2 Kohärentes Licht

Seit ich denken kann, verspüre ich einen so starken und heftigen Drang nach Gelehrsamkeit in mir, daß weder die Ermahnungen anderer, noch meine eigenen Überlegungen mich davon abhalten konnten, dieser natürlichen Neigung nachzugehen, die mir Gott gegeben hat. Er allein weiß den Grund; er weiß auch, wie heiß und innig ich ihn darum gebeten habe, das helle Licht des Verstehens von mir zu nehmen und nur so viel davon zu lassen, wie ich brauche, um nach seinem Gebot zu leben.

Denn es gibt Menschen, die sagen, daß alles andere Übermaß sei für eine Frau. Manche sagen auch, daß es schädlich sei.

Juana Ines de la Cruz, Antwort an den Bischof von Puebla (1691), der die Schriften dieser gelehrten Frau angriff, weil er sie als ihrem Geschlecht unangemessen erachtete.

Ich möchte dem Leser zu wohlwollender Überlegung eine Doktrin empfehlen, die ihm vermutlich unerhört paradox und umstürzlerisch erscheinen wird. Die fragliche Doktrin ist die folgende: Es ist nicht wünschenswert, an eine Behauptung zu glauben, wenn kein Grund vorliegt, sie für wahr zu halten. Ich gebe natürlich zu, daß eine solche Anschauung, wenn sie Gemeingut würde, unser Zusammenleben und unser politisches System von Grund auf verwandeln würde, und die Tatsache, daß beide zur Zeit nicht zu beanstanden sind, dürfte gegen jene Doktrin sprechen.

Bertrand Russell, Skepsis, I (1928)

Um die Äquatorialebene des blauweißen Sterns kreiste ein riesiger Ring aus Schutt — Felsbrocken, Eis, Metalle und organische Substanzen. An seiner Peripherie schimmerte der Ring rötlich, näher zum Stern hin bläulich. Durch eine Lücke in den Schichten dieses Ringes stürzte das gigantische Polyeder hindurch, um dann auf der anderen Seite wieder aufzutauchen. Im Bereich des Ringes befand es sich zeitweilig im Schatten der dahinrasenden Eisblöcke und Felsgebirge, fetzt aber, auf seiner Flugbahn zu einem Punkt über dem entgegengesetzten Pol des Sterns fortgetragen, glänzten die Millionen kugelförmigen Gebilde im Sonnenlicht. Ein genauer Beobachter hätte womöglich sehen können, wie eines davon seine Ausrichtung leicht korrigierte. Was niemand sehen konnte, waren die Radiowellen, die aus dem Polyeder in die Tiefen des Weltalls drangen.

Seit es Menschen auf der Erde gibt, ist ihnen der Nachthimmel Gefährte und Quelle der Inspiration zugleich gewesen. Die Sterne spendeten Trost. Sie zeigten, so glaubte man, daß das Himmelsgewölbe zum Wohle und zur Belehrung der Menschheit geschaffen worden war. Diese rührend menschliche Auslegung wurde auf der ganzen Welt zu einer anerkannten Wahrheit. Sie fehlte in keiner Kultur. Manche Menschen fanden über den Himmel Zugang zu religiösen Gefühlen. Viele wurden angesichts der Herrlichkeit und Größe des Kosmos von Ehrfurcht und Demut ergriffen. Andere wurden von ihm zu Höhenflügen der Phantasie angeregt. Genau zu dem Zeitpunkt, als die Menschen die wahren Ausmaße des Universums entdeckten und merkten, daß selbst ihre farbigsten Phantasien angesichts der Dimensionen auch nur der Milchstraße blasse Schatten blieben, taten sie Schritte, die zur sicheren Folge hatten, daß ihre Nachkommen die Sterne überhaupt nicht mehr sehen konnten. Eine Million Jahre lang waren die Menschen aufgewachsen mit einem aus direkter sinnlicher Wahrnehmung herrührenden, sich täglich erneuernden Wissen um das Himmelsgewölbe. In den letzten Jahrtausenden hatten sie angefangen, Städte zu bauen und dorthin zu ziehen. Und in den letzten Jahrzehnten hatte ein Großteil der menschlichen Bevölkerung sein ländliches Leben aufgegeben. Mit dem Fortschritt der Technik und der Verschmutzung der Städte wurden die Nächte sternenlos. Neue Generationen wuchsen in völliger Unkenntnis des Himmels heran, der ihre Vorfahren noch gefesselt und das moderne Zeitalter der Wissenschaft und Technologie in Gang gesetzt hatte. Ohne auch nur zu bemerken, daß gerade für die Astronomie ein goldenes Zeitalter anbrach, schnitten sich die meisten Menschen vom Himmel ab. Die Isolation vom Kosmos fand erst mit dem Beginn der Erforschung des Weltraums ein Ende.

Immer, wenn Ellie zur Venus hinaufsah, stellte sie sich vor, daß es dort vielleicht eine Welt gab, die der Erde glich — besiedelt von Pflanzen, Tieren und Zivilisationen, allerdings ganz anderen Arten als auf der Erde. Kurz nach Sonnenuntergang stand Ellie am Rande der Stadt und sah zum nächtlichen Himmel auf. Immer wieder starrte sie fasziniert auf den stetig brennenden, hellen Lichtpunkt der Venus. Im Vergleich zu den Wolken direkt über ihr, die noch von der Sonne erleuchtet wurden, schien er fast gelb zu sein. Sie versuchte sich auszumalen, was dort oben vor sich ging. Dazu stellte sie sich auf die Zehenspitzen, um dem Planeten näher zu sein. Manchmal konnte sie sich fast selbst davon überzeugen, daß sie etwas sah. Der gelbe Nebelschleier lichtete sich dann plötzlich und gab für einen Moment den Blick auf eine große Stadt aus Edelsteinen frei. Luftautos sausten zwischen den kristallenen Turmspitzen hindurch. Manchmal stellte sie sich vor, daß sie in eines dieser Autos hineinsehen und einen von denen dort oben erspähen konnte. Oder sie stellte sich einen jungen Bewohner der Venus vor, der zu einem Punkt hellen, blauen Lichts an seinem Himmel hinaufsah und sich Gedanken über die Bewohner der Erde machte. Der Gedanke war unwiderstehlich: Ein tropisch schwüler Planet, überquellend vor intelligenten Lebewesen, und sozusagen direkt vor der eigenen Haustür.

Ellie fand sich damit ab, bestimmte Dinge rein mechanisch auswendig lernen zu müssen, obwohl sie wußte, daß das bestenfalls ein Abklatsch wirklicher Bildung war. Sie lernte gerade soviel, wie notwendig war, um ihre Kurse gut zu bestehen. Ansonsten ging sie eigenen Interessen nach. Sie richtete es so ein, daß sie ihre unterrichtsfreien Stunden während des Schultags und manchmal auch eine Stunde nach der Schule in der schuleigenen Werkstatt verbringen konnte. Es war eine schmutzige, enge Werkstatt, die zu einer Zeit eingerichtet worden war, als die Schulen noch größeren Wert auf eine berufsorientierte Ausbildung legten. Heute galt das nicht mehr als modern. „Berufsorientierte Ausbildung“

