Menschen Wort ist wie eine gesprungene Pauke, auf der wir eine Melodie heraustrommeln, nach der kaum ein Bär tanzt, während wir die Sterne bewegen möchten.
Die Vorstellungen der großen Masse sind von größter Inkonsequenz, weil sie die Wahrheit nicht kennen. Die Götter existieren, weil die Natur selbst in den Seelen aller Menschen den Begriff davon eingeprägt hat.
Ellie packte gerade ihre Notizen, die Magnetbänder und den Palmwedel für die Verfrachtung nach Japan zusammen, als sie die Nachricht erhielt, daß ihre Mutter einen Schlaganfall erlitten hatte. Kurz darauf überbrachte ihr der Eilbote des Projekts einen Brief. Er war von John Staughton. Er begann ohne große Vorreden:
Deine Mutter und ich haben oft über Deine Unzulänglichkeiten und Schwächen gesprochen. Das waren immer sehr schwierige Gespräche. Wenn ich Dich verteidigte (und das kam, auch wenn Du es Dir nicht vorstellen kannst, häufig vor), warf sie mir vor, ich sei Pudding in Deinen Händen. Und wenn ich an Dir herumnörgelte, dann sagte sie zu mir, ich solle mich, um meinen eigenen Kram kümmern. Aber ich will, daß Du weißt, wie sehr sie darunter gelitten hat und wie weh es ihr getan hat, daß Du sie in den letzten Jahren, seit dieses Wega-Projekt läuft, nie besucht hast. Sie hat ihren Freundinnen in diesem schrecklichen Pflegeheim, in das sie unbedingt wollte, immer wieder erzählt, daß Du sie bald besuchen würdest. Jahrelang hat sie zu ihnen gesagt: „Bald kommt sie.“ Sie malte sich genau aus, wie sie ihre berühmte Tochter herumzeigen würde und in welcher Reihenfolge sie Dich ihrem Club von Altersschwachen vorstellen würde.
Du willst davon vielleicht nichts hören, und es bekümmert mich selbst sehr, es Dir sagen zu müssen. Aber ich tue es um Deinetwillen. Dein Verhalten hat ihr mehr als alles andere in ihrem Leben weh getan, mehr sogar als der Tod Deines Vaters. Du bist jetzt vielleicht eine Berühmtheit, Dein Bild ist in den Zeitungen der ganzen Welt zu sehen, Du sitzt mit Politkern an einem Tisch und so weiter, aber als Mensch hast Du seit der High School nichts dazugelernt.
Ellies Augen füllten sich mit Tränen, und sie zerknüllte Brief und Umschlag. Dabei fiel ein steifes Stück Papier heraus, ein Hologramm, das mit Hilfe eines Computerextrapolationsverfahrens von einem alten zweidimensionalen Photo gemacht worden war. Man hatte das Gefühl, um die Ecke sehen zu können. Das Photo hatte sie noch nie gesehen. Ihre Mutter lächelte ihr als junge, hübsche Frau aus dem Bild entgegen. Sie hatte den Arm locker um die Schultern von Ellies Vaters gelegt, der stolz seinen einen Tag alten Bart zur Schau stellte. Beide strahlten vor Glück. Quälend, unter Schuldgefühlen, Selbstmitleid und Wut auf Staughton wurde Ellie die traurige Tatsache bewußt, daß sie keinen der beiden Menschen auf dem Bild je wiedersehen würde.
Ihre Mutter lag unbeweglich im Bett. Ihr Gesicht war merkwürdig ausdruckslos, es zeigte weder Freude noch Schmerz, sondern nur. Warten. Hin und wieder zuckten die Lider, aber das war die einzige Bewegung. Ob sie Ellie hörte oder verstand, was Ellie ihr zuflüsterte, war aus ihrem Gesicht nicht abzulesen. Ellie dachte nach, wie unter diesen Umständen Kommunikation zustande kommen könnte. Ohne zu wollen, überfiel sie der Gedanke: Ein Lidschlag für ja, zwei für nein. Oder man konnte ein EEG-Meßgerät anschließen, dessen Bildschirm ihre Mutter sehen konnte, damit sie lernte, ihre Beta-Wellen zu modulieren. Aber hier ging es um ihre Mutter und nicht um Alpha Lyrae. Nicht Entschlüsselungsalgorithmen waren verlangt, sondern Gefühle. Sie hielt die Hand ihrer Mutter und redete stundenlang. Sie redete drauflos über ihren Vater, ihre Mutter und ihre Kindheit. Sie erinnerte sich, wie sie sich als kleines Kind zwischen den frisch gewaschenen Bettüchern versteckt hatte und wie sie einmal fast in den Himmel gefallen war. Sie sprach über John Staughton. Sie entschuldigte sich für vieles. Dann weinte sie ein wenig.
