13 Babylon

Siehe, mit solchen Leuten ging ich meines Weges auf den Straßen Babylons.

Augustinus

Bekenntnisse, II, 3

Der-CRAY-21-Mainframe-Computer auf Argus hatte die Aufgabe, die tägliche Ausbeute an Daten von der Wega mit den zuerst gespeicherten Aufzeichnungen der dritten Schicht des Palimpsests zu vergleichen. Das sah so aus, daß jede neue lange und unverständliche Sequenz von Nullen und Einsen automatisch mit anderen, früheren solcher Sequenzen verglichen wurde. Es war Teil einer umfassenden statistischen Vergleichsstudie verschiedener Segmente des noch immer nicht entschlüsselten Textes. Einige kürzere solcher Folgen — „Wörter“ nannten die Experten sie erwartungsvoll — wurden ständig wiederholt. Andere Sequenzen tauchten nur einmal auf Tausenden von Textseiten auf. Diese statistische Methode zur Entschlüsselung von Texten war Ellie seit ihrer Zeit an der Highschool vertraut. Die Programme, die von den Experten der Nationalen Sicherheitsbehörde zur Verfügung gestellt worden waren — nur auf direkte Anordnung der Präsidentin und zusätzlich mit einer Sicherheitssperre, aufgrund derer das Programm gelöscht wurde, wenn es jemand genauer untersuchte —, waren phantastisch.

Ellie staunte immer wieder, wieviel Energie und Erfindungsgabe die Supermächte darauf verwendeten, um jeweils die Post des anderen lesen zu können. Der tiefe Gegensatz zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion verschlang trotz seiner allmählichen Lockerung immer noch riesige Mengen an Kraft und Mitteln. Das betraf nicht nur die Unsummen von Geld, die die Nationen für ihre Armeen ausgaben. Die beliefen sich bereits auf fast zwei Billionen Dollar jährlich, was angesichts des in vielen Ländern herrschenden Elends heller Wahnsinn war. Noch viel größer war die geistige Energie, die in das Wettrüsten investiert wurde. Schätzungsweise war fast die Hälfte der Wissenschaftler auf dem Planeten in der einen oder anderen der fast zweihundert militärischen Einrichtungen der Welt angestellt. Und sie waren nicht der Bodensatz der Doktorandenprogramme in Physik und Mathematik. Mit diesem Gedanken trösteten sich nur einige ihrer Kollegen, wenn sie in die unangenehme Situation kamen, einem frischgebackenen Doktor einen Rat geben zu müssen, der von einem militärischen Labor umworben wurde. „Wenn er wirklich gut wäre, hätte man ihm eine Assistentenstelle in Stanford angeboten, wenn nicht noch mehr“, hatte Ellie Drumlin einmal sagen hören. Nein, es war ein ganz bestimmter Charaktertyp mit einer ganz bestimmten Mentalität, der sich von der militärischen Anwendung physikalischer und mathematischer Erkenntnisse angezogen fühlte — Menschen, die beispielsweise große Explosionen liebten; oder Menschen, die den physischen Zweikampf scheuten, die aber, um sich für ein während ihrer Schulzeit erlittenes Unrecht zu rächen, nach militärischer Macht strebten; oder unverbesserliche Tüftler, die einfach möglichst kompliziert verschlüsselte Nachrichten entschlüsseln wollten. Manchmal war das Motiv auch eher politischer Natur und ließ sich auf internationale Streitigkeiten,

Einwanderungspolitik, schreckliche Kriegserlebnisse, Ausschreitungen der Polizei oder bereits Jahrzehnte zurückliegende internationale Propaganda einer Nation zurückführen. Viele dieser Wissenschaftler waren wirklich befähigt. Das mußte Ellie bei all ihren Vorbehalten gegen deren persönliche Motivation zugeben. Sie versuchte, sich vorzustellen, was wäre, wenn all diese Begabungen nur zum Wohlergehen der Menschheit und unseres Planeten eingesetzt würden. Sie brütete über den Untersuchungen, die sich während ihrer Abwesenheit angesammelt hatten. Sie kamen einfach nicht mit dem Entschlüsseln der BOTSCHAFT voran, obwohl die statistischen Analysen bereits zu einem riesigen Papierberg angewachsen waren. Es war zum Verzweifeln. Ellie wünschte, sie hätte eine enge Freundin auf Argus gehabt, der sie ihren Kummer und ihre ganze Empörung über Kens Verhalten hätte anvertrauen können. Aber da war niemand, und sie wollte in diesem Fall nicht zum Telephon greifen. Einmal konnte sie es einrichten, ihre Studienfreundin Becky Ellenbogen an einem Wochenende in Austin zu besuchen. Aber Becky, deren Wertschätzung von Männern in der Regel von sarkastisch bis vernichtend reichte, urteilte diesmal überraschend mild.

„Er ist der Wissenschaftsberater der Präsidentin, und hier geht es um die aufregendste Entdeckung, die jemals in der Geschichte der Menschheit gemacht wurde. Du darfst nicht so streng mit ihm sein“, beschwichtigte Becky sie. „Er wird schon wieder zu dir zurückkommen.“ Becky gehörte auch zu denen, die Ken „charmant“ fanden. Sie war ihm einmal bei der Einweihung des National Neutrino Observatory begegnet. Und vielleicht machte sie Menschen mit Machtpositionen schon deswegen Zugeständnisse. Hätte Der Heer Ellie so schäbig behandelt, wenn er nur ein kleiner Professor für Molekularbiologie an irgendeiner unbekannten Universität gewesen wäre, dann hätte Becky jetzt kein gutes Haar an ihm gelassen. Nach seiner Rückkehr aus Paris startete Der Heer eine regelrechte Entschuldigungskampagne. Er sei überanstrengt gewesen, sagte er, die schwierigen und ungewohnten Probleme, die er zu verantworten hatte, hätten ihn einfach erdrückt. In seiner Position als Haupt der amerikanischen Delegation und einer der Vorsitzenden der Konsortiumssitzungen hätte es ihm vielleicht abträglich sein können, wenn sein Verhältnis mit Ellie öffentlich bekannt geworden wäre. Kitz sei unausstehlich gewesen. Er habe viele Nächte hintereinander nur vier Stunden Schlaf gehabt. Alles in allem fand Ellie, daß er viel zu viele Entschuldigungen hatte. Dennoch ließ sie die Beziehung weiterlaufen wie bisher.

