehemmter entfalteten. Es sah fast so aus, als ob die Diskussionen über das Projekt nur ein Vorwand waren, um ein bißchen Zeit miteinander zu verbringen. Eines schönen Herbstnachmittags in Washington mußte die Präsidentin das geplante Treffen der Sonderkommission von Wissenschaftlern und Politikern wegen einer akuten Krise in Nordirland verschieben. So hatten Ellie und Der Heer, die mit dem Nachtflug von New Mexico gekommen waren, unvermutet ein paar freie Stunden. Sie beschlossen, das Vietnam Memorial zu besuchen, das Maya Ying Lin entworfen hatte, als sie noch an der Yale-Universität Architektur studiert hatte. In der bedrückenden Atmosphäre dieser an den leichtfertig vom Zaun gebrochenen Krieg erinnernden Gedenkstätte wirkte Der Heers Fröhlichkeit fehl am Platz, und wieder begann sich Ellie Gedanken über solche offensichtlichen Mängel seines Charakters zu machen. Zwei Beamte in Zivil vom Allgemeinen Sicherheitsdienst mit spezialgefertigten fleischfarbenen Hörmuscheln folgten ihnen unauffällig.

Der Heer hatte soeben eine wunderschöne blaue Raupe dazu gebracht, auf einen Ast zu klettern. Sie kroch zügig voran, wobei die Bewegungen der vierzehn Beinpaare wie Wellen durch ihren schillernden Körper liefen. Am Ende des Asts hielt sie sich mit ihren fünf hinteren Segmenten fest und streckte das Vorderteil wagemutig nach allen Seiten aus, um einen neuen Stengel zu finden. Doch ohne Erfolg. Sie drehte sich geschickt um und kroch wieder zurück. Der Heer faßte den Ast jetzt am anderen Ende, so daß die Raupe, als sie an ihren Ausgangspunkt zurückkam, wieder ins Leere stieß. Wie ein Raubtier im Käfig bewegte sie sich viele Male hin und her, zuletzt, wie es Ellie schien, mit wachsender Resignation. Ellie bekam Mitleid mit dem armen Tier, auch wenn später kein schöner Schmetterling daraus werden sollte. „Was für ein wundervolles Programm das kleine Ding im Kopf hat“, rief Der Heer aus. „Und es funktioniert immer — ein optimal programmiertes Fluchtprogramm. Und sie weiß genau, was sie tun muß, um nicht herunterzufallen. Immerhin hängt der Ast ja frei in der Luft. Das hat die Raupe in ihrer natürlichen Umgebung nie kennengelernt. Dort ist ein Ast immer mit irgend etwas verbunden. Ellie, hast du dir schon mal überlegt, was du mit diesem Programm in deinem Kopf tun würdest? Ich meine, würdest du wissen, was du tun mußt, wenn du am Ende des Asts ankommst? Oder würdest du denken, daß du bewußt einen Gedankenschritt nach dem anderen vollziehen mußt? Würdest du dich darüber wundem, wie du es fertigbringst, die vorderen zehn Füße in die Luft zu strecken und dich gleichzeitig mit den anderen achtzehn am Ast festzuhalten?“

Ellie legte ihren Kopf leicht auf die Seite und sah Der Heer an. Anscheinend hatte er Schwierigkeiten, sie sich als Insekt vorzustellen. Sie versuchte, ihm in neutralem Ton zu antworten. Sie wußte ja, daß er solche Fragen aus rein beruflichem Interesse stellte.

„Was willst du jetzt mit ihr machen?“

„Ich setze sie wieder ins Gras. Oder was würdest du machen?“

„Manche Leute würden sie töten.“

„Es fällt schwer, ein Lebewesen zu töten, wenn es dir einmal sein Bewußtsein gezeigt hat“, sagte er. Er hielt den Ast mit der Raupe immer noch in der Hand.

