10 Die Präzession der Äquinoktien

O Zeus, ist’s wahr, daß du die Welt regierst?

Wie? oder ist es nur ein eitler Wahn,

Daß droben ein Geschlecht von Göttern lebt?

Ist’s nur der Zufall, der im Leben waltet?

Euripides

Hekabe

Es war alles ganz anders gekommen. Ellie hatte sich vorgestellt, daß Palmer Joss zur Argus-Station kommen würde und dann die Radioteleskope bei der Arbeit beobachten und die riesige Halle besichtigen könnte, in der die Magnetbänder und Disketten mit den Daten der vergangenen Monate aufbewahrt wurden. Er konnte einige wissenschaftliche Fragen stellen und die vielen Nullen und Einser auf einigen der Computerbögen gezeigt bekommen, auf denen die immer noch nicht verständliche BOTSCHAFT ausgedruckt wurde. Ellie hatte nicht damit gerechnet, daß sie stundenlang über Philosophie und Theologie diskutieren würden. Joss hatte sich geweigert, nach Argus zu kommen. Nicht die Magnetbänder interessierten ihn, sagte er, sondern der menschliche Charakter. Peter Valerian wäre der geeignete Gesprächspartner für ihn gewesen: bescheiden, klar im Ausdruck und von einem tiefen und gefestigten christlichen Glauben, der sein tägliches Leben bestimmte. Aber die Präsidentin war dagegen gewesen. Sie wünschte ein Treffen im engen Kreis und hatte ausdrücklich darum gebeten, daß Ellie dabei war.

Joss hatte darauf bestanden, daß das Gespräch hier in Modesto, Kalifornien, im Wissenschaftlichen Institut und Museum für Bibelforschung stattfand. Ellie sah Der Heer kurz an und schaute dann durch die Glaswand, die die Bibliothek vom Museum trennte, hinaus. Draußen stand der Gipsabguß einer Dinosaurierfußspur. Das Original aus Sandstein war am Red River gefunden worden. Neben der Spur war deutlich der Abdruck eines Menschen zu erkennen, der Sandalen getragen haben mußte. Dadurch war, so die erklärende Bildunterschrift, bewiesen, daß Mensch und Dinosaurier Zeitgenossen gewesen waren, zumindest in Texas. Die Schuhmacher des Mesozoikums waren dabei anscheinend stillschweigend inbegriffen. Die Schlußfolgerung, die in der Bildunterschrift gezogen wurde, besagte, daß die Evolutionstheorie Betrug sei. Daß Paläontologen den Stein für Betrug hielten, wurde, wie Ellie schon vor zwei Stunden bemerkt hatte, mit keinem Wort erwähnt. Die beiden Fußabdrücke waren Teil einer riesigen Ausstellung mit dem Titel „Darwins Versäumnisse“. Auf der linken Seite des Saals veranschaulichte ein Foucault-Pendel eine wissenschaftliche Behauptung, die offenbar unangefochten blieb, nämlich, daß die Erde sich drehte. Rechts davon sah Ellie eine reich ausgestattete Anlage mit Holographien von Matsushita auf der Bühne eines kleinen Theaters, von wo aus die dreidimensionalen Bilder aller bedeutenden Heiligen direkt zu den Gläubigen sprechen konnten. Noch direkter sprach zu Ellie in diesem Augenblick Reverend Billy Jo Rankin. Sie hatte erst in allerletzter Minute erfahren, daß Joss auch Rankin eingeladen hatte, und war überrascht gewesen. Zwischen den beiden hatte es ständig theologische Streitgespräche gegeben, unter anderem darüber, ob die Wiederkunft Christi nahe bevorstünde, ob das Jüngste Gericht notwendigerweise mit dem Kommen Christi einhergehe und welche Bedeutung Wundern an Geistlichen zukäme. Vor kurzem allerdings hatten sie sich unter großem öffentlichen Aufsehen versöhnt, angeblich zum Wohle der fundamentalistischen Kirche Amerikas. Die Annäherung zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion wirkte sich offensichtlich in der ganzen Welt günstig auf Meinungsverschiedenheiten aus. Daß das Treffen gerade hier stattfand, war vielleicht ein Teil des Preises, den Joss für die Versöhnung zahlen mußte. Denn für Rankin lag nahe, die Ausstellung als sachliche Untermauerung seiner Position zu betrachten, falls es in der Diskussion um wissenschaftlich strittige Fragen gehen sollte. Sie saßen jetzt schon zwei Stunden zusammen, und noch immer redete Rankin von den Sünden der Wissenschaft und der noch nicht versäumten Möglichkeit zur Umkehr. Sein Anzug saß einwandfrei, seine Fingernägel waren frisch manikürt, und sein strahlendes Lächeln stand in merkwürdigem Gegensatz zu Joss’ zerknitterten, ausgemergelten und von tiefer Leidenschaft gezeichneten Zügen. Joss, auf dessen Gesicht ein kaum wahrzunehmendes Lächeln lag, hielt die Augen halb geschlossen und hatte den Kopf nach vorn geneigt, so daß er fast die Haltung eines Predigers einnahm. Er brauchte nicht viel zu sagen. Rankins Äußerungen unterschieden sich soweitabgesehen von seiner glatteren Vortragsweise — in nichts von Joss’ Fernsehansprachen.

„Ihr Wissenschaftler seid ja so zurückhaltend“, sagte Rankin. „Ihr liebt es, euer Licht unter den Scheffel zu stellen. Wenn man nur die Titel eurer Artikel liest, kommt man nie darauf, was sich dahinter verbirgt. Einsteins erstes Werk über die Relativitätstheorie hieß ‚Zur Elektrodynamik bewegter Körper’. Von E = mc2 auf dem Titelblatt keine Spur. ‚Zur Elektrodynamik bewegter Körper’. Das war alles.

