Beim Anblick der Sterne verfalle ich ins Träumen, genauso wie ich bei den schwarzen Punkten ins Träumen komme, die auf einer Landkarte Städte und Dörfer markieren. Warum, frage ich mich, sollten die leuchtenden Punkte am Himmel nicht genauso erreichbar sein wie die schwarzen Punkte auf der Landkarte von Frankreich.
Es war ein strahlender Herbstnachmittag und so ungewöhnlich warm für die Jahreszeit, daß Devi Sukhavati ihren Mantel im Hotel gelassen hatte. Ellie und Devi Sukhavati schlenderten auf den bevölkerten Champs-Elysees in Richtung Place de la Concorde. Ein solch buntes Völkergemisch sah man sonst nur noch in London, Manhattan und wenigen anderen Großstädten der Erde. Zwei Frauen, die Arm in Arm gingen und von denen die eine Rock und Pullover und die andere einen Sari trug, fielen hier überhaupt nicht auf. Vor einem Tabakladen standen in einer langen, ordentlichen Schlange Menschen, die in allen möglichen Sprachen durcheinander redeten; seit einer Woche war der Verkauf von Haschischzigaretten aus den Vereinigten Staaten legalisiert. Das französische Gesetz verbot nur den Verkauf an Jugendliche unter achtzehn. Die meisten in der Schlange waren deshalb mittleren Alters oder älter. Einige waren wahrscheinlich naturalisierte Algerier oder Marokkaner.
Besonders starke Hanfsorten für den Export wurden hauptsächlich in Kalifornien und Oregon angebaut. In dem Tabakladen wurde eine neue Sorte angepriesen, die mit ultraviolettem Licht bestrahlt worden war, wodurch sich die inaktiven Cannabinoide in Delta-1 Isomere verwandelt hatten. Die Sorte hieß „Sonnenkuß“. Auf der anderthalb Meter großen Riesenpackung im Schaufenster stand in Französisch der Slogan: „Das wird Ihnen im Paradies abgezogen“. Die Schaufenster auf dem Boulevard prangten in den schreiendsten Farben, Die zwei Frauen kauften bei einem Straßenhändler eine Tüte Kastanien und schwelgten in deren Duft und Geschmack. Immer wenn Ellie eine Reklame für die BNP, die Banque Nationale de Paris, sah, las sie aus einem unerfindlichen Grund das russische Wort für Bier, in dem nur der mittlere Buchstabe von links nach rechts gedreht war. Hier gibt es Bier, schienen die Buchstaben zu sagen, die bis vor kurzem noch für eine seriöse Bank geworben hatten, russisches Bier. Der Kontrast amüsierte sie, und nur mit Mühe konnte sie den für das Lesen zuständigen Teil ihres Gehirns davon überzeugen, daß es sich um das lateinische, nicht das kyrillische Alphabet handelte. Ein Stück weiter bewunderten sie den Obelisken — eine antike militärische Gedenksäule, deren Diebstahl teuer bezahlt worden war, damit eine moderne militärische Gedenksäule daraus hatte werden können. Sie gingen weiter.
Der Heer hatte die Verabredung mit Ellie abgesagt, zumindest war es darauf hinausgelaufen. Er hatte sie am Morgen angerufen und sich entschuldigt, aber keinen besonders niedergeschlagenen Eindruck gemacht. Die Plenarsitzung habe so viele politische Probleme aufgeworfen, die vordringlich besprochen werden müßten. Der Außenminister würde seinen Aufenthalt auf Kuba unterbrechen und morgen nach Paris kommen. Er habe alle Hände voll zu tun, und er hoffe, Ellie habe dafür Verständnis. Sie hatte. Und sie haßte sich dafür, daß sie immer noch mit ihm schlief. Um den Nachmittag nicht allein verbringen zu müssen, hatte sie Devi Sukhavati angerufen.
