3 Weißes Rauschen

Erlauschter Klang ist süß;

noch Süßeres sagt Der Stumme.

John Keats Ode auf eine griechische Urne (1820)

Die grausamsten Lügen brauchen oft keine Worte.

Robert Louis Stevenson Virginibus Puerisque (1881)

Schon seit Jahren wanderten die Pulse durch die unendliche Finsternis zwischen den Sternen. Hin und wieder drangen sie durch eine unförmige Wolke aus Gas und Staub, die einen kleinen Teil der Energie absorbierte. Der Rest bewegte sich in der ursprünglichen Richtung weiter. Ein schwaches gelbes Leuchten eilte ihnen voraus, das im Gegensatz zu den stetig leuchtenden Sternen des Alls immer heller wurde. Obwohl für das menschliche Auge noch immer ein Punkt, war es jetzt bereits das bei weitem hellste Objekt am schwarzen Himmel. Und dann trafen die Pulse auf einen Haufen gigantischer Schneebälle.


Eine gertenschlanke Frau Ende Dreißig betrat das Verwaltungsgebäude der Argus. Die großen, weit auseinanderstehenden Augen verliehen ihren kantigen Gesichtszügen eine gewisse Weichheit. Das lange, dunkle Haar wurde von einer Schildpattspange im Nacken lose zusammengehalten. Lässig in Strickpullover und Khakirock gekleidet, schlenderte sie den Flur im ersten Stock entlang, hielt vor einer Tür, auf der „Direktor E. Arroway“ stand, und öffnete das Spezialschloß mit einem Druck ihres Daumens. Einem Beobachter wäre dabei vielleicht der Ring an ihrer rechten Hand aufgefallen, in den ungeschickt ein merkwürdig milchig-roter Stein eingesetzt war. Drinnen machte sie die Schreibtischlampe an, durchstöberte eine Schublade und kramte schließlich einen Kopfhörer heraus. An der Wand neben ihrem Schreibtisch leuchtete für einen Moment ein Zitat aus Franz Kafkas Parabeln auf:

Nun haben die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr Schweigen.

Es ist. vielleicht denkbar, daß sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hätte, vor ihrem Schweigen gewiß nicht.

Mit einer Handbewegung löschte sie das Licht und ging im Halbdunkel zur Tür.

Im Kontrollraum überzeugte sie sich mit einem Blick, daß alles in Ordnung war. Durch das Fenster konnte sie einige der 131 Radioteleskope sehen. Sie waren auf einem Gelände von über zehn Kilometer Länge in der Wüste New Mexicos verteilt und sahen wie exotische Metallblumen aus, die in den Himmel wuchsen. Es war früh am Nachmittag, und letzte Nacht war sie lange aufgeblieben. Radioastronomie konnte man freilich auch bei Tageslicht betreiben, weil die Atmosphäre zwar das sichtbare Licht der Sonne, nicht aber Radiowellen streute. Für ein Radioteleskop, das nicht auf die Sonne gerichtet war, war der Himmel pechschwarz, von den Radioquellen abgesehen.