Angenommen, Gott erschiene einer Versammlung von Wissenschaftlern, zum Beispiel auf einer dieser großen amerikanischen Konferenzen, dann würden alle etwas darüber schreiben. Vielleicht unter dem Titel: ‚Über dendritoforme Verbrennungen in der Atmosphäre’. Man würde eine Menge Gleichungen dafür aufstellen und viel über die Aussagekraft der neuen Hypothese reden, aber von Gott würde mit keinem Wort die Rede sein.“

Rankin holte tief Luft. „Ihr Wissenschaftler seid zu mißtrauisch“, fuhr er fort, und aus seiner Kopfbewegung zur Seite konnte Ellie schließen, daß er mit dieser Behauptung auch Der Heer meinte. „Ihr stellt alles in Frage, oder versucht es zumindest. Nie fällt es euch ein, daß es auch Dinge gibt, die man besser in Ruhe läßt. Immer wollt ihr genau überprüfen, ob etwas, wie man so schön sagt, ‚wahr’ ist. Ihr meint damit natürlich nur empirisch wahr, wahr im Sinn von Daten, Dingen, die man sehen und anfassen kann. Für Eingebungen oder Offenbarungen ist in eurer Welt kein Platz. Schon von Anfang an schließt ihr fast alles aus, was zur Religion gehört. Ich mißtraue den Wissenschaftlern, weil die Wissenschaftler allem mißtrauen.“

Gegen ihren Willen mußte Ellie zugeben, daß Rankin seine Sache gut vorgetragen hatte. Dabei war er angeblich einer der einfältigsten der gegenwärtigen Fernsehprediger. Nein, nicht er war der Dumme, korrigierte sie sich, sondern er war derjenige, der seine Gemeindemitglieder für dumm hielt. Er selbst konnte, soweit sie es beurteilen konnte, wirklich sehr geschickt sein. Sollte sie jetzt offen auf seine Argumente eingehen? Sowohl Der Heer als auch das Personal vom Museum zeichneten die Diskussion auf. Und obwohl beide Seiten sich darauf geeinigt hatten, daß die Aufzeichnungen nicht für den öffentlichen Gebrauch waren, hatte Ellie Angst, das Projekt oder die Präsidentin zu kompromittieren, wenn sie offen ihre Meinung sagte. Aber Rankins Äußerungen wurden zunehmend unerhörter, und weder Der Heer noch Joss griffen ein.

„Sie wollen vermutlich eine Antwort auf Ihre Thesen“, hörte Ellie sich sagen. „Es gibt allerdings keine ‚offizielle’ Meinung seitens der Wissenschaft zu den Problemen, die Sie aufgeworfen haben. Ich kann deshalb nicht im Namen aller Wissenschaftler, ja noch nicht einmal für die des Projekts Argus sprechen. Aber ich kann für mich eine Antwort versuchen, wenn Sie wollen.“

Rankin nickte heftig mit dem Kopf und lächelte sie ermutigend an. Joss ließ keine Reaktion erkennen. Er wartete ab. „Ich möchte vorausschicken, daß ich niemanden in seinem Glauben angreife. Von mir aus können Sie jede Lehrmeinung vertreten, die sie wollen, auch wenn sie nachweislich falsch ist. Und vieles, was Sie sagen und was Reverend Joss gesagt hat — ich habe vor ein paar Wochen Ihre Rede im Fernsehen gehört — kann man nicht einfach abtun. Ich werde also keine leichte Aufgabe haben. Trotzdem will ich versuchen zu erklären, warum ich glaube, daß Sie insgesamt nicht recht haben.“

Bis jetzt, ging es Ellie durch den Kopf, bin ich die Zurückhaltung in Person gewesen.

„Ihnen bereitet der naturwissenschaftliche Skeptizismus Unbehagen. Aber es gibt diesen Skeptizismus, weil unsere Welt komplex ist. Sogar äußerst komplex. Nicht jede Idee ist schon bei ihrem ersten Auftauchen notwendigerweise richtig. Menschen können sich täuschen. Auch Naturwissenschaftler. Alle möglichen Doktrinen mit schrecklichen Folgen für die Gesellschaft wurden zeitweise von Wissenschaftlern unterstützt, darunter bekannten Wissenschaftlern, berühmten, erstklassigen Wissenschaftlern. Und natürlich Politikern. Und angesehenen Führern religiöser Gruppen. Die Sklaverei zum Beispiel oder der Rassismus der Nationalsozialisten. Wissenschaftler machen Fehler, Theologen machen Fehler,

jeder macht Fehler. Das ist bei uns Menschen eben so. Auch bei Ihnen heißt es doch: ‚Irren ist menschlich’. Fehler vermeiden oder zumindest die Fehlerquote verringern kann man durch kritische Prüfung. Man überprüft seine Ideen nach strengen Wahrheitskriterien. Ich glaube nicht, daß es so etwas wie eine endgültige Wahrheit gibt. Aber wenn man die verschiedensten Meinungen zu Wort kommen läßt, wenn jeder Skeptiker seine Experimente durchführen kann, um eine Behauptung zu überprüfen, dann hat die Wahrheit eine Chance. Das ist die Erfahrung der ganzen Geschichte der Wissenschaft. Es ist kein perfekter Ansatz, aber der einzige, der zu funktionieren scheint. Wenn ich mir jetzt die Religion anschaue, dann sehe ich auch dort viele widerstreitende Meinungen. Zum Beispiel glauben die Christen, daß das Universum eine begrenzte Zahl von Jahren alt ist. Aus der Ausstellung in Ihrem Museum wird deutlich, daß einige Christen und Juden und Moslems glauben, daß das Universum nur sechstausend Jahre alt ist. Die Hindus glauben dagegen — und es gibt viele Hindus auf der Welt —, daß das Universum unendlich alt ist und im Laufe seiner Geschichte immer wieder neu entsteht und von neuem zerstört wird. Aber es können doch nicht beide recht haben. Entweder hat das Universum einen Anfang oder es ist ohne einen solchen. Ihre Freunde da draußen“ — Ellie deutete auf die Glastür, hinter der einige Mitarbeiter des Museums an „Darwins Versäumnissen“ vorbeischlenderten — „sollten mit den Hindus diskutieren. Gott scheint den Hindus etwas anderes erzählt zu haben als ihnen. Aber sie sprechen in der Regel ja nur mit ihresgleichen.“