„Eines der Wörter für siegreich in Sanskrit ist abhijit. So hieß im alten Indien auch die Wega. Abhijit. Unter dem Einfluß der Wega bezwangen die Hindugötter, die Helden unserer Kultur, die Asuras, die Götter des Bösen. Ellie, hören Sie mir überhaupt zu?. Kurioserweise gibt es auch in Persien Asuras. Aber in Persien sind sie die Götter des Guten. Dann entwickelten sich Religionen, in denen der höchste Gott, der Gott des Lichtes oder Sonnengott, Ahura-Masda hieß. Zum Beispiel der Zoroastrismus und der Mithraskult. Ahura und Asura bedeuten dasselbe. Anhänger des Zoroastrismus gibt es heute noch, und die Anhänger des Mithraskultes haben den frühen Christen einen gehörigen Schrecken eingejagt. Aber in jener Geschichte werden die Hindugötter, die übrigens vornehmlich weiblich sind, Devis genannt. Daher kommt auch mein eigener Name. In Indien sind die Devis Götter des Guten. In Persien wurden sie zu Göttern des Bösen. Einige Gelehrte glauben, daß das englische Wort devil hier seinen Ursprung hat. Die Entsprechungen gehen quer durch die Sprachen. Wahrscheinlich liegt dem allen eine vage Erinnerung an die Invasion der Arier zugrunde, die die Drawiden, meine Vorfahren, in den Süden verdrängten. Also, je nachdem, auf welcher Seite der Kirthar-Kette man lebt, unterstützt die Wega entweder Gott oder den Teufel.“ Offenbar hatte Devi von Ellies religiösen Abenteuern in Kalifornien gehört und wollte sie jetzt mit dieser lustigen Geschichte unterhalten. Ellie war ihr dafür dankbar. Aber es erinnerte sie auch daran, daß sie Joss gegenüber die Möglichkeit, daß die BOTSCHAFT der Konstruktionsplan für eine Maschine mit unbekanntem Zweck sein könnte, nicht einmal erwähnt hatte. Jetzt würde er es durch die Medien erfahren. Eigentlich hätte sie ihn anrufen und ihm die neuesten Entwicklungen erklären müssen. Aber Joss hatte sich laut Presseberichten an einen abgeschiedenen Ort zurückgezogen. Er hatte nach ihrer Zusammenkunft in Modesto keine öffentliche Erklärung abgegeben. Rankin hatte in einer Pressekonferenz verkündet, daß er trotz aller Gefahren nichts dagegen einzuwenden hätte, wenn Wissenschaftler die BOTSCHAFT empfingen. Mit der Übersetzung sei es allerdings etwas anderes. Hier sei seiner Meinung nach die regelmäßige Überwachung durch alle Schichten der Gesellschaft erforderlich, vor allem durch jene, die mit der Wahrung der geistigen und moralischen Werte betraut seien, Sie kamen jetzt in die Tuilerien, die in herbstlichen Farben leuchteten. Drei alte, gebrechliche Männer — dem Aussehen nach zu schließen Südostasier — führten einen erregten Wortwechsel. Die alten schmiedeeisernen Tore waren geschmückt mit bunten, zum Verkauf angebotenen Luftballons. In der Mitte eines Wasserbeckens stand eine marmorne Statue der Amphitrite. Um sie herum schaukelten kleine Segelschiffe im Wasser, mit denen eine ausgelassene Schar kleiner Jungen und Mädchen die Erdumsegelung Magellans probte. Plötzlich schoß ein dicker Wels aus dem Wasser und brachte die Boote zum Kentern. Die Kinder erschraken über die völlig unerwartete Erscheinung und verstummten. Die Sonne stand schon tief im Westen, und Ellie fröstelte leicht. Sie gingen weiter zur Orangerie, in deren Nebengebäude eine Sonderausstellung stattfand. „Bilder vom Mars“ verkündete das Plakat. Die auf den Mars gebrachten Fahrzeuge, ein Gemeinschaftsprojekt der Vereinigten Staaten, Frankreichs und der Sowjetunion, hatten völlig unerwartet spektakuläre Farbaufnahmen zur Erde gefunkt. Einige davon waren wie die 1980 gesendeten Bilder des Voyager vom äußeren Sonnensystem nicht nur von wissenschaftlichem Nutzen, sondern darüber hinaus von solcher Schönheit, daß sie Kunstwerken gleichkamen. Das Ausstellungsplakat zeigte eine Landschaft, die auf dem riesigen Elysium-Plateau photographiert worden war. Im Vordergrund sah man eine dreiseitige Pyramide. Sie war alt und verwittert und zeigte dicht über dem Boden einen Einschlagkrater. Nach Ansicht der Experten war sie in Jahrmillionen von den Marswinden wie durch ein Sandstrahlgebläse geformt worden. Ein zweites Fahrzeug war im Bereich Cydonia auf der anderen Seite des Mars in einer Wanderdüne steckengeblieben, und das Kontrollzentrum in Pasadena war bisher nicht in der Lage gewesen, auf die verzweifelten Hilferufe zu reagieren. Ellie war von Devis Erscheinung, von ihren großen schwarzen Augen, ihrer geraden Haltung und dem prächtigen Sari fasziniert. So gut sah sie selbst nicht aus, mußte sie sich gestehen. Sonst konnte sie immer ihren Teil zu einer Unterhaltung beitragen, auch wenn sie mit ihren Gedanken ganz woanders war. Aber heute tat sie sich schwer, auch nur einem Gedanken zu folgen, von zweien ganz zu schweigen. Während sie über den Streit diskutierten, der um den Bau der Maschine entbrannt war, mußte sie immer wieder an die Invasion der Arier in Indien vor 3500 Jahren denken, von der Devi gesprochen hatte: ein Krieg zweier Völker, die beide den Sieg für sich beansprucht und ihre historischen Berichte dementsprechend patriotisch zurechtgebogen hatten. Zuletzt wurde die Geschichte dann zu einem Krieg der Götter umgestaltet. „Unsere“ Seite war natürlich die gute. Die andere Seite die böse. Ellie malte sich aus, wie der spitzbärtige Teufel des Westens mit Schwanz und Pferdefuß sich langsam aus seinem hinduistischen Vorfahren entwickelt hatte, der, soweit sie wußte, den Kopf eines Elefanten hatte und blau angemalt war.