Die Haare ihrer Mutter hingen wirr durcheinander. Ellie suchte eine Haarbürste und kämmte sie. Sie blickte tief in die zerfurchten Gesichtszüge ihrer Mutter und erkannte sich selbst darin. Die tiefliegenden, wäßrigen Augen ihrer Mutter starrten ins Leere, nur dann und wann kam ein Blinzeln aus weiter Ferne.
„Ich habe nicht vergessen, wo ich herkomme“, sagte Ellie leise.
Fast unmerklich bewegte ihre Mutter den Kopf von der einen auf die andere Seite, als ob sie all den Jahren nachtrauerte, in denen sie sich voneinander entfremdet hatten. Ellie drückte ihr vorsichtig die Hand. Und sie hatte das Gefühl, ihre Mutter hatte sie verstanden.
Es bestünde kein Anlaß zur Sorge, hatte man Ellie gesagt. Falls sich ihr Zustand änderte, würde man sie sofort in ihrem Büro in Wyoming anrufen. Schon in wenigen Tagen würde ihre Mutter aus dem Krankenhaus in das Pflegeheim zurückkehren können, wo sie, wie man Ellie versicherte, gut versorgt würde.
Staughton wirkte niedergedrückt. Ellie hätte so tiefe Gefühle für ihre Mutter nie in ihm vermutet. Sie würde oft anrufen, versprach sie ihm.
In der nüchternen, marmornen Eingangshalle stand, vielleicht nicht ganz passend, eine echte Statue, kein Hologramm, einer nackten Frau im Stile des Praxiteles. Sie fuhren in einem OtisHitachi-Aufzug nach oben. Ellie wurde durch einen riesigen Saal geführt, in dem viele Angestellte an Übersetzungscomputern arbeiteten. Ein Wort, das man in Hiragana, dem aus einundfünfzig Buchstaben bestehenden japanischen phonetischen Alphabet, eingetippt hatte, erschien auf dem Bildschirm in dem entsprechenden chinesischen Ideogramm des Kanji. In den Computern waren Hunderttausende solcher Ideogramme oder Schriftzeichen eingespeichert, obwohl man im allgemeinen nur drei- bis viertausend brauchte, um eine Zeitung zu lesen. Da im Kanji viele Schriftzeichen mit völlig verschiedenen Bedeutungen durch dasselbe gesprochene Wort ausgedrückt wurden, spuckte der Computer alle möglichen Übersetzungen in der Reihenfolge der Wahrscheinlichkeit aus. Der Computer hatte zusätzlich ein Unterprogramm, das die in Frage kommenden Schriftzeichen entsprechend der Einschätzung der gewünschten Bedeutung auflistete. Die Vorschläge waren so gut wie immer richtig. In einer Sprache, die bis vor kurzem noch nicht einmal eine Schreibmaschine kannte, setzte der Übersetzungscomputer eine Revolution der Kommunikationsstrukturen in Gang, die bei den Traditionalisten nicht nur auf Zustimmung stieß.
