Kleine Fliege du,
deinem Sommerspiel
meine achtlose Hand
setzte das Ziel.
Gleich ich nicht auch
einer Fliege wie dir?
Und gleichst nicht du
einem Menschen wie mir?
Denn tanze und trinke und singe ich nicht,
bis ein täppischer Griff
die Schwinge mir bricht?
Menschlichem Ermessen nach konnte es kein künstlich geschaffener Körper sein: Das Ding war so groß wie eine ganze Welt. Zugleich war es allerdings so merkwürdig und kompliziert geformt, so offensichtlich auf einen komplexen Zweck hin ausgerichtet, daß es nur Ausdruck einer schöpferischen Intelligenz sein konnte. Während es in einer polaren Umlaufbahn um den großen blauweißen Stern glitt, sah es aus wie ein riesiges, unvollkommenes Polyeder, das mit einer Kruste aus Millionen klettenförmiger Gebilde überzogen war. Die Klettenkugeln waren auf die verschiedenen Sektoren des Himmels gerichtet. Sie erfaßten alle Himmelskonstellationen. Seit Äonen erfüllte diese polyedrische Welt ihre rätselhafte Aufgabe. Sie war sehr geduldig. Sie konnte es sich leisten, ewig zu warten.
Als man sie herauszog, schrie sie kein einziges Mal. Ihre winzige Stirn war runzelig, die Augen hatte sie weit aufgerissen. Sie schaute in die hellen Lichter und auf die weiß- und grüngekleideten Gestalten und die Frau, die unter ihr auf dem Tisch lag. Seltsam vertraute Klänge fluteten durch den Raum. Für ein Neugeborenes hatte ihr Gesicht einen eigentümlichen Ausdruck — es mochte Verwirrung sein.
Als sie zwei Jahre alt war, streckte sie immer wieder ihre Ärmchen in die Höhe und sagte dazu artig: „Papa, hoch.“ Seine Freunde waren überrascht. Das kleine Mädchen war so höflich. „Das ist nicht Höflichkeit“, sagte ihr Vater zu ihnen. „Früher hat sie immer geschrien, wenn sie auf den Arm genommen werden wollte. Deshalb habe ich einmal zu ihr gesagt: Ellie, du brauchst nicht zu schreien. Sag einfach: ‚Papa, hoch.“ Kinder sind so gescheit. Stimmt’s, meine Kleine?“
Jetzt war sie also richtig hoch droben, saß in schwindelnder Höhe auf den Schultern ihres Vaters und griff in sein schütteres Haar. Hier oben fühlte sie sich viel wohler und sicherer als da unten, wo sie durch einen Wald von Beinen krabbeln mußte. Da konnte man getreten werden oder gar verlorengehen. Sie packte noch fester zu.
Als sie vom Affenkäfig fortgingen und um die nächste Ecke bogen, sahen sie ein großes, geflecktes Tier mit dürren Beinen, einem langen Hals und kleinen Hörnchen auf dem Kopf. Das Tier überragte sie wie ein Turm. „Weil sein Hals so lang ist, kann das, was es sagt, nicht herauskommen“, sagte ihr Vater. Das arme, zum Schweigen verurteilte Tier tat ihr leid. Aber gleichzeitig freute sie sich, daß es so etwas gab. Solche Wunder begeisterten sie.
„Versuch es, Ellie“, drängte ihre Mutter sanft. In der vertrauten Stimme schwang übermütiger Stolz. „Lies es uns vor.“
Die Schwester der Mutter hatte nicht glauben wollen, daß Ellie mit drei Jahren schon lesen konnte. Die Tante war überzeugt gewesen, daß Ellie die Kindergeschichten auswendig gelernt hatte. Es war ein kühler Märztag, sie waren die State Street entlanggebummelt und zuletzt vor einem Schaufenster stehengeblieben. Hinter der Scheibe glitzerte ein burgunderroter Stein im Sonnenlicht. „Juwelier“, las Ellie langsam, und alle drei Silben waren deutlich zu hören.