„Vielleicht ist Barudas Idee vom Trojanischen Pferd gar nicht so abwegig“, sagte sie. „Aber, wie Xi gesagt hat, wir haben keine Wahl. Wenn sie wollen, können sie tatsächlich in gut zwanzig Jahren hiersein.“
Sie waren bei dem monumentalen Bogen im römischen Stil angekommen, den die heroisch verklärte Statue Napoleons krönte, der einen Triumphwagen lenkte. Wie kläglich mußte diese Pose aus der Ferne, also aus extraterrestrischer Sicht, wirken. Sie setzten sich auf eine Bank, und ihre langen Schatten fielen auf ein Blumenbeet, das in den Farben der französischen Republik bepflanzt war. Ellie hätte zu gern über ihre privaten Probleme gesprochen, aber sie fürchtete politische Folgen und wollte nicht indiskret sein. Sie kannte Devi Sukhavati nicht besonders gut. Deshalb ermutigte sie ihre Begleiterin, von sich zu erzählen. Devi ging bereitwillig darauf ein.
Sie war in eine brahmanische, allerdings nicht sehr wohlhabende Familie mit matriarchalischen Strukturen hineingeboren worden. In dem südindischen Bundesstaat Tamil Nadu waren matriarchalische Haushalte noch immer verbreitet. Dann hatte sie an der Hinduuniversität von Benares Medizin studiert. In England lernte sie Surindar Ghosh kennen, einen Kommilitonen, in den sie sich über alles verliebte. Aber Surindar war ein Unberührbarer. Er gehörte zu einer Kaste, vor der man sich so sehr ekelte, daß der bloße Anblick eines zu ihr gehörenden Menschen für einen orthodoxen Brahmanen als Beschmutzung galt. Surindars Vorfahren waren gezwungen gewesen, ihr Leben während der Nacht zu führen, wie die Fledermäuse und Eulen. Devis Familie drohte, sie zu enterben, wenn sie ihn heiratete. Ihr Vater erklärte, daß er keine Tochter habe, die solch eine Verbindung in Erwägung ziehe. Wenn sie Ghosh heirate, würde er um sie wie um eine Tote trauern. Sie heiratete ihn trotzdem. „Wir liebten uns zu sehr“, sagte sie.
„Ich konnte nicht anders.“ Ein Jahr später war er an einer Blutvergiftung gestorben, die er sich bei einer unzureichend beaufsichtigten Autopsie zugezogen hatte.
Statt sich mit ihrer Familie zu versöhnen, kam es nach Surindars Tod zum endgültigen Bruch. Nach Abschluß ihres Medizinstudiums beschloß Devi, in England zu bleiben. Ihr Studium führte sie wie von selbst zur Molekularbiologie, für die sie ein besonderes Interesse hatte. Bald stellte sich heraus, daß sie eine wirkliche Begabung für diese Disziplin, in der es auf größte Genauigkeit ankam, besaß. Die Kenntnis der Nukleinsäurereplikation führte sie zu Forschungen über den Ursprung des Lebens, und das wiederum brachte sie darauf, Leben auch auf anderen Planeten zu vermuten. „Man könnte sagen, daß sich meine wissenschaftliche Karriere ganz zwanglos ergeben hat. Eines ergab sich aus dem anderen.“
In letzter Zeit hatte sie an der Erforschung organischer Substanzen vom Mars gearbeitet, zu denen Messungen jener Fahrzeuge vorlagen, von denen auch das überwältigende Bildmaterial der Ausstellung stammte. Devi hatte nicht wieder geheiratet, obwohl ihr, wie sie durchblicken ließ, einige Männer den Hof machten. In letzter Zeit war sie mit einem Wissenschaftler aus Bombay befreundet gewesen, den sie einen „Computerwallach“ nannte.