War sie jetzt zu weit gegangen? Sie gestattete sich keine Pause. „Die Weltreligionen widersprechen sich auf allen Ebenen. Sie können nicht alle Recht haben. Was wäre, wenn keine recht hat? Die Möglichkeit zumindest besteht doch. Ihnen muß an der Wahrheit gelegen sein. Nun, um die Spreu vom Weizen zu trennen, muß man mißtrauisch sein. Ich stehe Ihrem religiösen Glauben nicht mißtrauischer gegenüber als jeder neuen wissenschaftlichen Idee, von der ich erfahre. Aber bei meiner Arbeitsmethode heißen sie Hypothesen und nicht Eingebung oder Offenbarung.“

Joss machte eine Handbewegung, aber es war Rankin, der antwortete: „Im Alten und Neuen Testament gibt es unzählige Offenbarungen und Prophezeiungen von Gott. Das Kommen des Erlösers wird in Jesaja 53, in Sacharja 14 und in der Chronik I, 17 vorhergesagt. Daß er in Bethlehem geboren würde, wird in Micha 5 prophezeit. Daß er aus dem Geschlecht Davids kommen würde, steht bei Matthäus 1 und — “

„Bei Lukas. Aber das sollte Sie eigentlich in Verlegenheit bringen. Wie erfüllt sich die Prophezeiung denn? Matthäus und Lukas schreiben Jesus zwei völlig verschiedene Abstammungen zu. Und noch schlimmer, sie ziehen eine Linie von David zu Joseph und nicht von David zu Maria. Oder glauben Sie nicht an Gott als den Vater?“ Rankin sprach ruhig weiter. Vielleicht hatte er sie gar nicht richtig verstanden. „… Amt und Leiden Jesu werden in Jesaja 52 und 53 und im 22. Psalm prophezeit. Daß er für dreißig Silberstücke verraten würde, steht ausdrücklich in Sacharja 11. Und wenn Sie ehrlich sind, können Sie die Erfüllung dieser Prophezeiung nicht leugnen.

Und die Bibel spricht auch von unserer heutigen Zeit. Israel und die Araber, Gog und sein Land Magog, Amerika und Rußland, der Atomkrieg — das steht alles in der Bibel. Mit ein wenig Verstand kann es jeder erkennen. Dazu braucht man kein Universitätsprofessor zu sein.“

„Ihre Schwierigkeit“, entgegnete Ellie, „ist mangelnde Einbildungskraft. Die Prophezeiungen sind fast alle vage, zweideutig, ungenau und offen für Betrug. Sie lassen viele verschiedene Interpretationen zu. Selbst die direkten Prophezeiungen von ganz oben interpretieren Sie nach Belieben — wie zum Beispiel das Versprechen Jesu, daß das Reich Gottes noch zu Lebzeiten einiger seiner Zuhörer kommen würde. Und jetzt erzählen Sie mir bloß nicht, daß das Reich Gottes in mir ist. Seine Zuhörer haben ihn ganz im wörtlichen Sinne verstanden. Sie zitieren nur die Prophezeiungen, die Ihnen erfüllt zu sein scheinen, und übergehen den Rest einfach. Und man darf auch nie vergessen, was für ein Bedürfnis nach Erfüllung der Prophezeiungen es gab. Aber stellen Sie sich einmal vor, Ihr Gott, der allmächtig, allwissend und barmherzig ist, wollte den zukünftigen Generationen einen Bericht hinterlassen, der seine Existenz den, nun, entfernteren Nachkommen Mose unmißverständlich machen sollte. Das ist einfach, beinahe trivial. Einige wenige rätselhafte Sätze und das strenge Gebot, sie unverändert weiterzugeben.“

Joss beugte sich fast unmerklich nach vorne. „Wie zum Beispiel.?“

„Zum Beispiel Sätze wie: ‚Die Sonne ist ein Stern’. Oder: ‚Der Mars ist ein rostfarbener Ort mit Wüsten und Vulkanen wie der Sinai’. Oder: ‚Ein Körper in Bewegung neigt dazu, in Bewegung zu bleiben’. Oder, einen Moment bitte“ — Ellie kritzelte einige Zahlen auf einen kleinen Block — „‚Die Erde wiegt eine Million mal eine Million mal eine Million mal eine Million soviel wie ein Kind’. Oder — mir ist aufgefallen, daß Sie beide Schwierigkeiten mit der speziellen Relativität haben, aber sie wird wirklich täglich von Teilchenbeschleunigern und kosmischen Strahlen bestätigt — also wie wäre es mit einem Satz wie: ‚Es gibt keine privilegierten Bezugssystemen Oder: ‚Du sollst dich nicht schneller bewegen als das Licht’. Das alles kann man vor dreitausend Jahren unmöglich gewußt haben.“

„Noch mehr?“ fragte Joss.