Als es passierte, war es wieder Willie, der Nachtschicht hatte und es als erster bemerkte. Später schrieb es Willie weniger dem Echtzeitrechner und den Programmen der NASA als vielmehr den neuen Hadden-Kontexterkennungschips zu, daß man die neue Entdeckung so schnell hatte machen können. Jedenfalls stand die Wega ungefähr eine Stunde vor Tagesanbruch tief am Himmel, als der Computer ein kurzes Alarmsignal auslöste. Ärgerlich legte Willie das Buch, im dem er gerade las, zur Seite — es handelte sich um ein neues Lehrbuch über die Spektroskopie mit Hilfe der schnellen Fourier-Transformation — und sah folgenden Text auf dem Bildschirm erscheinen:

RPT. TEXT PP. 41617-41619: BIT MISMATCH 0/2271. CORRELATION COEFFICIENT 0.99+

Als er genauer hinsah, wurde aus 41619 41620 und dann 41621. Die Zahlen nach dem Bindestrich gingen schnell und stetig in die nächsthöhere über. Sowohl die Seitenzahl als auch der Korrelationskoeffizient, der eine zufällige Korrelation ausschloß, stiegen ständig. Er wartete noch zwei weitere Seiten ab, bevor er sich telephonisch mit Ellie in Verbindung setzte.

Ellie hatte tief geschlafen. Schlaftrunken schaltete sie ihre Nachttischlampe an. Nach kurzer Besinnung ordnete sie an, das gesamte Team von Argus zusammenzutrommeln. Der Heer, der sich irgendwo auf der Anlage aufhalte, werde sie selbst verständigen, sagte sie zu Willie. Das war nicht schwierig. Sie rüttelte ihn wach. „Ken, wach auf. Es werden Wörter wiederholt.“

„Was ist los?“

„Die BOTSCHAFT fängt wieder von vorn an. Zumindest behauptet das Willie. Ich gehe schon voraus. Warte noch zehn Minuten, dann sieht es so aus, als hättest du die Nacht in deinem Zimmer im Gästehaus verbracht.“ Ellie war schon fast zur Tür hinaus, als er hinter ihr herrief: „Wie können wir wieder am Anfang sein? Wir haben doch den Schlüssel zum Code noch gar nicht bekommen.“

Über die Bildschirme rasten jeweils zwei Sequenzen von Nullen und Einsen, ein Datenvergleich in Echtzeit, also ein Vergleich der Daten, die gerade hereinkamen, mit den Daten einer früheren Textseite, die man vor einem Jahr auf Argus empfangen hatte. Das Computerprogramm würde alle Abweichungen aussortieren. Bis jetzt gab es freilich keine. Damit war klar, daß sie richtig transkribiert hatten, daß es offensichtlich keine Fehler bei der Übertragung gegeben hatte und daß es selten oder gar nicht vorgekommen war, daß eine dichte interstellare Wolke zwischen der Wega und der Erde eine Null oder Eins gelöscht hatte. Argus stand jetzt in gleichzeitiger Verbindung mit Dutzenden anderer Teleskope, die dem Weltkonsortium angehörten, und die Nachricht von dem Neuanfang der Botschaft wurde an die nächsten Beobachtungsstationen im Westen weitergegeben, also nach Kalifornien, Hawaii, auf die Marschall Nedelin, die jetzt im Südpazifik lag, und weiter nach Sydney. Wäre die Entdeckung gemacht worden, während die Wega über einem der anderen Teleskope des Verbundsystems stand, hätte man Argus in gleicher Weise sofort verständigt. Daß nach wie vor der Schlüssel zur BOTSCHAFT fehlte, löste natürlich tiefe Enttäuschung aus, aber es war nicht die einzige Überraschung. Die Seitenzahlen der BOTSCHAFT waren von Zahlen um 40000 auf Zahlen um 10000 gesprungen, wo allerdings noch Vergleichsdaten fehlten. Immerhin hatte Argus die Sendung von der Wega anscheinend fast von ihrem ersten Eintreffen auf der Erde an empfangen. Das Signal war auffallend stark, so daß es selbst von rundumstrahlenden Teleskopen hätte aufgefangen werden können. Aber es war wirklich ein verblüffendes Zusammentreffen, daß die Botschaft gerade in dem Moment die Erde erreicht hatte, als Argus die Wega beobachtet hatte. Was konnte es bedeuten, daß der Text erst auf ungefähr Seite 10000 anfing? War es nur die reichlich rückständige Angewohnheit der provinzlerischen Erde, die Seitennumerierung von Büchern mit 1 zu beginnen? Oder waren diese fortlaufenden Zahlen gar keine Seitenzahlen, sondern etwas ganz anderes? Oder — und das beunruhigte Ellie am meisten — gab es grundlegende und unvermutete Unterschiede zwischen der Denkweise der Menschen und der Wegianer? Wenn dem so war, stellte das alle Versuche des Konsortiums, die BOTSCHAFT zu verstehen, ernsthaft in Frage, Schlüssel hin oder her.

Die BOTSCHAFT wiederholte sich exakt, die Lücken wurden geschlossen, aber niemand konnte ein Wort davon lesen. Dabei war kaum anzunehmen, daß die sendende Zivilisation, die sonst so penibel war, die Notwendigkeit eines Schlüssels einfach übersehen hatte. Zumindest die OlympiaSendung und die Gestaltung des Innenraums der Maschine schienen speziell auf die Menschen zugeschnitten zu sein. Man würde sich doch wohl kaum die Mühe machen, sich eine Botschaft auszudenken und zu senden, ohne irgendwelche Vorkehrungen zu treffen, daß die Menschen sie auch lesen konnten. Deshalb mußte etwas übersehen worden sein. Sehr bald gelangte man zu der allgemeinen Überzeugung, daß der Palimpsest noch eine vierte Schicht haben mußte. Aber wo?