Schweigend gingen sie weiter, vorbei an 55000 Namen, die in den spiegelnden schwarzen Granit eingraviert waren. „Jede Regierung, die sich auf einen Krieg vorbereitet, malt ihre Feinde in den schrecklichsten Farben als Monster“, sagte sie. „Man will sich die Gegenseite nicht menschlich vorstellen. Wenn der Feind denken und fühlen könnte, dann würde man vielleicht zögern, ihn zu töten. Und das Töten ist wichtig. Deshalb ist es besser, in den Feinden Monster zu sehen.“

„Sieh, wie schön die Raupe ist“, antwortete Der Heer nach einem kurzen Augenblick. „Schau sie dir genau an.“ Ellie tat es. Sie bezwang ihren Widerwillen und versuchte, die Raupe mit seinen Augen zu sehen. „Sieh mal, was sie tut“, fuhr er fort. „Wenn sie genauso groß wäre wie du oder ich, würde sie jeden zu Tode erschrecken. Die Raupe wäre dann ein richtiges Monster, nicht? Aber sie ist klein. Sie frißt Blätter, kümmert sich nur um ihre Sachen und verschönert die Welt ein bißchen.“

Ellie ergriff seine freie Hand, und wortlos gingen sie an den Namenskolonnen vorbei, die chronologisch nach dem Todesdatum aufeinander folgten. Natürlich waren hier nur die amerikanischen Gefallenen aufgeführt. Außer in den Herzen der Angehörigen und Freunde gab es nirgendwo auf der ganzen Welt ein entsprechendes Denkmal für die zwei Millionen Menschen aus Südostasien, die ebenfalls in diesem Krieg umgekommen waren. In Amerika war die allgemeine Erklärung für das Scheitern dieses Krieges die, daß die Politiker den erfolgreichen Militärs in den Rücken gefallen wären, eine Erklärung, die stark an die Dolchstoßlegende erinnerte, die unter den deutschen Militärs nach ihrer Niederlage im Ersten Weltkrieg aufgekommen war. Der Vietnamkrieg war eine Eiterbeule im Bewußtsein der Nation, die anzustechen bisher kein Präsident gewagt hatte. (Die spätere Politik der Demokratischen Republik von Vietnam hatte diese Aufgabe keineswegs leichter gemacht.) Ellie dachte daran, wie normal es für die amerikanischen Soldaten gewesen war, ihre vietnamesischen Gegner als „Dreckschweine“, „Flachköpfe“, „Schlitzaugen“ zu beschimpfen oder mit noch übleren Namen zu belegen. Mußte man nicht, ehe wir die nächste Etappe der Menschheitsgeschichte bewältigen konnten, zuerst das Bedürfnis ausrotten, den Feind zu entmenschlichen?

Im Alltag sprach Der Heer nicht wie ein Akademiker. Hätte man ihn an dem Kiosk getroffen, wo er sich seine Zeitung kaufte, wäre man nie darauf gekommen, daß er Wissenschaftler war. Er hatte seinen New Yorker Straßenakzent nie ganz abgelegt. Am Anfang hatte dieses offenkundige Mißverhältnis zwischen seiner Sprache und der Qualität seiner wissenschaftlichen Arbeit seine Kollegen belustigt. Aber wenn man seine Arbeiten und ihn selbst besser kennenlernte, dann war der Akzent nur noch ein kleiner, unbedeutender Spleen. Aber wenn Der Heer das Wort Guanosintriphosphat aussprach, dann bekam dieses harmlose Molekül plötzlich explosive Sprengkraft.

Beide merkten es erst spät, daß sie sich ineinander verliebt hatten. Den anderen mußte es schon längst aufgefallen sein. Vor einigen Wochen hatte Lunatscharski, damals noch im Argus-Observatorium, wieder eine seiner gelegentlichen Tiraden über die Irrationalität der Sprache losgelassen. Diesmal war das amerikanische Englisch an der Reihe gewesen. „Ellie, warum sagt man: ‚wieder denselben Fehler machen’? Welche zusätzliche Information kommt durch ‚wieder’ dazu? Und stimmt es, daß ‚abbrennen’ und ‚niederbrennen’ dasselbe bedeuten? Wenn man ‚abschrauben’ sagen kann, warum kann man dann nicht genauso ‚niederschrauben’ sagen?“

Ellie nickte müde. Schon mehr als einmal hatte sie gehört, wie er sich bei seinen sowjetischen Kollegen über die Ungereimtheiten der russischen Sprache beklagt hatte, und sie war überzeugt, daß sie auf der Konferenz in Paris die französische Version davon zu hören bekommen würde. Sie gab bereitwillig zu, daß Sprachen unglückliche Ausdrucksweisen besäßen, die aber aus so vielen verschiedenen Quellen herrührten und sich aufgrund so vieler Sachzwänge entwickelt hätten, daß es geradezu erstaunlich wäre, wenn sie alle völlig logisch und ohne innere Widersprüche wären. Waygay hatte so viel Spaß mit seinen Klageliedern, daß sie es nicht übers Herz brachte, dagegen zu protestieren. „Aber nehmen Sie den Ausdruck ‚Hals über Kopf verliebt’“, redete er weiter. „Da stimmt es wenigstens einmal, habe ich recht? Normalerweise hat man den Kopf auf dem Hals. Aber wenn man verliebt ist, ist alles genau umgekehrt. Sie wissen doch, wie es mit dem Verlieben ist. Da sitzt der Kopf nicht mehr an seiner gewohnten Stelle, sondern man schwebt mit dem Kopf nach unten durch die Luft, wie auf den Bildern dieses französischen Malers — wie war doch sein Name?“