bedeutete, vor allem mit den Händen zu arbeiten. In der Werkstatt gab es Drehbänke, Bohrer und andere Maschinen, die Ellie freilich nicht benutzen durfte, ganz egal, ob sie dazu imstande war oder nicht, denn sie war ja nur „ein Mädchen“. Nur widerstrebend gestattete man ihr, eigenen Projekten in der elektrotechnischen Abteilung der Werkstatt nachzugehen. Dort baute sie erst aus Einzelteilen Radios zusammen und wandte sich dann interessanteren Dingen zu. Zunächst baute sie ein Chiffrierungsgerät. Die Konstruktion war simpel, aber sie funktionierte. Man konnte eine beliebige englischsprachige Nachricht einlesen und mit Hilfe eines einfachen Schlüssels in einen Text transformieren, der wie Kauderwelsch aussah. Einen Apparat zu bauen, der genau das Umgekehrte tat, also eine chiffrierte Nachricht entschlüsselte, wobei man die Ersetzungsregeln nicht kannte, war allerdings viel schwieriger. Einen solchen Apparat konnte man alle Ersetzungsmöglichkeiten durchlaufen lassen (A steht für B, A steht für C, A steht für D…), oder sich daran orientieren, daß im Englischen einige Buchstaben häufiger vorkamen als andere. Von der Häufigkeit der Buchstaben konnte man eine Vorstellung bekommen, wenn man sich in der Druckerei nebenan die Größe der Behälter für jede Letter anschaute. „ETAOIN SHRDLU“, sagten die Jungs in der Druckerei, und damit war ziemlich genau die Reihenfolge der zwölf am häufigsten gebrauchten Buchstaben des Englischen angegeben. Beim Dechiffrieren einer langen Nachricht stand dann der Buchstabe, der am häufigsten auftauchte, für ein E. Außerdem entdeckte Ellie, daß bestimmte Konsonanten die Tendenz hatten zusammenzugehen. Vokale dagegen verteilten sich mehr oder weniger zufällig. Das gebräuchlichste Wort mit drei Buchstaben war in der englischen Sprache „the“. Wenn innerhalb eines Wortes ein Buchstabe zwischen einem T und einem E stand, handelte es sich größter Wahrscheinlichkeit um ein H. Wenn nicht, dann konnte man auf ein R oder einen Vokal wetten. Ellie leitete noch andere Regeln ab und verbrachte viele Stunden damit, die Häufigkeit von Buchstaben in verschiedenen Schulbüchern zu ermitteln, bevor sie entdeckte, daß solche Häufigkeitstabellen bereits zusammengestellt und veröffentlicht worden waren. Das Chiffrierungsgerät hatte sie nur zum eigenen Vergnügen gebaut. Sie verwendete es nicht, um Freunden geheime Nachrichten zu schicken. Sie wußte ja nicht einmal, mit wem sie offen über ihr Interesse für Elektronik und Geheimschriften hätte sprechen sollen. Die Jungen reagierten gereizt oder überheblich, und die Mädchen sahen sie nur hilflos mit großen Augen an.

In einem fernen Land, das Vietnam hieß, kämpften Soldaten der Vereinigten Staaten. Mit jedem Monat, so schien es, wurden mehr junge Männer von der Straße und von den Farmen geholt und nach Vietnam verfrachtet. Je mehr Ellie über die Hintergründe des Krieges erfuhr und je mehr sie den öffentlichen Erklärungen führender Staatsmänner zuhörte, desto wütender wurde sie. Der Präsident und der Kongreß logen und mordeten, dachte sie, und fast alle anderen billigten es stillschweigend. Und als sie sah, daß ihr Stiefvater sich der offiziellen Meinung von vertraglichen Verpflichtungen, Dominotheorie und unverhüllter kommunistischer Aggression anschloß, wurden ihre Zweifel nur noch stärker. Sie fing an, Versammlungen und Kundgebungen im benachbarten College zu besuchen. Die Menschen, die sie dort kennenlernte, fand sie viel intelligenter, freundlicher und lebendiger als ihre unbeholfenen und farblosen Mitschüler von der High School. John Staughton warnte Ellie vor ihren neuen Bekannten, und zuletzt verbot er ihr geradeheraus, ihre Zeit mit den Studenten vom College zu verbringen. Die Studenten würden sie nie als gleichberechtigt anerkennen, sagte er. Im Gegenteil, man werde sie ausnützen. Und sie selbst erhebe Anspruch auf eine Intellektualität, die sie nicht habe und niemals haben werde. Und die Art, wie sie sich anziehe, lasse auch immer mehr zu wünschen übrig. Armeekleidung sei unpassend für ein Mädchen und verlogen bei jemand, der vorgebe, sich gegen die amerikanische Intervention in Südostasien aufzulehnen. Ellies Mutter beteiligte sich — von ein paar gutgemeinten Ermahnungen, sich nicht zu „zanken“, abgesehen — kaum an den Auseinandersetzungen zwischen Ellie und Staughton. Aber wenn sie mit Ellie allein war, bat sie sie inständig, ihrem Stiefvater doch zu gehorchen und „nett“ zu ihm zu sein. Ellie hatte jetzt den Verdacht, daß Staughton ihre Mutter nur wegen der Lebensversicherung ihres Vaters geheiratet hatte. Was hätte er sonst für einen Grund haben können? Er zeigte in keiner Weise, daß er sie liebte — und er selber war ja auch überhaupt nicht „nett“ zu ihr. Eines Tages bat ihre Mutter sie ganz aufgeregt um etwas, das für sie alle wichtig sei: Sie sollte in die Sonntagsschule gehen. Als Ellies Vater, der Offenbarungsreligionen gegenüber skeptisch war, noch lebte, war nie die Rede von der Sonntagsschule gewesen. Wie hatte ihre Mutter Staughton nur heiraten können? Zum tausendsten Mal stellte sie sich diese Frage. Die Sonntagsschule, fuhr ihre Mutter fort, würde ihr helfen zu verstehen, was gut und richtig war, aber was noch viel wichtiger sei, Staughton würde merken, daß Ellie sich alle Mühe gab, mit ihm auszukommen. Aus Liebe und Mitleid für ihre Mutter fügte Ellie sich stillschweigend.

Fast ein ganzes Schuljahr ging Ellie also jeden Sonntag zu einem Gesprächskreis in eine nahegelegene Kirche. Veranstaltet wurde der Unterricht von einer protestantischen Gruppierung, deren Mitglieder nicht von rücksichtslosem Missionseifer besessen waren. Die Teilnehmer waren Schüler der High School, Erwachsene, darunter vor allem Frauen mittleren Alters, und die Lehrerin, die Frau des Pfarrers. Ellie hatte nie zuvor ernsthaft die Bibel gelesen und neigte dazu, dem vielleicht zu strengen Urteil ihres Vaters zuzustimmen, die Bibel sei „eine Mischung aus barbarischer Geschichte und Märchen“. Deshalb las sie an dem Wochenende vor der ersten Unterrichtsstunde die Teile des Alten Testaments, die ihr wichtig erschienen, und versuchte, dabei unvoreingenommen zu sein. Sie merkte sofort, daß es in den ersten zwei Kapiteln der Genesis zwei einander widersprechende Schöpfungsgeschichten gab. Außerdem konnte sie nicht verstehen, wie es Licht und Tag hatte werden können, bevor die Sonne erschaffen war, und sie hatte Schwierigkeiten, genau herauszufinden, wen Kain nun geheiratet hatte. Die Geschichten über Lot und seine Töchter, Abraham und Sarah in Ägypten, die Verlobung Dinas sowie Jakob und Esau verblüfften sie. Daß es in der wirklichen Welt Feigheit gab, daß Söhne ihren betagten Vater hinters Licht führten und betrogen, daß ein Mann feige der Verführung seiner Ehefrau durch den König zustimmte oder gar die Vergewaltigung seiner Töchter unterstützte, konnte sie sich vorstellen. Aber in dieser heiligen Schrift stand nicht ein einziges Wort des Protestes gegen solche Freveltaten. Im Gegenteil, Ellie hatte den Eindruck, daß die Verbrechen gebilligt, ja sogar gepriesen wurden. Als die Bibelstunde begann, war Ellie begierig, über diese verwirrenden Ungereimtheiten zu sprechen und Gottes Absicht, die das alles rechtfertigte, erklärt zu bekommen. Zumindest wollte sie erfahren, warum die Verbrechen von den Autoren oder dem einen göttlichen Autor des Buches nicht verurteilt wurden. In diesem Punkt wurde sie freilich enttäuscht. Die Frau des Pfarrers reagierte ausweichend auf ihre Fragen. Und in den späteren Gesprächen kam man dann auch nicht mehr auf diese Geschichten zu sprechen. Als Ellie fragte, wie die Dienerin der Tochter des Pharaos nur durch Hinsehen feststellen konnte, daß der Säugling in den Binsen Jude war, wurde die Lehrerin puterrot und bat Ellie, nicht mehr so unziemliche Fragen zu stellen. Im selben Moment dämmerte Ellie die Antwort.

Als sie zum Neuen Testament übergingen, wurde Ellies Unbehagen noch größer. Matthäus und Lukas verfolgten die Linie der Vorfahren von Jesus bis auf König David zurück.