Jenseits der Erdatmosphäre, auf der anderen Seite des Himmels, gab es ein Universum, das voll von Radiostrahlung war. Wenn man diese Radiowellen genau untersuchte, konnte man eine Menge über Planeten, Sterne und Galaxien, die Zusammensetzung der riesigen organischen Molekülwolken, die zwischen den Sternen trieben, und den Ursprung, die Entwicklung und das Schicksal des Universums erfahren. Dabei handelte es sich allerdings um natürliche Radiostrahlung — verursacht durch physikalische Prozesse, durch Elektronen, die sich spiralförmig im galaktischen Magnetfeld bewegten, interstellare Moleküle, die aufeinander stießen, oder die fernen Echos des Urknalls, dessen Strahlung von den Gammastrahlen am Anfang des Universums zu den friedlicheren, kalten Radiowellen, die jetzt den gesamten Weltraum erfüllten, rotverschoben war. In den wenigen Jahrzehnten, seit die Menschen Radioastronomie betrieben, hatte es nie ein wirkliches Signal aus den Tiefen des Weltalls gegeben, das Produkt einer außerirdischen künstlichen Intelligenz gewesen war. Falschen Alarm hatte es häufiger gegeben. So hatte man die regelmäßigen Zeitabweichungen der Radiostrahlung von Quasaren und besonders Pulsaren anfänglich voller Aufregung für eine Art außerirdisches Signal gehalten oder sogar eine Art Radioleuchtturm zu Navigationszwecken für exotische Raumschiffe, die zwischen den Sternen im Weltall kreuzten, in ihnen vermutet. Aber alles hatte sich schließlich als etwas ganz anderes entpuppt — als etwas, das vielleicht genauso exotisch war wie ein Signal von Wesen im Weltall. Quasare waren allem Anschein nach gewaltige Energiequellen, die irgend etwas mit den kompakten Schwarzen Löchern in den Zentren der Galaxien zu tun hatten. Viele von denen, die man beobachtet hatte, reichten in ihrer Entstehung weit in die Geschichte des Universums zurück. Pulsare waren Atomkerne, die sich mit rasender Geschwindigkeit drehten und die Ausmaße einer Stadt besaßen. Es hatte noch andere geheimnisvolle Botschaften gegeben, die sich zwar als durchaus intelligent herausstellten, mit extraterrestrischen Wesen jedoch wenig zu tun hatten. Inzwischen war der Himmel trotz der flehentlichen Bitten einiger Radioastronomen mit geheimen militärischen Radarsystemen und Nachrichtensatelliten vollgestopft worden. Es gab regelrechte Banditen, die die internationalen Abkommen im Nachrichtenwesen ignorierten. Eine Regreßpflicht oder Strafen dafür gab es nicht. In einigen Fällen wollte keine Nation die Verantwortung übernehmen. Aber nie war ein eindeutig als solches identifizierbares außerirdisches Signal gekommen. Aber der Ursprung des Lebens schien jetzt so einfach zu erklären zu sein — es gab so und so viele Planetensysteme und Welten und so und so viele Milliarden Jahre der Evolution —, daß man kaum glauben konnte, daß die Galaxis nicht vor Leben und Intelligenz überquoll. Das Projekt Argus war das größte der Welt, das der Suche nach extraterrestrischer Intelligenz mit Hilfe von Radiostrahlung gewidmet war. Radiowellen bewegten sich mit Lichtgeschwindigkeit, also schneller als alles andere. Sie waren leicht zu erzeugen und leicht zu entdecken. Selbst technisch so rückständige Zivilisationen wie die der Erde mußten bei der Erforschung der physikalischen Welt frühzeitig über die Radiostrahlung stolpern. Sogar mit der zur Verfügung stehenden rudimentären Radiotechnologie — seit der Erfindung des Radioteleskops waren nur wenige Jahrzehnte vergangen — konnte man wahrscheinlich mit einer identischen Zivilisation im Zentrum der Galaxis Kontakt aufnehmen. Dabei waren allerdings so viele Stellen am Himmel und so viele Frequenzen, auf denen eine unbekannte Zivilisation senden konnte, zu untersuchen, daß ein systematisches und langfristiges Beobachtungsprogramm erforderlich war. Argus war seit vier Jahren in Betrieb. Bisher hatte es zwar immer wieder Hoffnung und den nächsten falschen Alarm gegeben, aber keine Botschaft.

„Tag, Frau Dr. Arroway.“

Der Ingenieur, der sich allein in dem Raum befand, lächelte Ellie freundlich zu. Sie nickte. Die 131 Teleskope des Projekts Argus waren computergesteuert. Die Anlage tastete den Himmel selbsttätig ab. Der Computer überwachte die Teleskope auf mechanische und elektronische Pannen und verglich die Daten verschiedener Einzelteleskope. Ellie warf einen Blick auf den Frequenzanalysator, der mit einer Milliarde Kanälen ausgestattet war und mit seiner Elektronik eine ganze Wand einnahm, dann sah sie nach der optischen Anzeige des Spektrometers.