Sie standen auf und schlenderten weiter in den Cour Napoleon, den Innenhof des Louvre. In der Mitte war der gerade erst vollendete, heftig umstrittene pyramidenförmige Eingang zum Museum zu sehen, und rund um den Hof waren in hochgelegenen Nischen Skulpturen der Helden Frankreichs aufgestellt. Unter jeder Statue stand der Name des geehrten Mannes — Frauen waren kaum darunter. In dem einen oder anderen Fall waren die Buchstaben verwittert, oder vielleicht von Passanten, die sich darüber aufgeregt hatten, weggekratzt worden. Bei einigen Statuen war es fast unmöglich, den Namen zu rekonstruieren, um herauszufinden, wer der große Gelehrte war. Bei einer, die offensichtlich am meisten Unmut in der Öffentlichkeit hervorgerufen hatte, waren nur noch die Buchstaben LTA übriggeblieben. Die Sonne ging unter, und es wurde kühl. Obwohl der Louvre noch geöffnet hatte, gingen sie nicht hinein, sondern spazierten am Quai d’Orsay das Seineufer entlang. An den Bücherständen wurden die Rolläden heruntergelassen und das Geschäft für den Tag geschlossen. Sie schlenderten weiter, nach europäischer Manier untergehakt. Nur wenige Schritte vor ihnen ging ein französisches Ehepaar mit seiner kleinen Tochter. Vater und Mutter hielten die Kleine an den Händen und schwangen sie immer wieder hoch in die Luft. Und das Kind jauchzte jedesmal vor Vergnügen, wenn es den Boden unter den Füßen verlor. Die Eltern unterhielten sich währenddessen über das Weltkonsortium. Das war sicher kein Zufall, da in den Zeitungen über fast nichts anderes mehr berichtet wurde. Der Vater war für den Bau der Maschine, denn vielleicht wurden dabei neue Technologien entwickelt und in Frankreich neue Arbeitsplätze geschaffen. Die Mutter war vorsichtiger, konnte ihre Gründe aber nur schwer in Worte fassen. Der kleinen Tochter mit ihren fliegenden Zöpfen dagegen war es völlig egal, was die Erwachsenen mit den Konstruktionsplänen von einem anderen Stern anfingen.
Der Heer, Kitz und Honicutt hatten für den nächsten Tag frühmorgens eine Sitzung in der amerikanischen Botschaft anberaumt, um sich auf die Ankunft des amerikanischen Außenministers am gleichen Tag vorzubereiten. Die Sitzung war geheim und wurde im „Schwarzen Zimmer“ der Botschaft abgehalten, das elektromagnetisch von der Außenweit abgeschirmt war, eine Vorsichtsmaßnahme, die selbst die raffiniertesten elektronischen Abhörgeräte wirkungslos machte. Zumindest behauptete man das. Aber vielleicht, dachte Ellie, entwickelte man einmal Instrumente, die diesem Hin und Her von Vorsichtsmaßnahmen ein Ende setzten.
Sie hatte die Nachricht am Abend nach ihrem Treffen mit Devi Sukhavati in ihrem Hotel vorgefunden. Sie hatte versucht, Der Heer anzurufen, hatte aber nur Michael Kitz erreichen können. Sie lehne eine geheime Sitzung über dieses Thema ab, hatte sie ihm gesagt, und zwar prinzipiell. Die BOTSCHAFT richte sich eindeutig an alle Bewohner des Planeten. Kitz hielt ihr entgegen, daß dem Rest der Welt keinerlei Datenmaterial vorenthalten werde, zumindest nicht von den Amerikanern. Das Treffen habe nur beratende Funktion, um die Vereinigten Staaten bei den bevorstehenden Verhandlungen über das weitere Verfahren zu unterstützen. Er appellierte an ihren Patriotismus und ihr Eigeninteresse, und zu guter Letzt führte er die Hadden Decision ins Feld. „Soviel ich weiß, liegt dieses Ding noch immer ungelesen in Ihrem Safe“, sagte er mit Nachdruck. Wieder versuchte Ellie, Der Heer zu erreichen, und wieder hatte sie keinen Erfolg. Zuerst lief einem dieser Mann wie ein falscher Fünfziger überall in Argus über den Weg. Dann zog er bei einem in die Wohnung ein. Man glaubte, daß man zum ersten Mal richtig verliebt war. Und im nächsten Augenblick konnte man ihn noch nicht einmal mehr ans Telephon bekommen. Sie beschloß, zu dem Treffen zu gehen, und wenn deshalb, um Ken von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen.