Im Konferenzraum setzten sie sich auf niedrige Sessel — offensichtlich ein Zugeständnis an den westlichen Geschmack —, die um einen ebenfalls niedrigen Lacktisch standen. Dazu wurde Tee serviert. Ellie konnte von ihrem Platz aus ganz Tokio überblicken. Ihr fiel ein, daß sie in letzter Zeit oft aus Fenstern geschaut hatte. Der Name der Zeitung war Asahi Shimbun, die Morgensonne-Zeitung. Ellie fand es interessant, daß unter den politischen Berichterstattern eine Frau war, eine große Ausnahme, wenn man an die amerikanischen und sowjetischen Medien dachte. Die traditionellen männlichen Privilegien wurden offenbar ohne viel Aufsehen in einer Art Kleinkrieg nach und nach erobert. Erst gestern hatte der Präsident einer Firma namens Nanoelektronik Ellie sein Leid geklagt, daß kein „Mädchen“ in Tokio mehr wüßte, wie man den Obi um den Kimono schlingt. Wie im Fall der Fliege, die man auch nur noch mit einem Clip befestigte, hatte ein leicht zu bindendes Imitat den Markt erobert. Japanische Frauen hatten Wichtigeres zu tun, als täglich eine halbe Stunde mit dem Wickeln und Feststecken von Scherpen zu verbringen. Die Reporterin trug ein schlichtes, elegantes Kostüm mit wadenlangem Rock. Aus Gründen der Sicherheit durfte die Presse das Maschinengelände auf Hokkaido nicht betreten. Statt dessen wurden immer, wenn ein Mitglied der Besatzung oder ein Projektleiter auf die Hauptinsel Honshu kam, Fragestunden für die japanische und ausländische Presse veranstaltet. Die Fragen waren Ellie vertraut. Denn abgesehen von einigen lokal bedingten Eigenheiten stellten die Journalisten auf der ganzen Welt die gleichen Fragen. Ob sie sich freue, daß nach den amerikanischen und sowjetischen „Enttäuschungen“ doch noch eine Maschine in Japan gebaut wurde? Ob sie sich auf Hokkaido einsam fühle? Ob es ihr Sorgen bereite, daß die Maschinenteile, die man auf Hokkaido einbaute, mehr Tests unterzogen worden waren, als die BOTSCHAFT vorschrieb? Vor 1945 hatte der Stadtteil Tokios, in dem sie sich befanden, der kaiserlichen Flotte gehört. Und tatsächlich konnte Ellie in der unmittelbaren Nachbarschaft das Dach des Marineobservatoriums mit den zwei silbernen Kuppeln für die Teleskope sehen, die noch immer für Zeitmessungen und kalendarische Berechnungen eingesetzt wurden. Sie glänzten in der Mittagssonne.
Warum hatte die Maschine ausgerechnet die Form eines Dodekaeders? Und warum hießen die Kugelschalen Benzel? Natürlich würden sie verstehen, daß auch Ellie das nicht wußte, erklärten die Reporter. Aber was war ihre persönliche Meinung? Ellie erklärte ihnen, daß bei solchen Problemen eine festgelegte Meinung unangebracht sei, weil keine Beweise für irgend etwas vorlagen. Die Reporter blieben hartnäckig, aber Ellie ließ sich nicht festnageln. Wenn es wirklich gefährlich war, sollte man dann nicht ernstlich überlegen, Roboter anstelle von Menschen zu schicken, wie ein japanischer Experte für künstliche Intelligenz empfohlen hatte? Ob sie irgend etwas ganz Persönliches mit sich nehme? Familienbilder? Einen Mikrocomputer? Oder ein Schweizer Offiziersmesser?
Ellie beobachtete, wie zwei Gestalten durch eine Falltür auf dem Dach des Observatoriums auftauchten. Ihre Gesichter waren hinter Visieren verborgen. Sie trugen die blaugrauen, gepolsterten Schutzhemden aus der Zeit des mittelalterlichen Japan. Drohend schwangen sie hölzerne Stöcke, die länger waren als sie selbst, verbeugten sich voreinander, hielten einen Herzschlag lang inne und schlugen und parierten dann die nächste halbe Stunde. Ellie gab den Reportern jetzt nur noch ihre Standardantworten. Wie hypnotisiert starrte sie auf das Schauspiel vor ihren Augen. Keiner sonst schien es zu bemerken. Die Stöcke mußten sehr schwer sein, weil der zeremonielle Kampf sehr langsam ablief und so aussah, als fände er auf dem Grund des Meeres statt.
Ob sie Dr. Lunatscharski und Dr. Sukhavati schon gekannt habe, bevor die BOTSCHAFT kam? Auch Dr. Eda? Und Mr. Xi? Was sie von ihnen halte, von ihren Fähigkeiten? Wie gut sie miteinander auskämen? Wieder wurde Ellie sich voller Verwunderung bewußt, daß sie zu dieser auserwählten Gruppe gehörte.