Für die Astronomen und Techniker gab es nicht viel zu tun, während die Teleskope in jahrelanger Arbeit langsam den Himmel absuchten. Wenn die Teleskope etwas Interessantes entdeckten, ertönte automatisch eine Alarmanlage, die die Wissenschaftler des Projekts nötigenfalls auch aus den Betten holte. Dann entfaltete sich hektische Aktivität, bis man herausgefunden hatte, ob es sich um einen technischen Fehler oder um einen amerikanischen oder sowjetischen Flugkörper im All handelte. In Zusammenarbeit mit den Ingenieuren des Teams überlegte Ellie immer wieder, wie man die Empfindlichkeit der Geräte weiter verbessern konnte. War in der Strahlung ein bestimmtes Muster, eine Regelmäßigkeit zu erkennen? Sie stellte einige Radioteleskope für die Untersuchung exotischer astronomischer Objekte frei, die vor kurzem von anderen Observatorien entdeckt worden waren. Sie half Mitgliedern des Teams und Wissenschaftlern, die nur als Gäste hier waren, bei ihren Projekten, die mit SETI nichts zu tun hatten. Regelmäßig flog sie nach Washington, um das Interesse ihres Geldgebers, der National Science Foundation, wachzuhalten. Beim Rotary Club in Socorro und an der Universität von New Mexico in Albuquerque hielt sie öffentliche Vorträge über Argus, und ab und zu konnte sie einen unternehmungslustigen Reporter begrüßen, der überraschend hier im hintersten Winkel New Mexicos auftauchte.

Ellie mußte aufpassen, nicht der Langeweile zu erliegen. Ihre Mitarbeiter waren zwar angenehm und freundlich, aber abgesehen davon, daß es sich nicht schickte, eine enge persönliche Beziehung mit einem Untergebenen einzugehen, verspürte sie auch gar keine Neigung zu so etwas. Sie hatte einige kurze, leidenschaftliche, im Grunde genommen aber flüchtige Liebschaften mit einheimischen Männern, die nichts mit dem Projekt zu tun hatten. Auch in diesem Bereich ihres Lebens hatten sich Langeweile und Überdruß breitgemacht.

Sie setzte sich an eines der Schaltpulte und stöpselte den Kopfhörer ein. Natürlich wußte sie, daß es absurd war zu glauben, daß sie, wenn sie auf einem oder zwei Kanälen mithorchte, eine Gesetzmäßigkeit entdecken würde, die der riesigen Computeranlage, die eine Milliarde Kanäle abhörte, entgangen sein könnte. Aber es gab ihr ein Gefühl von Nützlichkeit. Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen. Ein träumerischer Ausdruck legte sich über ihr Gesicht. Sie ist wirklich sehr hübsch, erlaubte sich der Ingenieur zu denken.

Ellie hörte die normalen atmosphärischen Störungen, ein stetiges Rauschen. Einmal, als sie die Region des Himmels abhorchte, in die der Stern AC + 793888 in Cassiopeia gehörte, hatte sie wiederholt gemeint, ein Singen zu hören, ohne allerdings ganz sicher zu sein, ob ihr nicht die Einbildung einen Streich spielte. Bis zu diesem Stern als äußerstem Punkt würde Voyager 1 gelangen, der sich jetzt in der Nähe der Umlaufbahn von Neptun befand. Die Raumkapsel führte eine goldene Schallplatte mit sich, auf die Grüße, Bilder und Lieder von der Erde eingepreßt waren. Konnten außerirdische Wesen uns ihre Musik mit Lichtgeschwindigkeit senden, während wir ihnen unsere nur ein Zehntausendstel so schnell sandten? Wenn die atmosphärischen Störungen so offensichtlich strukturlos waren wie jetzt, mußte sie an Shannons berühmten Kommentar zur Informationstheorie denken, daß nämlich selbst die schönste verschlüsselte Botschaft nicht vom Rauschen zu unterscheiden war, wenn man den Code nicht kannte. Rasch drückte Ellie ein paar Tasten auf dem Pult vor sich und spielte zwei enge Frequenzbänder gegeneinander aus, in jeder Muschel des Kopfhörers eines. Nichts. Sie hörte sich die zwei Polarisationsebenen der Radiowellen an und dann den Kontrast zwischen der linearen und der zirkularen Polarisation. Man hatte die Wahl zwischen einer Milliarde Kanäle. Ein ganzes Leben lang konnte man versuchen, dem Computer zuvorzukommen, indem man mit den so jämmerlich unzureichenden menschlichen Ohren und dem Gehirn horchte und nach einem Muster suchte.