„Er war Russe“, erwiderte Ellie. Marc Chagall hatte dem Gespräch eine Wende gegeben und war so zu ihrer Rettung geworden. Hinterher fragte sie sich, ob Waygay sie aufziehen oder einfach zu einer Antwort hatte provozieren wollen. Vielleicht hatte er nur intuitiv das wachsende Band zwischen Ellie und Der Heer erfaßt.

Der Heers Zögern war zumindest teilweise verständlich. Er, der Wissenschaftsberater der Präsidentin, hatte hier in Argus eine noch nie dagewesene, äußerst heikle und unberechenbare Aufgabe zu bewältigen. Sich dabei emotional mit einer der Hauptpersonen einzulassen, war riskant. Die Präsidentin wünschte mit Sicherheit, daß sein Urteil frei von allen persönlichen Beeinflussungen blieb. Er mußte in der Lage sein, unabhängig von der Meinung Ellies zu entscheiden, welche Maßnahmen getroffen werden sollten. Sich in Ellie zu verlieben würde Der Heers Eignung für diese Aufgabe auf jeden Fall in Frage stellen.

Für Ellie war es noch schwieriger. Bevor sie die allerseits geachtete Direktorin eines großen Radioobservatoriums geworden war, hatte sie viele Beziehungen gehabt. Und wenn sie auch verliebt gewesen war und das ganz offen zugab, hatte sie der Gedanke an eine Heirat doch nie verlockt. Dunkel erinnerte sie sich an einen Vierzeiler — war er von William Butler Yeats? — , mit dem sie ihre ersten Liebhaber zu trösten versucht hatte, deren Herzen gebrochen waren, weil sie wieder einmal beschlossen hatte, daß es vorbei war:

Du sagst, daß Liebe ewig sei, Sind’s Tage nur, so sei’s nicht viel -

O Narrheit, gibt es Tage doch, Die mehr sind als nur ewiges Spiel.

Ihr fiel ein, wie reizend John Staughton zu ihr gewesen war, als er ihrer Mutter den Hof machte, und wie schnell er sich verändert hatte, nachdem er ihr Stiefvater geworden war. Offenbar konnten sich Männer nach der Hochzeit verändern und zu Monstern werden. Ihre romantische Veranlagung machte sie verwundbar. Sie wollte nicht den gleichen Fehler machen wie ihre Mutter. Und noch tiefer saß die Angst, sich rückhaltlos zu verlieben, sich ganz jemandem anzuvertrauen, der ihr dann entrissen wurde. Oder sie einfach verließ. Wenn man sich nie richtig verliebte, entbehrte man die Liebe auch nicht. (Darüber dachte sie allerdings nie genauer nach, weil sie dunkel ahnte, daß ihre Schlußfolgerung nicht ganz stimmte.) Aber wenn sie sich nie richtig verliebte, konnte sie auch niemanden verraten. Tief in ihrem Herzen glaubte sie nämlich, daß ihre Mutter ihren schon lange verstorbenen Vater verraten hatte. Ellie vermißte ihn noch immer schmerzlich.

Mit Ken schien alles ganz anders zu sein. Oder waren nur ihre Erwartungen in den letzten Jahren allmählich niedriger geworden? Anders als andere Männer, die sie kannte, war Ken, wenn er gereizt oder gestreßt war, besonders liebenswürdig und einfühlsam. Seine Kompromißbereitschaft und Gewandtheit in wissenschaftspolitischen Fragen gehörten zu seiner Arbeit, aber darunter spürte Ellie eine andere Art von Zuverlässigkeit. Sie schätzte ihn wegen seiner Art, die Wissenschaft in sein Leben einzubeziehen, und wegen seines mutigen Eintretens für die Naturwissenschaften den Behörden und Ministerien zweier Präsidenten gegenüber. Sie wohnten jetzt, ohne viel Aufhebens davon zu machen, zusammen in Ellies kleiner Wohnung auf der Argus-Station. Wenn sie sich unterhielten, flogen ihre Gedanken wie Federbälle hin und her, und oft beendete der eine den Gedanken des anderen, noch ehe er ganz ausgesprochen war. Und Der Heer war ein zärtlicher und erfinderischer Liebhaber. Ganz besonders mochte Ellie den warmen Geruch seiner Haut.