Kitz setzte sich begeistert für den Bau der Maschine ein, Drumlin befürwortete ihn vorsichtig, Der Heer und Honicutt gaben sich zumindest nach außen neutral und Valerian kämpfte noch um eine Entscheidung. Kitz und Drumlin sprachen sogar schon darüber, wo man das Ding bauen könnte. Allein die Frachtkosten machten die Herstellung oder auch nur die Montage auf der Rückseite des Mondes untragbar teuer, wie Xi bereits vermutet hatte.
„Wenn wir mit einer aerodynamischen Bremse arbeiten, ist es billiger, ein Kilo zum Phobos oder Demos zu schicken als auf die Rückseite des Mondes“, meinte Bobby Bui. „Wer zum Teufel sind Phobos und Demos?“ wollte Kitz wissen.
„Die Monde des Mars. Ich sprach über eine aerodynamische Bremse unter den atmosphärischen Bedingungen des Mars.“
„Und wie lange braucht man, um bis zum Phobos oder Demos zu kommen?“ fragte Drumlin und rührte heftig in seiner Kaffeetasse.
„Vielleicht ein Jahr, aber sobald wir eine Flotte interplanetarer Transportfahrzeuge haben und die Pipeline gefüllt ist — “
„Verglichen mit drei Tagen zum Mond?“ Drumlins Kaffee schwappte über. „Hören Sie auf, unsere kostbare Zeit zu verschwenden.“
„Das war doch nur ein Vorschlag“, wehrte er sich. „Zum Nachdenken.“
Der Heer war ungeduldig und nicht richtig bei der Sache. Er stand deutlich unter großem Druck — immer wieder wich er ihren Augen aus, und dann sah er sie wieder flehentlich an. Vielleicht gab es doch noch Hoffnung. „Wenn Sie befürchten, daß die Maschine die Erde zerstören könnte“, sagte Drumlin, „dann müssen Sie sich auch überlegen, wo die Energie dafür herkommen soll. Wenn eine solche Maschine nicht über riesige Energien verfügt, kann sie die Erde nicht zerstören. Solange also die Anweisungen nicht einen Atomreaktor im Gigawattbereich vorschreiben, glaube ich nicht, daß wir uns deswegen Sorgen zu machen brauchen.“
„Warum sind Sie eigentlich so schnell bereit, die Maschine zu bauen?“ fragte Ellie. Die Frage war an Kitz und Drumlin gerichtet, die mit einem Teller Croissants zwischen sich nebeneinandersaßen.
Kitz schaute zuerst Honicutt und dann Der Heer an, bevor er antwortete. „Dies ist eine geheime Sitzung“, begann er. „Wir wissen, daß Sie Ihren russischen Freunden nichts von dem weitergeben, was hier besprochen wird. Die Sache ist die: Wir wissen noch nichts über den Zweck der Maschine, aber aus Dave Drumlins Analysen geht eindeutig hervor, daß neue Technologien in ihr stecken, vielleicht sogar ganze neue Industrien. Der Bau der Maschine ist daher von großem wirtschaftlichen Interesse — ich meine, wir können sicher viel daraus lernen. Vielleicht auch in militärischer Hinsicht. Davon sind zumindest die Russen überzeugt. Sehen Sie, die Russen sitzen in der Klemme. Hier eröffnet sich ein völlig neues Gebiet der technologischen Entwicklung, auf dem sie mit den USA mithalten müßten. Die BOTSCHAFT könnte ja Anweisungen für eine Waffe enthalten, die dem, der sie hat, einen entscheidenden Vorteil sichert. Oder aber sie verhilft zu einem bedeutenden wirtschaftlichen Vorsprung. Die Russen wissen es nicht. Der Bau der Maschine würde ihre Wirtschaft ruinieren. Haben Sie nicht bemerkt, wie Baruda immer wieder auf die Kosten-Nutzen-Relation hinwies? Wenn es die BOTSCHAFT überhaupt nicht gäbe, wenn die Daten verbrannt und die Teleskope zerstört würden, dann könnten die Russen das militärische Gleichgewicht aufrechterhalten. Deshalb sind sie so vorsichtig. Und deshalb sind wir natürlich so dahinter her.“ Kitz lächelte. Kitz war ein farbloses Temperament, dachte Ellie, aber er war alles andere als dumm. Wenn er sich kühl und verschlossen gab, schreckte er die Menschen ab. Deshalb hatte er sich im Laufe der Zeit eine Fassade weltmännischer Gewandtheit zugelegt. Ellie ließ sich davon nicht täuschen. „Jetzt möchte ich Ihnen eine Frage stellen“, fuhr er fort. „Haben Sie Barudas Bemerkung mitbekommen,
