14 Harmonischer Oszillator

Der Skeptizismus ist die Keuschheit des Intellekts, und es wäre schändlich, zu früh von ihm abzulassen oder ihn dem ersten besten zu opfern. Es spricht von Adel, ihn in stolzem Selbstvertrauen durch eine lange Jugend hindurch zu bewahren, bis er zuletzt vom gereiften Instinkt und welterfahrener Klugheit gefahrlos gegen das Glück eines gefestigten Charakters ausgetauscht werden kann.

George Santayana

Scepticism and Animal Faith, IX

Er befand sich auf einer subversiven Mission. Der Feind war viel größer und stärker. Aber er kannte die Schwächen ihres Körpers. Für eine Zeit konnte er die Herrschaft übernehmen und die feindlichen Waffen für die eigenen Ziele einsetzen. Jetzt, mit Millionen fanatischer Agenten an Ort und Stelle. Sie mußte niesen und suchte in den ausgebeulten Taschen ihres Bademantels aus Frottee verzweifelt nach einem sauberen Papiertaschentuch. Sie hatte kein Make-up aufgelegt, und auf ihren aufgesprungenen Lippen waren Spuren von Mentholbalsam zu sehen.

„Mein Arzt hat gesagt, ich müsse im Bett bleiben, sonst bekäme ich eine Viruslungenentzündung. Ich habe ihn um Antibiotika gebeten, aber er sagte, daß es gegen Viren keine Antibiotika gebe. Wie kann er wissen, daß ich einen Virus habe?“

Der Heer öffnete den Mund, um zu antworten, aber die Präsidentin winkte ab.

„Nein, nein, ist schon gut. Sie werden mir nur etwas über die DNS und das Immunsystem erzählen, aber ich brauche die Energien, die ich noch habe, um mir Ihre Geschichte anzuhören. Wenn Sie vor meinen Viren keine Angst haben, dann holen Sie sich einen Stuhl und setzen Sie sich zu mir.“

„Vielen Dank, Frau Präsidentin. Also, es geht um den Schlüssel für den Code. Hier habe ich den Bericht. Im Anhang enthält er einen langen technischen Teil. Ich dachte, das würde Sie vielleicht auch interessieren. Kurz gesagt, wir können ihn jetzt fast ohne Probleme lesen und verstehen. Es handelt sich um ein teuflisch raffiniert ausgedachtes Lernprogramm. ‚Teuflisch’ ist natürlich nicht wörtlich zu nehmen. Wir haben jetzt schon ein Vokabular von dreitausend Wörtern.“

„Wie ist das möglich? Ich könnte mir vorstellen, wie die Wegianer uns die Namen ihrer Zahlen beibringen. Man macht einen Punkt und schreibt die Buchstaben E, I, N, s darunter und so weiter. Ich könnte mir vorstellen, daß man ein Bild von einem Stern nimmt und STERN darunterschreibt. Aber ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie das mit Verben, dem Imperfekt oder dem Konjunktiv gehen soll.“

„Sie arbeiten zum Teil mit Filmen. Filme sind für Verben wunderbar. Und außerdem sind Zahlen eine große Hilfe. Sogar abstrakte Begriffe können sie mit Zahlen verschlüsseln. Das funktioniert ungefähr so: Zuerst zählen sie für uns die Zahlen aus, und dann führen sie einige neue Wörter ein — Wörter, die wir nicht verstehen. Hier, sehen Sie mal, ich werde ein Wort jetzt mit einem Buchstaben bezeichnen. Wir bekommen also beispielsweise folgende Zeilen, in denen Buchstaben für Symbole der Wegianer stehen.“ Er schrieb auf ein Blatt:

1A1B2Z 1A2B3Z 1A7B8Z

„Was, glauben Sie, ist das?“

„Mein Abiturzeugnis? Sie meinen, es gibt eine bestimmte Kombination aus Punkten und Strichen, die für A steht, und eine andere Kombination aus Punkten und Strichen für B und so weiter?“

„Genau. Sie wissen, was eins und zwei bedeuten, aber Sie wissen nicht, was A und B bedeuten. Was könnten Sie denn aus einer solchen Abfolge schließen?“

„A bedeutet ‚plus’ und B bedeutet ‚ist gleich’. Wollten Sie darauf hinaus?“

„Ja, gut. Aber wir verstehen noch nicht, was Z bedeutet. Jetzt taucht folgendes auf.“

1A2B4Y

„Kommen Sie darauf?“

„Vielleicht. Geben Sie mir noch ein Beispiel, das auf Y endet.“

2000A4000B0Y

„Okay, ich glaube, ich habe es. Wenn ich die letzten drei Symbole nicht als ein Wort lese, bedeutet Z wahr und Y falsch.“

„Richtig. So ist es. Nicht schlecht für eine Präsidentin mit einer Virusinfektion und einer Krise in Südafrika. Damit haben sie uns mit ein paar Zeilen vier Wörter beigebracht: plus, ist gleich, wahr und falsch. Vier recht nützliche Wörter.

Genauso bringen sie uns die Division bei. Dann teilen sie eins durch null, und schon haben wir das Wort für unendlich.

Oder vielleicht ist es das Wort für unbestimmt. Oder sie sagen: ‚Die Summe der inneren Winkel eines Dreiecks ergibt zwei rechte Winkel’. Dann erläutern sie, daß diese Aussage wahr ist, wenn der gemeinte Raum gerade ist, aber falsch, wenn der Raum gekrümmt ist. Damit haben wir gelernt, wie man ‚wenn’ sagt und — “

„Ich wußte gar nicht, daß Raum gekrümmt sein kann, Ken.

Was soll das heißen? Wie kann der Raum gekrümmt sein?

Ach nein, lassen Sie. Das bringt uns nur vom Thema ab.“

„Eigentlich.“

„Wie ich von Sol Hadden höre, stammt die Idee, wo man den Schlüssel suchen sollte, von ihm. Schauen Sie mich nicht so komisch an, Der Heer. Ich spreche mit allen möglichen Leuten.“

„Ich wollte nicht. äh. Soweit ich im Bild bin, hat Mr. Hadden einige Vorschläge gemacht, die aber andere Wissenschaftler genauso machten. Frau Dr. Arroway hat sie überprüft und hatte mit einem davon Erfolg. Es handelt sich um die sogenannte Phasenmodulation oder Phasencodierung.“

„Aha. Ken, stimmt es, daß der Schlüssel über die ganze BOTSCHAFT verteilt ist? Mit vielen Wiederholungen? Daß der Schlüssel also von Anfang an mit dabei war?“

„Nicht ganz von Anfang an, aber kurz nachdem Frau Arroway die dritte Schicht des Palimpsests auffing, also die Konstruktionspläne für die Maschine.“

„Und viele Länder haben die entsprechenden Technologien, um den Schlüssel zu lesen, nicht wahr?“

„Man braucht dazu ein Instrument, das Phasenkorrelator heißt. Aber, ja. Die wichtigsten Länder haben so etwas.“