Welchen Eindruck hatte sie von der Qualität der japanischen Maschinenkomponenten? Ob sie etwas über die Begegnung der fünf mit Kaiser Akihito sagen könne? Waren die Gespräche mit den schintoistischen und buddhistischen Priestern Teil der Bemühung der Mitarbeiter des Projekts gewesen, sich eingehend über die bedeutenden Gestalten der Weltreligionen zu informieren, bevor die Maschine startete, oder war es nur eine Geste der Höflichkeit gegenüber Japan als Gastland gewesen? Hielt Ellie es für möglich, daß das Projekt sich als ein Trojanisches Pferd oder eine Weltuntergangsmaschine entpuppte? Ellie versuchte, höflich, kurz und prägnant und auf keinen Fall provozierend zu antworten. Der Pressesprecher des Maschinenprojekts, der sie begleitet hatte, war sichtlich erfreut.
Plötzlich war das Interview vorüber. Sie alle wünschten ihr und ihren Kollegen viel Erfolg, sagte der Chefredakteur. Sie rechneten fest damit, daß sie, Ellie, ihnen nach ihrer Rückkehr ein Interview geben würde. Und sie hofften, sie würde auch danach noch oft als Gast nach Japan kommen. Ihre Gastgeber verbeugten sich lächelnd. Die gewappneten Krieger hatten sich durch die Falltür zurückgezogen. Ellie sah, wie die Beamten ihrer Eskorte sich vor der offenen Tür des Konferenzraumes wachsam nach allen Seiten umschauten. Auf dem Weg nach draußen fragte sie die Reporterin nach den geisterhaften Erscheinungen aus dem mittelalterlichen Japan.
„Ach ja, die“, erwiderte sie. „Das sind die Astronomen von der Küstenwache. Sie üben jeden Tag in der Mittagspause Kendo. Man kann die Uhr nach ihnen stellen.“
Xi war auf dem Langen Marsch geboren. In der Revolutionszeit hatte er schon als junger Bursche gegen die Kuomintang gekämpft. Er hatte als Nachrichtenoffizier in Korea gedient, bis er schließlich in eine einflußreiche Stellung in der chinesischen Rüstungsindustrie aufgestiegen war. Aber während der Kulturrevolution war er öffentlich gedemütigt und unter Hausarrest gestellt worden. Später hatte man ihn in aller Öffentlichkeit rehabilitiert.
Die Kulturrevolution hatte es Xi als Verbrechen angelastet, daß er einige der konfuzianischen Tugenden bewunderte, vor allem eine ganz bestimmte Textstelle aus dem Großen Lernen. Diese Textstelle kannte in früheren Jahrhunderten jeder Chinese, selbst der ungebildete, auswendig. Und auf eben diese Textstelle, hatte Sun Yat-sen gesagt, stütze sich seine eigene revolutionäre und nationale Bewegung:
Wollten unsere Vorfahren eine besonders edle Tugend im gesamten Königreich zur Geltung kommen lassen, dann brachten sie zuerst ihr eigenes Fürstentum in Ordnung. Wollten sie ihr Fürstentum in Ordnung bringen, dann klärten sie zuerst die Belange ihrer Familie.
Wollten sie die Belange ihrer Familie klären, dann veredelten sie zuerst ihre eigene Person. Wollten sie ihre Person veredeln, dann reinigten sie zuerst ihre Herzen. Wollten sie ihre Herzen reinigen, dann trachteten sie zuerst danach, in ihren Gedanken aufrichtig zu sein. Wollten sie in ihren Gedanken aufrichtig sein, dann erweiterten sie zuerst ihr Wissen bis zum äußersten. Die Erweiterung ihres Wissens bestand in der Erforschung der Dinge.
Deshalb, so glaubte Xi, sei der Erwerb von Wissen entscheidend für das Wohlergehen Chinas. Aber die Rotgardisten waren anderer Meinung.
Im Zuge der Kulturrevolution wurde Xi als Arbeiter in ein ärmliches Bauernkollektiv in der Provinz Ningxia nahe der Großen Mauer geschickt. Diese Gegend hatte eine reiche moslemische Tradition. Dort entdeckte er beim Pflügen eines kargen Feldes einen reich verzierten Bronzehelm aus der HanDynastie. Als er wieder in die Führungsspitze aufgenommen worden war, verlagerte er sein Hauptinteresse von den Atomwaffen auf die Archäologie. Die Kulturrevolution hatte versucht, sich gewaltsam von der fünftausendjährigen Tradition der chinesischen Kultur loszusagen. Xis Antwort darauf war, dabei zu helfen, Brücken in die Vergangenheit seines Landes zu bauen. Mit wachsendem Engagement widmete er sich der Ausgrabung der unterirdischen Totenstadt von Xian.