„Es gibt noch unendlich viele — mindestens einen für jedes physikalische Prinzip. Lassen Sie mich überlegen. ‚In dem kleinsten Kieselstein verbergen sich Wärme und Licht’. Oder: ‚Der Weg der Erde ist wie zwei, aber der Weg des Magneten ist wie drei’. Damit meine ich, daß der Schwerkraft ein Gesetz zugrunde liegt, das dem reziproken Wert des Abstandsquadrates proportional ist, während die Kraftwirkung eines magnetischen Dipols einem Gesetz folgt, das dem reziproken Wert des Abstandes hoch drei proportional ist. Oder in der Biologie — “ sie nickte Der Heer zu, der ein Schweigegelübde abgelegt zu haben schien — „wie wäre es mit ‚Zwei verschlungene Stränge sind das Geheimnis des Lebens’?“

„Da ist ein interessanter Satz“, sagte Joss. „Sie meinen doch gewiß die DNS. Aber Sie kennen als Physikerin doch sicher das Symbol der Medizin? Die Ärzte unserer Armee tragen es am Revers. Es heißt Merkurstab und wird aus zwei ineinander verschlungenen Schlangen gebildet. Es ist eine perfekte Doppelhelix. Seit alters symbolisiert sie das Bewahren von Leben. Das ist doch genau die Art von Verbindung, die Sie vorschlagen, oder?“

„Eigentlich dachte ich, es sei eine Spirale und nicht eine Helix. Nun gut. Da es so viele Symbole, Prophezeiungen, Mythen und Volksglauben gibt, könnten einige durch Zufall zu einem Satz der modernen Naturwissenschaft passen. Aber sicher bin ich mir da nicht. Vielleicht haben Sie recht. Vielleicht ist der Merkurstab eine Botschaft Gottes. Natürlich ist es kein christliches Symbol oder eines der heutigen Weltreligionen. Ich nehme nicht an, daß Sie behaupten wollen, daß die Götter nur zu den alten Griechen gesprochen haben. Was ich eigentlich sagen wollte: Wenn Gott uns eine Botschaft senden wollte, so hätte er es, auch wenn die alten Schriften dabei der einzige für ihn denkbare Weg waren, besser machen können. Und warum hätte er sich auf schriftliche Aufzeichnungen beschränken sollen? Warum kreist nicht ein riesiges Kruzifix um die Erde? Warum ist die Mondoberfläche nicht mit den Zehn Geboten übersät? Warum soll Gott sich in der Bibel so klar und eindeutig ausgedrückt haben und in der Welt so schwer zu erkennen sein?“ Joss wollte zu einer Antwort ansetzen. Sein Gesicht hatte sich plötzlich erwartungsvoll belebt. Aber Ellie kam gerade richtig in Fahrt, und vielleicht fand er es unhöflich, ihr ins Wort zu fallen.

„Warum hat uns Gott denn verlassen? Wenn man Ihnen glauben darf, redete er doch jeden zweiten Dienstag mit Kirchenvätern und Propheten. Er ist allmächtig, behaupten Sie, und allwissend. Dann kann es doch keine besondere Anstrengung für ihn sein, uns direkt und unzweideutig an seine Wünsche zu erinnern, wenigstens ein paar Mal in jeder Generation. Also wie kommt das? Warum kennen wir ihn nicht bis aufs I-Tüpfelchen?“

„Aber wir kennen ihn!“, unterbrach Rankin und ließ sich von dem feierlichen Klang seiner Stimme mitreißen. „Er ist überall unter uns. Unsere Gebete werden erhört. In diesem Land sind Millionen von Menschen wiedergeboren worden und können Gottes herrliche Gnade bezeugen. Die Bibel spricht heute noch genauso klar zu uns wie zu Mose und Jesu Zeiten.“

„Ach, hören Sie damit auf. Sie wissen genau, was ich meine. Wo sind die brennenden Büsche, die Feuersäulen, die mächtige Stimme, die vom Himmel auf uns niederdonnert: ‚Ich bin, der ich bin’? Warum sollte sich Gott auf so versteckte und vieldeutige Art und Weise offenbaren, wenn er seine Anwesenheit völlig eindeutig machen könnte?“

„Aber Sie sagen doch selbst, daß Sie eine Stimme vom Himmel hören?“ Joss sagte es, ohne die Stimme zu erheben, während Ellie einhielt, um Luft zu holen. Er blickte ihr direkt in die Augen.

Rankin nahm den Gedanken schnell auf. „Genau. Das wollte ich gerade sagen. Abraham und Moses hatten keine Radios oder Teleskope. Sie konnten den Allmächtigen nicht auf UKW hören. Vielleicht spricht Gott heutzutage auf andere, neue Art zu uns und eröffnet uns ein neues Verständnis. Oder vielleicht ist es nicht Gott — “

„Sondern der Teufel. Das habe ich auch schon gehört. Es klingt geradezu verrückt. Vielleicht können wir das noch für einen Augenblick beiseite lassen. Vielleicht glauben Sie, daß die BOTSCHAFT die Stimme Gottes, Ihres Gottes ist. Aber wo in Ihrer Religion kommt es vor, daß ein Gebet erhört wird, indem das Gebet wiederholt und zurückgeschickt wird?“

„Ich würde eine Wochenschau der Nazis nicht als Gebet bezeichnen“, warf Joss ein. „Sie sagen doch, daß man damit nur unsere Aufmerksamkeit erregen will.“

„Aber warum glauben Sie denn, daß Gott ausgerechnet zu den Wissenschaftlern spricht? Warum denn nicht mit Priestern wie Ihnen?“

„Gott spricht die ganze Zeit zu mir.“ Deutlich hörbar hämmerte Rankin sich mit dem Zeigefinger auf die Brust. „Und zu Reverend Joss. Gott hat mir gesagt, daß eine Offenbarung bevorsteht. Und wenn das Ende der Welt naht, werden die himmlischen Freuden über uns kommen. Die Sünder werden bestraft werden und die Auserwählten zum Himmel auffahren — “