Schuldbewußt schlich sie ins Gästezimmer. Das alte MotorolaRadio stand auf dem Regal, genau wie sie es in Erinnerung hatte. Der Apparat war groß und schwer. Fest an die Brust gedrückt holte Ellie ihn herunter und hätte ihn dabei fast fallen lassen. Hinten auf dem Radio war zu lesen: „Achtung! Rückwand nicht entfernen.“ Aber sie wußte, daß keine Gefahr bestand, wenn der Stecker nicht in der Dose war. Aufgeregt fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen, als sie die Schrauben entfernte und das Innere des Radios freilegte. Wie sie geahnt hatte, fand sie keine winzigen Orchester und Miniatursprecher, die in dem Gehäuse ein geruhsames Leben führten und nur darauf warteten, daß der Kippschalter auf „an“ geschaltet wurde. Statt dessen entdeckte sie wunderschöne Glasröhren, die Glühbirnen ähnelten. Einige sahen sogar aus wie die Kirchtürme, die sie auf Bildern in einem Buch über Moskau gesehen hatte. Die Metallstifte paßten mit ihren unteren Enden genau in die Buchsen, in die sie gesteckt waren. Sie ließ die Rückwand offen und stellte den Schalter auf „an“. Dann steckte sie den Stecker in die nächste Steckdose. Wenn sie nichts anfaßte und nirgends zu nahe dranging, dann konnte ihr doch wohl nichts passieren? Kurz darauf begannen die Röhren zwar zu glühen, aber dennoch war kein Ton zu hören. Das Radio war „kaputt“ und schon vor einigen Jahren gegen ein neueres Modell ausgetauscht worden. Eine der Röhren glühte nicht. Ellie zog den Stecker aus der Steckdose und zerrte die nicht funktionierende Röhre aus ihrer Buchse. In der Röhre steckte ein viereckiges Metallblättchen, das an winzigen Drähten befestigt war. Der Strom fließt also durch die Drähte, dachte sie.
Aber zuerst muß er in die Röhre kommen. Einer der Metallstifte sah verbogen aus, und mit ein bißchen Mühe konnte sie ihn wieder geradebiegen. Sie setzte die Röhre wieder ein und steckte den Stecker in die Steckdose. Sie war entzückt, als die Röhre zu glühen begann. Plötzlich zischte und brummte es. Erschrocken schaute Ellie zur geschlossenen Tür hinüber und drehte den Ton leiser. Als sie an dem Knopf drehte, auf dem „Frequenz“ stand, hörte sie auf einmal eine aufgeregte Stimme, die — soweit sie etwas verstehen konnte — über eine russische Maschine sprach, die hoch droben am Himmel flog und unaufhörlich um die Erde kreiste. Unaufhörlich, dachte Ellie. Sie drehte auf der Skala weiter, um zu einem anderen Sender zu kommen. Aus Furcht, entdeckt zu werden, zog sie nach einer Weile den Stecker wieder heraus, schraubte die Rückwand wieder lose an und hievte das Radio mühsam auf seinen Platz im Regal zurück.
Als sie ein wenig außer Atem aus dem Gästezimmer kam, lief sie ihrer Mutter in die Arme und fuhr wieder erschrocken zusammen.