Während bei Matthäus nur achtundzwanzig Generationen zwischen Jesus und David lagen, waren es bei Lukas dreiundvierzig. Und unter den Namen der beiden Stammbäume gab es kaum gemeinsame. Wie konnten also sowohl das Matthäusevangelium als auch das Lukasevangelium das Wort Gottes sein? Ellie sah in den widersprüchlichen Ahnenreihen den offenkundigen Versuch, die Prophezeiung Jesajas im nachhinein den Fakten anzugleichen — im Chemielabor nannte man das „Daten frisieren“. Tief ergriffen war sie von der Bergpredigt, zutiefst enttäuscht aber von der Ermahnung „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist“. Und als die Lehrerin zweimal ihrer Frage nach der Bedeutung von „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert“ auswich, brach sie vor Wut und Enttäuschung in Tränen aus. Ihrer völlig ratlosen Mutter teilte sie mit, daß sie ihr Bestes getan habe, daß aber keine zehn Pferde sie noch einmal in die Sonntagsschule brächten.

Ellie lag auf ihrem Bett. Es war eine heiße Sommernacht, und im Radio sang Elvis „One night with you, that’s what I’m beggin’ for“. Die Jungen von der High School waren so schrecklich albern, und Freundschaften mit den jungen Männern vom College aufzubauen, die sie bei Vorträgen und Kundgebungen kennenlernte, war schwierig und wurde zusätzlich erschwert durch das abendliche Ausgehverbot und alle anderen Verbote ihres Stiefvaters. Insgeheim mußte sie zugeben, daß John Staughton zumindest in einem Punkt recht hatte: Die jungen Männer dachten auch ihr gegenüber fast immer zuerst an Sex. Gleichzeitig stellte Ellie aber fest, daß sie in ihren Gefühlen viel verletzlicher waren, als sie erwartet hatte. Vielleicht hing ja das eine mit dem anderen zusammen.

Ellie hatte sich schon halbwegs damit abgefunden, nicht aufs College gehen zu können. Dennoch war sie fest entschlossen, von zu Hause auszuziehen. Staughton würde ihr dafür keinen Pfennig zahlen, und die schüchternen Fürbitten ihrer Mutter blieben fruchtlos. Aber Ellie hatte bei den landesweiten Aufnahmeprüfungen fürs College außerordentlich gut abgeschnitten, und ihre Lehrer teilten ihr zu ihrer Überraschung mit, daß ihr wahrscheinlich ein paar bekannte Universitäten ein Stipendium anbieten würden. Sie hatte bei vielen Multiple-choice-Fragen einfach geraten und hielt ihre Leistung deshalb für das Ergebnis eines glücklichen Zufalls. Wenn man sehr wenig wußte, hatte sie sich ausgerechnet, aber genug, um bei den Fragen alle Antworten bis auf die zwei wahrscheinlichsten ausschließen zu können, so war bei zehn Fragen die Chance eins zu tausend, daß man alle zehn richtig löste. Bei zwanzig Fragen lagen die Chancen bei eins zu einer Million. Aber ungefähr eine Million Schüler machten den Test. Einer unter ihnen mußte also der Glückliche sein.

Cambridge in Massachusetts war weit genug weg, um John Staughtons Einfluß zu entkommen, und nah genug, um die Mutter in den Ferien besuchen zu können. Für die Mutter war es nicht leicht, aber sie brauchte so wenigstens nicht ganz auf die Tochter zu verzichten, und ihr Mann wurde durch die ständigen Auseinandersetzungen nicht noch mehr verärgert. Ellie war von sich selbst überrascht, als sie Harvard dem Massachusetts Institute of Technology vorzog. Wenig später traf sie zur Orientierungswoche in Harvard ein: Eine hübsche, dunkelhaarige junge Frau mittlerer Größe mit einem schiefen Lächeln und dem festen Vorsatz, alles zu lernen, was es zu lernen gab. Um ihren Horizont zu erweitern, belegte Ellie neben ihren Hauptinteressengebieten Mathematik, Physik und Technik noch möglichst viele andere Seminare. Aber gerade in ihren Lieblingsgebieten hatte Ellie immer wieder dasselbe Problem: Es war schwierig, mit ihren überwiegend männlichen Kommilitonen über Physik zu diskutieren oder gar zu streiten. Am Anfang ignorierten sie einfach alle Äußerungen Ellies. Nach einer kurzen Pause machten sie dann weiter, als ob sie nichts gesagt hätte. Hin und wieder nahmen sie ihre Bemerkungen auch zur Kenntnis, lobten sie sogar, beachteten sie dann aber nicht weiter. Ellie war sich ziemlich sicher, daß ihre Äußerungen nicht so dumm waren, und sie wollte nicht übergangen werden, schon gar nicht abwechselnd übergangen und dann wieder gönnerhaft angehört werden. Sie wußte, daß es zum Teil — allerdings nur zum Teil — an ihrer sanften Stimme lag. Deshalb trainierte sie sich eine professionell klingende Naturwissenschaftlerstimme an: hart, kompetent und einige Dezibel über ihrer normalen Stimmlage. Mit dieser Stimme war es natürlich wichtig, daß man recht hatte. Sie mußte ihre Auftritte gezielt auswählen. Es fiel ihr allerdings schwer, lange so zu sprechen, weil sie manchmal das Lachen kaum unterdrücken konnte. Sie fand heraus, daß kurze, scharfe Einwürfe ihr am besten lagen und meist ausreichten, die Aufmerksamkeit der anderen Studenten auf sich zu lenken, um dann eine Weile in normaler Stimmlage weiterreden zu können. In jedem Seminar begann dieser Kampf von neuem, nur damit sie in der Diskussion dann auch gehört wurde. Keiner der Jungen hatte auch nur eine Ahnung davon, welchem Problem sie gegenüberstand. Manchmal sagte ein Dozent in einer Laborübung oder einem Seminar „Meine Herren, machen wir weiter“, und wenn er dann Ellies gerunzelte Stirn bemerkte, fügte er hinzu: „Entschuldigen Sie,

Miß Arroway, aber Sie sind für mich wie ein Junge.“ Das war das höchste Kompliment, zu dem die Männer fähig waren: Daß sie in ihren Augen keine typische Frau war.

Ellie mußte sich immer wieder zusammenreißen, damit sie nicht ganz ihrer Kampfeslust erlag oder überhaupt zum Menschenfeind wurde. Manchmal wurde sie plötzlich nachdenklich. Ein Menschenfeind, ein „Misanthrop“, war jemand, der alle Menschen haßte, nicht nur Männer. Und natürlich gab es auch ein eigenes Wort für einen Frauenfeind: „Misogyn“. Aber die Lexikographen hatten versäumt, auch ein Wort für die Abneigung gegen Männer zu schaffen. Wahrscheinlich waren die Lexikographen fast alle selber Männer und konnten sich deshalb auch nicht vorstellen, daß es Bedarf für so ein Wort gab.

Mehr als die meisten ihrer Kommilitonen war sie zu Hause durch Vorschriften und Verbote eingeengt worden. Die frisch errungene Freiheit fand sie deshalb aufregend. Zu einer Zeit, in der sich viele ihrer Altersgenossen bewußt nachlässig kleideten und so den Unterschied zwischen den Geschlechtern verwischten, bemühte sie sich um schlichte Eleganz in Kleidung und Make-up, was ihr begrenztes Budget ziemlich strapazierte. Freilich wußte sie, daß es wirkungsvollere Möglichkeiten gab, sich politisch zu äußern. Sie pflegte einige enge Freundschaften und machte sich ab und zu auch Feinde, die sie wegen ihrer Kleidung, ihrer politischen und religiösen Ansichten oder wegen des Nachdrucks, mit dem sie ihre Meinungen vertrat, nicht mochten. Ihr Sachverstand und ihre Begeisterung in den Naturwissenschaften waren in den Augen vieler durchaus intelligenter junger Frauen schwerwiegende Mängel. Nur einige wenige sahen in ihr das, was Mathematiker einen Existenzbeweis nennen, nämlich einen Beweis dafür, daß sich eine Frau tatsächlich in den Naturwissenschaften auszeichnen konnte; und, für manche war sie sogar Vorbild für ein neues Rollenverständnis.