daß einige Daten zurückgehalten werden? Fehlen tatsächlich Daten?“
„Nur einige vom Anfang“, erwiderte sie. „Ich glaube, nur ein paar aus den allerersten Wochen. Bei den Chinesen gab es kurz danach noch einige Lücken. Und alle Länder haben noch ein paar Daten, die noch nicht ausgetauscht worden sind. Aber ich sehe keine Anzeichen dafür, daß jemand Daten für sich behält. Wir werden sowieso alle fehlenden Teile auffangen, wenn die BOTSCHAFT wiederholt wird.“
„Wenn sie wiederholt wird“, brummte Drumlin. Der Heer brachte die Diskussion darauf, wie man sich verhalten solle, wenn der Fall eine unvorhergesehene Wendung nahm. Was wollte man tun, wenn tatsächlich der Schlüssel zum Code gesendet wurde? Welche amerikanischen, deutschen und japanischen Industrien waren frühzeitig über größere Entwicklungsvorhaben zu verständigen? Wie sollte man feststellen, welche Wissenschaftler und Ingenieure die richtigen für den Bau der Maschine waren, wenn man sich erst einmal dazu entschlossen hatte? Und nicht zuletzt ging es auch darum, den Kongreß und die amerikanische Öffentlichkeit für das Projekt zu begeistern. Der Heer fügte hastig hinzu, daß dies alles nur Möglichkeiten waren, die es durchzuspielen galt, daß noch keine endgültige Entscheidung getroffen sei und daß die sowjetischen Sorgen, es könne sich um eine Art Trojanisches Pferd handeln, zumindest teilweise durchaus begründet seien.
Kitz fragte nach der Zusammensetzung der Besatzung für die Maschine. „Der Plan sieht vor, daß wir Menschen in die fünf Sessel setzen. Wer kommt dafür in Frage? Und wie soll man das entscheiden? Es müßte eine internationale Crew sein. Wie viele Amerikaner? Wie viele Russen? Wer noch? Wir wissen nicht, was mit diesen fünf Menschen passiert, wenn sie sich in die Sessel setzen, aber wir wollen nur die besten Männer für diesen Auftrag.“
Ellie reagierte nicht auf Kitz’ Provokation, und er sprach weiter: „Im Moment ist eine wichtige Frage, wer wofür bezahlt, wer was baut und wer sich um die Systemintegration kümmert. Ich glaube, wir können hier einen Kuhhandel machen im Austausch gegen eine größere amerikanische Vertretung in der Besatzung.“
„Aber wir wollen nur die Besten schicken“, protestierte Der Heer etwas zu auffällig.
„Sicher“, erwiderte Kitz, „aber was heißt ‚die Besten’? Wissenschaftler? Spezialisten der militärischen Spionageabwehr? Brauchen wir Körperkraft und Durchhaltevermögen? Patriotismus? Übrigens kein anrüchiges Wort. Und dann “ — er deutete mit dem Messer, mit dem er sich gerade ein Croissant mit Butter bestrich, auf Ellie — „stellt sich noch die Frage des Geschlechts. Der Geschlechter, meine ich. Schicken wir nur Männer? Wenn wir Männer und Frauen schicken, dann sind die einen in der Überzahl. Es gibt fünf Plätze, eine ungerade Zahl. Kommen alle Mitglieder der Crew gut miteinander aus? Wenn wir unser Projekt weiterverfolgen, stehen uns eine ganze Reihe harter Verhandlungen bevor.“
„Was Sie sagen, finde ich nicht richtig“, sagte Ellie. „Hier geht es nicht um einen politischen Posten, den man sich mit einer Wahlspende erkaufen kann. Das hier ist eine ernste Angelegenheit. Oder wollen Sie einen Muskelprotz da hinaufschicken? Oder Kinder von zwanzig Jahren, die keine Ahnung vom Leben haben — die nur wissen, wie man einen anständigen Hundertmetersprint hinlegt und Befehlen gehorcht? Oder einen politischen Ehrgeizling? Darum kann es bei einer solchen Reise nicht gehen.“
„Sie haben recht“, antwortete Kitz lächelnd. „Aber ich glaube, wir finden schon die Leute, die alle unsere Kriterien erfüllen.“
Der Heer, der mit seinen dunklen Rändern unter den Augen fast abgehärmt aussah, beendete die Sitzung. Als er an Ellie vorbeikam, lächelte er ihr kurz zu, aber es waren nur seine Lippen, die lächelten, der Mund öffnete sich nicht. Draußen warteten schon die Limousinen der Botschaft, die sie in den Elysee-Palast zurückbringen sollten.