Menschen, wußte Ellie, waren gut im Unterscheiden komplizierter Muster, die es tatsächlich gab, aber genauso gut konnten sie sich Muster vorstellen, wo überhaupt keine waren. Eine bestimmte Pulssequenz, eine Konfiguration atmosphärischer Störungen würde für einen kurzen Augenblick einen synkopischen Takt oder eine kurze Melodie ergeben. Sie schaltete auf zwei Radioteleskope um, die eine bereits bekannte Radioquelle in der Galaxis abhörten. Sie hörte ein Glissando über den Radiofrequenzen, das auf die Streuung der Radiowellen durch die Elektronen in dem dünnen interstellaren Gas zwischen der Radioquelle und der Erde zurückzuführen war. Je ausgeprägter das Glissando, desto mehr Elektronen waren im Weg und desto weiter war die Quelle von der Erde entfernt. Ellie hatte das oft gemacht und konnte die Entfernung nach einmaligem Hören exakt bestimmen. Dieses Glissando hier war nach ihrer Schätzung ungefähr eintausend Lichtjahre entfernt — viel weiter weg als die nächsten Sterne, aber immer noch innerhalb unserer gigantischen Galaxis.

Ellie kehrte in den Himmelsinspektionsmodus von Argus zurück. Wieder kein Muster. Sie kam sich wie ein Musiker vor, der dem Grollen eines fernen Gewitters zuhört. Kleine Regelmäßigkeiten, die sich zufällig ergeben hatten, verfolgten sie und setzten sich so nachhaltig in ihrem Gedächtnis fest, daß sie manchmal auf die Bänder eines bestimmten Beobachtungslaufes zurückgreifen mußte, um sich zu vergewissern, daß ihre Ohren nichts gehört hatten, was dem Computer entgangen war.

Ihr ganzes Leben waren Träume ihre Freunde gewesen. Diese Träume waren außergewöhnlich genau, gut strukturiert und abwechslungsreich. Ellie hatte das Gesicht ihres Vaters oder die Rückwand eines alten Radioapparates wie im Film in allen Einzelheiten vor sich gesehen. Sie hatte sich immer bis in die kleinsten Einzelheiten an ihre Träume erinnern können — außer wenn sie unter extremem Druck stand wie vor ihrer mündlichen Doktorprüfung oder damals, als sie sich von Jesse getrennt hatte. Aber neuerdings tat sie sich schwer, sich die Bilder ihrer Träume in Erinnerung zu rufen. Und zu ihrer eigenen Bestürzung fing sie an, Töne zu träumen — wie Menschen, die blind geboren worden waren. In den frühen Morgenstunden erzeugte ihr Unterbewußtsein eine Melodie oder ein Liedchen, das sie nie zuvor gehört hatte. Sie wachte auf, machte mit einem akustischen Befehl das Licht auf ihrem Nachttisch an, nahm den Stift zur Hand, den sie für diesen Zweck bereit gelegt hatte, zeichnete Notenlinien und übertrug die Musik auf Papier. Manchmal spielte sie die Musik nach einem langen Arbeitstag mit ihrer Blockflöte und versuchte, sich daran zu erinnern, ob sie sie im Ophiuchus oder im Capricornus gehört hatte. Beunruhigt gestand sie sich ein, daß das natürliche Eigenrauschen der Empfänger und Verstärker und die Geräusche der geladenen Teilchen und magnetischen Felder des kalten dünnen Gases zwischen den fernen funkelnden Sternen sie wie ein Spuk verfolgten.