„Dann hätten die Russen den Schlüssel also schon vor einem Jahr lesen können, richtig? Oder die Chinesen; oder die Japaner? Woher wissen Sie denn, daß sie nicht schon längst dabei sind, die Maschine zu bauen?“

„Daran habe ich auch schon gedacht, aber Marvin Yang behauptet, das sei unmöglich. Die Satellitenbilder, die elektronische Abwehr und die Spezialisten vor Ort, sie alle bestätigen, daß es nirgendwo Anzeichen eines größeren Bauprojekts gibt, das auf den Bau der Maschine schließen ließe. Nein, wir haben bisher alle an der entscheidenden Stelle geschlafen. Wir haben immer gedacht, der Schlüssel müsse am Anfang kommen und könne nicht in die BOTSCHAFT eingestreut sein. Erst als die BOTSCHAFT wieder von vorn begann und wir entdeckten, daß kein Schlüssel kam, fingen wir an, uns andere Möglichkeiten zu überlegen. Das ist alles in enger Zusammenarbeit mit den Russen und den anderen Nationen geschehen. Wir glauben nicht, daß uns jemand zuvorgekommen ist. Jetzt allerdings haben alle den Schlüssel. Aber ich glaube nicht, daß wir hier im Alleingang handeln könnten.“

„Ich möchte nicht im Alleingang handeln. Ich möchte nur sicher sein, daß niemand anders auf eigene Faust handelt. Jetzt aber zurück zu Ihrem Schlüssel. Sie kennen die Bezeichnungen für wahr/falsch und wenn/dann und wissen, daß der Raum gekrümmt ist. Aber wie soll man damit eine Maschine bauen?“

„Ich muß schon sagen, Sie lassen sich durch ihre Erkältung, oder was es sonst ist, nicht bremsen. Also, von da ab geht es erst richtig los. Wir bekommen zum Beispiel eine Tabelle des periodischen Systems der Elemente, damit wir alle chemischen Elemente benennen können und wissen, was Atom, Atomkern, Proton, Neutron und Elektron heißt. Dann exerzieren sie für uns etwas Quantenmechanik durch, um sich zu vergewissern, daß wir aufpassen — nebenbei springen aus diesen Nachhilfestunden auch einige neue Erkenntnisse für uns heraus. Dann fangen sie an, sich auf die Materialien zu konzentrieren, die man für den Bau der Maschine braucht. Wir brauchen beispielsweise zwei Tonnen Erbium, deshalb führen sie uns geschwind eine raffinierte Technik vor, wie man Erbium aus ganz normalen Felsen gewinnen kann.“ Beschwichtigend hob Der Heer die Hände. „Fragen Sie mich nicht, wofür wir die zwei Tonnen Erbium brauchen. Keiner hat auch nur eine blasse Ahnung davon.“

„Das wollte ich Sie gar nicht fragen. Ich möchte nur wissen, wie sie Ihnen verständlich gemacht haben, wieviel eine Tonne ist.“

„Sie haben es für uns in Plancksche Massen ausgerechnet. Eine Plancksche Masse ist — “

„Ist schon gut. Das ist etwas, was alle Physiker im gesamten Universum wissen, habe ich recht? Nur ich habe nie etwas davon gehört. Aber zurück zu unserem Ausgangspunkt. Verstehen wir den Schlüssel so gut, daß wir anfangen können, die BOTSCHAFT zu lesen? Können wir das Ding bauen oder nicht?“

„Die Antwort scheint ‚Ja’ zu sein. Wir haben den Schlüssel erst seit wenigen Wochen, aber ganze Kapitel der BOTSCHAFT können wir jetzt schon mühelos lesen. Dazu gehören sorgfältig ausgeführte Konstruktionspläne, ausführliche Erklärungen und, soweit es sich bisher abschätzen läßt, eine ungeheure Fülle von Beschreibungen einzelner Details. Ein dreidimensionales Modell der Maschine für Sie wird voraussichtlich rechtzeitig bis zur Sitzung am nächsten Donnerstag, auf der die Besatzung bestimmt werden soll, fertig sein, falls Sie sich bis dahin wieder besser fühlen. Bis jetzt haben wir noch keinen Anhaltspunkt, was die Maschine tut und wie sie funktioniert. Und es gibt einige merkwürdige Bestandteile aus der organischen Chemie, die als Teil der Maschine überhaupt keinen Sinn ergeben. Aber fast alle glauben, daß wir das Ding bauen können.“

„Wer glaubt es nicht?“

„Lunatscharski, und die Russen überhaupt. Und Billy Jo Rankin natürlich. Einige Leute befürchten immer noch, daß die Maschine die Welt in die Luft jagt, die Erdachse verdreht oder sonst was. Aber die meisten Wissenschaftler sind von der Fülle der Anweisungen und den vielen alternativen Erklärungen ein und derselben Sache beeindruckt.“

„Was sagt Eleanor Arroway?“

„Sie meint, wenn die Außerirdischen uns den Garaus machen wollen, dann sind sie in spätestens fünfundzwanzig Jahren hier, und wir können nichts tun, um uns vor ihnen zu schützen. Sie sind uns viel zu weit voraus. Deshalb meint sie, man soll das Ding bauen, und wenn man vor Unfällen, die die Umwelt gefährden könnten, Angst hat, soll man dazu einen abgelegenen Ort wählen. Wenn es nach Professor Drumlin ginge, könnten wir die Maschine mitten in Pasadena bauen. Er sagt, er würde sowieso jede Minute dort verbringen, solange an der Maschine gebaut wird, deshalb ginge er auch als erster mit hoch, wenn sie explodiert.“

„Drumlin?! War er nicht der, der herausgefunden hat, daß es sich um Pläne für eine Maschine handelt?“

„Eigentlich nicht, er — “

„Ich werde das Informationsmaterial bis zur Sitzung am Donnerstag gelesen haben. Gibt es sonst noch etwas?“

„Erwägen Sie ernsthaft, Hadden die Maschine bauen zu lassen?“

„Nun, das kann ich, wie Sie wissen, nicht allein entscheiden.

Der Vertrag, der in Paris ausgehandelt wird, gesteht uns ungefähr ein Viertel zu. Die Russen haben ein Viertel, die Chinesen und Japaner haben zusammen ein Viertel, und der Rest der Welt ist ebenfalls mit ungefähr einem Viertel beteiligt. Viele Nationen wollen die Maschine oder zumindest Teile davon bauen. Sie versprechen sich Prestige davon, neue Industrien und Erkenntnisse. Solange uns niemand den Rang abläuft, klingt das in meinen Ohren gut. Es ist möglich, daß Hadden beteiligt wird. Warum nicht? Halten Sie ihn nicht auch für einen Mann, der sich in der Technik auskennt?“

„Ganz sicher. Nur — “

„Wenn es sonst nichts mehr gibt, Ken, sehe ich Sie am Donnerstag — vorausgesetzt, die Viren erlauben es.“ Als Der Herr sich verabschiedet hatte und die Tür hinter sich schließen wollte, ertönte ein explosionsartiges Niesen aus dem Zimmer der Präsidentin. Der diensttuende Stabsoffizier, der steif auf einer Couch im Vorzimmer saß, zuckte sichtlich erschrocken zusammen. Die Aktentasche zu seinen Füßen war vollgestopft mit den chiffrierten Kommandos für einen Atomkrieg. Der Heer machte eine beruhigende Geste. Der Offizier lächelte entschuldigend.