Manchmal war sie ganz verblüfft, was sie in seiner Gegenwart alles sagen und tun konnte. Sie bewunderte ihn so sehr, daß seine Liebe zu ihr ihr eigenes Selbstwertgefühl steigerte: Sie mochte sich selbst besser leiden wegen ihm. Und da es ihm genauso ging, wurden ihre Liebe und Achtung füreinander täglich stärker. Mit so vielen ihrer Freunde hatte sie sich insgeheim einsam gefühlt. Doch sobald sie mit Ken zusammen war, war dieses Gefühl wie weggeblasen. Sie konnte ihm von ihren Träumen erzählen, von bruchstückhaften Erinnerungen und Kindheitsängsten. Er hörte nicht nur interessiert zu, sondern war fasziniert. Stundenlang fragte er sie nach ihrer Kindheit aus. Seine Fragen waren immer direkt, manchmal provozierend, aber nie verletzend. Sie begann zu verstehen, warum Verliebte oft wie Kinder miteinander redeten. Es gab keinen anderen gesellschaftlich akzeptierten Zustand, in dem das Kind in ihr zum Vorschein kommen durfte. Wenn die einjährige, die fünfjährige, die zwölfjährige und die zwanzigjährige Ellie sich alle in dem Geliebten wiederfinden konnten, dann war es vielleicht möglich, vollkommen glücklich zu sein. Die Liebe machte Ellies langer Einsamkeit ein Ende. Vielleicht konnte man die Tiefe einer Liebe daran messen, wie viele der verschiedenen Selbsts in der Beziehung aufgehoben waren. Bei ihren früheren Partnern hatte meist nur eines dieser Selbsts eine Entsprechung in dem Partner gefunden, die anderen waren verdrängt worden.

Am Wochenende vor dem geplanten Treffen mit Joss lagen sie zusammen im Bett. Die späte Nachmittagssonne, die durch die Jalousien drang, zeichnete Muster auf ihre ineinander verschlungenen Körper.

„In einer normalen Unterhaltung“, sagte Ellie, „kann ich über meinen Vater sprechen, ohne mehr zu spüren als. einen leichten Stich. Aber wenn ich mich ganz der Erinnerung an ihn hingebe, wenn ich mich an seinen Humor erinnere oder an seinen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, dann bricht die Fassade zusammen, und ich fange an zu heulen, weil er nicht mehr da ist.“

„Es kann befreiend sein, über seine Gefühle zu sprechen“, antwortete Der Heer und strich leicht mit der Hand über ihre Schulter. „Vielleicht ist dazu die Sprache da — daß wir die Welt verstehen können, ohne völlig von ihr überwältigt zu werden.“

„Wenn das so ist, dann ist die Erfindung der Sprache nicht nur ein Segen. Du weißt, Ken, daß ich alles — wirklich alles, was ich habe — darum gäbe, wenn ich meinen Vater nur für ein paar Minuten noch einmal wiederhaben könnte.“ Sie stellte sich vor, wie all die lieben Papas und Mamas über den Himmel schwebten und auf einer vorüberziehenden Wolke Platz nahmen. Sicher gab es genug Platz für all die Abermilliarden von Menschen, die schon gestorben waren, seit es Menschen gab; vielleicht war es dort oben aber auch schon überfüllt.

Doch wenn der Himmel Gottes so groß war wie der Himmel der Astronomen, dann gab es mehr als genug Platz.