„Alles in Ordnung, Ellie?“
„Ja, Mama.“
Sie machte ein gleichgültiges Gesicht, obwohl ihr Herz wie wild klopfte und ihre Hände feucht wurden. Sie setzte sich in dem kleinen Garten hinter dem Haus auf ihren Lieblingsplatz, zog die Knie ans Kinn und dachte über das Innere des Radios nach. Ob man diese Röhren wirklich alle brauchte? Was geschah, wenn man sie sie eine nach der anderen herausnahm? Ihr Vater hatte die Röhren einmal Vakuumröhren genannt. Was steckte in einer Vakuumröhre? War da wirklich keine Luft drin? Wie kamen die Musik und die Stimmen der Sprecher in das Radio hinein? Die Erwachsenen sagten immer, „durch die Luft“. Wurden Radiosendungen wirklich durch die Luft übertragen? Was passierte in dem Radioapparat, wenn man den Sender wechselte? Was war eine „Frequenz“? Warum mußte man den Stecker in die Steckdose stecken, damit es funktionierte? Konnte man eine Art Landkarte zeichnen, auf der zu sehen war, wie der Strom durch das Radio floß? Konnte man es auseinandernehmen, ohne sich dabei wehzutun? Und wie baute man es dann wieder zusammen?
„Was beschäftigt dich, Ellie?“ fragte ihre Mutter, die herausgekommen war, um Wäsche aufzuhängen. „Ach nichts, Mama. Ich denke einfach nur so.“
Als Ellie zehn Jahre alt war, besuchte sie in den Sommerferien zwei Cousins, die sie nicht leiden konnte, in einer an einem See auf der nördlichen Halbinsel Michigans gelegenen, öden Neubausiedlung. Warum Menschen, die an einem See in Wisconsin lebten, sich fünf Stunden ins Auto setzen mußten, um zu einem See im benachbarten Michigan zu fahren, war Ellie ein Rätsel. Zumal es nur darum ging, zwei biestige, kindische Jungen zu besuchen. Zehn und elf waren sie erst. Sie ging ihnen den ganzen Sommer aus dem Weg. In einer schwülen, mondlosen Nacht ging sie nach dem Essen allein zu dem hölzernen Landesteg hinunter. Ein Motorboot war gerade vorbei gefahren, und das Ruderboot ihres Onkels, das am Steg angebunden war, schaukelte sanft in dem vom Glanz der Sterne versilberten Wasser. In der Ferne waren Zikaden zu hören, und einmal drang kaum hörbar das Echo eines Schreies über den See; sonst war es vollkommen still. Sie sah hinauf zum funkelnden Sternenhimmel und fühlte, wie ihr Herz pochte.
Ohne nach unten zu schauen, tastete sie mit der ausgestreckten Hand nach einem Fleckchen weichen Grases und ließ sich darauf nieder. Der Himmel war übersät mit Tausenden von Sternen. Die meisten funkelten unstet, doch einige leuchteten strahlend hell und gleichmäßig. Wenn man genau hinsah, konnte man sogar zarte Farben erkennen. Der helle Stern dort, schimmerte er nicht bläulich?
Mit der Hand vergewisserte sie sich, daß der Boden unter ihr noch da war. Die Erde fühlte sich fest, verläßlich und beruhigend an. Vorsichtig richtete sie sich auf, sah nach beiden Seiten und am Seeufer entlang, das in weitem Bogen vor ihr ausgebreitet lag. Sie konnte das gegenüberliegende Ufer sehen. Die Erde sieht nur platt aus, dachte sie. In Wirklichkeit ist sie rund. Sie ist eine große Kugel… die sich mitten im Himmel um sich selber dreht. einmal jeden Tag. Ellie versuchte sich vorzustellen, wie die Erde mit den Millionen von Menschen herumwirbelte, die alle auf ihr klebten, verschiedene Sprachen sprachen und lustige Kleider trugen. Sie alle hingen an derselben Kugel.
Ellie streckte sich wieder aus und versuchte zu spüren, wie sie herumwirbelte. Vielleicht konnte sie es ein bißchen fühlen.