„Ich werde Ihnen sagen, warum es besser ist, nur Russen zu schicken“ erklärte Waygay. „Als eure Vorfahren, die Pioniere, die Trapper, die indianischen Scouts usw. den amerikanischen Kontinent erschlossen haben, hat euch keiner Widerstand geleistet, zumindest niemand, der über den gleichen Stand der Technik verfügt hätte. Im Sturmschritt habt ihr euren Kontinent vom Atlantik bis zum Pazifik in Besitz genommen. Und nach einer gewissen Zeit seid ihr fest davon ausgegangen, daß alles so einfach ist. Bei uns war das ganz anders. Wir wurden von den Mongolen besiegt. Ihre Reitertechnik war der unseren weit überlegen. Und als wir uns Richtung Osten ausbreiteten, waren wir sehr vorsichtig. Wenn wir unbekanntes Land durchquerten, erwarteten wir nie, daß es einfach war. Wir sind auf Feindseligkeiten viel mehr eingestellt als ihr. Außerdem haben die Amerikaner sich daran gewöhnt, technisch einen Vorsprung zu haben. Und wir sind es gewöhnt, technisch ständig aufholen zu müssen. Aber vor der BOTSCHAFT ist jeder auf der Erde ein Russe — Sie verstehen, ich meine, angesichts des jetzigen Standes der technischen Entwicklung auf der Erde. Deshalb braucht diese Mission die Russen mehr als die Amerikaner.“ Wenn sich Waygay mit Ellie allein traf, bedeutete das immer ein gewisses Risiko für ihn — und für Ellie auch, wie Kitz ihr überdeutlich zu verstehen gegeben hatte. Hin und wieder bekam Waygay auf einer wissenschaftlichen Tagung in Amerika oder Europa die Erlaubnis, einen Nachmittag mit ihr zu verbringen. Meistens begleitete ihn ein Babysitter vom KGB, der als Übersetzer vorgestellt wurde, auch wenn sein Englisch viel schlechter war als Waygays, oder als wissenschaftlicher Mitarbeiter irgendeines Ausschusses der Akademie, obwohl sich seine wissenschaftlichen Kenntnisse oft als sehr oberflächlich entpuppten. Waygay schüttelte nur den Kopf, wenn sie ihn über diese Leute ausfragte. Aber im großen und ganzen betrachtete er die Babysitter als einen Teil des Spiels, als den Preis, den man dafür bezahlen mußte, daß man in den Westen ausreisen durfte. Und mehr als einmal glaubte Ellie, einen liebevollen Klang in Waygays Stimme zu hören, wenn er mit dem Babysitter sprach. In ein fremdes Land zu kommen und so zu tun, als sei man Experte auf einem Gebiet, von dem man fast keine Ahnung hatte, mußte Angst machen. Vielleicht war den Babysittern ihre Aufgabe in ihrem innersten Herzen genauso zuwider wie Waygay. Sie saßen am selben Fenstertisch im Chez Dieux wie das letzte Mal. Draußen wehte ein kühler Wind, der Winter schickte seine Vorboten. Der junge Mann, der an den Fässern mit den eisgekühlten Austern vor dem Fenster vorbeischritt, trug als einziges Zugeständnis an den kalten Spaziergang einen langen blauen Schal. Aus Lunatscharski s wiederholten und für ihn gar nicht typischen vorsichtigen Bemerkungen schloß Ellie auf Verwirrung in der sowjetischen Delegation. Die Russen befürchteten, daß die Maschine in dem seit fünf Jahrzehnten anhaltenden Wettstreit zum strategischen Vorteil der Vereinigten Staaten ausschlagen könnte. Freilich war Waygay schockiert gewesen, als Baruda von der Möglichkeit gesprochen hatte, die Daten zu verbrennen und die Radioteleskope zu vernichten. Er war vorher nicht über Barudas Position informiert gewesen. Die Russen hatten beim Zusammentragen der einzelnen Seiten der BOTSCHAFT eine entscheidende Rolle gespielt, da sie von allen Nationen die längsten Empfangsstrecken abdeckten, wie Waygay betonte, und sie verfügten über die einzigen wirklich brauchbaren Hochseeradioteleskope. Sie erwarteten deshalb, daß sie auch beim nächsten Schritt eine größere Rolle spielen würden. Ellie versicherte ihm, daß sie, soweit es nach ihr ging, diese Rolle auch spielen sollten. „Hören Sie mal, Waygay, auf der Wega weiß man durch unsere Fernsehübertragungen, daß