„Hat er Ihnen auch gesagt, daß er diese Ankündigung im Radiospektrum machen wird? Sind Ihre Gespräche mit Gott irgendwo aufgezeichnet, damit wir nachprüfen können, ob sie tatsächlich stattgefunden haben? Oder sind wir auf Ihre bloße Behauptung angewiesen? Warum kündigt sich Gott ausgerechnet den Radioastronomen an und nicht den Männern und Frauen des geistlichen Standes? Finden Sie es nicht auch merkwürdig, daß die erste Botschaft von Gott nach zweitausend Jahren aus Primzahlen. und aus ein paar Bildern Adolf Hitlers bei den Olympischen Spielen 1936 bestehen soll? Ihr Gott hat einen eigenartigen Humor.“

„Mein Gott hat das, was ihm richtig erscheint.“ Sichtlich erschrocken über die Verschärfung der Diskussion schaltete sich Der Heer ein: „Vielleicht darf ich uns alle an den Zweck unseres Zusammentreffens erinnern.“ Typisch Ken, dachte Ellie, immer darauf bedacht zu beschwichtigen. Manchmal zeigte er Mut, aber eigentlich nur dann, wenn er keine Verantwortung zu übernehmen hatte. Er war ein unerschrockener Redner. aber nur privat. In wissenschaftspolitischen Angelegenheiten, zumal wenn er die Präsidentin zu vertreten hatte, zeigte er immer Entgegenkommen, sogar die Bereitschaft, mit dem Teufel selbst einen Kompromiß zu schließen. Ellie mußte innerlich lachen. Die Sprache der Theologen schien jetzt schon auf sie abzufärben.

Ellie brach ihre Gedanken ab und fiel Der Heer ins Wort: „Das ist etwas anderes. Wenn das Signal von Gott kommt, warum kommt es dann von einem einzigen Stern — aus der Nähe eines besonders hellen Sterns in nicht allzuweiter Entfernung? Warum kommt es nicht von überall aus dem All wie die kosmische Hintergrundstrahlung? Da das Signal nur von einem Stern kömmt, liegt die Vermutung nahe, daß es von einer anderen Zivilisation gesendet wird. Wenn es von überall her käme, würde es nach einem Signal Ihres Gottes aussehen.“

„Gott kann das Signal aus dem Spundloch des Kleinen Bären kommen lassen, wenn er will.“ Rankin wurde feuerrot im Gesicht. „Entschuldigen Sie, aber Sie haben mich wirklich aufgebracht. Gott ist allmächtig.“

„Alles, was Sie nicht verstehen, schreiben Sie Gott zu. Gott ist für Sie das, womit Sie alle Geheimnisse der Welt, alle Herausforderungen an unsere Intelligenz beiseitefegen. Sie stellen einfach Ihren Verstand ab und sagen, Gott hat es getan.“

„Gnädige Frau, ich bin nicht hierhergekommen, um mich beleidigen zu.“

‚„Hierhergekommen’? Ich dachte, Sie wohnen hier.“

„Gnädige Frau — “ Rankin wollte etwas sagen, besann sich dann aber eines Besseren. Er holte tief Luft und fuhr fort: „Dies ist ein christliches Land, und Christen wissen die Wahrheit von der Lüge zu unterscheiden, sie tragen die heilige Verantwortung dafür, daß das geheiligte Wort Gottes verstanden.“

„Ich bin Christin, aber Sie sprechen nicht für mich. Sie sind Gefangener Ihres eigenen religiösen Wahnes. Es kommt mir vor, als lebten Sie im fünften Jahrhundert. Aber wir haben die Renaissance hinter uns, und die Aufklärung hat stattgefunden. Ist Ihnen das entgangen?“

Joss und Der Heer hielt es kaum noch in ihren Sesseln. „Bitte“, bat Ken und sah Ellie eindringlich an. „Wenn wir uns nicht an unser Programm halten, weiß ich nicht, wie wir den Wunsch der Präsidentin erfüllen können.“

„Aber Sie wünschten doch einen ‚offenen Meinungsaustausch““.

„Es ist kurz vor zwölf“, bemerkte Joss. „Machen wir doch eine kleine Mittagspause.“

Draußen vor dem Konferenzraum lehnte Ellie sich an das Geländer, das das Foucault-Pendel umgab, und flüsterte erregt auf Der Heer ein.

„Ich könnte ihn zusammenschlagen, diesen selbstsicheren Alleswisser und Oberheiligen.“

„Warum, Ellie? Sind denn Unwissen und irrige Ansichten nicht schmerzlich genug?“

„Ja, wenn er nur das Maul hielte. Aber er korrumpiert Millionen.“

„Liebste, genauso denkt er über dich.“

Als Ellie und Der Heer vom Mittagessen zurückkamen, merkte Ellie sofort, daß Rankin eher gedämpft wirkte, während Joss, der als erster sprach, nicht nur höflich, sondern ausnehmend freundlich war.

„Frau Dr. Arroway“, begann er, „ich kann verstehen, daß Sie darauf brennen, uns Ihre Entdeckungen vorzuführen, und daß Sie nicht hierher gekommen sind, um theologische Fragen zu erörtern. Aber ich bitte Sie um noch ein wenig Geduld mit uns. Sie haben eine scharfe Zunge. Ich kann mich nicht erinnern, wann sich Bruder Rankin das letzte Mal so über Fragen des Glaubens ereifert hat. Es muß schon Jahre her sein.“ Er warf einen kurzen Blick auf seinen Kollegen, der äußerlich gleichgültig auf einem gelben, linierten Block herumkritzelte und den obersten Kragenknopf aufgemacht und seine Krawatte gelockert hatte.

„Ein, zwei Dinge, die Sie heute morgen gesagt haben, beschäftigen mich. Sie bezeichnen sich selbst als Christin. Darf ich Sie fragen, in welchem Sinn Sie das meinen?“

„Sie wissen, daß das keine Voraussetzung meiner Arbeit war, als ich den Direktorposten des Projekts Argus annahm.“ Ellie klang gelassen. „Ich bin Christin in dem Sinn, daß ich Jesus Christus als eine historische Figur bewundere. Ich halte die Bergpredigt für eines der großartigsten Dokumente der Ethik und eine der besten Reden der Geschichte. Ich glaube, daß der Satz ‚Liebet eure Feinde’ vielleicht auf lange Sicht selbst das Problem des Atomkriegs lösen könnte. Ich wünschte, Jesus würde heute leben. Ein großer Mann, ein mutiger Mann, ein Mann mit Einsichten in Wahrheiten, die nicht populär waren.