Die Diagramme waren in einer achtbändigen Prachtausgabe veröffentlicht worden, die bald auf der ganzen Welt nachgedruckt wurde. Überall auf der Erde versuchten Menschen, den Bildern auf die Spur zu kommen. Das Dodekaeder und die quasibiologischen Formen wirkten besonders anregend. Aus der Öffentlichkeit kamen viele kluge Anregungen, die das Argus-Team sorgfältig prüfte. Daneben kam es freilich vor allem in den Wochenzeitungen zu ebenso vielen haarsträubenden und oberflächlichen Interpretationen. Völlig neue Industrien schossen aus dem Boden — sicher nicht im Sinne der Erfinder der BOTSCHAFT —, die nur darauf aus waren, die Öffentlichkeit zu betrügen. In einer feierlichen Zeremonie kam es zur Gründung des Ordens vom Heiligen Dodekaeder. Für andere war die Maschine ein UFO oder das Rad des Ezechiel. In Brasilien offenbarte ein Engel die Bedeutung der BOTSCHAFT und der Diagramme einem Geschäftsmann, der seine Interpretation — am Anfang noch auf eigene Kosten — in der ganzen Welt vertrieb. Bei soviel geheimnisvollem Bildmaterial ließ es sich nicht vermeiden, daß viele Religionen in der BOTSCHAFT von den Sternen ihre eigene Ikonographie zu erkennen glaubten. Eine Querschnittzeichnung der Maschine sah wie eine Chrysantheme aus, was besonders in Japan viel Begeisterung hervorrief. Wenn auch noch ein menschliches Gesicht unter den Diagrammen aufgetaucht wäre, wäre der messianische Eifer in Massenhysterie umgeschlagen.

Tatsächlich liquidierten erstaunlich viele Geschäftsleute ihre Unternehmen in Erwartung der Wiederkunft Christi. Weltweit sank die Produktivität der Industrie. Viele hatten ihr Hab und Gut an die Armen verschenkt und mußten, als sich das Ende der Welt verzögerte, bei wohltätigen Einrichtungen oder dem Staat Hilfe suchen. Da diese Art Schenkungen häufig an solche Wohltätigkeitseinrichtungen ging, konnte es manchen dieser Philanthropen passieren, daß sie von ihrer eigenen Schenkung am Leben erhalten wurden. Delegationen drängten Staatsoberhäupter, die Spaltung der Kirche oder den Welthunger bis zum Erscheinen Christi auf Erden zu beenden, da man andernfalls für nichts garantieren könne. Andere kamen mehr im stillen zu dem Schluß, daß sich, wenn die ganze Welt tatsächlich für ein Jahrzehnt verrückt spielen wollte, daraus ein beachtlicher finanzieller oder nationaler Gewinn ziehen ließ.

Einige Leute behaupteten, daß es gar keinen Schlüssel gebe und alles nur dazu da sei, die Menschen Demut und Bescheidenheit zu lehren oder sie in den Wahnsinn zu treiben. In Leitartikeln von Zeitungen wurden Überlegungen angestellt, daß die Menschen doch nicht so klug waren, wie sie glaubten, und ein gewisser Unmut gegen die Wissenschaftler wurde laut, die die Welt trotz der großzügigen Unterstützung seitens der Regierungen in dieser Notsituation im Stich ließen. Oder vielleicht waren die Menschen noch dümmer, als die Wegianer schon einkalkuliert hatten. Vielleicht gab es einen entscheidenden Punkt, der allen anderen, noch in der Entstehung begriffenen Zivilisationen, die so kontaktiert worden waren, völlig klar gewesen war, etwas, das bisher noch keiner anderen Welt der ganzen Geschichte der Galaxis entgangen war. Einige Kommentatoren vertraten diese Ansicht einer Demütigung der Erde vor dem ganzen Kosmos mit regelrechter Begeisterung. Sie sagten dabei nur offen, was sie in versteckterer Form schon immer über die Menschen gesagt und gedacht hatten. Nach einiger Zeit beschloß Ellie, sich nach Hilfe umzusehen.

Heimlich stahlen sie sich durch das Enlil-Tor. Begleitet wurden sie von einer Eskorte, die der Besitzer geschickt hatte. Der Beamte vom Allgemeinen Sicherheitsdienst war gereizt trotz oder gerade wegen der zusätzlichen Eskorte. Obwohl die Sonne noch nicht ganz untergegangen war, waren die schmutzigen Straßen bereits von Öllampen und tropfenden Fackeln erleuchtet. Zwei Amphoren, von denen jede so groß war, daß ein ausgewachsener Mensch hineinpaßte, flankierten den Eingang zu einem Geschäft, in dem Olivenöl verkauft wurde. Die Reklame war in Keilschrift geschrieben. Das benachbarte öffentliche Gebäude war mit einem herrlichen Basrelief einer Löwenjagd aus der Regierungszeit König Assurbanipals geschmückt. Als sie sich dem Tempel von Assur näherten, war auf dem Platz davor gerade eine Schlägerei im Gange, und sie mußten mit ihrer Eskorte einen großen Bogen machen. Ellie hatte jetzt einen ungehinderten Blick auf die Zikkurat am Ende einer breiten, von Fackeln erleuchteten Prachtstraße. Es war noch atemberaubender als auf den Bildern. Ein kriegerischer Fanfarenstoß tönte aus einem Ellie unbekannten Blasinstrument. Dann rumpelte ein von einem Pferd gezogener Wagen vorbei, auf dem drei Männer standen. Der Wagenlenker trug eine phrygische Kopfbedeckung. Wie auf mittelalterlichen Darstellungen des Buches Genesis, auf denen Gott mahnend zu den Menschen sprach, war die Spitze der Zikkurat in dunkle Wolken gehüllt. Sie verließen die Straße von Ischtar und betraten die Zikkurat durch einen Seiteneingang. In dem Privataufzug drückte ihre Eskorte den Knopf für das oberste Stockwerk: Das Wort „Vierzig“ leuchtete auf. Keine Zahlen. Nur das Wort. Und dann leuchtete, um jeden Zweifel auszuschließen, auf einer Tafel auf: „Die Götter“. Mr. Hadden würde gleich kommen. Ob sie etwas zu trinken wünschte, während sie auf ihn wartete? In Anbetracht des Rufes, den dieser Platz genoß, lehnte Ellie ab. Zu ihren Füßen lag Babylon — die, wie jedermann bestätigen konnte, der hier gewesen war, wirklich hervorragend gelungene Nachschöpfung des seit langem untergegangenen Ortes. Tagsüber kamen ganze Busladungen von Museumsbesuchern, Schülern und Touristen am Ischtartor an, wo die Besucher zeitgemäß eingekleidet und dann auf eine Reise in die Vergangenheit geschickt wurden. Hadden spendete in weiser Voraussicht alle Einnahmen seiner Tageskundschaft an Wohltätigkeitseinrichtungen in New York City und Long Island. Die Tagestouren erfreuten sich größter Beliebtheit, boten sie doch unter anderem auch jenen Leuten die Möglichkeit, den Ort zu besuchen, die nicht im Traum darauf gekommen wären, sich nachts nach Babylon zu wagen. Nach Einbruch der Dunkelheit verwandelte sich Babylon in einen Vergnügungspark für Erwachsene. Hier gab es alles, was das Herz begehrte. Der Park stellte selbst die Reeperbahn in Hamburg an Größe, Üppigkeit und Einfallsreichtum in den Schatten. Er war mit Abstand die größte Touristenattraktion im Stadtgebiet von New York und zahlte die mit Abstand höchste Gewerbesteuer. Wie Hadden die Stadtväter New Yorks für Babylon gewonnen und sich eine Lobby für eine „Lockerung“ der regionalen und staatlichen Prostitutionsgesetze verschafft hatte, war allgemein bekannt. Die Fahrt vom Zentrum Manhattans zum Ischtartor dauerte mit dem Zug eine halbe Stunde. Ellie hatte trotz der flehentlichen Bitten des Sicherheitsbeamten darauf bestanden, den Zug zu nehmen. Auf der Fahrt stellte sie fest, daß ein Drittel der Besucher Frauen waren. Die Züge waren nicht mit Graffiti verziert, und es bestand kaum die Gefahr, überfallen zu werden, aber dafür gab es auch nur ein wirklich zweitklassiges weißes Rauschen verglichen mit den Zügen der New Yorker U-Bahn.