„Das ist die Wega? Darum wird das ganze Theater gemacht?“ Die Präsidentin war enttäuscht. Der Phototermin für die Presse war gerade vorüber, und ihre Augen hatten sich nach den Blitzen der Kameras und den hellen Scheinwerfern des Fernsehens schon fast wieder an das Dunkel gewöhnt. Die Bilder, auf denen die Präsidentin in heroischer Pose durch das Teleskop des Naval Observatory starrte, würden am nächsten Tag in den Zeitungen erscheinen und waren natürlich gestellt. Sie hatte durch das Teleskop überhaupt nichts sehen können, bis die Photographen gegangen waren und es wieder dunkel war. „Warum wackelt sie so?“

„Das ist eine Turbulenz in der Atmosphäre, Frau Präsidentin“, erklärte Der Heer. „Warme Luftblasen fliegen vorbei und verzerren das Bild.“

„Wenn ich Si am Frühstückstisch gegenübersitze und der Toaster steht zwischen uns, sieht es genauso aus. Einmal fiel ihm sogar das halbe Gesicht ab“, sagte sie zärtlich und etwas lauter, damit es der Herr Gemahl auch hören konnte, der in der Nähe stand und sich mit dem Offizier unterhielt, der das Observatorium leitete.

„Leider steht ja zur Zeit kein Toaster auf dem Frühstückstisch“, antwortete er lächelnd.

Seymour Lasker war vor seinem Ruhestand ein hoher Funktionär der Internationalen Gewerkschaft der Arbeitnehmer in der Damenbekleidungsindustrie gewesen. Er hatte seine Frau vor vielen Jahren kennengelernt, als sie die Arbeitgeberseite der New York Girl Coat Company vertrat. Während der langwierigen Tarifverhandlungen hatten sie sich ineinander verliebt. In Anbetracht der gegenwärtig für beide recht neuen Positionen war es bemerkenswert, wie gut sie sich verstanden.

„Ich komme auch ohne Toaster aus, aber die Frühstücke mit Si sind viel zu selten geworden.“ Sie warf ihm einen Blick zu und wandte sich dann wieder dem Okular zu. „Sie sieht wie eine blaue Amöbe aus, so. matschig.“ Die Präsidentin war erleichtert, daß die schwierige Sitzung, auf der die Nominierung der Besatzung verhandelt worden war, schließlich ein Ende gefunden hatte. Auch ihre Erkältung war fast verflogen.

„Und wenn es keine Turbulenzen gäbe, Ken? Was würde ich dann sehen?“

„Dann wäre unser Observatorium wie ein Weltraumteleskop über der Erdatmosphäre. Sie würden keinen flackernden, sondern einen gleichmäßig brennenden Lichtpunkt sehen.“

„Nur den Stern? Nur die Wega? Keinen ihrer Planeten, keine Ringe, keine Laserkampfstationen?“

„Nein, Frau Präsidentin. Das wäre alles viel zu klein und matt, auch für ein sehr großes Teleskop.“

„Ich hoffe nur, daß Ihre Wissenschaftler wissen, was sie tun“, sagte sie leise. „Wir machen so viele Zugeständnisse an eine Sache, die wir noch nicht einmal gesehen haben.“ Der Heer war bestürzt. „Aber wir haben doch einunddreißigtausend Seiten Text vor uns — Bilder, Wörter, plus einen umfassenden Schlüssel.“

„Was mich betrifft, ist es nicht das gleiche, wie wirklich etwas zu sehen. Für mich ist das wie. aus zweiter Hand. Kommen Sie mir jetzt nicht damit, daß Wissenschaftler auf der ganzen Welt dieselben Daten empfangen. Das weiß ich. Und erzählen Sie mir auch nicht, wie klar und eindeutig die Pläne für die Maschine sind. Das weiß ich auch. Und wenn wir aus dem Projekt aussteigen, wird sicher jemand anders die Maschine bauen. Das weiß ich alles. Trotzdem bin ich nervös.“

Gemächlich schlenderte die kleine Gesellschaft durch das Gelände des Naval Observatory zurück zur Residenz des Vizepräsidenten. In Paris waren in den letzten Wochen nach langen Verhandlungen erste Absprachen über die Zusammenstellung der Besatzung getroffen worden. Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion waren beide dafür eingetreten, daß sie jeder zwei Teilnehmer stellten. In solchen Angelegenheiten waren sie verläßliche Verbündete. Aber es war schwierig, diesen Anspruch vor den anderen Mitgliedstaaten des Weltkonsortiums zu rechtfertigen. Im Vergleich zu früher konnten sich die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion — selbst bei Problemen, wo sie einer Meinung waren — nicht mehr so leicht bei den anderen Ländern der Welt durchsetzen.

Überall war das Projekt jetzt als das Unternehmen der ganzen Menschheit bekannt. Auch Nationen, die nur einen kleinen Teil der BOTSCHAFT empfangen hatten, versuchten, damit durchzusetzen, daß einer ihrer Landsleute in die Besatzung aufgenommen werde. Die Chinesen hatten in aller Ruhe darauf hingewiesen, daß es Mitte des nächsten Jahrhunderts eineinhalb Milliarden von ihnen auf der Welt geben werde,

von denen die meisten infolge der staatlich geförderten Geburtenkontrolle als Einzelkinder geboren werden würden. Diese Kinder würden, wenn sie einmal groß waren, so prophezeiten die Funktionäre weiter, intelligenter und emotional stabiler sein als Kinder in anderen Ländern mit weniger strengen Bestimmungen zur Größe einer Familie. Da die Chinesen auf diese Weise in den nächsten fünfzig Jahren eine führende Rolle in der Weltpolitik spielen würden, stand ihnen zumindest einer der fünf Sitze in der Maschine zu. Die chinesischen Argumente wurden zur Zeit sogar in den Regierungskreisen von Ländern diskutiert, die weder mit der BOTSCHAFT noch der Maschine etwas zu tun hatten.

Europa und Japan verzichteten auf ihre Ansprüche, in der Besatzung vertreten zu sein, zugunsten einer größeren Beteiligung am Bau der Maschine, wovon sie sich wirtschaftlichen Nutzen versprachen. Schließlich erhielten die Vereinigten Staaten, die Sowjetunion, China und Indien je einen Sitz, über die Besetzung des fünften Sitzes konnte noch keine Einigung erzielt werden. Das war das Ergebnis langer, schwieriger multilateraler Verhandlungen, bei denen Bevölkerungsdichte, Einwohnerzahl, wirtschaftliche, industrielle und militärische Stärke, der gegenwärtige politische Kurs und sogar ein wenig die Geschichte der Länder eine Rolle gespielt hatten.