Immer wieder tauchte ein einzelner, hoher und spitzer Ton auf. Sie brauchte einen Augenblick, um ihn wiederzuerkennen. Er klang wie das Geräusch der Metallrolle an der Wäscheleine ihrer Mutter, die jedes Mal laut gequietscht hatte, wenn man an der Leine zog, um einen weiteren frisch gewaschenen Kittel zum Trocknen in die Sonne zu hängen. Ellie war sicher, daß sie diesen Ton in den fünfunddreißig Jahren, die seitdem vergangen waren, nicht mehr gehört hatte. Als kleines Mädchen hatte sie die Armee im Kreise marschierender Kleidungsstücke geliebt. Und wenn niemand in der Nähe war, hatte sie ihr Gesicht in den frisch getrockneten Leintüchern vergraben. Der Geruch, süß und stechend zugleich, hatte sie berauscht. War das hier womöglich ein Hauch davon? Sie erinnerte sich, wie sie lachend von den Leintüchern weggerannt war und ihre Mutter sie mit einer anmutigen Bewegung aufgefangen und in die Luft geschwungen — in den Himmel, so war es ihr vorgekommen — und dann unterm Arm davongetragen hatte wie ein kleines Bündel Wäsche, das man hübsch gefaltet in die Kommode im Elternschlafzimmer packt.

„Frau Dr. Arroway? Hören Sie mich?“ Der Ingenieur beugte sich über sie und sah, daß ihre Lider unruhig zuckten und sie flach atmete. Ellie blinzelte zweimal, nahm die Kopfhörer ab und lächelte ihn entschuldigend an. Manchmal mußten ihre Kollegen sehr laut sprechen, wenn sie das verstärkte kosmische Radiorauschen übertönen wollten. Sie schrie dann zurück — bei kurzen Gesprächen hatte sie keine Lust, die Kopfhörer abzunehmen —, um die Lautstärke des Rauschens zu übertönen. Wenn sie mit ihren Gedanken ganz woanders gewesen war und dann plötzlich eine zwanglos oder gar lustig gemeinte Bemerkung machte, wirkte das auf einen Außenstehenden inmitten der Stille der weitläufigen Radiostation manchmal wie ein Teil eines hitzigen, grundlosen Streites. Aber jetzt sagte sie nur: „Tut mir leid. Ich war gerade ganz woanders.“

„Dr. Drumlin ist am Telephon. Er sitzt in Jacks Büro und sagt, daß er mit Ihnen verabredet sei.“

„Ach du liebe Güte, das hab ich völlig vergessen.“ Drumlin war noch immer ein brillanter Kopf, aber er hatte jetzt noch mehr Spleens, die damals, als Ellie kurze Zeit bei ihm studiert hatte, noch nicht so deutlich gewesen waren. Zum Beispiel hatte er die peinliche Angewohnheit, immer, wenn er sich unbeobachtet glaubte, nachzusehen, ob er seine Hose wirklich ordentlich zugemacht hatte. Auch war er mit den Jahren immer mehr zu der Überzeugung gekommen, daß es keine extraterrestrischen Lebewesen gab oder sie zumindest zu selten und zu weit entfernt waren, um von den Menschen entdeckt zu werden. Er war nach Argus gekommen, um das wissenschaftliche Kolloquium abzuhalten, das einmal die Woche stattfand. Aber Ellie stellte fest, daß er noch aus einem anderen Grund gekommen war. Drumlin hatte einen Brief an die National Science Foundation geschrieben, in dem er darauf drängte, daß Argus seine Suche nach extraterrestrischen Intelligenzen einstellte und sich ganz der konventionellen Radioastronomie widmete. Er zog den Brief aus seiner Jackettasche und bestand darauf, daß Ellie ihn las.