Dort wurde dann die großartige Entdeckung der tönernen Armee des Kaisers, nach dem China benannt war, gemacht. Sein offizieller Name lautete Qin Shi Huangdi, aber infolge wunderlicher Transkriptionen kannte man ihn im Westen überall nur als Ch’in. Im dritten Jahrhundert vor Christus hatte Qin das Land geeint, die Große Mauer gebaut und aus Mitgefühl verfügt, daß bei seinem Tod anstelle der Soldaten,
Diener und Adligen seines Hofstaates, die nach alter Tradition bei lebendigem Leib mit ihm begraben worden wären, naturgetreue Nachbildungen aus Terrakotta seinem Grab beigegeben werden sollten. Die tönerne Armee bestand aus 7500 Soldaten, also ungefähr einer Division. Kein Gesicht glich dem anderen. Menschen aus ganz China waren vertreten. Der Kaiser hatte viele verschiedene, sich bekriegende Provinzen zu einer Nation zusammengeschweißt. In einem benachbarten Grab fand man den fast vollkommen erhaltenen Leichnam einer Adeligen mit Namen Tai, die eine untergeordnete Stellung am kaiserlichen Hof innegehabt hatte. Die chinesische Technik der Einbalsamierung war der ägyptischen weit überlegen. Deutlich konnte man noch den strengen Gesichtsausdruck der Toten erkennen, der vielleicht daher rührte, daß sie Jahrzehnte lang ihre Diener traktiert hatte.
Qin hatte die Schrift vereinfacht, die Gesetze kodifiziert, Straßen gebaut, die Große Mauer vollendet und das Land geeint. Außerdem hatte er das Tragen von Waffen verboten. Während seine Feinde ihn beschuldigten, er habe Gelehrte niedergemetzelt, die seine Politik kritisierten, und Bücher verbrannt, die potentiell Unruhe stiftende Elemente enthielten, behauptete er, daß er die Korruption ausgerottet und Frieden und Ordnung gestiftet habe. Xi fühlte sich an die Kulturrevolution erinnert. Sein Traum war, diese widerstreitenden Bestrebungen in einer einzigen Person in Einklang zu bringen. Qins Hochmut hatte sich ins Ungeheuerliche gesteigert. Um einen Berg zu bestrafen, der ihn beleidigt hatte, hatte er befohlen, ihn völlig kahlzuschlagen und rot zu streichen, in der Farbe, die verurteilte Verbrecher tragen mußten. Qin war genial und wahnsinnig zugleich. Wäre es, ohne einen Anflug von Wahnsinn, überhaupt möglich gewesen, so viele verschiedene, kriegerische Volksstämme zu vereinen? Schon der Versuch allein war verrückt, sagte Xi lachend zu Ellie.
Mit wachsender Begeisterung hatte Xi die Ausgrabungen in Xian vorangetrieben. Im Laufe der Zeit war er zu der Überzeugung gekommen, daß Kaiser Qin selbst bestens erhalten irgendwo in einer großen Gruft nahe der freigelegten Terracotta-Armee auf ihn wartete. Alten Berichten zufolge sollte in der Nähe ein detailgetreues Modell Chinas aus dem Jahre 210 v. Chr. vergraben sein, das jeden Tempel und jede Pagode bis in die kleinste Einzelheit zeigte. Die Flüsse waren angeblich aus Quecksilber gemacht, auf denen die Miniaturausgabe der kaiserlichen Barkasse immerwährend durch das unterirdische Reich segelte. Als man herausfand, daß die Erde in Xian mit Quecksilber verunreinigt war, steigerte sich Xis Aufregung ins Unermeßliche. Er hatte einen zeitgenössischen Bericht ausgegraben, in dem von einem riesigen Gewölbe die Rede war, das der Kaiser in Auftrag gegeben hatte und das sich über sein Miniaturreich wölben sollte, das wie das wirkliche Reich ‚Reich des Himmels’ hieß. Da sich das geschriebene Chinesisch in den letzten 2200 Jahren kaum verändert hatte, konnte Xi den Bericht ohne die Hilfe eines Sprachwissenschaftlers lesen. Ein Chronist aus der Zeit Kaiser Qins sprach direkt zu Xi. Nächtelang versuchte sich Xi beim Einschlafen die große Milchstraße vorzustellen, die das Himmelsgewölbe in der Grabkammer des großen Kaisers durchschnitt, und die Nacht mit den funkelnden Kometen, die bei seinem Dahinscheiden erschienen waren, um sein Andenken zu ehren.