Über dem Seeufer funkelte zwischen den Baumkronen ein heller Stern. Wenn sie die Augen zusammenkniff, konnte sie in dem schmalen Spalt Lichtstrahlen tanzen lassen. Kniff sie die Augenlider noch mehr zusammen, dann änderten die Strahlen gehorsam ihre Länge und Form. Bildete sie sich das nur ein, oder. Der Stern stand jetzt eindeutig über den Bäumen. Vorhin hatte er noch zwischen den Zweigen gefunkelt. Kein Zweifel, jetzt stand er höher. Das meinte man also, wenn man sagte, daß ein Stern aufging. Die Erde drehte sich in die Richtung, in der am Himmel die Sterne aufgingen. Diese Richtung wurde Osten genannt. Am anderen Ende des Himmels, hinter ihr, jenseits der Siedlung, gingen die Sterne unter. Diese Richtung hieß Westen. Einmal täglich drehte sich die Erde um sich selbst, und dieselben Sterne gingen wieder am selben Ort auf.
Aber wenn sich etwas so Riesiges wie die Erde einmal täglich drehte, mußte sie sich unglaublich schnell bewegen. Alle Leute, die sie kannte, mußten mit einer unglaublichen Geschwindigkeit herumwirbeln. Sie meinte jetzt tatsächlich zu spüren, wie sich die Erde drehte — nicht nur als Vorstellung im Kopf, sondern als wirkliches Gefühl in der Magengrube. Es war, als ob man in einem Fahrstuhl nach unten fuhr. Sie streckte den Hals noch weiter nach hinten, bis nichts mehr auf der Erde in ihr Blickfeld hereinragte und sie nur noch den schwarzen Himmel und die leuchtenden Sterne sah. Ein angenehmes Schwindelgefühl überkam sie. Unwillkürlich packte sie die Grasbüschel neben sich, um sich an der Erde und am Leben festzuhalten und nicht in den Himmel zu fallen. Ihr kleiner, bebender Körper kam ihr noch winziger vor angesichts des riesigen, dunklen Himmels.
Ein Schrei entfuhr ihr, bevor sie den Handrücken auf den Mund pressen konnte. So verriet sie ihren Cousins, wo sie zu finden war. Sie kamen die Böschung heruntergeklettert und auf Ellie zugelaufen. Auf Ellies Gesicht spiegelte sich eine eigenartige Mischung aus Verlegenheit und Staunen. Gierig musterten sie Ellie. Vielleicht hatte sie sich eine Kleinigkeit zuschulden kommen lassen, von der sie Ellies Eltern berichten konnten.
Das Buch war besser als der Film. Zum einen stand viel mehr drin. Und dann waren einige Bilder auch völlig anders als im Film. Beidemal allerdings trug Pinocchio — eine lebensgroße Holzpuppe, die auf wunderbare Weise zum Leben erweckt wird — einen Strick um den Hals, und seine Gelenke sahen aus wie Scharniere. Geppetto, der gerade letzte Hand an die Konstruktion Pinocchios legen will, dreht der Puppe den Rücken zu und wird im nächsten Moment mit einem wohlgezielten Tritt quer durch den Raum befördert. Im selben Augenblick kommt der Freund des Tischlers herein und fragt ihn, was er da ausgestreckt auf dem Boden mache. „Ich bringe den Ameisen das Alphabet bei“, antwortet Geppetto würdevoll.
Ellie fand das sehr witzig und erzählte es gern ihren Freunden weiter. Aber jedes Mal, wenn sie es erzählte, blieb im hintersten Winkel ihres Kopfes die unausgesprochene Frage zurück: Konnte man den Ameisen wirklich das Alphabet beibringen? Und wollte man das überhaupt? Sich da unten auf den Boden legen mitten in ein Gewimmel von Hunderten von Insekten, die einem dann überall auf der Haut herumkrabbelten und einen womöglich sogar bissen? Waren Ameisen denn überhaupt so gescheit?
Manchmal, wenn Ellie mitten in der Nacht aufstand und ins Badezimmer ging, traf sie dort auf ihren Vater, der, in Pyjamahosen und mit lang gestrecktem Hals, die Oberlippe in einer Art aristokratischer Herablassung unter der Rasiercreme gekräuselt, in den Spiegel blickte. „Hallo, mein Mädchen“, sagte er dann. Sie liebte es, wenn er sie so nannte.