Auf dem Höhepunkt der sexuellen Revolution nahm sie mit wachsendem Vergnügen die neuen Freiheiten für sich in Anspruch, spürte aber, daß sie auf ihre Liebhaber einschüchternd wirkte. Ihre Beziehungen dauerten meist nur ein paar Monate. Sie spürte, daß sie das nur ändern konnte, wenn sie ihre Interessen versteckte und ihre Meinungen unterdrückte. Und dagegen hatte sie sich schon in der High School entschieden gewehrt. Das Bild ihrer zu einem resignierten, nur noch auf Harmonisierung ausgerichteten Gefangenendasein verurteilten Mutter verfolgte sie. Sie fing an, auf Männer neugierig zu werden, die nichts mit dem akademischen bzw. naturwissenschaftlichen Betrieb zu tun hatten. Manche Frauen schienen völlig arglos zu sein und gaben sich den Männern hin, ohne auch nur einen Moment darüber nachzudenken. Andere wiederum begaben sich auf einen mit aller erdenklichen Kriegslist und Strategie ausgeklügelten Feldzug, in dem alle Eventualitäten und Rückzugsmöglichkeiten einkalkuliert waren, mit dem einzigen Ziel, sich zuletzt einen begehrenswerten Mann zu angeln. Schon das Wort „begehrenswert“ entlarvte sie. So ein armer Tropf wurde nicht wirklich begehrt, sondern er war nur „begehrenswert“ — ein lohnendes Objekt gerade auch in den Augen der anderen, für die das ganze traurige Verstellungsspiel inszeniert wurde. Die meisten Frauen lagen für Ellie irgendwo zwischen diesen Extremen. Sie versuchten, ihre Leidenschaft mit den absehbaren langfristigen Vorteilen in Einklang zu bringen. Vielleicht gab es ja ab und zu Verbindungen zwischen Liebe und Vorteil, die der Aufmerksamkeit entgingen. Aber die Vorstellung, jemand nach einem berechneten Plan zu verführen, ließ Ellie frösteln.

In Sachen Liebe wollte sie sich bedingungslos zum Element des Spontanen bekennen. Damals lernte sie Jesse kennen.

Ein Bekannter hatte sie zum ersten Mal in die Kellerbar beim Kenmore Square mitgenommen. Jesse sang Bluegrass und spielte Gitarre. Die Art, wie er sang und sich bewegte, machte Ellie bewußt, was sie bisher vermißt hatte. Am nächsten Abend kam sie allein. Sie setzte sich an den Tisch neben der Bühne und sah ihm bei beiden Auftritten die ganze Zeit in die Augen. Zwei Monate später zogen sie zusammen. Nur wenn Jesse zu Auftritten nach Hartford oder Bangor mußte, fand sie noch Zeit zur Arbeit. Dann verbrachte sie den ganzen Tag mit den anderen Studenten. Mit Studenten, denen die neuesten Rechenschiebermodelle wie Trophäen am Gürtel baumelten; denen Kulihalter aus Plastik in der Brusttasche steckten; die überkorrekt und eingebildet waren, nervös lachten und jede Minute hart daran arbeiteten, Wissenschaftler zu werden. Sie waren so sehr davon in Anspruch genommen, die letzten Tiefen der Natur zu ergründen, daß sie bei all ihrem Wissen alltäglichen menschlichen Angelegenheiten fast hilflos ausgeliefert waren und dabei einen bemitleidenswerten und naiven Eindruck machten. Vielleicht forderten der Dienst an der Wissenschaft und der Konkurrenzdruck so viel Kraft, daß ihnen keine Zeit blieb, zu einer abgerundeten Persönlichkeit zu wachsen. Oder vielleicht hatten diese Studenten sich gerade wegen ihrer Unfähigkeit zu zwischenmenschlichen Kontakten Gebieten zugewandt, wo dieser Mangel nicht so auffiel. Außer für wissenschaftliche Diskussionen, fand Ellie, waren sie keine gute Gesellschaft.

Aber in der Nacht war Jesse da, stürmisch und übersprudelnd, eine Naturgewalt, die von Ellies Leben Besitz ergriffen hatte. In dem Jahr, das sie zusammen verbrachten, konnte sie sich an keine Nacht erinnern, in der er vorgeschlagen hatte, schlafen zu gehen. Er verstand nichts von Mathematik und Physik, aber die Welt, in der er lebte, sah er mit hellwachen Augen. Und eine Zeitlang konnte er Ellie dabei mitreißen.

Ellie träumte davon, diese zwei Welten in Einklang zu bringen. Sie träumte von Musikern und Physikern, die in menschlich harmonischem Einverständnis zusammenlebten. Aber auf den Einladungen, die sie manchmal abends organisierte, war die Stimmung steif, und die Gäste gingen früh.

Eines Tages sagte Jesse ihr, daß er sich ein Baby wünsche. Er wolle ernsthaft darangehen, eine geregelte Arbeit zu finden. Er könne sich sogar vorstellen zu heiraten. „Ein Baby?“ wiederholte sie. „Aber dann muß ich ja die Universität aufgeben. Es dauert noch Jahre, bis ich fertig bin. Und wenn ich ein Kind habe, bin ich vielleicht für immer draußen.“

„Das mag schon sein, aber wir hätten ein Kind. Du hättest zwar nicht mehr deine Seminare, aber dafür etwas anderes.“

„Jesse, ich brauche die Seminare“, erwiderte sie. Er zuckte die Achseln, und Ellie konnte fast sehen, wie ihr gemeinsames Leben von ihm abfiel und sich in Nichts auflöste. Ihr Beziehung hielt noch ein paar Monate, aber in dem kurzen Wortwechsel war bereits alles gesagt worden. Zum Abschied küßten sie sich, dann ging er nach Kalifornien. Sie hörte seine Stimme nie wieder.

Ende der 60er Jahre gelang es der Sowjetunion, Raumsonden auf der Oberfläche der Venus zu landen. Es waren die ersten Raumfahrzeuge der Menschheit, die in betriebsfähigem Zustand auf einem anderen Planeten aufsetzten. Bereits ein Jahrzehnt zuvor hatten amerikanische Radioastronomen von ihrem Standort auf der Erde aus entdeckt, daß die Venus eine Quelle intensiver Radiostrahlung war. Die verbreitetste Erklärung dafür war, daß die dichte Atmosphäre der Venus durch einen planetarischen Treibhauseffekt die Hitze festhielt. Nach dieser Theorie mußte die Planetenoberfläche stickig heiß sein, viel zu heiß für kristallene Städte und herumspazierende Venusianer. Ellie wäre eine andere Erklärung viel lieber gewesen, sie versuchte sich deshalb vorzustellen, wie die Radiostrahlung von irgendwo anders hoch über einer klimatisch milden Oberfläche herkommen könnte, jedoch ohne Erfolg. Einige Astronomen in Harvard und am Massachusetts Institute of Technology waren der Überzeugung, daß keine der Alternativen zur Theorie von der glühendheißen Venus die intensive Radiostrahlung erklären konnte. Ellie erschien die Vorstellung eines so massiven Treibhauseffekts unwahrscheinlich und irgendwie abstoßend, als ob die Venus ein Planet wäre, der sich hemmungslos gehen ließ. Als aber die Raumsonde Venera dort landete und ein Thermometer ausfuhr, war die gemessene Temperatur so hoch, daß sie Zinn und Blei zum Schmelzen gebracht hätte. Ellie malte sich aus, wie sich die kristallenen Städte verflüssigten (obwohl es auf der Venus so heiß wiederum auch nicht war) und wie die Oberfläche von Silikattränen überflutet wurde. Sie war eine romantische Natur. Das wußte sie schon lange.

Aber zugleich mußte sie die Leistungsfähigkeit der Radioastronomie bewundern. Die Astronomen hatten zu Hause gesessen, ihre Radioteleskope auf die Venus gerichtet und die Oberflächentemperatur fast genauso exakt gemessen wie dreizehn Jahre später die Venera-Sonden. Ellie war, seit sie denken konnte, von Elektrizität und Elektronik fasziniert gewesen. Jetzt war sie zum ersten Mal tief beeindruckt von der Radioastronomie. Man konnte in aller Ruhe und Sicherheit auf dem eigenen Planeten stehen und das Teleskop mit den damit verbundenen elektronischen Geräten auf ein Ziel richten. Und dann kam Leben in die Empfänger, wenn die Informationen aus anderen Welten eintrafen. Von da an besuchte Ellie oft das kleine Radioteleskop der Universität im nahegelegenen Harvard in Massachusetts, in der, Hoffnung, vielleicht eine Einladung zu bekommen, bei den Beobachtungen und den Datenanalysen mitzuhelfen. Dann stellte das National Radio Observatory in Green Bank, West Virginia, sie für einen Sommer als bezahlte Assistentin an. Bei ihrer Ankunft dort besichtigte sie voller Begeisterung das Radioteleskop von Grote Reber, das er 1938 in seinem Garten in Wheaton in Illinois aufgebaut hatte. Jetzt sollte es daran erinnern, was ein engagierter Amateur alles zuwege bringen konnte. Reber hatte mit seiner Konstruktion die Radiostrahlung aus dem Zentrum der Galaxis nachweisen können, allerdings zu einer Zeit, als in dieser Gegend noch kein Auto gefahren und die diathermische Apparatur im Labor ein paar Häuser weiter noch nicht in Betrieb war. Das Zentrum der Galaxis war zwar viel leistungsfähiger, der mit hohen Frequenzen arbeitende Apparat aber viel näher. Die Atmosphäre ernsthafter und geduldiger Forschung am Observatorium und die gelegentliche Belohnung durch eine kleine Entdeckung sagten Ellie zu. Das Forscherteam war gerade damit beschäftigt zu messen, wie sich die Anzahl entfernter außergalaktischer Radioquellen erhöhte, wenn man tiefer in das Weltall schaute. Ellie begann darüber nachzudenken, wie man schwache Radioquellen leichter ausfindig machen könnte.