„Man müßte doch sagen können“, sagte Ellie laut, „wie viele intelligente Wesen insgesamt in unserer Milchstraße leben. Wie viele, glaubst du, sind es? Wenn es eine Million Zivilisationen gibt, jede mit einer Milliarde Individuen, so ergibt das, hm, zehn hoch fünfzehn intelligente Wesen. Aber die meisten sind fortgeschrittener als wir, vielleicht ist ja die Vorstellung von Individuen gar nicht angemessen, das gibt es vielleicht nur auf der Erde.“

„Sicher. Und dann kann man noch die galaktische Produktion an Gauloises, Chips, Volkswagen und Sony-Plattenspielern berechnen. Und dann rechnen wir das Bruttosozialprodukt unserer Galaxis aus. Und wenn wir das haben, können wir das Bruttosozialprodukt des Kosmos.“

„Du machst dich nur lustig über mich“, sagte Ellie lachend und sah ihn zärtlich an. „Aber stell dir diese Zahlen mal vor. Ganz im Ernst, meine ich. All diese Planeten mit Wesen, die uns weit voraus sind. Schwindelt dir nicht allein beim Gedanken daran?“

Sie wußte, was er dachte, aber sie sprach schnell weiter: „Hier, schau mal her. Das habe ich für das Treffen mit Joss gelesen.“

Sie nahm einen Band ihrer alten Encyclopaedia Britannica vom Nachttisch und schlug die Seite auf, in die ein kleiner Fetzen Computerpapier als Lesezeichen eingelegt war. Sie zeigte auf einen Artikel, der über das Heilige ging. „Hier steht, daß es für Theologen eine besondere, nicht rationale — aber auch nicht irrationale — Art heiliger Scheu gibt, die sie ‚numinos’ nennen. Das Wort taucht zum ersten Mal auf bei. bei einem Rudolf Otto in einem Buch aus dem Jahr 1917 mit dem Titel Das Heilige. Otto glaubte, daß die Menschen empfänglich für das Numinose und seine Verehrung sind. Er nannte es das mysterium tremendum. Selbst mein Latein reicht dafür noch aus.

In Gegenwart des mysterium tremendum fühle sich der Mensch völlig unbedeutend. Aber wenn ich es richtig verstehe, ist damit nicht gemeint, daß der Mensch sich dabei entfremdet ist. Otto glaubt, daß das Numinose etwas ‚vollkommen anderes ist und daß die menschliche Reaktion darauf grenzenloses Staunen’ sei. Wenn religiöse Menschen so etwas meinen, wenn sie Worte wie heilige Scheu gebrauchen, dann gehöre ich zu ihnen. So ging es mir, als ich nach Signalen horchte. Dabei war es mir gar nicht so wichtig, ob tatsächlich eines kam. Ich glaube, daß jede Wissenschaft dieses Gefühl von Ehrfurcht auslöst. Ich lese dir eine Stelle vor.“ Ellie stützte sich auf und begann zu lesen:

In den letzten hundert Jahren haben Philosophen und Soziologen der verschiedensten Schulen vom Verschwinden des Heiligen geredet und den Tod der Religion vorhergesagt. Eine Untersuchung der Geschichte der Religionen zeigt, daß sich religiöse Formen ändern und es zu keiner Zeit Einstimmigkeit darüber gab, was Religion ist und wie sie sich äußert. Ob man.

Ellie brach ab. „Oder ‚ob frau’. Auch bei religiösen Artikeln scheinen noch immer ausschließlich Männer am Werk zu sein.“ Sie fuhr fort:

Ob man heute von einer neuen Situation sprechen muß, die die Entwicklung eines Wertesystems erfordert, das sich radikal von dem bisherigen, aus dem Bewußtsein heiliger Scheu geborenen unterscheidet, ist eine Frage von lebenswichtiger Bedeutung.

„Und weiter?“

„Ich glaube, daß die institutionalisierten Religionen dem Menschen eine bestimmte Wahrnehmungsart des Numinosen vorschreiben wollen, statt ihm direkten Zugang zur Erfahrung des Numinosen zu verschaffen — wie etwa durch ein 15- Zentimeter-Teleskop. Wenn die Erfahrung des Numinosen im Mittelpunkt einer Religion steht, wer ist dann deiner Meinung nach religiöser — die Menschen, die den institutionalisierten Religionen folgen, oder die Menschen, die sich selbst die Naturwissenschaften beibringen?“

„Laß mal sehen, ob ich das richtig verstanden habe“, entgegnete er. Diesen Satz hatte er von ihr übernommen. „Heute ist ein fauler Samstagnachmittag, und da liegen zwei nackt im Bett und lesen sich gegenseitig aus der Encyclopaedia Britannica vor. Dann streiten sie darüber, ob der Andromedanebel ‚numinoser’ als die Auferstehung ist. Wissen die denn überhaupt, wie man sich sonst noch zusammen vergnügen kann?“

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