„Aber wir sind doch erst viereinhalb Jahre dabei. Wir haben uns noch nicht einmal ein Drittel der nördlichen Hemisphäre angesehen. Es ist der erste Durchgang, der das Radiorauschen auf einer Milliarde Kanälen untersucht. Warum sollen wir jetzt damit aufhören?“

„Es wird immer so bleiben wie jetzt, Ellie. Auch nach Jahren wird man überhaupt nichts entdeckt haben. Dann werden Sie vorschlagen, daß man eine Argus-Station für einige hundert Millionen Dollar in Australien oder Argentinien baut, um die südliche Hemisphäre abzuhorchen. Und wenn das auch nichts bringt, werden Sie davon reden, ein Paraboloid mit frei schwebender Antenne in die Erdumlaufbahn zu schicken, damit man auch Millimeterwellen empfangen kann. Es wird immer noch eine Art der Beobachtung geben, die man noch nicht ausprobiert hat. Und Sie werden immer eine Erklärung zur Hand haben, warum die extraterrestrischen Wesen gerade dort senden könnten, wo wir noch nicht hingesehen haben.“

„Ach, Dave, wir haben doch schon hundertmal darüber gesprochen. Wenn wir keinen Erfolg haben, dann wissen wir zumindest, wie selten intelligente Wesen sind — zumindest intelligente Wesen, die so denken wie wir und die mit rückständigen Zivilisationen wie der unseren in Verbindung treten könnten. Und wenn wir Erfolg haben, wird es die Sensation der Astronomie. Ich kann mir keine großartigere Entdeckung vorstellen.“

„Es gibt erstklassige Projekte, für die kein Teleskop zur Verfügung steht. Es gibt Forschungsarbeiten über die Evolution der Quasare, über binäre Pulsare, über die Chromosphäre benachbarter Sterne und über diese merkwürdigen interstellaren Proteine. Solche Projekte müssen warten, nur weil diese Anlage, die die beste ihrer Art auf der Welt ist, fast ausschließlich für SETI genutzt wird.“

„Zu fünfundsiebzig Prozent, Dave. Fünfundzwanzig Prozent gehen an Routineversuche.“

„Sprechen Sie nicht von Routine, Ellie. Wir können bis in die Zeit der Entstehung der Galaxien und vielleicht sogar noch weiter zurückschauen. Wir können die Kerne gigantischer Molekülwolken und die Schwarzen Löcher in den Zentren der Galaxien untersuchen. Da ist eine Revolution in der Astronomie im Gange, und Sie stehen ihr im Weg.“

„Dave, versuchen Sie nicht, das ganze nur auf mich zu schieben. Argus wäre niemals gebaut worden, wenn die Öffentlichkeit SETI nicht unterstützt hätte. Argus war nicht meine Idee. Sie wissen ganz genau, daß man mich zum Direktor gemacht hat, als die letzten vierzig Reflektoren noch im Bau waren. Die NSF steht geschlossen — “

„Nicht ganz, und überhaupt nicht, wenn ich etwas zu sagen hätte. Das Ganze ist doch Effekthascherei und Stoff für billige UFO-Geschichten in den Comic Strips, für die die jungen Leute so anfällig sind.“

Jetzt brüllte Drumlin geradezu, und Ellie fühlte den unwiderstehlichen Drang, ihm einfach das Wort abzudrehen. Es lag an der Art ihrer Arbeit und ihrer vergleichsweise hohen Stellung, daß sie immer wieder Situationen ausgesetzt war, in denen sie, von den Serviererinnen und den Stenotypistinnen einmal abgesehen, die einzige Frau unter lauter Männern war. Trotz ihrer Bemühungen würde es wohl immer zahllose männliche Wissenschaftler geben, die sich nur mit männlichen Kollegen unterhielten und Ellie in Gesprächen hartnäckig unterbrachen oder einfach ignorierten, was sie zu sagen hatte. Ab und zu gab es auch solche wie Drumlin, die geradezu eine persönliche Antipathie zeigten. Aber Drumlin behandelte sie immerhin wie viele andere Männer auch. In seinen Wutausbrüchen war er unparteiisch und suchte beide Geschlechter gleichermaßen heim. Nur ganz wenige ihrer männlichen Kollegen blieben in ihrer Gegenwart natürlich. Mit ihnen sollte sie eigentlich mehr Zeit verbringen. Mit Menschen wie Kenneth Der Heer, dem Molekularbiologen vom Salk- Institut, der erst vor kurzem zum Wissenschaftsberater im Weißen Haus ernannt worden war. Und natürlich mit Peter Valerian.