Zur gegebenen Zeit machte sie in Harvard ihren Collegeabschluß, cum laude, und ging dann zur Fortsetzung ihres Studiums der Radioastronomie ans andere Ende des Landes, zum California Institute of Technology.

Ein Jahr lang ging Ellie bei David Drumlin in die Lehre. Er genoß weltweit den Ruf, ein brillanter Kopf zu sein und keinen Dummkopf in seiner Umgebung leiden zu können. Im Gründe unterschied er sich freilich nicht von anderen Männern in Spitzenpositionen, die in der ständigen Angst leben, daß irgendwo irgend jemand noch intelligenter sein könnte als sie selbst. Drumlin machte Ellie mit den Kernfragen der Materie bekannt und vermittelte ihr ein theoretisches Fundament. Obwohl es Gerüchte gab, denen zufolge Frauen ihn charmant fanden, erlebte Ellie ihn meist aggressiv und egozentrisch. Sie sei zu romantisch, sagte er oft. Das Universum sei streng nach eigenen Gesetzen geordnet. Das Ziel sei, so zu denken wie das Universum und nicht eigene romantische Vorstellungen — oder mädchenhafte Sehnsüchte, wie er einmal sagte — in das Universum zu projizieren. Alles, was nicht durch die Naturgesetze verboten ist, versicherte er Ellie — und zitierte damit einen Kollegen vom selben Institut —, sei verbindlich. Aber, fuhr er fort, fast alles sei verboten. Sie schaute ihn an, während er ihr diesen Vortrag hielt, und versuchte dabei, ihre disparaten Eindrücke von ihm zum Gesamtbild seiner Persönlichkeit zusammenzusetzen. Sie hatte einen Mann vor sich, der blendend aussah mit seinem vorzeitig ergrauten Haar, dem zynischen Lächeln, der Lesebrille auf der Nasenspitze, der Fliege, dem kantigen Kinn und einer Aussprache, in der noch Reste des näselnden Akzents der Bevölkerung von Montana zu hören waren. Drumlins Vorstellung von Geselligkeit entsprach es, die fortgeschrittenen Studenten und jüngeren Fakultätsmitglieder zu sich nach Hause zum Abendessen einzuladen (anders als Ellies Stiefvater, der sich zwar gern von Studenten hofieren ließ, es aber für völlig übertrieben hielt, sie zum Abendessen zu bitten). Drumlin zeigte dabei das extreme Bedürfnis, sich auf den Gebieten seiner eigenen Forschung zu produzieren, indem er das Gespräch ständig auf Themen lenkte, in denen er der anerkannte Fachmann war, um dann widersprechende Ansichten schnell vom Tisch zu fegen. Nach dem Abendessen mußte man oft einen Diavortrag über Dr. D. als Sporttaucher auf Cozumel, Tobago oder dem Großen Barrier-Riff über sich ergehen lassen. Meist lachte und winkte er auf den Bildern in die Kamera, auch auf den Unterwasserbildern. Manchmal war auch eine Unterwasseransicht seiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin Dr. Helga Bork dabei. Gegen diese letzteren Dias protestierte Drumlins Frau immer mit dem den Tatsachen entsprechenden Argument, daß die meisten Gäste sie schon bei früheren Abendessen gesehen hätten. In Wirklichkeit hatten die Gäste nicht nur diese, sondern überhaupt alle Dias schon einmal gesehen. Drumlin antwortete darauf stets mit einem Lobpreis der sportlichen Vorzüge von Dr. Bork, was die Demütigung seiner Frau noch vergrößerte. Die meisten Studenten versuchten, sich trotzdem zu amüsieren, und suchten nach Details, die bei früheren Vorführungen zwischen Steinkorallen und stachligen Seeigeln verlorengegangen waren. Einige wenige wandten sich vor Verlegenheit ab oder konzentrierten sich ganz auf die Avocadosoße auf dem Tisch. Ein anregender Nachmittag war es für die Studenten, wenn Drumlin sie zu zweit oder dritt einlud, ihn hinaus zu seinem Lieblingsfelsen in der Nähe von Pacific Palisades zu fahren. Lässig an seinen Drachen geschnallt, sprang er dort von den Klippen auf den ruhigen Ozean hinaus, der einige hundert Meter tiefer lag. Aufgabe der Studenten war es, mit dem Wagen die Küstenstraße hinunterzufahren und ihn am Fuß der Klippen abzuholen. Von oben stürzte er auf sie herab und strahlte dabei vor Vergnügen. Er forderte die Studenten auf, sich ihm anzuschließen, aber nur wenige nahmen die Einladung an. Er war im Vorteil und genoß es in vollen Zügen. Es war ein richtiges Schauspiel. Es gab Professoren, die in den Studenten den wissenschaftlichen Nachwuchs und ihre intellektuellen Fackelträger zur nächsten Forschergeneration sahen. Drumlin, das fühlte Ellie, war da ganz anderer Ansicht. Für ihn waren die älteren Studenten Gegner in einem Duell mit Revolvern. Und man konnte nie wissen, welcher von ihnen ihn vielleicht schon im nächsten Moment zum Kampf um den Titel des „schnellsten Revolvers im Westen“ herausforderte. Die Studenten mußten an ihrem Platz gehalten werden. Ellie gegenüber war er noch nie zudringlich geworden, aber früher oder später würde er es sicher versuchen.

In Ellies zweitem Jahr am Institut kehrte Peter Valerian, der ein Forschungsjahr im Ausland verbracht hatte, auf den Campus zurück. Er war ein stiller, dabei wenig attraktiver Mann. Niemand hielt ihn für besonders brillant, und er selbst hätte das auch nie von sich behauptet. Dennoch hatte er in der Radioastronomie immer wieder bedeutende Erfolge zu verbuchen gehabt. Den Grund dafür sah er, wenn man ihn darauf festnagelte, darin, daß er „nie locker ließ“. In seiner wissenschaftlichen Karriere gab es einen leicht anrüchigen Punkt: Er war fasziniert von der möglichen Existenz extraterrestrischer Intelligenzen. Jedem Fakultätsmitglied wurde anscheinend sein Spleen zugestanden: Drumlin hatte das Drachenfliegen, Valerian sein Leben auf anderen Planeten, andere hatten ihre Bars mit oben ohne, fleischfressende Pflanzen und transzendentale Meditation. Valerian hatte über extraterrestrische Intelligenzen, abgekürzt ETI, schon länger und mit größerer Anstrengung und Sorgfalt als sonst irgend jemand nachgedacht, je besser Ellie ihn kennenlernte, desto deutlicher sah sie die Faszination und die romantischen Vorstellungen, die ETI in ihm weckten — und die in so krassem Gegensatz zu seinem äußerlich ereignislosen Leben standen. Das Nachdenken über extraterrestrische Intelligenzen war keine Arbeit für ihn, sondern Spiel. Seine Phantasie schwang sich dabei zu wahren Höhenflügen auf. Ellie hörte ihm begeistert zu. Es war, als beträte man ein verzaubertes Land mit Städten aus Edelsteinen. Nein, es war noch viel besser, weil am Ende all seiner Überlegungen immer der Gedanke stand, daß vielleicht doch alles wahr war und sich wirklich ereignete. Eines Tages, überlegte sie gedankenverloren,

erreicht uns vielleicht tatsächlich und nicht nur in der Phantasie eine Botschaft über eines dieser riesigen Radioteleskope. Auf der anderen Seite allerdings waren Valeriens Gedankengänge doch nicht so schön wie ein verzaubertes Land, denn wie auch Drumlin auf seinen Gebieten betonte er immer wieder, daß Spekulationen mit nüchterner physikalischer Realität konfrontiert werden müssen. Die Realität war eine Art Sieb, das die wenigen brauchbaren Spekulationen von dem massenweise produzierten Unsinn schied. Die extraterrestrischen Wesen und ihre Technologien mußten sich streng in die Naturgesetze fügen, eine Tatsache, die den Zauber vieler Spekulationen empfindlich störte. Aber was in dem Sieb hängenblieb und der kritischsten physikalischen und astronomischen Analyse standhielt, das war vielleicht wahr. Sicher konnte man natürlich nie sein. Es gab bestimmt noch Möglichkeiten, an die man nicht gedacht hatte und die vielleicht eines Tages klügere Leute als man selbst herausfinden würden.