Obwohl Hadden Mitglied der Nationalen Akademie der Ingenieurwissenschaften war, hatte er, soweit Ellie wußte, noch nie an einer Konferenz teilgenommen. Sie hatte ihn noch nie gesehen. Trotzdem kannten Millionen Amerikaner sein Gesicht. Das war das Resultat einer vor Jahren gegen ihn gestarteten Kampagne des Berufsverbands der Werbung gewesen: „Der Unamerikaner“ hatte unter einem wenig schmeichelhaften Photo von ihm gestanden. Dennoch fuhr Ellie erschrocken zusammen, als sie in ihren Träumereien vor der abgeschrägten Glaswand von einer kleinen, dicken Gestalt unterbrochen wurde, die sie mit einer Kopfbewegung zu sich winkte.

„Oh, Entschuldigung. Ich kann immer noch nicht verstehen, daß sich jemand vor mir fürchtet.“

Seine Stimme klang erstaunlich melodisch. Sie schien sich in Quinten auf und ab zu bewegen. Sich vorzustellen hielt er offensichtlich nicht für nötig. Wieder nickte er mit dem Kopf in Richtung der Tür, die hinter ihm offen stand. Da kaum anzunehmen war, daß ein Sexualverbrechen an ihr verübt werden sollte, folgte sie ihm wortlos in den nächsten Raum. Er führte sie zu dem liebevoll mit allen Details ausgestatteten Tischmodell einer antiken Stadt, die allerdings weniger prachtvoll war als Babylon.

„Pompeji“, sagte er erklärend. „Es geht um das Stadion. Seit der Boxsport eingeschränkt wurde, gibt es in Amerika keinen gesunden blutigen Sport mehr. Aber das ist ungeheuer wichtig. Ein solcher Sport zieht die Gifte aus dem amerikanischen Blut. Die ganze Anlage ist schon geplant, die Genehmigung erteilt, und jetzt dies.“

„Was heißt ‚dies’?“

„Keine Gladiatorenspiele. Ich habe soeben Nachricht aus Sacramento bekommen. Der Legislative liegt ein Antrag vor, Gladiatorenkämpfe in Kalifornien zu verbieten. Zu gewalttätig, behaupten sie. Den Bau neuer Wolkenkratzer genehmigen sie, obwohl sie wissen, daß zwei oder drei Bauarbeiter dabei drauf gehen. Die Gewerkschaft weiß das, die Bauunternehmer wissen es, aber man baut Büros für Ölgesellschaften oder Rechtsanwälte aus Beverly Hills. Natürlich würden bei uns auch ein paar drauf gehen. Aber wir würden mehr mit Dreizack und Netz kämpfen lassen als mit dem Kurzschwert. Die Gesetzgeber setzen die Prioritäten nicht richtig.“ Hadden strahlte sie mit großen Eulenaugen an und fragte, ob sie einen Drink wolle. Sie lehnte auch diesmal ab. „Also, Sie wollen mit mir über Ihre Maschine reden, und auch ich will mit Ihnen über die Maschine reden. Aber Sie sind zuerst dran. Sie wollen also wissen, wie sie den Schlüssel zum Code finden können, richtig?“

„Wir haben beschlossen, einige maßgebende Leute um Unterstützung zu bitten, die etwas von der Sache verstehen. Wir dachten, daß Sie sich als Erfinder von einigem Ruf — Ihr Kontexterkennungschip beispielsweise war ja maßgeblich an der Entdeckung beteiligt, daß die BOTSCHAFT sich wiederholte — daß Sie sich also als Erfinder von einigem Ruf vielleicht in einen Wegianer hineinversetzen und dadurch herausfinden könnten, wo der Schlüssel verborgen ist. Wir wissen, daß Sie ein vielbeschäftigter Mann sind, und es tut mir leid, wenn — “

„Das ist völlig in Ordnung. Natürlich stimmt es, daß ich viel zu tun habe. Ich versuche gerade, Ordnung in meine Angelegenheiten zu bringen, denn es bahnt sich ein große Wende in meinem Leben an.“

„Sie meinen wegen der nahenden Jahrtausendwende?“ Ellie versuchte, sich vorzustellen, daß er S. R. Hadden & Co. das Börsenmaklerbüro in Wall Street, die Gentechnik-GmbH, die Firma Hadden Cybernetics und Babylon an die Armen verschenkte.