Aber warum rasierte er sich mitten in der Nacht? Nachts merkte es doch niemand, wenn er unrasiert war. „Weil“, sagte er mit einem Lächeln, „es deine Mutter merken würde.“ Erst Jahre später entdeckte sie, daß sie sein vergnügtes Lachen damals nicht ganz verstanden hatte. Ihre Eltern hatten sich geliebt.
Nach der Schule war Ellie mit dem Fahrrad zu dem kleinen Park am Seeufer gefahren. Aus der Satteltasche holte sie das Handbuch für Radioamateure und Mark Twains Roman Ein Yankee aus Connecticut an König Artus’ Hof. Sie überlegte kurz und entschied sich dann für letzteres. Der Held im Buch Mark Twains hatte einen Schlag auf den Schädel bekommen und war in König Artus’ England wiedererwacht. Vielleicht war das alles für ihn nur ein Traum oder eine Sinnestäuschung. Aber vielleicht war es auch Wirklichkeit. War es möglich, in die Vergangenheit zu reisen? Mit angezogenen Knien und aufgestütztem Kinn blätterte Ellie nach ihrer Lieblingsstelle. Es war die Passage gleich am Anfang der Geschichte, in der der Held des Buches von einem Mann mitgenommen wird, der eine Ritterrüstung trägt und den er deshalb für einen aus einer Irrenanstalt der Gegend entsprungenen Verrückten hält. Als die beiden oben auf dem Bergrücken ankommen, sehen sie eine Stadt unter sich ausgebreitet:
‚„Bridgeport?’ sagte ich.“
„‚Camelot’, sagte er.“
Ellie starrte auf den blauen See hinaus und versuchte, sich eine Stadt vorzustellen, die sowohl das Bridgeport des neunzehnten als auch das Camelot des sechsten Jahrhunderts hätte sein können. Plötzlich hörte sie ihre Mutter, die auf sie zugelaufen kam.
„Ich habe dich überall gesucht. Warum bist du nie da, wo ich dich finden kann? O Ellie“, flüsterte die Mutter, „etwas Furchtbares ist passiert.“
In der siebten Klasse nahmen sie „Pi“ durch. Das war ein griechischer Buchstabe, der aussah wie die Architektur von Stonehenge in England: zwei senkrechte Pfeiler mit einem Querbalken oben drauf — n. Wenn man den Umfang eines Kreises maß und durch den Durchmesser des Kreises teilte, dann erhielt man Pi. Zu Hause nahm Ellie den Deckel eines Mayonnaiseglases, wickelte eine Schnur darum, legte dann die Schnur der Länge nach hin und maß mit einem Lineal den Kreisumfang. Dasselbe machte sie mit dem Durchmesser, und ohne zu kürzen teilte sie die eine Zahl durch die andere. Sie bekam 3,21 heraus. Das schien ja recht einfach zu sein. Am nächsten Tag erklärte der Lehrer, Mr. Weisbrod, daß p ungefähr 3,1416 betrug. Aber wenn man ganz genau sein wollte, setzten sich die Dezimalen endlos fort, ohne daß sich eine bestimmte Zahlenkombination wiederholte. Endlos, dachte Ellie. Sie hob die Hand. Das Schuljahr hatte gerade erst begonnen, und sie hatte bisher im Mathematikunterricht noch keine einzige Frage gestellt. „Woher weiß man, daß die Zahlen hinter dem Komma endlos weitergehen?“
„Das ist einfach so“, erwiderte der Lehrer streng. „Aber warum? Woher weiß man das? Wie kann man denn die Zahlen hinter dem Komma ewig weiterzählen?“
„Miß Arroway“, sagte er mit einem Blick auf den Klassenspiegel, „das ist eine dumme Frage. Sie vergeuden unsere Zeit.“