Auf den fünften Sitz erhoben Brasilien und Indonesien aufgrund ihrer Bevölkerungszahl und als Länder der südlichen Hemisphäre Anspruch. Schweden bot sich als Vermittler im Falle politischer Streitigkeiten an. Ägypten, der Irak, Pakistan und Saudi-Arabien argumentierten, daß der Gerechtigkeit halber auch ihre Religionen vertreten sein müßten. Andere schlugen vor, daß wenigstens der fünfte Sitz für persönliche Verdienste und nicht aufgrund nationaler Zugehörigkeit vergeben werden sollte. Im Augenblick war die Entscheidung noch völlig ungewiß.

In den vier ausgewählten Nationen mußten jetzt Wissenschaftler, Regierungshäupter und andere in einer langwierigen Prozedur ihre Kandidaten aufstellen. In den Vereinigten Staaten war eine heiße Debatte entbrannt. In statistischen Erhebungen und Meinungsumfragen wurden mit unterschiedlichem Nachdruck religiöse Führer, Sportidole, Astronauten, Träger der Ehrenmedaille des Kongresses, Wissenschaftler, Filmstars, eine ehemalige Präsidentengattin, Moderatoren von Talkshows, Nachrichtensprecher, Kongreßabgeordnete, Millionäre mit politischen Ambitionen, Manager einer Stiftung, Popsänger, Universitätspräsidenten und die Miß America vorgeschlagen.

Seit der Wohnsitz des Vizepräsidenten vor langer Zeit auf das Gelände des Naval Observatory verlegt worden war, bestand das Personal traditionsgemäß aus philippinischen Unteroffizieren im Dienst der amerikanischen Marine. Jetzt servierten sie in ihren blauen Blazern, auf denen „Vizepräsident der Vereinigten Staaten“ eingestickt war, Kaffee. Nur wenige Teilnehmer der ganztägig stattfindenden Sitzung waren zu diesem inoffiziellen Teil des Abends gebeten worden.

Seymour Lasker war das einzigartige Schicksal zuteil geworden, Amerikas erster First Gentleman zu sein. Er trug diese Bürde — und mit ihr die vielen Karikaturen in den Zeitungen und die Witze über eine solche Karriere — mit soviel Charme und Freundlichkeit, daß ihm Amerika schließlich verzieh, daß er eine Frau geheiratet hatte, die die Unverfrorenheit besaß, die halbe Welt führen zu wollen. Lasker stand gerade mit der Frau des Vizepräsidenten und deren halbwüchsigem Sohn zusammen, die sich in seiner Gesellschaft glänzend amüsierten. Die Präsidentin führte Der Heer in die Bibliothek nebenan.

„Also“, begann sie, „heute wird noch keine offizielle Entscheidung getroffen und keine Presseerklärung über unsere Beratungen abgegeben. Aber vielleicht sollten wir unsere bisherigen Ergebnisse einmal zusammenfassen. Wir wissen nicht, was die verdammte Maschine tun wird, aber die Vermutung liegt nahe, daß sie zur Wega fliegt. Niemand hat auch nur die leiseste Ahnung, wie das funktionieren oder wie lange es dauern soll. Wie weit war die Wega entfernt?“

„Sechsundzwanzig Lichtjahre, Frau Präsidentin.“

„Wenn also die Maschine eine Art Raumschiff ist und sich so schnell wie das Licht fortbewegt — ich weiß, daß man nur annähernd so schnell wie das Licht sein kann, also unterbrechen Sie mich nicht —, dann braucht sie nach unserer Zeitrechnung sechsundzwanzig Jahre, um dort anzukommen. Ist das korrekt, Der Heer?“

„Ja, völlig. Plus vielleicht ein Jahr, um auf Lichtgeschwindigkeit zu kommen, und ein weiteres Jahr, um die Geschwindigkeit beim Eindringen ins System der Wega zu verringern. Für die Besatzung dauert es viel weniger lang. Vielleicht nur ein paar Jahre, je nachdem, wie nahe wir an die Lichtgeschwindigkeit herankommen.“

„Für einen Biologen, Der Heer, haben Sie eine Menge Astronomie gelernt.“

„Vielen Dank, Frau Präsidentin. Ich habe versucht, mich gründlich in das Gebiet einzuarbeiten.“ Sie schaute ihn kurz an und fuhr dann fort: „Solange die Maschine also annähernd mit Lichtgeschwindigkeit fliegt, dürfte das Alter der einzelnen Teilnehmer keine Rolle spielen. Aber wenn die Reise zehn, zwanzig oder mehr Jahre dauert — und Sie behaupten, daß das durchaus möglich ist —, dann sollten wir einen jungen Mann oder eine junge Frau auswählen. Für die Russen hat dieses Argument kein Gewicht. Natürlich wird die Wahl zwischen Archangelski und Lunatscharski getroffen, die beide um die sechzig sind.“ Etwas stockend hatte sie die Namen von einer Karteikarte abgelesen.

„Die Chinesen werden mit ziemlicher Sicherheit Xi schicken. Er ist auch um die sechzig. Wenn ich also davon ausgehe, daß sie wissen, was sie tun, dann bin ich fast versucht, zu sagen: ‚Ist ganz egal, wir nehmen auch einen Sechzigjährigenc.“

Drumlin, das wußte Der Heer, war genau sechzig Jahre alt. „Andererseits.“, setzte er zum Widerspruch an. „Ich weiß, ich weiß. Die indische Molekularbiologin, sie ist erst vierzig. Irgendwie finde ich das verrückt. Wir wählen jemand aus, der an den Olympischen Spielen teilnehmen soll, aber wir kennen die Disziplinen gar nicht. Warum ziehen wir eigentlich immer nur Wissenschaftler in Betracht? Mahatma Gandhi sollten wir schicken. Oder wenn wir schon dabei sind, Jesus Christus. Erzählen Sie mir nicht, daß die nicht zur Verfügung stehen, Der Heer. Das weiß ich.“

„Wenn man die Disziplinen nicht kennt, sollte man einen Zehnkampfchampion schicken.“

„Und dann stellen Sie fest, daß Schach, Rhetorik oder Bildhauerei gefragt sind, und Ihr Athlet kommt als letzter an. Okay, Sie sagen, es sollte jemand sein, der sich schon mit extraterrestrischem Leben beschäftigt hat und der ganz persönlich am Empfang und der Entschlüsselung der BOTSCHAFT beteiligt war.“

„Nur so jemand kann sich vielleicht vorstellen, wie die Wegianer denken. Oder wenigstens, wie sie glauben, daß wir denken.“

„Und wirkliche Topleute gibt es Ihrer Ansicht nach nur drei.“ Wieder warf sie einen Blick auf ihre Notizen. „Arroway, Drumlin und. der, der sich für einen römischen Feldherrn hält.“

„Dr. Valerian, Frau Präsidentin. Ich wüßte nicht, daß er sich für einen römischen Feldherrn hält, er heißt einfach so.“