Valerian wies immer wieder darauf hin, daß die Menschen Gefangene ihrer Zeit, ihrer Kultur und ihrer biologischen Beschaffenheit seien, und wie begrenzt dementsprechend ihre Möglichkeiten seien, sich grundsätzlich andersartige Lebewesen und Zivilisationen vorzustellen. Solches Leben, das sich gesondert auf anderen Planeten entwickelt hätte, mußte dann ja völlig verschieden vom Leben auf der Erde sein. Möglicherweise gab es Lebewesen, die viel weiter entwickelt waren als wir und über unvorstellbare Technologien verfügten — davon mußte man fast sicher ausgehen — und die vielleicht sogar neue physikalische Gesetze kannten. Während sie an einer Reihe mit Stuck verzierter Bögen entlangspazierten, die an ein Gemälde De Chiricos erinnerten, erklärte Valerian, daß es hoffnungslos engstirnig sei zu glauben, alle bedeutenden physikalischen Gesetze seien bereits zu dem Zeitpunkt entdeckt gewesen, als unsere Generation anfing, sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen. Es werde ebenso eine Physik des 21. Jahrhunderts, des 22. Jahrhunderts und sogar eine des 4. Jahrtausends geben. Vielleicht waren wir lächerlich weit entfernt davon, auch nur zu erahnen, wie die Kommunikation einer ganz anders gearteten technischen Zivilisation aussah.

Aber, beruhigte er sich dann immer selbst, extraterrestrische Wesen müßten eigentlich wissen, wie rückständig wir sind. Wenn wir etwas fortgeschrittener wären, dann wüßten sie bereits über uns Bescheid. Aber wir fangen gerade erst an, auf zwei Beinen zu stehen, haben letzten Mittwoch das Feuer entdeckt und sind erst gestern über die Newtonsche Mechanik, die Maxwellschen Gleichungen, Radioteleskope und Hinweise auf eine Weltformel der Physik gestolpert. Valerian war davon überzeugt, daß sie es uns nicht schwermachen würden. Sie würden versuchen, es einfach für uns zu machen, denn wenn sie mit Dummköpfen in Verbindung treten wollten, dann mußten sie diesen eben Zugeständnisse machen. Darum sah Valerian auch eine Chance auf Erfolg, sollte je eine Botschaft kommen. Sein Mangel an Brillanz war in Wirklichkeit seine Stärke. Er wußte, davon war er überzeugt, was Dummköpfe wußten.

Als Thema für ihre Doktorarbeit setzte Ellie sich im Einverständnis mit der Fakultät die Aufgabe, an einer Verbesserung der empfindlichen Empfänger, die bei Radioteleskopen verwendet wurden, zu arbeiten. Dabei konnte sie ihre Kenntnisse in der Elektronik einsetzen, außerdem war sie so den vorwiegend auf theoretischem Gebiet arbeitenden Drumlin los und konnte ihre Diskussionen mit Valerian fortsetzen, jedoch ohne den ihre späteren Berufschancen gefährdenden Schritt zu tun, bei ihm über extraterrestrische Intelligenz zu arbeiten. Das war ein zu spekulatives Gebiet für eine Dissertation. Ihr Stiefvater hatte ihre verschiedenen Unternehmungen bisher als unrealistisch und zu ehrgeizig, gelegentlich auch völlig langweilig abqualifiziert. Als er über Dritte von dem Thema ihrer Doktorarbeit hörte — Ellie sprach jetzt überhaupt nicht mehr mit ihm — tat er es als belanglos ab.

Ellie arbeitete mit einem Rubinmaser. Ein Rubin besteht hauptsächlich aus fast völlig durchsichtigem Aluminium. Die rote Farbe rührt von einer Verunreinigung durch Chrom her, das dem Alumimumkristall eingelagert ist. Wenn man auf den Rubin ein starkes Magnetfeld aufprägt, dann absorbieren die Chromatome mehr Energie oder, wie die Physiker sagen, sie geraten in einen angeregten Zustand. Ellie liebte die Vorstellung von all den kleinen Atomen, die in jedem Verstärker zu fieberhafter Tätigkeit aufgerufen wurden und damit dem guten und praktischen Zweck dienten, ein schwaches Radiosignal zu verstärken. Je stärker das Magnetfeld war, desto aufgeregter bewegten sich die Atome. Man konnte den Maser auf eine bestimmte Radiofrequenz einstellen. Ellie fand einen Weg, Rubine mit Lanthanidverunreinigungen zusätzlich zu den Chromatomen herzustellen, so daß der Maser auf einen noch kleineren Frequenzbereich abgestimmt werden und damit ein noch schwächeres Signal als die bisherigen Maser aufspüren konnte. Ellies Detektor mußte in flüssiges Helium getaucht werden. Dann montierte sie ihr neues Instrument an eines der Radioteleskope des Instituts in Owens Valley und entdeckte auf völlig neuen Frequenzen, was Astronomen die Drei-GradHintergrundstrahlung nennen — die Reststrahlung im Radiospektrum von der gewaltigen Explosion, mit der das Universum seinen Anfang nahm, vom Urknall.

„Also noch einmal alles von vorn“, überlegte Ellie laut. „Ich habe ein Edelgas genommen, das in der Luft vorkommt, ich habe es verflüssigt, ein paar Verunreinigungen in einen Rubin eingelagert, einen Magneten drangemacht und das Feuer der Schöpfung entdeckt.“

Verwundert schüttelte Ellie den Kopf. Jemandem, der nichts von der zugrundeliegenden Physik verstand, mußte das ganze als die reine schwarze Magie erscheinen. Wie hätte man das den besten Wissenschaftlern von vor tausend Jahren erklären sollen, die zwar Kenntnisse über Luft, Rubine und Magneten hatten, aber nichts von flüssigem Helium, stimulierter Emission und supraleitenden Flüssigkeiten wußten? Wenn sie sich recht erinnerte, hatten sie nicht einmal die leiseste Ahnung vom Radiospektrum. Oder auch nur eine Vorstellung von einem Spektrum überhaupt — außer vielleicht einer vagen Idee durch die Anschauung des Regenbogens. Sie wußten nicht, daß Licht aus Wellen besteht. Wie konnten wir dann hoffen, eine Zivilisation zu verstehen, die uns vielleicht tausend Jahre voraus war? Künstliche Rubine mußten in großen Mengen hergestellt werden, da immer nur wenige die erforderlichen Eigenschaften aufwiesen. Keiner hatte ganz die Qualität eines Edelsteins, und die meisten waren sehr klein. Aber Ellie fand Gefallen daran, ein paar der größeren Steine, die nicht verwendet werden konnten, als Schmuck zu tragen. Sie paßten ausnehmend gut zu ihrer dunklen Haar- und Gesichtsfarbe. Auch wenn solche Steine in Ringen oder Broschen sorgfältig geschliffen waren, konnte man an ihnen noch seltsame Unregelmäßigkeiten erkennen: Die merkwürdige Art beispielsweise, in der das Licht plötzlich in einem bestimmten Winkel aus dem Inneren eines Steins aufleuchtete, oder die pfirsichfarbenen Flecken im Rubinrot. Freunden gegenüber, die keine Naturwissenschaftler waren, behauptete Ellie, daß ihr Rubine gefielen, sie sich aber keine echten leisten könne. Es war fast so wie bei jenem Naturwissenschaftler, der als erster den biochemischen Vorgang der Photosynthese bei grünen Pflanzen entdeckt hatte und danach immer eine Tannennadel oder ein Petersiliensträußchen am Revers trug. Ellies Kollegen, die sie mit zunehmendem Respekt behandelten, ließen es ihr als kleine Schrulle durchgehen.