Ellie wußte, daß viele Astronomen Drumlins ablehnende Haltung Argus gegenüber teilten. Auch auf der Station hatte sich nach den ersten zwei Jahren eine gewisse Ermüdung eingeschlichen. Es gab leidenschaftliche Diskussionen bei der Essensausgabe oder während der langen, ereignislosen Stunden, in denen man vor den Apparaten auf Zeichen außerirdischer Wesen wartete. Vielleicht waren die da draußen völlig anders als die Menschen. Es war schon schwierig genug, die Gedanken der Abgeordneten in Washington zu durchschauen; wie mochten da erst die Gedanken grundsätzlich anders gearteter Wesen aussehen, die auf physikalisch anders zusammengesetzten Welten Hunderte oder Tausende von Lichtjahren entfernt lebten? Einige glaubten, daß ihre Signale überhaupt nicht im Radiospektrum, sondern im Infrarotbereich, im sichtbaren Bereich oder sonst irgendwo zwischen den Gammastrahlen übermittelt werden würden. Oder vielleicht schickten die Außerirdischen schon die ganze Zeit wie verrückt Signale, aber mit einer Technik, die wir in tausend Jahren noch nicht erfunden haben würden.

Astronomen an anderen Instituten machten aufregende Entdeckungen in der Sternenwelt und den Galaxien, wenn sie Objekte untersuchten, die aufgrund welchen Mechanismus auch immer intensive Radiowellen erzeugten. Andere Astronomen veröffentlichten wissenschaftliche Abhandlungen, nahmen an Konferenzen teil und machten Karriere, weil sie ein Ziel und eine gute Nase hatten. Die Astronomen von Argus dagegen publizierten wenig. Und wenn die Einladungen zu Vorträgen für die Jahresversammlung der American Astronomical Society oder den alle drei Jahre stattfindenden Symposien und Plenarsitzungen der International Astronomical Union verschickt wurden, wurden sie in der Regel übergangen. Deshalb hatte die Leitung von Argus nach Rücksprache mit der National Science Foundation 25 Prozent der Beobachtungszeit für Projekte reserviert, die nichts mit der Suche nach außerirdischem Leben zu tun hatten. Einige bedeutende Entdeckungen waren gemacht worden — bei extragalaktischen Objekten, die sich paradoxerweise schneller als Licht fortzubewegen schienen, bei der Oberflächentemperatur von Neptuns großem Mond Triton und bei der dunklen Materie in den äußeren Sphären benachbarter Galaxien, in der keine Sterne zu sehen waren. Die Stimmung wurde besser. Die Argus-Mannschaft hatte wenigstens ab und zu das Gefühl, wichtige Beiträge zur astronomischen Forschung zu leisten. Zwar verlängerte sich so die Zeit, die man brauchte, um den Himmel vollständig abzusuchen, aber die beruflichen Karrieren der Mitarbeiter waren abgesichert. Vielleicht hatten sie keinen Erfolg, Signale anderer intelligenter Lebewesen aufzuspüren, aber dafür entrissen sie der unerschöpflichen Natur andere Geheimnisse. Von diesen 25 Prozent abgesehen, bestand die Suche nach extraterrestrischer Intelligenz (SETI) — einige Wissenschaftler sprachen sogar optimistisch von der Kommunikation mit extraterrestrischer Intelligenz (KETI) — im wesentlichen aus ziemlich stumpfsinniger Beobachtungsroutine. Daneben hatte man einige Stunden für Astronomen von anderen Institutionen reserviert. Obwohl sich die Stimmung gebessert hatte, teilten viele Drumlins Meinung. Sehnsüchtig malten sie sich aus, wie sie die 131 Radioteleskope, ein Wunder der Technik, für ihre eigenen, ebenfalls wichtigen Programme verwenden könnten.