„Nein, das nicht. Aber das ist ein anderes Thema. Es hat mich gefreut, daß Sie mich um Rat gefragt haben. Außerdem hat es Spaß gemacht, die Diagramme anzuschauen.“ Er deutete auf die achtbändige Ausgabe, die auf seinem Schreibtisch aufgestapelt war. „Die Bilder sind wundervoll, aber ich glaube nicht, daß der Schlüssel in ihnen versteckt ist. Nicht in den Bildern. Mir ist auch gar nicht klar, warum Sie davon ausgehen, daß der Schlüssel in der BOTSCHAFT steckt. Vielleicht haben sie ihn auf dem Mars oder Pluto oder in der Oortschen Kometenwolke deponiert, und wir werden ihn erst in ein paar hundert Jahren entdecken. Im Augenblick wissen wir nur, daß es diese wunderbare Maschine gibt. Wir haben die Konstruktionspläne und 30000 Seiten mit Erklärungen. Aber wir wissen noch nicht einmal, ob wir überhaupt in der Lage wären, das Ding zu bauen, wenn wir den Text lesen könnten. Also warten wir noch ein paar hundert Jahre, verbessern unsere Technologien in dem Wissen, daß wir früher oder später in der Lage sein müssen, die Maschine zu bauen. Daß wir den Schlüssel nicht haben, verweist uns auf zukünftige Generationen. Den Menschen ist ein Problem aufgegeben worden, das nur über mehrere Generationen zu lösen ist. Ich finde das gar nicht so übel. Könnte ganz gesund sein. Vielleicht machen Sie einen Fehler, wenn Sie nach einem Schlüssel suchen. Vielleicht ist es besser, ihn gar nicht zu finden.“

„Ich möchte den Schlüssel so früh wie möglich finden. Wir wissen nicht, ob man dort ewig auf uns wartet. Wenn sie auf der Wega den Hörer einhängen, weil sie keine Antwort bekommen, ist das viel schlimmer, als wenn sie uns niemals angerufen hätten.“

„Damit mögen Sie recht haben. Ich habe mir jedenfalls alles mögliche überlegt. Ich gebe Ihnen erst einmal ein paar ganz banale Möglichkeiten zu bedenken und dann noch eine weniger banale. Aber zuerst die banalen: Der Schlüssel ist in der BOTSCHAFT verborgen, aber mit einer ganz anderen Datenrate. Angenommen, es wurde noch eine zweite Botschaft mit einem Bit pro Stunde gesendet — wäre man darauf gestoßen?“

„Hundertprozentig. Wir prüfen regelmäßig die Drift des Empfängers. Aber ein Bit pro Stunde brächte nur — lassen Sie mich kurz überschlagen — zehn, zwanzig Bit, bevor sich die BOTSCHAFT wiederholt.“

„Das wäre also nur sinnvoll, wenn der Schlüssel viel einfacher und kürzer ist als die BOTSCHAFT. Sie glauben nicht daran. Ich auch nicht. Und wie steht es mit viel schnelleren Bitraten? Woher wissen Sie denn, daß nicht unter jedem Bit ihrer Maschinenbotschaft eine Million Bit des Schlüssels sitzen?“

„Weil das ungeheure Bandbreiten schaffen würde. Wir würden es also sofort merken.“

„Okay, aber vielleicht gibt es hin und wieder einen Datenberg. Stellen Sie sich das wie einen Mikrofilm vor. Ein winziger Mikrofilm, so klein wie ein Punkt, wiederholt sich an verschiedenen Stellen der Botschaft. Ich stelle mir so etwas wie ein kleines Signal vor, das, in menschliche Sprache übersetzt, sagt: ‚Ich bin der Schlüsseln Und dann kommt auch schon der Punkt, der aus hundert Millionen ganz schnell aufeinanderfolgender Bits besteht. Sie könnten mal nachschauen, ob Sie solche kleinen Signale finden.“

„Das wäre uns bestimmt aufgefallen, glauben Sie mir.“

„Gut. Und wie steht es mit Phasenmodulation? Wir benutzen sie bei Radar und in der Telemetrie. Sie verursacht fast keine Störungen im Spektrum. Haben Sie einen Phasenkorrelator angeschlossen?“

„Nein. Aber das ist eine gute Idee. Ich werde mir das überlegen.“

„So, und jetzt kommen wir zu der nicht banalen Idee: Nehmen wir an, die Maschine wurde gebaut. Es sitzen also fünf Mann startbereit in ihr, einer drückt auf einen Knopf, und schon sind sie irgendwohin unterwegs. Wohin, ist jetzt egal. Jetzt stellt sich die interessante Frage, ob diese fünf Leute wieder zurückkommen werden. Vielleicht nicht. Mir gefällt die Idee, daß sich wegianische Leichenräuber diese Maschine ausgeheckt haben. Vielleicht Medizinstudenten von der Wega, oder Anthropologen. Sie brauchen einfach ein paar menschliche Körper. Es wäre ein Riesenaufwand, persönlich zu Erde zu kommen — man brauchte eine Einreisegenehmigung, Ausweise von der Einwanderungsbehörde —, nein, nein, der Ärger lohnte sich nicht. Aber eine Botschaft kann man ohne große Anstrengung an die Erde schicken, und dann haben die Erdlinge die Mühe, fünf Körper zur Wega hinaufzuschicken.

Es ist wie Briefmarkensammeln. Als kleiner Junge habe ich Briefmarken gesammelt. Man konnte jemand in einem fremden Land einen Brief schreiben, und meistens bekam man eine Antwort. Der Inhalt des Briefes spielte keine Rolle. Die Briefmarke war es, was man wollte. So stelle ich mir das bildlich vor: Auch auf der Wega gibt es Briefmarkensammler. Sie verschicken Briefe, wenn sie in der Stimmung dazu sind, und schon kommen Körper aus dem gesamten Weltall zu ihnen zurückgeflogen. Hätten Sie nicht auch Lust, so eine Sammlung anzusehen?“

Er lächelte Ellie an und fuhr fort: „Schön und gut, aber was hat das mit dem Finden des Schlüssels zu tun? Nichts. Es ist nur wichtig, wenn ich unrecht habe. Wenn mein Bild von den Briefmarkensammlern falsch ist, wenn also die Besatzung wieder zur Erde zurückkehren will, dann müssen wir den Raumflug mit allen Raffinessen beherrschen. Wie pfiffig die Wegianer auch sein mögen, es wird schwierig sein, die Maschine sicher zu landen. Es gibt zu viele Unsicherheitsfaktoren. Und Gott allein weiß, woraus das Antriebssystem besteht. Wenn man nur ein paar Meter unter der Erde aus dem All auftaucht, dann war’s das auch schon. Und was sind ein paar Meter bei 26000 Lichtjahren? Das ist zu riskant. Wenn die Maschine tatsächlich zurückkommt, dann taucht sie — oder was auch immer — womöglich ganz in der Nähe der Erde im All auf, trifft aber kaum direkt auf die Erde. Deshalb müssen sie sicher sein, daß wir den Raumflug kennen, damit wir die fünf Menschen sicher wieder aus dem Weltraum zurückholen können. Die Wegianer haben es eilig und können nicht einmal stillsitzen, bis die Abendnachrichten von 1957 auf der Wega ankommen. Was machen sie also? Sie richten es so ein, daß ein Teil der Botschaft nur vom All aus entdeckt werden kann. Und welcher Teil? Natürlich der Schlüssel. Wer den Schlüssel im Weltraum ausfindig machen kann, der kennt auch den Raumflug und kann sicher aus dem All zurückkehren. Ich könnte mir also denken, daß der Schlüssel im Frequenzbereich der Absorption des Sauerstoffs im nahen Infrarot- und Mikrowellenbereich gesendet wird, einem Teil des Spektrums also, den man erst dann überprüfen kann, wenn man sich außerhalb der Erdatmosphäre befindet.“