Die großen Radioteleskope der Welt sind aus demselben Grund in abgelegenen Gegenden installiert, aus dem Paul Gauguin nach Tahiti fuhr: Um gut zu funktionieren, mußten sie weit weg von jeder Zivilisation sein. Als der zivile und militärische Funkverkehr immer umfangreicher wurde, mußten die Radioteleskope versteckt werden — in einem abgelegenen Tal in Puerto Rico beispielsweise oder weit entfernt von jeder menschlichen Behausung in den endlosen Steppen New Mexicos oder Kasachstans. Und je mehr Radiostörgeräusche es gibt, desto sinnvoller erscheint es, die Teleskope überhaupt von der Erde wegzuverlegen. Wissenschaftler, die in solchen weltabgeschiedenen Sternwarten arbeiten, leben oft mit verbissenem Ernst ausschließlich ihrer Arbeit. Von ihren Frauen werden sie verlassen, und ihre Kinder ergreifen die erstbeste Gelegenheit, von zu Hause fortzukommen, aber sie selbst harren aus. In den seltensten Fällen halten sie sich für Träumer. Der ständige wissenschaftliche Mitarbeiterstab in diesen abgelegenen Observatorien besteht eher aus Männern der Praxis, aus Experten und Experimentatoren, die Antennen aufstellen und komplizierte Datenanalysen durchführen können, aber wenig über Quasare und Pulsare wissen. Auch in ihrer Kindheit haben diese Leute eigentlich nie versucht, nach den Sternen zu greifen. Meist sind sie viel zu heftig damit beschäftigt gewesen, den Vergaser des Familienautos zu reparieren. Nach ihrer Promotion nahm Ellie eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Observatorium in Arecibo an. Den riesigen Parabolspiegel von 305 Meter Durchmesser hatte man in einer karstigen Bergmulde der Gebirgsausläufer im nordwestlichen Puerto Rico errichtet. Da die Station das größte Radioteleskop der Erde besaß, sah Ellie gespannt dem Tag entgegen, an dem sie ihren Maserdetektor einsetzen konnte, um damit möglichst viele verschiedene astronomische Objekte zu erkunden — benachbarte Planeten und Sterne, das Zentrum der Milchstraße, Pulsare und Quasare. Als vollgültiges Mitglied der Observatoriumsbelegschaft räumte man ihr beträchtliche Beobachtungszeiten ein. Der Zugang zu den großen Radioteleskopen war heiß umkämpft, da es mehr lohnende Forschungsvorhaben gab, als man unterbringen konnte. Deshalb war die reservierte Zeit am Teleskop für die dort wohnende Belegschaft eine Sondervergütung von unschätzbarem Wert. Für viele Astronomen war das der einzige Grund, warum sie sich überhaupt bereit erklärten, an diesen gottverlassenen Orten zu leben. Ellie hoffte auch, ein paar der nähergelegenen Sterne auf mögliche Signale intelligenten Ursprungs hin untersuchen zu können. Mit ihrem Detektorsystem konnte man die Radiostrahlung eines Planeten wie der Erde sogar dann noch hören, wenn er einige Lichtjahre entfernt war. Und eine höherentwickelte Gesellschaft, die mit uns in Verbindung treten wollte, würde zweifellos zu viel größeren Energieübertragungen in der Lage sein als wir. Wenn das Radarteleskop von Arecibo ein Megawatt Energie an einen bestimmten Ort im All senden konnte, dann — so malte Ellie sich aus — mußte eine Zivilisation, die der unseren nur ein wenig voraus war, schon in der Lage sein, hundert oder mehr Megawatt auszusenden. Wenn sie tatsächlich mit einem Teleskop arbeiteten, das so groß wie dieses in Arecibo war, aber vielleicht einen Hundert-Megawatt-Sender besaß, dann mußte Arecibo sie eigentlich überall in der Galaxis ausfindig machen können. Ellie dachte gründlich darüber nach und war überrascht, wie klein sich die bisherigen tatsächlichen Unternehmungen auf der Suche nach extraterrestrischen Intelligenzen ausnahmen im Vergleich zu dem, was bereits möglich war. Die Geldmittel, die man bisher für solche Fragen bereitgestellt hatte, waren unbedeutend. Dabei hätte Ellie kaum sagen können, ob es ein wissenschaftliches Problem gab, das ihr noch wichtiger erschien. Die Anlage in Arecibo wurde von den Einheimischen „El Radar“ genannt. Über ihren Zweck wußten sie wenig, aber sie garantierte mehr als hundert dringend benötigte Arbeitsplätze. Die einheimischen jungen Frauen allerdings hielt man streng getrennt von den männlichen Wissenschaftlern, von denen man zu fast jeder Tages- und Nachtzeit einige voll nervöser Energie auf dem Weg, der die muldenartige Vertiefung umgab, joggen sehen konnte. Die Aufmerksamkeit, die man Ellie deshalb bei ihrer Ankunft entgegenbrachte, war ihr zwar nicht ganz unwillkommen, störte sie allerdings schon bald in ihrer Forschungsarbeit.

Die Landschaft war wunderschön. Oft schaute Ellie in der Abenddämmerung aus einem der Kontrollfenster und sah, wie sich über dem gegenüberliegenden Rand der Bergmulde Gewitterwolken zusammenzogen, genau über einem der drei riesigen Masten, an denen die Hornantennen und Ellies kürzlich installiertes Masersystem angebracht waren. An der Spitze eines jeden Mastes blinkte ein rotes Warnlicht, für den unwahrscheinlichen Fall, daß sich ein Flugzeug in diese abgelegene Gegend verirrte. Um vier Uhr früh ging Ellie auf einen Sprung hinaus, um frische Luft zu schnappen und fasziniert dem rätselhaften Chor Tausender von Fröschen zu lauschen, die es hier gab und die bei den Einheimischen in Nachahmung ihres klagenden Quakens „coquis“ hießen. Einige der Wissenschaftler lebten ganz in der Nähe des Observatoriums, aber die Isolation, die noch dadurch verstärkt wurde, daß sie kein Spanisch sprachen und im Umgang mit einer anderen Kultur völlig unerfahren waren, ließ sie und ihre Frauen zunehmend vereinsamen und entfremdete sie menschlichen Kontakten. Einige hatten sich entschlossen, in der Ramey-Air-Force-Basis zu wohnen, die sich rühmte, die einzige englischsprachige Schule der ganzen Gegend zu besitzen. Aber die anderthalbstündige Autofahrt von dort zum Observatorium unterstützte nur noch das Gefühl der Einsamkeit. Wiederholte Drohungen puertorikani scher Separatisten, die aufgrund von Fehlinformationen glaubten, daß das Observatorium einem wichtigen militärische Zweck diene, verstärkten das Gefühl unterschwelliger Hysterie und aus den Fugen geratender Lebensumstände. Einige Monate später kam Valerian zu Besuch. Offizieller Anlaß war ein Vortrag, den er halten wollte, aber Ellie wußte, daß er auch nach ihr sehen und sie psychisch etwas aufmuntern wollte. Mit ihren Forschungsarbeiten war sie sehr gut vorangekommen. Sie hatte wahrscheinlich einen neuen interstellaren Molekülwolkenkomplex entdeckt und sehr genaue Werte in der Zeitauflösung über den Pulsar im Zentrum des Crab Nebula erarbeitet. Auch hatte sie die Suche nach Signalen extraterrestrischer Intelligenzen auf einigen Dutzend nahegelegener Sterne abgeschlossen. Sie hatte dabei mit den empfindlichsten Geräten gearbeitet, die jemals zu diesem Zweck eingesetzt worden waren, jedoch ohne positive Ergebnisse. Ein oder zwei auffallende Regelmäßigkeiten waren aufgetaucht. Sie beobachtete die fraglichen Sterne nochmals, konnte aber nichts Außergewöhnliches feststellen. Schaute man nur genügend viele Sterne an, so produzierten früher oder später Störgeräusche auf der Erde oder eine Kette zufälliger Nebengeräusche eine Gesetzmäßigkeit, die einem für einen Augenblick das Herz höher schlagen ließ. Dann beruhigte man sich und überprüfte die Daten noch einmal. Wenn sich die Gesetzmäßigkeit nicht wiederholte, war alles eine Fehlanzeige gewesen. Diese Arbeitsdisziplin war für Ellie sehr wichtig, wenn sie angesichts dessen, was sie suchte,

gefühlsmäßig einigermaßen im Gleichgewicht bleiben wollte. Ellie war entschlossen, so realistisch wie möglich zu sein, jedoch ohne ihren Sinn für das Wunderbare aufzugeben, der ihr eigentlicher Antriebsmotor war.