Aber ich glaube nicht, daß er Gott oder der Sohn Gottes oder etwa der Großneffe Gottes war.“

„Sie wollen nicht an Gott glauben“, entgegnete Joss einfach. „Sie meinen, Sie können gleichzeitig Christin sein und nicht an Gott glauben. Lassen Sie mich ganz direkt fragen: Glauben Sie an Gott?“

„Die Frage ist nicht ganz eindeutig. Wenn ich mit Nein antworte, habe ich dann gesagt, ich bin davon überzeugt, daß es Gott nicht gibt, oder sage ich, daß ich nicht sicher weiß, ob es ihn gibt? Das sind zwei verschiedene Aussagen.“

„Sind sie wirklich so verschieden, Frau Dr. Arroway? Sie glauben doch an Ockhams Rasiermesser, nicht? Wenn Sie zwei verschiedene, aber gleich gute Erklärungen für dasselbe Erlebnis haben, dann entscheiden Sie sich doch für die einfachere. Die ganze Geschichte der Wissenschaft spricht Ihrer Meinung nach für dieses Vorgehen. Wenn Sie nun ernsthafte Zweifel hegen, ob es Gott gibt — soviel Zweifel, daß Sie sich nicht diesem Glauben anvertrauen wollen —, dann müssen Sie sich auch eine Welt ohne Gott vorstellen können: Eine Welt, die ohne Gott entstanden ist, eine Welt, die in ihrem Alltag keinen Gott kennt, eine Welt, in der die Menschen ohne Gott sterben. Keine göttlichen Strafen. Keine Belohnungen. Die Heiligen, die Propheten und all die Gläubigen, die jemals gelebt haben — Sie müssen glauben, daß sie alle Narren gewesen sind. Sie haben sich selbst betrogen, würden Sie wahrscheinlich sagen. Es wäre eine Welt ohne Sinn und ohne Ziel, in der wir lebten. Alles bestünde nur aus den unberechenbaren Zusammenstößen von Atomen — das stimmt doch? Einschließlich der Atome, aus denen der Mensch besteht.

Für mich wäre es eine hassenswerte und unmenschliche Welt. Ich wollte nicht in ihr leben. Aber wenn Sie sich so eine Welt vorstellen können, warum schwanken Sie dann noch? Warum halten Sie sich irgendwo zwischen den beiden Welten auf? Wenn Sie sich eine Welt ohne Gott vorstellen können, wäre es dann nicht viel einfacher, sich offen einzugestehen, daß es keinen Gott gibt? Sie verhalten sich nicht wie Ockhams Messer. Ich glaube, daß Sie inkonsequent sind. Wie kann eine überzeugte Wissenschaftlerin die Frage offenlassen, ob es einen Gott gibt, wenn sie sich eine Welt ohne Gott vorstellen kann? Müßten Sie dann nicht Atheistin sein?“

„Ich dachte, Sie wollten darauf hinaus, daß Gott die einfachere Hypothese ist“, sagte Ellie, „aber Ihr Argument ist viel interessanter. Wenn es nur eine Frage innerhalb der Naturwissenschaften wäre, würde ich Ihnen zustimmen, Reverend Joss. Die Naturwissenschaft beschäftigt sich in der Hauptsache mit dem Aufstellen und Verbessern von Hypothesen. Wenn die Naturgesetze alle Tatsachen ohne übernatürliche Eingriffe erklären könnten oder auch nur so gut wie die Hypothese eines Gottes funktionieren würden, dann würde ich mich von jetzt ab als Atheistin bezeichnen. Wenn dann ein einziges Beweisstück entdeckt würde, das nicht paßte, würde ich vom Atheismus ablassen. Und wir entdecken tatsächlich immer wieder Lücken und Unstimmigkeiten in den Naturgesetzen. Aber der Grund, warum ich mich selbst nicht als Atheistin bezeichne, ist, daß es hier nicht nur um ein wissenschaftliches Problem geht. Es ist vor allem ein religiöses und ein politisches Problem. Es liegt am Versuchscharakter einer wissenschaftlichen Hypothese, daß sie sich nicht auf diese Gebiete erstrecken kann. Sie sprechen von Gott nicht als von einer Hypothese. Sie glauben, daß Sie im Alleinbesitz der Wahrheit sind, deshalb weise ich mit aller Deutlichkeit darauf hin, daß Sie ein, zwei Dinge übersehen haben. Aber wenn Sie mich fragen, dann kann ich Ihnen gern sagen: Ich kann nicht sicher sagen, ob ich recht habe oder nicht.“

„Ich dachte immer, daß ein Agnostiker ein Atheist ist, der nicht den Mut hat, sich zu seiner Überzeugung zu bekennen.“

„Sie können genausogut sagen, daß ein Agnostiker eine tief religiöse Person ist, die dennoch nicht ganz vergessen hat, daß wir Menschen irren können. Wenn ich sage, daß ich Agnostikerin bin, dann meine ich damit nur, daß Gott nicht bewiesen ist. Es gibt keinen zwingenden Beweis, daß Gott existiert — zumindest Ihre Art Gott —, und es gibt keinen zwingenden Beweis, daß es ihn nicht gibt. Da mehr als die Hälfte der Menschen auf der Erde keine Juden, Christen oder Moslems sind, müßte ich eigentlich sagen, daß es keine zwingenden Argumente für Ihre Art Gott gibt. Sonst müßte die ganze Welt sich zum Christentum bekehren. Ich kann nur immer wieder sagen, wenn Ihr Gott uns wirklich von seiner Existenz hätte überzeugen wollen, dann hätte er es viel besser machen können.