Nie zuvor hatte jemand Ellie als dumm bezeichnet. Sie brach in Tränen aus. Billy Horstman, der neben ihr saß, streckte vorsichtig seine Hand aus und legte sie auf ihre. Sein Vater war erst vor kurzem angeklagt worden, die Kilometerzähler der Gebrauchtwagen, die er verkaufte, zu frisieren, deshalb wußte Billy, was öffentliche Demütigung bedeutete. Ellie rannte schluchzend aus dem Klassenzimmer. Nach der Schule radelte sie zur Bibliothek des nahegelegenen College, um sich Bücher über Mathematik anzusehen. Soweit sie aus dem Gelesenen schließen konnte, war ihre Frage gar nicht so dumm gewesen. Die alten Hebräer hatten — so die Bibel — offensichtlich geglaubt, daß p exakt drei entsprach. Auch Griechen und Römer, die viel von Mathematik verstanden, hatten keine Ahnung, daß sich bei p die Zahlenstellen ewig fortsetzten, ohne sich zu wiederholen. Dieses Faktum war erst vor ungefähr 250 Jahren entdeckt worden. Wie konnte man von ihr erwarten, das zu wissen, wenn sie keine Fragen stellen durfte? Aber bei den ersten Stellen nach dem Komma hatte Mr. Weisbrod recht gehabt. Pi war nicht 3,21. Vielleicht war der Deckel des Mayonnaiseglases ein bißchen eingedrückt gewesen, so daß es kein vollkommener Kreis gewesen war. Oder sie hatte die Schnur ungenau gemessen. Aber selbst wenn sie noch viel sorgfältiger gewesen wäre, konnte man doch nicht von ihr erwarten, daß sie eine unendliche Anzahl von Dezimalstellen hinter dem Komma messen konnte.
Man konnte Pi allerdings auch noch anders finden: Berechnen konnte man Pi so exakt, wie man wollte. Wenn man etwas von Infinitesimalrechnung verstand, konnte man Formeln für Pi entwickeln, mit denen man es bis auf so viele Dezimalstellen berechnen konnte, wie man Zeit darauf verwandte. In einem der Bücher standen Formeln für die Berechnung von Pi dividiert durch vier. Mit einem Teil dieser Formeln konnte Ellie überhaupt nichts anfangen. Von anderen wiederum war sie fasziniert. Eifrig probierte Ellie die Formeln aus, indem sie die Brüche im Wechsel addierte und subtrahierte. Exakt konnte man es nie berechnen, aber wenn man sehr geduldig war, kam man so nah daran heran, wie man wollte. Es erschien Ellie wie ein Wunder, daß jeder Kreis auf der Welt mit dieser Reihe von Brüchen in Verbindung stand. Wie konnten Kreise nur wissen, daß es solche Brüche gab? Sie war entschlossen, sich die Infinitesimalrechnung beizubringen.
In dem Buch stand noch etwas anderes: p wurde als „transzendente“ Zahl bezeichnet. Es gab für p keine Gleichung aus gewöhnlichen Zahlen, die nicht unendlich lang war. Ellie hatte sich selbst schon etwas Algebra beigebracht und verstand deshalb, was das bedeutete. Und p war nicht die einzige transzendente Zahl. In Wirklichkeit gab es unendlich viele transzendente Zahlen, ja, sogar unendlich mehr transzendente als gewöhnliche Zahlen, selbst wenn p die einzige war, von der sie je gehört hatte. Damit war p in mehr als einer Hinsicht mit der Unendlichkeit verknüpft. Ellie hatte einen Blick auf ein Gebiet ehrfurchtgebietender Dimensionen geworfen. Versteckt zwischen all den gewöhnlichen Zahlen gab es unendlich viele transzendente Zahlen, deren Vorhandensein man niemals vermutet hätte, wenn man nicht einen tiefen Blick in die Mathematik tat. Hin und wieder tauchte eine von ihnen, wie p zum Beispiel, ganz unerwartet im alltäglichen Leben auf. Aber die meisten — unendlich viele, wie sie jetzt wußte — versteckten sich, kümmerten sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten und waren mit ziemlicher Sicherheit dem so leicht erregbaren Mr. Weisbrod völlig unbekannt.