„Wir haben bereits mit dem Hubble-Teleskop die Wega im gesamten ultravioletten, sichtbaren und nahen infraroten Bereich abgesucht. Nicht der kleinste Hinweis. Die Russen haben ihr Millimeterwellenteleskop wieder instandgesetzt. Sie haben sich so gut wie alles neben der Wega angeschaut und nichts gefunden. Noch andere Alternativen?“

„Möchten Sie wirklich nichts trinken? Ich trinke selbst keinen Alkohol, aber viele tun es.“ Wieder lehnte Ellie dankend ab. „Nein, das war alles. Keine weiteren Alternativen. Bin ich jetzt an der Reihe? Also, ich habe eine Bitte an Sie. Es fällt mir nicht leicht, um etwas zu bitten. Ich habe es noch nie getan. In der Öffentlichkeit glaubt man, daß ich komisch aussehe und reich und skrupellos bin — jemand, der nach Schwachstellen im System sucht, die er in klingende Münze umwandeln kann. Erzählen Sie mir jetzt nicht, daß Sie das alles nicht glauben. Jeder glaubt ein bißchen davon. Wahrscheinlich kennen Sie die eine oder andere Geschichte schon, die ich Ihnen gleich erzählen werde, aber hören Sie mir bitte trotzdem zehn Minuten zu. Ich möchte Ihnen erzählen, wie alles anfing. Kurz gesagt, ich möchte, daß Sie mich kennenlernen.“

Ellie lehnte sich zurück. Sie hatte keine Ahnung, auf was er hinauswollte. Sie versuchte, die wilden Phantasien zu verdrängen, die durch ihren Kopf geisterten und in denen immer wieder der Tempel von Ischtar, Hadden und ein oder zwei Wagenlenker auftauchten.

Vor Jahren hatte Hadden ein Modul erfunden, das, sobald im Fernsehen Werbung kam, automatisch den Ton abschaltete. Die Erfindung wurde zunächst noch nicht in der Kontexterkennung eingesetzt, sondern regulierte die Amplitude der Trägerwelle. TV-Werbefachleute hatten angefangen, ihre Reklame lauter und mit weniger Störgeräuschen laufen zu lassen als die eigentlichen Programme. Die Neuigkeit von Haddens Modul breitete sich wie ein Lauffeuer aus. Für viele bedeutete es eine große Erleichterung und die Befreiung von einer schrecklichen Plage, wenn sie die endlose Werbung während der sechs bis acht Stunden, die der Durchschnittsamerikaner täglich vor dem Fernseher verbrachte, nicht mehr hören mußten. Noch bevor die Industrie des Werbefernsehens geschlossen reagieren konnte, erfreute sich Werbnix schon weit und breit größter Beliebtheit. Werbefachleute und Sendeanstalten waren gezwungen, auf andere Trägerwellen umzusteigen, worauf Hadden jedesmal mit einer neuen Erfindung reagierte. Manchmal erfand er Schaltkreise, die Strategien wirkungslos machten, die die Werbeagenturen und Sender noch gar nicht erfunden hatten. Hadden begründete das damit, daß er ihnen den Ärger ersparen wolle, neue und teure Erfindungen zu Lasten ihrer Aktionäre in Auftrag zu geben, die von vornherein zum Scheitern verurteilt waren. Je mehr er verkaufte, desto billiger wurden seine Produkte. Es war eine Art Krieg der Elektronik. Und Hadden war der Gewinner.

Man versuchte, ihn gerichtlich zu belangen — man warf ihm vor, er unterwandere den freien Handel. Seine Gegner hatten genug politischen Einfluß, daß Haddens Antrag auf sofortige Niederschlagung der Anklage abgelehnt wurde, aber nicht genug Einfluß, um den Fall für sich entscheiden zu können. Der Prozeß hatte Hadden zu einer eingehenden Beschäftigung mit den einschlägigen Gesetzen gezwungen. Kurz darauf hatte er über eine bekannte New Yorker Agentur, bei der er inzwischen stiller Teilhaber war, beantragt, für sein eigenes Produkt im Werbefernsehen Reklame machen zu dürfen. Nach einigen Wochen erbitterten Streits waren seine Werbespots abgelehnt worden. Hadden zog gegen alle drei Sender vor Gericht und diesmal konnte er den anderen Verstöße gegen die Freihandelsbestimmungen nachweisen. Er bekam eine riesige Abfindung gezahlt, die zu der Zeit einen Rekord für Fälle dieser Art aufstellte und auf ihre bescheidene Weise zum Ende der früheren Sendeanstalten beitrug.

Natürlich gab es immer auch Menschen, die sich gerne Werbespots ansahen und kein Interesse an Werbnix hatten. Aber das war eine verschwindende Minderheit. Hadden gewann ein Vermögen durch die weitgehende Ausschaltung des Werbefernsehens. Aber er machte sich auch Feinde. Als die Kontexterkennungschips auf dem Markt waren, hatte er Prednix entwickelt, ein Submodul, das man auf Werbnix aufstecken konnte. Es wechselte einfach den Kanal, wenn man zufällig ein religiöses Programm eingeschaltet hatte. Man konnte vorher Stichwörter wie „Wiederkunft Christi“ oder „Jüngstes Gericht“ eingeben und damit breite Schneisen durch die vielfältigen Programme schlagen. Prednix war heiß begehrt bei einer schon seit langem unter solchen Sendungen leidenden und nicht unbedeutenden Minderheit von Fernsehzuschauern. Außerdem munkelte man, daß Haddens nächstes Submodul Quatschnix heißen und nur auf öffentliche Ansprachen von Präsidenten und Premierministern reagieren sollte.