Die Suche nach Qins Grab und seinem Modell des Universums hatte Xi in den letzten Jahren völlig ausgefüllt. Bis jetzt hatte er es noch nicht gefunden, aber seine Bemühungen hatten die Phantasie ganz Chinas gefesselt. So kam es zu folgendem Ausspruch über ihn: „Es gibt eine Milliarde Menschen in China, aber es gibt nur einen Xi.“ In einem Land, das allmählich die Beschränkungen der individuellen Entfaltung lockerte, hielt man seinen Einfluß zweifellos für positiv.
Qin war offenkundig von dem Wunsch nach Unsterblichkeit besessen gewesen. Der Mann, der dem volkreichsten Land der Erde seinen Namen gegeben hatte, der Mann, der das größte Bauwerk des Planeten geschaffen hatte, hatte, wie nicht anders zu erwarten, Angst gehabt, vergessen zu werden. Deshalb ließ er noch monumentalere Bauten errichten und die Körper und Gesichter seiner Höflinge für die Nachwelt einbalsamieren oder nachbilden. Er baute sich seine eigene, noch nicht wiedergefundene Grabstätte und ein Modell der Welt und schickte wiederholt Expeditionen zum Östlichen Meer, um nach dem Wasser des Lebens zu suchen. Er beklagte sich jedes Mal bitter über die Kosten, wenn er wieder eine neue Expedition ausschickte. Eine dieser Unternehmungen umfaßte zahlreiche hochseetaugliche Dschunken und 3000 junge Männer und Frauen. Sie waren nie zurückgekehrt. Ihr Schicksal war unbekannt. Das Wasser der Unsterblichkeit war nicht zu finden. Nur fünfzig Jahre später waren in Japan plötzlich der Reisanbau auf überwässerten Feldern und die Eisenverhüttung aufgetaucht — Entwicklungen, die das japanische Wirtschaftssystem tiefgreifend veränderten und eine Klasse adliger Krieger hervorbrachten. Xi behauptete, daß sich in dem japanischen Namen für Japan eindeutig der chinesische Ursprung der japanischen Kultur spiegelte: Das Land der Aufgehenden Sonne. Wo man denn stehen müsse, fragte Xi, damit die Sonne über Japan aufging? Deshalb erinnere auch der Name der Tageszeitung, bei der Ellie gerade zu Besuch gewesen war, an das Leben und die Zeit des großen Kaisers Qin. Ellie bekam den Eindruck, daß Alexander der Große im Vergleich zu diesem Qin ein kleiner Dorftyrann gewesen sein mußte. Jedenfalls schien es so.
Wenn Qin von dem Wunsch nach Unsterblichkeit besessen gewesen war, dann war Xi von Qin besessen. Ellie erzählte Xi von ihrem Abstecher zu Sol Hadden im Erdorbit. Und sie waren sich einig, daß Kaiser Qin, hätte er in den letzten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts gelebt, ebenfalls im Orbit residiert hätte. Ellie stellte Xi Hadden per Bildtelephon vor und überließ sie dann ihrem Gespräch. Xi sprach exzellent Englisch, und da er vor kurzem an der Übergabe der britischen Kronkolonie Hongkong an die Chinesische Volksrepublik maßgeblich beteiligt gewesen war, hatte sich sein Akzent fast abgeschliffen. Die beiden unterhielten sich noch immer, als die Methusalem im Westen unterging. Sie mußten das Gespräch über einen Nachrichtensatelliten im geosynchronen Orbit fortsetzen. Sie verstanden sich glänzend. Kurz darauf bat Hadden, man möge die Aktivierung der Maschine so synchronisieren, daß er mit seiner Raumstation in diesem Augenblick darüberstünde. Er wollte, daß Hokkaido genau im Brennpunkt seines Teleskopes lag.
„Glauben die Buddhisten an Gott oder nicht?“ fragte Ellie, als sie unterwegs waren, um mit dem Klostervorstand zu Abend zu essen.