Ellie durchschaute John Staughton von Anfang an. Wie ihre Mutter auch nur hatte daran denken können, ihn zu heiraten, war ihr ein unergründliches Rätsel — was nichts damit zu tun hatte, daß ihr Vater erst zwei Jahre tot war. Zwar sah John Staughton ganz gut aus, und wenn er sich Mühe gab, konnte er auch so tun, als ob er sich etwas aus anderen Menschen machte. Aber er nützte die Menschen aus. Übers Wochenende ließ er seine Studenten kommen, damit sie im Garten des neuen Hauses, in das sie gezogen waren, Unkraut jäteten und andere Arbeiten verrichteten. Und wenn sie gegangen waren, machte er sich über sie lustig. Ellie, die gerade auf die High School gekommen war, riet er, sich bloß ja von seinen gescheiten jungen Männern fernzuhalten. Er war ein aufgeblasener und eingebildeter Wichtigtuer. Ellie war überzeugt, daß er als Professor ihren verstorbenen Vater heimlich verachtete, weil der nur ein kleiner Ladenbesitzer gewesen war. Staughton hatte ihr ganz klar gesagt, daß es für ein Mädchen nicht in Frage komme, sich für Radios und Elektrotechnik zu interessieren, daß sie damit keinen Mann bekäme und daß es überhaupt dumm und abwegig von ihr sei, Physik verstehen zu wollen. „Anmaßend“ nannte er das.
Dazu fehlten ihr die Fähigkeiten. Das sei eine objektive Tatsache, mit der sie sich ebensogut abfinden könne. Er sage ihr das nur zu ihrem Besten. Sie werde ihm später noch dankbar dafür sein. Schließlich sei er Professor für Physik. Und er wisse, was dazu gehöre. Solche Moralpredigten machten Ellie wütend, obwohl sie bis zu dieser Zeit noch nie daran gedacht hatte, eine naturwissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen, auch wenn ihr Staughton das nicht glauben wollte.
Er war nicht sanft, wie ihr Vater gewesen war, und hatte auch überhaupt keinen Sinn für Humor. Wenn sie jemand für Staughtons Tochter hielt, wurde sie furchtbar wütend. Weder ihre Mutter noch ihr Stiefvater schlugen ihr je vor, den Namen Staughton anzunehmen. Sie wußten, was sie darauf geantwortet hätte.
Nur gelegentlich zeigte der Mann ein wenig Wärme. Zum Beispiel, als er ihr nach ihrer Mandeloperation ein wunderschönes Kaleidoskop mit ins Krankenhaus brachte. „Wann werde ich operiert?“, hatte Ellie ihn ein wenig schläfrig gefragt.
„Es ist schon alles vorbei“, hatte Staughton geantwortet. „Bald bist du wieder gesund.“ Ellie fand es sehr beunruhigend, daß man ihr ganze Zeitabschnitte rauben konnte, ohne daß sie es merkte, und sie gab ihm die Schuld daran. Schon damals war ihr klar, daß das eigentlich kindisch war. Daß ihre Mutter ihn wahrhaft lieben konnte, war ihr unbegreiflich. Sicher hatte sie sich aus Einsamkeit und Schwäche wieder verheiratet. Sie brauchte einfach jemand, der sich um sie kümmerte. Ellie schwor, sich niemals in eine solche Abhängigkeit zu begeben. Ihr Vater war tot, ihre Mutter war ihr fremd geworden, und sie selbst fühlte sich verbannt in das Haus eines Tyrannen. Da war niemand mehr, der sie sein Mädchen nannte.
Ellie wünschte sich nichts sehnlicher, als dem allen zu entfliehen.
„‚Bridgeport?’ sagte ich.“
„‚Camelot’, sagte er.“