Sehen Sie, etwas wie die BOTSCHAFT ist nachweisbar authentisch. Sie wird überall auf der Welt empfangen. Radioteleskope in Ländern mit der verschiedensten Vergangenheit und den verschiedensten Sprachen und Religionen verfolgen das Signal. Und alle bekommen dieselben Daten von demselben Ort am Himmel auf denselben Frequenzen mit derselben Polarisationsmodulation. Moslems, Hindus, Christen und Atheisten — alle empfangen sie dieselbe Botschaft. Jeder Skeptiker kann sich ein Radioteleskop hinstellen — es muß gar nicht besonders groß sein — und diese Daten empfangen.“

„Sie sind also nicht der Meinung, daß Ihre Radiobotschaft von Gott kommt?“ schaltete sich Rankin ein. „Nein, auf keinen Fall. Ich glaube nur, daß die Zivilisation auf der Wega, die über weit weniger Energien verfügt, als Sie Ihrem Gott zuschreiben, sich viel klarer ausdrückt als Ihr Gott. Wenn Ihr Gott tatsächlich auf dem eher unwahrscheinlichen Weg der mündlichen Überlieferung und der alten Schriften über die Jahrtausende zu uns sprechen wollte, dann hätte er sich so ausdrücken können, daß seine Existenz ein für alle Mal erwiesen gewesen wäre.“ Ellie machte eine Pause, aber weder Joss noch Rankin sagten ein Wort. Sie versuchte, das Gespräch nochmals auf die Daten zu lenken.

„Warum halten wir uns mit Urteilen nicht noch eine Weile zurück, bis wir mit der Entschlüsselung der BOTSCHAFT weiter vorangekommen sind? Möchten Sie sich vielleicht einmal einige Daten ansehen?“

Beide stimmten bereitwillig zu. Aber sie konnte ihnen nur endlose Reihen von Nullen und Einsen vorführen, die weder besonders erbaulich noch anregend waren. Ausführlich erklärte sie, daß man vermutete, die einzelnen Seiten seien numeriert, und daß man hoffe, noch einen Code zur Entschlüsselung der BOTSCHAFT zu erhalten. In stillschweigender Übereinkunft erwähnten weder Ellie noch Der Heer die sowjetische Vermutung, daß es sich womöglich um den Plan für eine Maschine handelte. Die Vermutung war zu unsicher und von den Sowjets bisher auch noch nicht in der Öffentlichkeit zur Sprache gebracht worden. Abschließend beschrieb sie noch die Wega selbst — ihre Masse, Oberflächentemperatur, Farbe, Entfernung von der Erde, ihr Alter und den Ring aus rotierendem Schutt, der sie umgab und der 1983 von einem Infrarotsatelliten entdeckt worden war.

„Aber gibt es außer der Tatsache, daß sie der hellste Stern am Himmel ist, noch etwas Besonderes an der Wega?“ wollte Joss wissen. „Oder etwas, das auf besondere Art mit der Erde verbunden wäre?“

„Hinsichtlich ihrer Eigenschaften als Stern fällt mir im Moment nichts ein. Außer vielleicht, daß die Wega vor zirka zwölftausend Jahren der Polarstern war und es auch in zirka vierzehntausend Jahren wieder sein wird.“

„Ich dachte immer, daß der Polarstern der Nordstern ist“, sagte Rankin, der immer noch auf seinen Notizblock kritzelte. „Das ist er auch für ein paar tausend Jahre, aber nicht in alle Ewigkeit. Die Erde ist wie ein sich drehender Kreisel. Ihre Rotationsachse bewegt sich langsam in einer kreisförmigen Bahn.“ Ellie nahm ihren Bleistift, um die Bewegung der Erdachse vorzuführen. „Man bezeichnet das als das Vorrücken der Tagundnachtgleichen oder Präzession der Äquinoktien.“

„Entdeckt von Hipparch von Nizäa“, fügte Joss hinzu, „im zweiten Jahrhundert vor Christi Geburt.“ Ellie war überrascht, daß er so etwas auswendig wußte. „Genau“, erwiderte sie und fuhr fort: „Jetzt deutet die Linie vom Zentrum der Erde zum Nordpol in ihrer Verlängerung auf einen Stern, den wir Polaris nennen und der zum Sternbild des Kleinen Wagen bzw. des Kleinen Bären gehört. Auf dieses Sternbild haben Sie doch vorhin vor dem Mittagessen angespielt, Mr. Rankin. In dem Maß, in dem die Erdachse sich langsam dreht, verschiebt sich auch die Richtung, in die sie zeigt, vom Polarstern weg. Im Verlauf von 26000 Jahren beschreibt die Achse einen geschlossenen Kreis, und die Richtung, in die der Nordpol zeigt, durchwandert mehrere Sternbilder. In der Gegenwart deutet der Nordpol fast exakt auf den Polaris, exakt genug, um nützlich für die Navigation zu sein. Vor 12000 Jahren deutete er auf die Wega. Aber eine physikalische Verbindung gibt es nicht. Die Verteilung der Sterne in unserer Milchstraße hat nichts mit der Rotation der Erdachse zu tun, die um einen Winkel von dreiundzwanzigeinhalb Grad geneigt ist.“

„Hm. Vor zwölftausend Jahren war es 10000 vor Christi Geburt, also die Zeit, in der unsere Zivilisation im Entstehen begriffen war. Das ist doch richtig?“ fragte Joss. „Wenn Sie nicht daran glauben, daß die Erde 4004 vor Christi Geburt erschaffen wurde.“