„Valerian wollte nicht einmal auf die Fragen des Auswahlkomitees antworten. Er zieht eine Kandidatur nicht in Erwägung, weil er seine Frau nicht allein lassen will. Stimmt das? Ich verurteile ihn nicht deswegen. Er ist nicht dumm. Er weiß, was eine Beziehung ausmacht. Seine Frau ist doch nicht krank, oder?“

„Nein, soweit ich weiß, erfreut sie sich bester Gesundheit.“

„Schön. Schön für sie. Schicken Sie ihr einen kleinen persönlichen Brief von mir — schreiben Sie, was sie für eine Frau sein muß, daß ein Astronom für sie das Universum aufgibt. Aber formulieren Sie es etwas romantischer, Der Heer. Sie wissen schon. Und fügen Sie ein paar Zitate ein. Vielleicht ein Gedicht. Aber auch wieder nicht zu viel.“ Sie zeigte mit dem Finger auf ihn. „Von diesem Valerian können wir alle etwas lernen. Wir sollten die beiden zu einem Staatsempfang einladen. In zwei Wochen kommt der König von Nepal. Das wäre eine gute Gelegenheit.“

Der Heer schrieb wie verrückt mit. Er mußte den für Termine zuständigen Sekretär des Weißen Hauses anrufen, und er hatte noch einen viel dringenderen Anruf zu tätigen. Schon seit Stunden war es ihm unmöglich, an ein Telephon zu kommen. „Also bleiben noch Ellie Arroway und Drumlin. Sie ist ungefähr zwanzig Jahre jünger als er, aber er ist in großartiger körperlicher Form. Er ist Drachenflieger, Hobbyfallschirmspringer und Sporttaucher. und er ist ein brillanter Wissenschaftler. Er hat wesentlich dazu beigetragen, die BOTSCHAFT zu entschlüsseln, und er würde sich im Kreis der anderen Alten gut amüsieren. Er hat doch nicht an der Entwicklung von Atomwaffen mitgearbeitet? Ich will niemand mitschicken, der mit Atomwaffen zu tun hatte. Ellie Arroway ist ebenfalls eine brillante Wissenschaftlerin. Sie leitet das Argus-Projekt, sie kennt die BOTSCHAFT in- und auswendig, und sie ist wißbegierig. Alle sagen, daß sie breitgefächerte Interessen hat. Und sie würde ein jüngeres Amerika repräsentieren.“ Die Präsidentin hielt inne. „Und Sie mögen sie, Ken. Da ist doch nichts dabei. Ich mag sie auch. Aber manchmal hat sie ein loses Mundwerk. Haben Sie bei Ihrer Befragung gut zugehört?“

„Ich glaube, ich weiß schon, welche Fragen Sie meinen, Frau Präsidentin. Aber das Auswahlkomitee hat sie fast acht Stunden befragt, und manchmal hat sie sich einfach über in ihren Augen dumme Fragen geärgert. Drumlin war nicht besser. Vielleicht hat sie das sogar von ihm. Sie hat eine Zeitlang bei ihm studiert, müssen Sie wissen.“

„Natürlich, auch er hat ein paar dumme Bemerkungen gemacht. Hier, angeblich wurde alles für uns auf Video aufgezeichnet. Zuerst Ellie Arroway und dann Drumlin. Drücken Sie die Play-Taste, Ken.“

Auf dem Bildschirm erschien Ellie, wie sie in ihrem Büro in Argus interviewt wurde. Der Heer konnte sogar den vergilbten Zettel mit dem Kafka-Zitat erkennen. Vielleicht wäre Ellie alles in allem glücklicher, wenn die Sterne geschwiegen hätten. Ein scharfer Zug lag um ihren Mund, und sie hatte Ringe unter den Augen. Eine neue senkrechte Falte zog sich von der Nasenwurzel zur Stirn. Auf der Videoaufzeichnung sah Ellie furchtbar müde aus, und Der Heer fühlte sich plötzlich schuldig.

„Was ich von der Weltbevölkerungskrise halte?“ fragte Ellie gerade. „Sie meinen, ob ich dafür oder dagegen bin? Sie halten das für eine der zentralen Fragen, die mir auf der Wega gestellt werden könnten, und wollen sich vergewissern, daß ich die richtige Antwort gebe? Also gut. Die Überbevölkerung ist der Grund, warum ich für Homosexualität und das Zölibat eintrete. Das Zölibat ist eine besonders gute Idee, weil dadurch eine erbliche Veranlagung der Priester zum Fanatismus ausgeschaltet wird.“

Ellies Gesicht erstarrte. Die Präsidentin hatte die Pause-Taste gedrückt.

„Ich gebe ja zu, daß manche Fragen nicht die intelligentesten waren“, sagte sie. „Aber in einem Projekt, das so positive Auswirkungen auf internationaler Ebene hat, wollen wir niemand an so exponierter Stelle, der sich als Rassist entpuppen könnte. In diesem Projekt wollen wir die Entwicklungsländer auf unserer Seite haben. Wir hatten guten Grund, die Frage zu stellen. Finden Sie nicht, daß Frau Arroways Antwort eine gewisse. Taktlosigkeit offenbart? Sie spielt ein bißchen die Neunmalkluge, Ihre Frau Dr. Arroway. Jetzt sehen Sie sich mal Drumlin an.“

Drumlin trug eine gepunktete Krawatte, war braun gebrannt und sah fit aus. „Ja, ich weiß, wir haben alle Gefühle“, sagte er, „aber wir müssen uns klar darüber sein, was Gefühle eigentlich sind. Sie waren der Motor für ein anpassungsfähiges Verhalten in einer Zeit, als wir noch zu dumm waren, bestimmte Dinge mit dem Verstand zu kapieren. Aber ich weiß sehr wohl, daß Gefahr im Verzug ist, wenn eine Meute von Hyänen mit gefletschten Zähnen auf mich zustürzt. Dazu brauche ich nicht erst einen Adrenalinstoß. Ich bin sogar imstande zu kapieren, daß es vielleicht wichtig ist, einige meiner genetischen Daten an die nächste Generation zu vererben. Ich brauche wirklich kein Testosteron im Blut, um zurechtzukommen. Glauben Sie denn ernsthaft, daß ein außerirdisches Wesen, das uns himmelweit voraus ist, mit Gefühlen belastet ist? Ich weiß, manche Leute halten mich für unterkühlt und gefühllos. Aber wenn Sie die Außerirdischen wirklich verstehen wollen, dann sollten Sie mich schicken. Sie werden niemand finden, der ihnen so sehr ähnelt wie ich.“

„Eine schöne Alternative“, sagte die Präsidentin. „Die eine ist Atheistin, und der andere hält sich jetzt schon für einen halben Wegianer. Warum kommen eigentlich nur Wissenschaftler in Frage? Können wir nicht jemand. ganz Normalen nehmen? Das ist nur eine rhetorische Frage“, fügte sie schnell hinzu. „Ich weiß natürlich, daß wir Wissenschaftler schicken müssen. Die BOTSCHAFT hat Wissenschaft zum Inhalt und ist in wissenschaftlicher Sprache geschrieben. Die Wissenschaft, das wissen wir, haben wir mit den Wesen auf der Wega gemein. Nein, das sind schon gute Gründe, Ken. Ich weiß das.“