Je weiter Hadden seine Kontexterkennungschips entwickelte, desto bewußter wurde ihm, wie viele Anwendungsbereiche es dafür gab — vom Ausbildungssektor, der Wissenschaft und der Medizin bis hin zur militärischen Abwehr und zur Industriespionage. Letzteres lieferte dann den Anlaß für den berühmt gewordenen Prozeß United States gegen Hadden Cybernetics. Man hielt einen der Hadden-Chips für zu gut für den Zivilbereich, und auf Empfehlung der Nationalen Sicherheitsbehörde wurden die Anlage und das wichtigste Personal für die Produktion dieses am weitesten entwickelten Kontexterkennungschips kurzerhand von der Regierung übernommen. Es war einfach von überragender Wichtigkeit, die Post der Russen lesen zu können. Gott weiß, was geschehen würde, wenn die Russen zuerst die amerikanische Post lesen konnten, bekam Hadden gesagt. Hadden weigerte sich, bei der Übernahme mitzumachen, und beteuerte, er werde sich künftig auf Gebiete verlegen, die mit nationaler Sicherheit nichts zu tun hätten. Die Regierung verstaatliche die Industrie, sagte er; die Politiker behaupteten, Kapitalisten zu sein, aber wenn es hart auf hart gehe, zeigten sie ihr wahres sozialistisches Gesicht. Er habe ein noch unbefriedigtes Bedürfnis einer breiten Öffentlichkeit entdeckt und daraufhin eine bereits bestehende und völlig legale neue Technologie dazu eingesetzt, dieses Bedürfnis zu befriedigen. Das war klassischer Kapitalismus. Aber es gab viele nüchterne Kapitalisten, die erklärten, daß Hadden bereits mit Werbnix zu weit gegangen sei und damit gegen amerikanische Gepflogenheiten verstoßen habe. In diesem Zusammenhang erschien in der Prawda der giftige Kommentar eines gewissen W. Petrow, der den Fall als konkretes Beispiel der Widersprüche des Kapitalismus hingestellte. Das Wall Street Journal konterte, indem es die Prawda, ein Wort, das im Russischen „Wahrheit“ bedeutete, seinerseits als konkretes Beispiel der Widersprüche des Kommunismus bezeichnete.

Hadden war der Verdacht gekommen, daß die Übernahme nur ein Vorwand und sein eigentliches Vergehen der Angriff auf die Werbung und die Fernsehprediger gewesen war. Werbnix und Prednix seien elementare Bestandteile des amerikanischen Unternehmertums, versicherte er wiederholt. Genau darin lag doch die Bedeutung des Kapitalismus: die Menschen mit verschiedenen Alternativen zu versorgen. „Ich habe ihnen erklärt, daß das Fehlen der Werbung insgesamt eine solche Alternative ist. Riesige Budgets für Werbekosten gibt es nur, wenn die Produkte alle gleich sind. Wenn die Produkte wirklich verschieden sind, dann kaufen die Leute nur das bessere. Die Werbung hat nur den Effekt, daß die Leute nicht mehr auf ihr eigenes Urteil vertrauen. Werbung macht dumm. Ein starkes Land braucht aber intelligente Menschen. Deshalb ist Werbnix von nationaler Bedeutung. Die Hersteller können jetzt einen Teil der Werbekosten darauf verwenden, ihre Produkte zu verbessern. Das käme dem Verbraucher zugute. Zeitschriften, Zeitungen und der direkte Postversand würden florieren, und das wiederum würde den Verlust der Werbeagenturen ausgleichen. Ich verstehe nicht, wo das Problem liegt.“ Viel entscheidender als die unzähligen Verleumdungsklagen gegen die ursprünglichen kommerziellen Sendeanstalten hatte Werbnix zu deren Ende beigetragen. Dann hatte es eine Zeitlang ein ganzes Heer arbeitsloser Werbemanager, am Existenzminimum lebender ehemaliger Größen des Rundfunks und Fernsehens und mittelloser Fernsehprediger gegeben, die sich verbittert geschworen hatten, sich an Hadden zu rächen. Auch die Zahl noch gefährlicherer Feinde war seither ständig gewachsen. Kein Zweifel, dachte Ellie, Hadden war ein interessanter Mann.

„Deshalb glaube ich, daß es Zeit ist zu gehen. Ich habe mehr Geld, als ich jemals ausgeben kann. Meine Frau kann mich nicht ausstehen, und überall habe ich Feinde. Ich will etwas wirklich Wichtiges und Bedeutendes tun. Es soll etwas sein, worauf die Menschen noch in ein paar hundert Jahren zurückblicken werden, und dann froh sind, daß es mich gegeben hat.“

„Sie wollen — “

„Ich will die Maschine bauen. Sehen Sie, diese Aufgabe ist mir auf den Leib geschrieben. Ich bin der beste Fachmann auf dem Gebiet der Kybernetik — besser noch als Carnegie-Mellon, MIT, Stanford und Santa Barbara. Und aus Ihren Plänen geht doch eindeutig hervor, daß es sich nicht um einen Job für altmodische Werkzeugmacher handelt. Und Sie werden jemand brauchen, der sich in der Gentechnik auskennt. Sie werden niemand finden, der mit mehr Engagement an die Sache geht als ich. Und ich würde es zum Selbstkostenpreis machen.“

„Glauben Sie mir, Mr. Hadden, die Entscheidung, wer die Maschine baut, falls wir je zu dem Punkt kommen, liegt nicht bei mir. Da spielen viele politische Gesichtspunkte eine Rolle.