„Nein, daran glauben wir nicht, nicht wahr, Bruder Rankin? Nur glauben wir auch nicht, daß das Alter der Erde so genau zu bestimmen ist, wie ihr Wissenschaftler es tut. In der Frage des Erdalters sind wir vielleicht das, was Sie als Agnostiker bezeichnen würden.“ Sein Lächeln war wirklich überaus sympathisch. „Wenn also vor zehntausend Jahren Seeleute das Mittelmeer oder den Persischen Golf mit ihren Schiffen berühren, dann war die Wega der Stern, nach dem sie sich richteten?“

„Damals herrschte noch die letzte Eiszeit. Es war also wohl noch ein bißchen zu früh für die Seefahrt. Aber die Jäger, die die Landbrücke der heutigen Bering-Straße nach Nordamerika überquerten, lebten damals. Für sie muß es ein wunderbares Geschenk gewesen sein — wie durch göttliche Vorsehung bestimmt, wenn Sie wollen —, daß ein so heller Stern genau im Norden stand. Ich bin überzeugt, daß viele Menschen diesem glücklichen Zufall ihr Leben verdanken.“

„Das ist ja ungeheuer interessant.“

„Die ‚göttliche Vorsehung’ habe ich nur als Metapher gebraucht. Das dürfen Sie nicht falsch verstehen.“

„Ganz bestimmt nicht, liebe Frau Dr. Arroway.“ Es sah so aus, als wolle Joss jetzt das Gespräch beschließen. Er wirkte nicht unzufrieden. Aber Rankin hatte noch einige Punkte auf seiner Tagesordnung.

„Es erstaunt mich, daß Sie hier nicht von göttlicher Vorsehung sprechen. Mein Glaube ist so stark, daß ich keine Beweise brauche. Aber jeder neue Beweis bestärkt mich in meinem Glauben.“

„Dann glaube ich, daß Sie mir heute morgen nicht richtig zugehört haben. Ihre Vorstellung von einer Art Glaubenswettkampf, den Sie überlegen gewinnen, ärgert mich. Soweit ich weiß, haben Sie Ihren Glauben nie auf die Probe gestellt. Sind Sie bereit. Ihr Leben für Ihren Glauben aufs Spiel zu setzen? Ich bin bereit, es für meinen zu tun. Schauen Sie mal aus dem Fenster. Dort hängt ein riesiges Foucault-Pendel. Das Gewicht des Pendels dürfte um die fünfhundert Pfund wiegen. Mein Glaube sagt mir, daß die Amplitude eines frei schwingenden Pendels — egal wie weit es aus seiner senkrechten Position ausschwingt — nie größer wird. Sie kann nur kleiner werden. Ich bin bereit hinauszugehen, das Pendel bis vor mein Gesicht zu ziehen, es loszulassen und auf mich zurückschwingen zu lassen. Wenn mein Glaube falsch war, dann bekomme ich einen Schlag mit der Wucht von fünfhundert Pfund ins Gesicht. Also. Wollen Sie meinen Glauben auf die Probe stellen?“

„Das ist wirklich nicht nötig. Ich glaube Ihnen“, erwiderte Joss. Rankin dagegen schien interessiert. Vermutlich malte er sich aus, wie sie hinterher vielleicht aussehen würde. „Aber wären Sie bereit“, fuhr Ellie fort, „einen Schritt näher an das Pendel heranzutreten und zu Gott zu beten, er möge den Ausschlag um genau den Schritt verkürzen? Was, wenn sich herausstellt, daß Sie sich geirrt haben, daß das, was Sie lehren, gar nicht Gottes Wille ist? Vielleicht ist es ja das Werk des Teufels? Vielleicht ist es auch nur pure menschliche Erfindung. Wie können Sie wirklich sicher sein?“

„Glaube, Eingebung, Offenbarung, Ehrfurcht“, antwortete Rankin. „Beurteilen Sie nicht jeden mit dem Maßstab Ihrer eigenen beschränkten Erfahrung. Daß Sie den Herrn verleugnen, verhindert noch lange nicht, daß andere Menschen seine Herrlichkeit erkennen.“

„Sehen Sie, wir alle sehnen uns nach Wundern. Das ist eine tief menschliche Eigenschaft. Wissenschaft und Religion hängen beide eng damit zusammen. Was ich sagen will, ist, daß man keine eigenen Wundergeschichten zu erfinden braucht. Man braucht nicht zu übertreiben. Es gibt genügend Wunder und Geheimnisse in der Welt um uns. Die Natur ist viel besser im Erfinden von Geschichten als wir.“

„Vielleicht sind wir alle Wanderer auf der Straße zur Wahrheit“, erwiderte Joss.

Nach diesem versöhnlichen Satz unterbrach Der Heer geschickt und sprach einige Schlußworte. Förmlich verabschiedete man sich. Ellie fragte sich, ob das Ganze etwas genützt hatte. Valerian hätte sicher mehr erreicht und wäre dabei weniger provozierend gewesen. „Es war wirklich ein sehr interessanter Tag, Frau Dr. Arroway. Ich danke Ihnen.“ Joss war wieder distanziert und höflich und wirkte zerstreut. Trotzdem schüttelte er ihr warm die Hand. Auf dem Weg zu ihrem von der Regierung gestellten Wagen, der draußen wartete, kamen sie an einem malerisch gestalteten Schaukasten vorbei. ‚Die Expansion des Universums: Ein Irrtum’ stand darauf, und dahinter war auf einem Schild zu lesen: ‚Unser Gott lebt. Es tut uns leid um Euren.“

Ellie flüsterte Der Heer zu: „Es tut mir leid, daß ich dir deine Arbeit erschwert habe.“

„Aber nein, Ellie. Du warst großartig.“

„Dieser Palmer Joss ist ein attraktiver Mann. Ich glaube nicht, daß ich ihn bekehrt habe. Aber dafür hat er mich fast bekehrt.“ Natürlich sagte sie das nur im Spaß.

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