„Frau Arroway ist keine Atheistin, sie ist Agnostikerin. Sie ist aufgeschlossen und nicht einem Dogma verhaftet. Sie ist intelligent, zäh und sehr routiniert. Sie verfügt über umfassende Kenntnisse. Sie ist genau die richtige in dieser Situation.“

„Ken, ich freue mich wirklich über Ihr Engagement, mit der sie auf ein gutes Ende dieses Projektes hinarbeiten. Aber ein Großteil der Erdbevölkerung hat große Angst. Und ich weiß ganz genau, wieviel diese Leute schon schlucken mußten. Mehr als die Hälfte von denen, mit denen ich gesprochen habe, glauben nicht, daß wir das Recht haben, dieses Ding zu bauen. Und wenn man schon nicht mehr zurück kann, dann wollen sie wenigstens jemand absolut Zuverlässigen schicken. Ellie Arroway mag all das sein, was Sie sagen, aber absolut zuverlässig ist sie nicht. Ich bekomme eine ganze Menge Druck vom Kongreß, den Erdpatrioten, meiner Partei und den Kirchen. Bei dem Treffen in Kalifornien hat sie zwar Palmer Joss beeindruckt, aber sie hat es auch fertig gebracht, Billy Jo Rankin total zu verärgern. Er hat mich gestern angerufen und gesagt: ‚Frau Präsidentin’ — er kann seinen Widerwillen, mich mit ‚Frau Präsidentin’ ansprechen zu müssen, kaum verbergen — ‚Frau Präsidentin’, sagte er also, ‚diese Maschine fliegt entweder direkt zu Gott oder zum Teufel. Und egal, zu wem von den beiden die Reise geht, Sie sollten auf jeden Fall einen aufrechten Christen erwählen.“ Er versuchte, seine Beziehung zu Palmer Joss auszuspielen, um mich im Namen Gottes unter Druck zu setzen. Aber er dachte ganz offensichtlich an sich selbst als möglichen Kandidaten. Drumlin wird für jemand wie Rankin wesentlich akzeptabler sein als Ellie Arroway.

Natürlich weiß ich genau, daß Drumlin ein kalter Fisch ist. Aber er ist verläßlich, patriotisch und gesund. Er hat einwandfreie Referenzen als Wissenschaftler. Und er möchte gerne gehen. Nein, es muß Drumlin sein. Ich kann Ellie Arroway höchstens als Ersatzperson nominieren.“

„Darf ich ihr die Nachricht überbringen?“

„Aber wir wollen Frau Arroway nicht vor Drumlin informieren, einverstanden? Ich werde es Sie wissen lassen, wenn die endgültige Entscheidung gefallen ist und Drumlin benachrichtigt ist. Ken, bitte seien Sie nicht traurig. Sie müßten sich doch wünschen, daß sie hier auf der Erde bleibt, oder?“

Es war schon nach sechs, als Ellie mit der Instruierung des „Tiger Team“ vom Außenministerium fertig war, das die Aufgabe hatte, den amerikanischen Unterhändlern in Paris den Rücken zu stärken. Der Heer hatte versprochen, sie anzurufen, sobald die Sitzung vorbei war. Er wollte, daß sie von ihm und niemand anderem erfuhr, ob die Wahl auf sie gefallen war. Den Leuten der Untersuchungskommission war sie nicht respektvoll genug gewesen, das wußte Ellie, und das war vielleicht auch der Grund, wenn sie unter einem Dutzend weiterer Bewerber unterlag. Trotzdem hatte sie vielleicht eine Chance.

Im Hotel fand sie eine Nachricht vor — nicht auf einem der rosafarbenen Formulare des Portiers für Anrufe, die während ihrer Abwesenheit gekommen waren, sondern ein versiegeltes, ungestempeltes, persönlich abgegebenes Kuvert. In dem Brief stand: „Treffen Sie mich heute abend um acht im Nationalmuseum für Wissenschaft und Technik. Palmer Joss.“

Keine Anrede, keine Erklärungen, keine weiteren Details, kein Gruß. Palmer war wirklich ein Mann des Glaubens. Er hatte das Briefpapier des Hotels benutzt und keinen Absender darauf vermerkt. Wahrscheinlich war er am Nachmittag vorbeigekommen, in der Erwartung, sie hier anzutreffen. Die Adresse hatte er wohl vom Außenminister persönlich erfahren. Heute war ein anstrengender Tag gewesen, und sie ärgerte sich über jeden Tag, an dem sie nicht an der Entschlüsselung der BOTSCHAFT weiterarbeiten konnte. Obwohl sie eigentlich nicht in der richtigen Stimmung war zu gehen, duschte sie, kaufte sich eine Tüte mit Cashewnüssen und saß eine dreiviertel Stunde später im Taxi. Es war eine Stunde vor Schließung, und das Museum war fast leer. In jeder Ecke der weiträumigen Eingangshalle standen riesige schwarze Maschinen, der Stolz der Schuhfabriken und der Textil- und Kohlenindustrie des 19. Jahrhunderts. Eine Dampfpfeifenorgel der Ausstellung von 1876 spielte für eine Touristengruppe aus Westafrika eine flotte Melodie, die ursprünglich wohl für Blasinstrumente komponiert worden war. Ellie konnte Joss nirgends entdecken. Am liebsten hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht. Wenn man mit Palmer Joss in diesem Museum verabredet war, überlegte sie, und das einzige, worüber man sich je unterhalten hatte, die Religion und die BOTSCHAFT waren, wo würde man ihn antreffen? Sie fühlte sich an das Problem der Frequenzwahl in der SETI-Forschung erinnert: Noch hatte man keine Botschaft von einer fortgeschrittenen Zivilisation empfangen, aber man mußte entscheiden, auf welchen Frequenzen diese Wesen — von denen man praktisch nichts wußte, nicht einmal, ob es sie überhaupt gab — senden würden. Das setzte gewisse Kenntnisse voraus, über die man auf beiden Seiten verfügen mußte. Beide kannten sicher das am häufigsten im Universum vorkommende Atom und die charakteristische Radiofrequenz, bei der es absorbierte und abstrahlte. Aufgrund dieser Logik hatte man die 1420- Megahertz-Wasserstoff-Linie von Anfang an in die SETIForschung mit einbezogen. Und was war in diesem Fall die Entsprechung? Alexander Graham Beils Telephon? Der Telegraph Marconis? — Natürlich.

„Gibt es in diesem Museum ein Foucault-Pendel?“ fragte Ellie einen Aufseher.

Ihre Absätze hallten laut auf dem Marmorboden, als sie auf die Rotunde zuging. Joss lehnte über dem Geländer und schaute sich die Mosaikdarstellung der vier Himmelsrichtungen an. Kleine senkrechte Markierungen bezeichneten die Stunden. Einige standen noch aufrecht, während die anderen offenbar von dem Pendelgewicht im Laufe des Tages umgeworfen worden waren. Gegen sieben hatte jemand das Pendel angehalten. Es hing jetzt bewegungslos nach unten. Palmer Joss hatte sie schon mindestens seit einer Minute kommen hören, aber nichts gesagt.