„Sie stehen auf dem Standpunkt“, erwiderte Waygay trocken, „daß ihr Gott so groß ist, daß er gar nicht existieren muß.“ Bei ihrer Fahrt durch die Landschaft unterhielten sie sich über Utsumi, den Vorstand des berühmtesten Klosters des Zen- Buddhismus in Japan. Vor einigen Jahren hatte er bei den Feierlichkeiten zum fünfzigsten Jahrestag der Zerstörung Hiroshimas eine Rede gehalten, die weltweit Aufmerksamkeit erregt hatte. Utsumi hatte gute Verbindungen zur Welt der Politik. In der regierenden Partei hatte er die Funktion eines geistlichen Beraters, aber die meiste Zeit verbrachte er mit Meditationsübungen in der Abgeschiedenheit des Klosters.
„Sein Vater ist ebenfalls Leiter eines buddhistischen Klosters gewesen“, bemerkte Devi Sukhavati. Ellie zog die Augenbrauen hoch.
„Schau nicht so erstaunt. Buddhistische Mönche durften heiraten wie die russisch-orthodoxen Geistlichen auch. Habe ich recht, Waygay?“
„Das war vor meiner Zeit“, erwiderte Waygay ein wenig ungehalten.
Das Restaurant lag in einem Bambushain und hieß Ungetsu — Verhangener Mond. Und tatsächlich war der Mond am frühen Abendhimmel verhangen. Ihre japanischen Gastgeber hatten es so eingerichtet, daß sie die einzigen Gäste waren. Ellie und ihre Begleiter zogen die Schuhe aus und betraten in Strümpfen ein kleines Speisezimmer, von dem aus man auf den Bambushain blicken konnte.
Der Kopf des Leiters des Klosters war kahlgeschoren, er trug ein Gewand in Schwarz und Silber. Er begrüßte sie in perfektem Englisch, und sein Chinesisch war, wie Xi Ellie später erzählte, auch ganz passabel. Die Umgebung war friedlich und die Unterhaltung heiter. Die Gänge der Mahlzeit waren kleine Kunstwerke, eßbare Juwelen. Ellie verstand jetzt, daß die Nouvelle Cuisine an die kulinarische Tradition Japans anknüpfte. Auch wenn es Sitte gewesen wäre, die Speisen mit verbundenen Augen zu sich zu nehmen, wäre sie zufrieden gewesen. Und wenn statt dessen die Delikatessen nur gebracht worden wären, um sie zu bewundern, und nicht zum Essen, wäre sie ebenfalls zufrieden gewesen. Sie zu betrachten und zu essen aber war der Himmel auf Erden. Ellie saß, an der Seite von Lunatscharski, dem Klostervorstand gegenüber. Die anderen fragten immer wieder nach den Namen der Leckerbissen. Zwischen dem Sushi und den Ginkgonüssen kam das Gespräch wie zufällig auf die Mission der Maschine.
„Warum sprechen wir miteinander?“ fragte der Klostervorsteher.
„Um Informationen auszutauschen“, erwiderte Lunatscharski, der mit den widerspenstigen Stäbchen sichtlich Mühe hatte.
„Aber warum wollen wir überhaupt Informationen austauschen?“
„Weil wir uns von Informationen ernähren. Informationen sind notwendig, um zu überleben. Ohne Informationen sterben wir.“
Lunatscharski war ganz versessen auf eine Ginkgonuß, die bei jedem Versuch, sie mit den Stäbchen zum Mund zu führen, abglitt. Er senkte den Kopf, um den Stäbchen auf halbem Weg entgegenzukommen.