Aus ihren kargen Vorräten im gemeinschaftlich benutzten Kühlschrank hatte Ellie ein kleines Picknick fürs Mittagessen zusammengepackt, und nun saß sie mit Valerian am Rand der Talmulde, in der das Observatorium lag. In der Ferne konnte man die Arbeiter sehen, die Streifen in der Bespannung reparierten oder auswechselten. Sie trugen besondere Schneeschuhe, damit sie die Aluminiumplatten nicht einrissen und durch sie hindurch in die Tiefe stürzten. Valerian war begeistert von ihren Fortschritten. Zuerst unterhielten sie sich über den neuesten Klatsch und die letzten Erkenntnisse der Wissenschaft. Dann gingen sie zu SETI über, wie man die Suche nach extraterrestrischen Intelligenzen damals zu bezeichnen begann.

„Haben Sie je darüber nachgedacht, sich ganz dieser Sache zu widmen, Ellie?“

„Ich habe darüber nie viel nachgedacht. Und es ist nicht besonders realistisch, oder? Soweit ich weiß, gibt es auf der ganzen Welt keine einzige größere Anlage, die ausschließlich an SETI arbeitet.“

„Nein, bis jetzt noch nicht. Aber es besteht die Möglichkeit, daß der Very Large Array um mehrere Dutzend zusätzlicher Reflektoren erweitert und dann zu einem ausschließlich der Forschung an SETI dienenden Observatorium gemacht wird. Natürlich müßte auch die konventionelle Radioastronomie dazukommen. Es wäre ein großartiges Interferometer. — Ist ja nur eine Möglichkeit. Sie ist kostspielig, und ohne handfeste politische Unterstützung geht dabei nichts. Und selbst im günstigsten Fall würde es noch Jahre dauern, bis es soweit ist. Aber man kann ja mal darüber nachdenken.“

„Peter, ich habe gerade über vierzig benachbarte Sterne untersucht, alle ungefähr vom Typ des Sonnenspektrums. Ich habe mir die 21-Zentimeter-Wasserstofflinie angeschaut, von der alle sagen, daß sie die geeignetste Trägerfrequenz ist, weil Wasserstoff das am häufigsten vorkommende Atom im Universum ist, und so weiter. Und ich habe die Beobachtung mit der höchsten Empfindlichkeit durchgeführt, die man je eingesetzt hat. Nicht das kleinste Signal habe ich gefunden. Vielleicht gibt es überhaupt niemanden da draußen. Vielleicht ist die ganze Sache nur Zeitverschwendung.“

„Genauso wie das Leben auf der Venus? Sie sagen das nur, weil Sie enttäuscht sind. Die Venus ist eine Hölle. Aber sie ist nur ein Planet neben den vielen hundert Milliarden anderer Sterne der Galaxis. Sie haben davon nur eine Handvoll untersucht. Glauben Sie nicht auch, daß es etwas verfrüht ist, jetzt schon aufzugeben? Sie haben gerade ein Milliardstel des Problems bewältigt. Wahrscheinlich sogar noch viel weniger, wenn man noch andere Frequenzen einbezieht.“

„Das weiß ich schon. Aber glauben Sie nicht auch, daß es solche Intelligenzen, wenn es sie gibt, überall geben muß?

Wenn wirklich höherentwickelte Burschen tausend Lichtjahre von uns entfernt leben, warum sollten sie dann nicht auch bei uns hinter dem Haus einen Vertreter haben? Die Sache mit SETI könnte man ewig weitertreiben, ohne je die Überzeugung zu erlangen, zum Ende gekommen zu sein.“

„Jetzt reden Sie fast wie Dave Drumlin. Was er nicht zu seinen Lebzeiten finden kann, interessiert ihn nicht. Wir haben mit SETI gerade erst angefangen. Sie wissen, wie viele Möglichkeiten es gibt. Gerade jetzt sollte man sich jede offenhalten. Jetzt sollte man optimistisch sein. In jeder anderen Epoche der Menschheitsgeschichte hätten wir uns das ganze Leben lang über dieses Problem den Kopf zerbrochen, ohne einen Schritt auf seine Lösung hin tun zu können. Unsere Zeit gibt uns eine einmalige Chance. Zum ersten Mal kann buchstäblich jeder nach extraterrestrischen Intelligenzen suchen. Sie haben den Detektor entwickelt, mit dem man nach Zivilisationen auf Millionen anderer Sterne forschen kann. Den Erfolg kann Ihnen niemand garantieren. Aber können Sie sich eine wichtigere Aufgabe denken? Stellen Sie sich vor, sie schicken uns von da draußen Signale, und niemand auf der Erde hört sie. Das wäre ein Witz, ein schlechter Witz. Würden Sie sich nicht für unsere Zivilisation schämen, wenn wir in der Lage sein könnten, es zu hören, aber nicht die Geduld dazu aufbrächten?“

Links zogen zweihundertsechsundfünfzig Bilder der linksseitigen Welt vorbei. Rechts glitten zweihundertsechsundfünfzig Bilder der rechtsseitigen Welt vorbei. Er fügte sämtliche 512 Bilder zu einer Rundumansicht seiner Umgebung zusammen. Er steckte tief in einem Wald riesiger wogender Halme, einige grün, andere von einem bleichen Gelb, und fast alle höher als er. Ohne Schwierigkeiten bahnte er sich seinen Weg, balancierte über einen schwankenden Halm, der abgeknickt war, fiel auf das weiche Kissen aus am Boden liegenden Halmen, stand unbeirrt wieder auf und setzte seine Reise fort. Er wußte, daß er auf dem richtigen Weg war. Frisch und scharf stach die Luft in seinen Lungen. Es war ihm egal, wenn er auf seinem Weg ein Hindernis erklettern mußte, das hundert oder tausend Mal größer war als er selbst. Er brauchte keine Seile und Stangen dazu, er war bereits vollständig ausgerüstet. Der Boden unmittelbar vor ihm roch nach einem Markierungsduft, der noch frisch war und von einem anderen Kundschafter seiner Sippe stammen mußte. Das bedeutete fast immer Futter. Das Futter tauchte wie aus heiterem Himmel auf. Kundschafter machten es ausfindig und markierten den Weg. Er und seine Kameraden schleppten es dann zurück. Manchmal war das Futter ein Wesen, das so aussah wie er. Dann wieder war es nur ein unförmiger oder kristallartiger Brocken, der so groß sein konnte, daß man viele aus seiner Sippe brauchte, die ihn in gemeinsamer Anstrengung über abgeknickte Blätter nach Hause schleppten. Genußvoll schmatzend bewegte er schon im voraus den Unterkiefer.

„Was mich viel mehr beschäftigt“, sagte Ellie, „ist im Gegenteil die Möglichkeit, daß sie es gar nicht erst versuchen. Sie könnten mit uns in Verbindung treten, gut, aber sie tun es nicht, weil sie sich nichts davon versprechen. Also wie.“ — sie schaute auf einen Zipfel des Tischtuches, das sie über das Gras gebreitet hatten — „… wie die Ameisen. Ameisen leben in derselben Welt wie wir. Sie haben eine Menge zu tun, alles Dinge, die sie in Anspruch nehmen. Auf eine bestimmte Art wissen sie über ihre Umgebung sehr gut Bescheid. Aber wir versuchen nicht, mit ihnen in Verbindung zu treten. Deshalb glaube ich auch nicht, daß sie irgend eine Ahnung haben, daß es uns gibt.“

Eine große Ameise, die unternehmungslustiger als ihre Kameraden war, hatte sich auf das Tischtuch gewagt und marschierte jetzt munter diagonal über die roten und weißen Quadrate. Ellie unterdrückte eine heftigere Reaktion und schnippte die Ameise vorsichtig zurück aufs Gras — wohin sie gehörte.

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