„Sind Sie zu dem Schluß gekommen, daß Gebete das Pendel stoppen können?“ fragte sie ihn mit einem Lächeln. „Das hieße den Glauben mißbrauchen“, erwiderte er. „Warum denn? Sie würden viele damit bekehren. Für Gott wäre es ein Leichtes, und wenn ich mich recht entsinne, sprechen Sie doch regelmäßig mit ihm. Nein, Sie wollen etwas anderes. Sie wollen bestimmt meinen Glauben an die Physik der harmonischen Oszillatoren auf die Probe stellen? Einverstanden.“

Ellie wunderte sich, daß Joss diesen Test mit ihr machen wollte, aber sie war entschlossen, mitzuspielen. Sie streifte Handtasche und Schuhe ab. Er setzte mit einem eleganten Sprung über die Sicherheitskette und half ihr, darüberzuklettern. Halb gingen, halb schlitterten sie die Schräge hinunter, bis sie neben dem Pendel standen. Es hatte eine matte, schwarze Oberfläche, und Ellie fragte sich, ob es aus Stahl oder Blei bestand.

„Sie müssen mir helfen“, sagte sie. Sie legte ihre Arme um das Pendel, und gemeinsam zerrten sie daran, bis es die Höhe von Ellies Gesicht erreicht hatte. Joss blickte sie prüfend an. Er fragte sie nicht, ob sie sich auch sicher war, er ermahnte sie nicht, ja nicht nach vorn zu fallen, und er belehrte sie nicht darüber, dem Pendel beim Loslassen eine horizontale Geschwindigkeitskomponente zu geben. Hinter ihr waren noch gut ein bis eineinhalb Meter ebener Boden, bevor sich die umgebende Wand sanft nach oben wölbte. Wenn sie einen klaren Kopf behielt, war es eine todsichere Sache.

Sie ließ los. Das Pendel schwang von ihr weg. Die Schwingungsdauer eines einfachen Pendels, dachte Ellie benommen, betrug 2, die Quadratwurzel aus L mal g, wobei L die Länge des Pendels und g die Beschleunigung entsprechend der Schwerkraft waren. Wegen der Reibungsverluste konnte das Pendel nie weiter als bis zu seinem Ausgangspunkt zurückschwingen. Ich darf mich nur nicht nach vorn neigen, schärfte sie sich ein, Nahe dem Geländer auf der anderen Seite verlangsamte das Pendel seinen Schwung und erreichte einen toten Punkt. Auf dem Weg zurück bewegte es sich viel schneller, als Ellie erwartet hatte. Je näher es auf sie zuschwang, desto größer wurde es. Riesig stand es plötzlich vor ihrem Gesicht. Sie zuckte zusammen.

„Ich habe mich bewegt“, sagte sie enttäuscht, als das Pendel wieder von ihr wegschwang. „Nur ein kleines bißchen.“

„Nein, ich habe mich bewegt.“

„Sie glauben wirklich. Sie glauben an die Wissenschaft. Sie haben nur einen ganz leisen Zweifel.“

„Nein, es ist etwas anderes. Hier haben eine Million Jahre Intellekt gegen eine Milliarde Jahre Instinkt angekämpft. Deshalb haben Sie es auch viel leichter als ich.“

„In dem Punkt haben wir es gleich schwer. Aber jetzt bin ich dran“, sagte er und zog das Pendel rasselnd bis zum höchsten Punkt der Bahn, die es durchmessen würde. „Aber Ihren Glauben an die Erhaltung der Energie testen wir nicht.“

Er lächelte und suchte mit seinen Füßen nach einem festen Halt.

„Was machen Sie denn da?“ fragte eine entrüstete Stimme über ihnen. „Sind Sie verrückt?“ Ein Museumswärter, der auf seinem Rundgang pflichtbewußt nachschaute, ob auch alle Besucher rechtzeitig das Museum verließen, stand vor dem ungewohnten Anblick eines Mannes und einer Frau, die in der Vertiefung vor dem Pendel in dem ansonsten völlig verlassenen Trakt des Gebäudes standen. „Oh, es ist alles in bester Ordnung“, entgegnete ihm Joss fröhlich. „Wir stellen nur unseren Glauben auf die Probe.“

„Das ist hier nicht erlaubt“, erwiderte der Wärter. „Es handelt sich hier um ein Museum.“

Joss und Ellie hielten das Pendel an und kletterten die schräge Steinwand hinauf.

„So etwas muß doch durch das Gesetz erlaubt sein“, sagte Ellie.

„Oder durch das erste Gebot“, meinte Joss. Ellie schlüpfte wieder in ihre Schuhe, hängte ihre Handtasche um und folgte mit hocherhobenem Kopf Joss und dem Wärter aus der Rotunde. Ohne sich zu erkennen zu geben oder erkannt zu werden, konnten sie ihm ausreden, sie beide unter Arrest zu stellen. Aber sie wurden von einer Phalanx uniformierter Museumsangestellter bis zur Tür geleitet, die fürchteten, Ellie und Joss könnten ihren seltsamen Gott als nächstes in der Dampfpfeifenorgel suchen.

Die Straße war menschenleer. Wortlos spazierten sie die Promenade entlang. Es war eine klare Nacht, und Ellie konnte die Leier ausfindig machen. „Der leuchtende Stern dort, das ist die Wega“, sagte sie. Joss betrachtete sie lange. „Die Entschlüsselung war eine brillante Leistung“, sagte er schließlich. „Ach, Unsinn. Es war geradezu trivial. Es war die einfachste Botschaft, die sich eine fortgeschrittene Zivilisation ausdenken konnte. Es wäre wirklich eine Schande gewesen, wenn wir nicht imstande gewesen wären, ihr auf die Spur zu kommen.“

„Mit Komplimenten werden Sie nicht besonders gut fertig, das habe ich schon gemerkt. Nein, das ist eine der Entdeckungen, die die Zukunft verändern. Zumindest unsere Erwartungen an die Zukunft. Wie die Entdeckung des Feuers, der Schrift oder des Ackerbaus. Oder Maria Verkündigung.“

Er schaute wieder hinauf zur Wega. „Wenn Sie einen Sitz in der Maschine bekämen und mit ihr zum Sender der BOTSCHAFT fliegen könnten, was glauben Sie, was Sie dort sehen würden?“

„Die Evolution ist ein stochastischer Prozeß. Es gibt zu viele Möglichkeiten, vernünftige Voraussagen über das Leben auf anderen Planeten zu machen. Wenn Sie die Erde vor dem Ursprung des Lebens gesehen hätten, hätten Sie dann eine Heuschrecke oder eine Giraffe vorhersehen können?“

„Aber ich kenne die Antwort auf diese Frage. Jetzt glauben Sie vermutlich, daß wir das alles erfinden, daß wir es in irgendwelchen Büchern gelesen oder an einer Gebetsstätte aufgeschnappt haben. Aber das stimmt nicht. Ich weiß die Antwort aus eigener Erfahrung, aus eigenem Erleben.