„Ich glaube“, fuhr der oberste Mönch fort, „daß wir aus Mitleid und Liebe miteinander sprechen.“ Er langte mit den Fingern nach einer Ginkgonuß und steckte sie in den Mund. „Dann glauben Sie also“, fragte Ellie, „daß die Maschine ein Instrument des Mitleids ist? Daß sie keine Gefahr bedeutet?“
„Ich kann mit einer Blume sprechen“, entgegnete er anstelle einer Antwort. „Ich kann mit einem Stein sprechen. Sie werden keine Schwierigkeiten haben, diese Wesen — ist das das richtige Wort? — einer anderen Welt zu verstehen.“
„Ich bin sofort bereit, zu glauben, daß der Stein zu Ihnen spricht“, sagte Lunatscharski und kaute an seiner Ginkgonuß. Er war einfach dem Beispiel des Mönchs gefolgt. „Aber ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie mit einem Stein sprechen. Wie können Sie uns davon überzeugen, daß Sie mit einem Stein sprechen können? Die Welt ist voller Irrtümer. Woher wissen Sie denn, daß Sie nicht einer Täuschung erliegen?“
„Aha, der skeptische Wissenschaftler spricht.“ Über das Gesicht des Buddhisten huschte ein Lächeln, das Ellie sehr einnehmend fand, ein unschuldiges, fast kindliches Lächeln. „Um mit einem Stein zu sprechen, darf man sich mit nichts anderem beschäftigen. Man darf nicht soviel nachdenken und nicht soviel reden. Wenn ich sage, ich spreche mit einem Stein, dann meine ich damit nicht Worte. Die Christen sagen: ‚Am Anfang war das Wort. ’ Aber ich spreche von einer viel früheren, viel elementareren Verständigung.“
„Das mit dem Wort steht nur im Johannes-Evangelium“, bemerkte Ellie. Sie kam sich selbst pedantisch vor, aber da war es ihr schon herausgerutscht. „In den früheren synoptischen Evangelien findet man nichts dazu. Das rührt sicher von der griechischen Philosophie her. Aber was für eine präverbale Kommunikation meinen Sie denn? Sie fragen mit Worten und Sie wollen, daß ich etwas mit Worten beschreibe, was nichts mit Worten zu tun hat. Es gibt eine japanische Erzählung, die ‚Der Traum der Ameisen’ heißt. Sie spielt im Königreich der Ameisen. Es ist eine lange Geschichte. Ich will sie Ihnen jetzt nicht ganz erzählen. Aber die Essenz der Geschichte ist folgende: Um die Sprache der Ameisen zu verstehen, muß man selbst eine Ameise werden.“
„Die Sprache der Ameisen ist eigentlich eine chemische Sprache“, sagte Lunatscharski, wobei er den Mönch scharf musterte. „Sie legen Duftspuren, um den Weg zu kennzeichnen, den sie auf der Suche nach Futter eingeschlagen haben. Um die Sprache der Ameisen zu verstehen, brauche ich einen Gaschromatometer oder einen Massenspektrometer. Dazu brauche ich keine Ameise zu werden.“
„Vielleicht ist das der einzige Weg, wie Sie eine Ameise werden können“, entgegnete der Mönch und sah dabei von einem zum anderen. „Erklären Sie mir doch, warum die Menschen die Spuren untersuchen, die die Ameisen hinterlassen.“
„Nun“, meinte Ellie, „vermutlich würde ein Entomologe antworten: Um die Ameisen und ihre Gesellschaftsstruktur zu verstehen. Wissenschaftler finden Vergnügen daran, Dinge zu verstehen.“
„Das ist nur eine andere Art, zu sagen, daß sie die Ameisen lieben.“
Ellie lief ein leichter Schauder über den Rücken. „Aber die Geldgeber der Wissenschaftler sind da anderer Meinung. Sie behaupten, es geschieht, um das Verhalten der Ameisen kontrollieren zu können, um sie aus Häusern zu vertreiben, in die sie ihre Straßen gelegt haben, oder um beispielsweise eine Alternative zu den Pestiziden zu entwickeln. In letzterem könnte man auch eine gewisse Liebe zu den Ameisen vermuten“, sagte Ellie nachdenklich. „Aber es ist auch in unserem eigenen Interesse“, sagte Lunatscharski. „Denn Pestizide sind auch für uns giftig.“
„Müßt ihr denn ausgerechnet bei so einem Essen über Pestizide reden?“ fuhr Devi Sukhavati dazwischen, die am anderen Tischende saß.
„Wir werden den Traum der Ameisen ein anderes Mal weiterträumen“, sagte der Mönch leise zu Ellie, und wieder huschte das unschuldige Lächeln über sein Gesicht. Mit Hilfe meterlanger Schuhlöffel zogen sie sich wieder ihre Schuhe an und gingen zum Wagen, begleitet vom Lächeln und den zeremoniellen Verbeugungen der Bediensteten und der Besitzerin des Restaurants. Ellie und Xi sahen zu, wie der Klostervorsteher mit einigen ihrer japanischen Gastgeber in eine große Limousine stieg.
„Ich habe ihn gefragt: Wenn Sie mit einem Stein sprechen können, können Sie dann auch mit einem Toten sprechen?“ sagte Xi zu Ellie. „Und was hat er geantwortet?“
„Er sagte, mit den Toten sei es leicht. Schwierigkeiten habe er mit den Lebenden.“