sich die Erde dreht und daß es viele verschiedene Nationen gibt. Das konnten sie allein aus der Olympia-Sendung schließen. Spätere Fernsehsendungen von anderen Nationen haben das noch bestätigt. Wenn sie also so gut sind, wie wir glauben, dann hätten sie ihre Übertragung so mit der Erdrotation abstimmen können, daß nur eine Nation die BOTSCHAFT empfangen hätte. Sie haben es nicht getan. Sie wollten, daß alle auf dem Planeten sie bekommen. Sie erwarten, daß wir alle zusammen die Maschine bauen. Es kann überhaupt kein ausschließlich amerikanisches oder russisches Unternehmen sein. Das entspräche nicht der Absicht unserer. Auftraggeber.“ Aber sie sei sich nicht sicher, fuhr Ellie fort, ob sie selbst überhaupt eine Rolle bei der Entscheidung über den Bau der Maschine oder die Auswahl der Besatzung spielen würde. Sie flog am nächsten Tag in die Vereinigten Staaten zurück, hauptsächlich, um sich über die neuesten Radiodaten der letzten Wochen zu informieren. Ein Ende der Plenarsitzungen des Konsortiums war nicht abzusehen. Waygay war von seiner Regierung ersucht worden, noch länger zu bleiben. Der sowjetische Außenminister war gerade eingetroffen und hatte die Führung der sowjetischen Delegation übernommen.
„Ich fürchte, daß das alles ein schlimmes Ende nimmt“, sagte er. „So vieles kann schiefgehen. Technisches Versagen.
Politisches Versagen. Menschliches Versagen. Und selbst wenn wir das alles durchstehen, wenn es zu keinem Krieg wegen der Maschine kommt und wenn wir sie richtig zusammenbauen und uns dabei nicht selbst in die Luft jagen, mache ich mir immer noch Sorgen.“
„Aber worüber? Was meinen Sie denn?“
„Im besten Fall wird man uns fürchterlich zum Narren gehalten haben.“
„Wer denn?“
„Ellie, können Sie sich das nicht denken?“ Eine Ader trat an Lunatscharskis Hals hervor. „Ich bin wirklich erstaunt, daß Sie das nicht sehen. Die Erde ist ein. Ghetto. Ja, ein Ghetto. Wir sind alle hier eingesperrt. Nur vage haben wir davon gehört, daß es außerhalb des Ghettos große Städte geben soll mit breiten Boulevards voller Droschken und schöner parfümierter Frauen in Pelzen. Aber die Städte sind viel zu weit weg und wir viel zu arm, um jemals dorthin fahren zu können, selbst die Reichsten von uns. Ohnehin will man uns dort nicht. Deshalb haben sie uns von vorneherein auch in diesem kläglichen kleinen Dorf zurückgelassen. Und jetzt kommt diese Einladung, wie Xi sich ausdrückte. Eine exquisite Einladung. Man schickt sie uns auf handgeschöpftem Bütten mit Goldprägung, und dazu kommt eine leere Droschke. Wir sollen fünf Dorfbewohner schicken, und die Droschke wird sie nach — wer weiß wohin? — nach Warschau bringen. Oder Moskau. Vielleicht sogar Paris. Natürlich ist für einige die Versuchung groß, darauf einzugehen. Es wird immer Menschen geben, die sich von der Einladung geschmeichelt fühlen oder die glauben, daß sie auf diese Weise unserem schäbigen Dorf entfliehen können. Und was denken Sie, was passieren wird, wenn wir dort ankommen? Glauben Sie, daß uns der Großherzog zum Dinner einlädt? Wird uns der Präsident der Akademie interessierte Fragen über den Alltag in der Provinz stellen?
Oder glauben Sie, daß sich der Metropolit der russischorthodoxen Kirche für eine gelehrte Unterhaltung über vergleichende Religionswissenschaften erwärmen läßt? Nein, Ellie. Wir werden in der riesigen Stadt mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen dastehen, und sie werden mit vorgehaltener Hand über uns lachen. Sie werden uns für Neugierige zur Schau stellen. Und je rückständiger wir sind, desto besser und beruhigter werden sie sich fühlen. Und alle paar Jahrhunderte sind wieder fünf von uns an der Reihe, ein Wochenende auf der Wega verbringen. Man wird die Provinzler bedauern, aber zugleich klarstellen, wer hier der Überlegene ist.“