Deutlicher kann ich es nicht sagen. Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen.“

An der Aufrichtigkeit seines Geständnisses gab es keine Zweifel.

„Erzählen Sie mir davon.“ Da erzählte er ihr seine Geschichte.

„Gut“, sagte Ellie schließlich, „Sie waren klinisch tot, erwachten dann wieder zum Leben und erinnern sich, daß Sie durch die Finsternis nach oben zu einem hellen Licht aufstiegen. Sie sahen ein helles Strahlen, das die Form einer menschlichen Gestalt hatte und das Sie für Gott hielten. Aber nichts in Ihrem Erlebnis hat Ihnen gesagt, daß dieses Strahlen das Universum erschaffen oder die Gesetze der Moral geschrieben hat. Ein Erlebnis ist ein Erlebnis. Sie waren ohne Frage zutiefst davon erschüttert. Aber es gibt noch andere mögliche Erklärungen.“

„Zum Beispiel?“

„Vielleicht könnte man es mit der Geburt vergleichen. Bei der Geburt bahnt sich der Säugling einen Weg durch einen langen, dunklen Tunnel einem strahlend hellen Licht entgegen. Sie dürfen nicht vergessen, wie strahlend hell es ist — das Baby hat neun Monate im Dunkeln verbracht. Die Geburt bedeutet die erste Begegnung mit dem Licht. Stellen Sie sich nur vor, wie erstaunt und ehrfürchtig Sie sein würden, wenn Sie jetzt zum ersten Mal Farben, Licht, Schatten oder ein menschliches Gesicht sähen — das zu erkennen wir wahrscheinlich von Anfang an programmiert sind. Vielleicht springt der Kilometerzähler für einen kurzen Augenblick zurück auf Null, wenn man auf der Schwelle des Todes steht. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich bestehe keinesfalls auf dieser Erklärung. Es ist nur eine unter vielen Möglichkeiten. Ich möchte damit nur darauf hinweisen, daß Sie Ihr Erlebnis vielleicht falsch interpretiert haben.“

„Sie haben nicht gesehen, was ich gesehen habe.“ Wieder schaute er das kalte, blauweiß flackernde Licht der Wega an und dann Ellie.

„Fühlen Sie sich nicht manchmal. verloren in Ihrem Universum? Woher wissen Sie denn, was Sie tun sollen, wie Sie sich verhalten sollen, wenn es keinen Gott gibt? Einfach den Gesetzen gehorchen, weil man sonst eingesperrt wird?“

„Nicht diese Verlorenheit beunruhigt Sie, Palmer. Ihre größte Sorge ist, als Mensch nicht im Zentrum zu stehen und nicht der Grund zu sein, warum das Universum erschaffen wurde. In meinem Universum gibt es viele Ordnungssysteme. Die Gravitation, den Elektromagnetismus, die Quantenmechanik, die Weltformel, allem liegen Gesetze zugrunde. Und könnten wir nicht auch in Fragen der Ethik durch Nachdenken darauf kommen, was für uns als Menschen das Beste ist?“

„Das ist zweifellos eine warmherzige und noble Sicht der Welt, und ich bin der letzte, der abstreitet, daß die Menschen auch gut sein können. Aber wieviel Grausamkeit hat es in der Welt gegeben, als es die Liebe zu Gott nicht gab?“

„Und wieviel Grausamkeit, als es sie gab? Savonarola und Torquemada liebten Gott, haben sie zumindest behauptet. Ihre Religion geht davon aus, daß die Menschen Kinder sind und einen Schwarzen Mann brauchen, um im Zaum gehalten zu werden. Sie wollen, daß die Menschen an Gott glauben, damit sie den Gesetzen gehorchen. Das sind die einzigen Mittel, die Ihnen zur Verfügung stehen: eine strenge weltliche Polizei und die Androhung einer Bestrafung durch den alles sehenden Gott für das, was der Polizei entgeht. Sie verkaufen die Menschen für dumm.

Palmer, Sie glauben, weil ich Ihr religiöses Erweckungserlebnis nicht gehabt habe, könnte ich die Größe und Herrlichkeit Ihres Gottes nicht würdigen. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Ich höre Ihnen zu und dann denke ich mir: Sein Gott ist zu klein! Ein armseliger Planet, ein paar tausend Jahre — das lohnt kaum die Aufmerksamkeit durch eine unbedeutendere Gottheit und schon gar nicht die des Schöpfers des Universums.“

„Jetzt werfen Sie mich aber mit anderen Predigern in einen Topf. Das Museum in Modesto war Bruder Rankins Territorium. Ich bin bereit, ein Universum anzuerkennen, das Milliarden von Jahren alt ist. Ich behaupte nur, daß die Wissenschaftler es noch nicht bewiesen haben.“

„Und ich behaupte, daß Sie den Beweis noch nicht verstanden haben. Worin liegt der Nutzen für die Menschen, wenn die traditionelle Gelehrsamkeit, die religiösen ‚Wahrheiten’ Lügen sind? Wenn Sie wirklich glauben, daß Sie es mit erwachsenen Menschen zu tun haben, dann müssen Sie anders predigen.“

Beide schwiegen, und für eine Weile war nur das Geräusch ihrer Schritte auf dem Gehsteig zu vernehmen. „Entschuldigen Sie, daß ich so heftig war“, sagte Ellie. „Das passiert mir einfach von Zeit zu Zeit.“

„Ich gebe Ihnen mein Wort, Frau Dr. Arroway, ich werde gründlich darüber nachdenken, was Sie heute abend gesagt haben. Sie haben einige Fragen in den Raum gestellt, auf die ich eigentlich eine Antwort haben sollte. Aber darf auch ich Ihnen noch einige Fragen stellen?“

Sie nickte, und er fuhr fort: „Was bedeutet Ihnen Ihr Bewußtsein, jetzt gerade in dieser Minute? Fühlt es sich wie eine Milliarde winziger tanzender Atome an? Und von biologischen Gesetzmäßigkeiten einmal abgesehen, wo in der Wissenschaft kann ein Kind lernen, was Liebe ist? Da — “ Ellies Piepser gab einen kurzen Summ ton. Es war wahrscheinlich die Nachricht von Ken, auf die sie schon die ganze Zeit gewartet hatte. Dann mußte es eine sehr lange Sitzung für ihn gewesen sein. Vielleicht hatte er trotzdem gute Nachricht für sie. Sie schaute auf die Buchstaben und Zahlen, die auf der Digitalanzeige erschienen: Die Nummer von Kens Büro. Nirgends war eine öffentliche Telephonzelle zu sehen, aber schon nach wenigen Minuten konnten sie ein Taxi anhalten. „Es tut mir wirklich leid, daß ich so plötzlich aufbrechen muß“, entschuldigte sich Ellie. „Ich habe mich sehr über unser Gespräch gefreut und ich werde auch ernsthaft über Ihre Fragen nachdenken. Haben Sie noch eine?“

„Ja. Inwiefern hält die Wissenschaft Wissenschaftler davon ab, Böses zu tun?“

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