In Paris wird immer noch darüber debattiert, ob die Maschine überhaupt gebaut werden soll, falls wir die BOTSCHAFT entschlüsseln, und wenn ja, wann.“

„Natürlich weiß ich darüber Bescheid. Und natürlich bewerbe ich mich wie die anderen auch über die üblichen Wege der Bestechung und Korruption. Ich möchte nur, daß ein gutes Wort für mich eingelegt wird von jemand, der eine weiße Weste hat und meine Gründe kennt. Verstehen Sie? Und wo wir gerade von weißen Westen reden: Sie haben Palmer Joss und Billy Jo Rankin ja ganz schön wachgerüttelt. Ich habe sie seit dem Ärger mit dem Fruchtwasser Marias nicht mehr so aus der Fassung gebracht gesehen. Rankin behauptet, daß man ihn fälschlicherweise als einen Befürworter der Maschine zitiert habe. Ja du meine Güte.“ In gespielter Bestürzung schüttelte er den Kopf. Natürlich war klar, daß der Erfinder von Prednix nicht gut auf die Fernsehmissionare zu sprechen war, aber aus unerfindlichen Gründen hatte Ellie das Gefühl, sie verteidigen zu müssen. „Die beiden sind intelligenter, als Sie denken. Und Palmer Joss ist. nun, er hat etwas Aufrichtiges an sich. Er ist kein Schwindler.“

„Sind Sie sicher, daß es nicht nur sein Charme ist? Entschuldigen Sie, aber es ist wichtig, daß man seine eigenen Gefühle versteht. Keiner kann es sich leisten, sie nicht zu verstehen. Ich kenne diese Clowns. Unter der Oberfläche sind es Geier, wenn es um die Wurst geht. Viele Menschen finden Religion attraktiv — Sie wissen schon, für ihre persönliche und sexuelle Entwicklung. Sie sollten mal sehen, wie es im Tempel von Ischtar zugeht.“

Ellie unterdrückte den plötzlich in ihr aufsteigenden Ekel. „Ich glaube, jetzt brauche ich einen Drink“, sagte sie dann. Als sie vom Penthouse hinunterschaute, konnte sie die einzelnen Stufen der Zikkurat sehen, die je nach Jahreszeit mit unechten oder echten Blumen geschmückt waren. Es war eine Rekonstruktion der Hängenden Gärten von Babylon, einem der Sieben Weltwunder des Altertums, und so gekonnt angeordnet, daß es nicht im mindesten kitschig wirkte. Ganz unten sah sie einen Fackelzug, der sich auf dem Weg von der Zikkurat zurück zum Enlil-Tor befand. An der Spitze des Zuges trugen vier stämmige Männer mit nackten Oberkörpern eine Sänfte. Wer oder was in ihr saß, konnte Ellie nicht erkennen.

„Es ist eine Zeremonie zu Ehren von Gilgamesch, einem Helden der alten Sumerer.“

„Er ist mir ein Begriff.“

„Er suchte nach der Unsterblichkeit.“ Hadden sagte das ganz prosaisch, zur Erklärung, und schaute dann auf seine Uhr.

„Auf der obersten Spitze der Zikkurat pflegten die Könige die Anweisungen der Götter zu empfangen. Besonders von Anu, dem Himmelsgott. Ach, übrigens, ich habe nachgeschaut, wie damals die Wega hieß. Sie hieß Tiranna, Leben des Himmels. Ist das nicht lustig?“

„Haben Sie denn Anweisungen von den Göttern bekommen?“

„Nein, die sind zu Ihnen gekommen, nicht zu mir. Aber um neun gibt es noch einmal eine Gilgamesch-Prozession.“

„Ich fürchte, so lange kann ich nicht mehr bleiben. Aber darf ich Sie noch etwas fragen?“ Ellie sah Hadden an. „Warum Babylon? Und Pompeji? Sie sind einer der originellsten Menschen, die ich kenne. Sie haben mehrere große Industrieunternehmen begründet. Sie haben die Werbeindustrie mit ihren eigenen Waffen geschlagen. Deshalb hat man versucht, Sie mit den Sicherheitsbestimmungen in bezug auf die Kontexterkennungschips aufs Kreuz zu legen. Aber es gab für Sie tausend andere Möglichkeiten. Warum. gerade das?“

In weiter Ferne war der Fackelzug am Tempel von Assur angekommen.

„Warum nichts. Wichtigeres, meinen Sie?“ fragte er. „Aber ich versuche doch nur, gesellschaftliche Bedürfnisse zu befriedigen, die die Regierung übersieht oder einfach ignoriert. Das ist Kapitalismus. Es ist völlig legal. Und es macht viele Menschen glücklich. Außerdem ist es ein Sicherheitsventil für die Verrücktheiten, die diese Gesellschaft immer von neuem erzeugt.

So genau habe ich mir das damals allerdings gar nicht überlegt. Ich kann mich noch an den Moment erinnern, als mir die Idee mit Babylon kam. Ich war in Disney World und machte mit meinem Enkel Jason eine Dampferfahrt auf einem Mississippi-Raddampfer. Jason war damals vier oder fünf. Ich dachte darüber nach, wie clever es von den Disney-Leuten war, daß sie jetzt keine Tickets mehr für einzelne Fahrten verkauften, sondern statt dessen einen Tagespaß anboten, mit dem man alles machen konnte. So sparten sie Löhne — von den Kartenknipsern zum Beispiel. Aber noch viel wichtiger ist, daß Menschen dazu neigen, ihre Lust auf möglichst viele Fahrten zu überschätzen. Sie zahlen für eine Tageskarte, um alles ausprobieren zu können, aber am Ende wären sie auch mit viel weniger zufrieden gewesen. Neben mir und Jason saß ein Junge, er war acht, vielleicht auch zehn. Er schaute ganz verträumt. Sein Vater fragte ihn alles mögliche, aber er antwortete nur einsilbig. Der Junge streichelte den Lauf eines Spielzeuggewehres, das er auf seinen Deckstuhl aufgestützt hatte. Den Schaft hielt er zwischen den Beinen. Alles, was er wollte, war allein sein und das Gewehr streicheln. Hinter ihm glänzten die Türme und Spitzen von Magic Kingdom, und plötzlich paßte für mich alles zusammen. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?“ Er schenkte sich ein Glas Diät-Cola ein und stieß mit Ellie an. „Tod Ihren Feinden“, toastete er ihr herzlich zu. „Ich werde Sie durch das Ischtar-Tor hinausgeleiten lassen. Der Fackelzug verstopft den Weg durch das Enlil-Tor.“ Wie durch Zauberei erschienen die beiden Eskorten, und Ellie war entlassen. Sie spürte wenig Lust, noch länger in Babylon zu bleiben.

„Denken Sie an die Phasenmodulation und schauen Sie sich die Sauerstofflinien an. Aber selbst wenn ich mit meinem Tip, wo der Schlüssel sein könnte, falsch liege, denken Sie daran: Ich bin der einzige, der die Maschine bauen kann.“ Flutlichter strahlten das Ischtar-Tor an. Es war mit glasierten Fliesen verkleidet, auf denen blaue Tiere dargestellt waren. Archäologen hatten sie als Drachen gedeutet.

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