Heute hatte Ellie Drumlin gegenüber weder mit Entgegenkommen noch mit streitbaren Argumenten Erfolg. Er war alles andere als liebenswürdiger Laune und versuchte in seinem Kolloquium zu zeigen, daß es keine extraterrestrischen Wesen geben konnte. Wenn man es in nur wenigen tausend Jahren zu einer so hoch entwickelten Technologie gebracht hatte wie wir, was, so fragte er, mußte dann eine wirklich fortgeschrittene Spezies erst können? Wahrscheinlich konnte sie Sterne versetzen und Galaxien umbilden. Und dennoch gebe es in der gesamten Astronomie nichts, für dessen Erklärung man sich auf extraterrestrische Intelligenz anstelle natürlicher Vorgänge berufen müsse. Warum hatte Argus bis heute noch kein Signal entdeckt? Bildete man sich denn ein, daß es am ganzen Himmel nur einen Radiosender gebe? Hatte man sich schon einmal überlegt, wie viele Milliarden Sterne man bereits untersucht hatte? Das Experiment habe seinen Zweck erfüllt. Den restlichen Himmel brauche man nicht mehr zu untersuchen. Die Antwort liege auf dem Tisch: Weder im hintersten Winkel des Universums noch in der Nähe der Erde gab es Anzeichen für extraterrestrische Intelligenz. Sie existierte nicht.

In der anschließenden Diskussion stellte einer der ArgusAstronomen eine Frage zur Zoohypothese, die davon ausging, daß es sehr wohl außerirdische Wesen gebe, diese sich aber nicht zu erkennen geben wollten, um vor den Menschen zu verbergen, daß im Kosmos noch andere intelligente Wesen existierten — vielleicht aus demselben Empfinden heraus, aus dem sich ein Spezialist für das Verhalten der Primaten wünschte, eine Schar Schimpansen im Busch zu beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Als Antwort stellte Drumlin eine Gegenfrage: War es wahrscheinlich, daß bei einer Million Zivilisationen in der Galaxis — diese Zahl kursierte in Argus — jede Zivilisation an der Praxis der Nichteinmischung festhielt, daß es keine Ausnahme, keinen Wilderer gab? Konnte man sich glaubhaft vorstellen, daß keine dieser Zivilisationen auf der Erde spionierte? „Aber auf der Erde“, antwortete Ellie,

„stehen Wilderer und Wildhüter auf der annähernd gleichen technologischen Entwicklungsstufe. Wenn der Wildhüter einen bedeutenden Vorsprung hat — sagen wir mal, mit Radar und Hubschraubern — dann sind die Wilderer erledigt.“ Einige Wissenschaftler des Argus-Projektes klatschten bei dieser Bemerkung Beifall, aber Drumlin schüttelte nur den Kopf und sagte: „Auch Sie werden mir noch recht geben, Ellie. Irgendwann.“

Wenn sie sich den Kopf lüften wollte, hatte Ellie es sich zur Gewohnheit gemacht, in ihrem liebevoll gepflegten Thunderbird Baujahr 1958 lange, einsame Fahrten zu unternehmen. Der Wagen hatte ein abnehmbares Verdeck und kleine runde Fenster neben den Rücksitzen, die wie Bullaugen aussahen. Er war die einzige Extravaganz, die Ellie sich leistete. Oft ließ sie das Verdeck zu Hause und raste nachts mit heruntergedrehten Fensterscheiben und wehenden schwarzen Haaren durch die Wüste. Im Lauf der Jahre hatte sie jede der ärmlichen kleinen Städte, jeden Berg, jede Bergkuppe und jede Polizeistreife der Highways im südwestlichen New Mexico kennengelernt. Nach einem nächtlichen Beobachtungslauf im Observatorium liebte sie es, mit ihrem Wagen an der Wachstation und der Schranke der Argus-Anlage vorbeizurauschen, schnell in den nächsten Gang zu schalten und in Richtung Norden davonzubrausen. In der Umgebung von Santa Fe konnte man dann über den Sangre-de-Cristo- Bergen oft schon den zarten Schimmer der Morgendämmerung sehen. (Warum benannte eine Religion, fragte sie sich, ihre Orte nach Blut, Körper, Herz und Pankreas ihrer am höchsten verehrten Gottheit? Warum nicht nach dem Gehirn oder anderen wichtigen, aber nie dementsprechend gewürdigten Organen?)

An diesem Abend fuhr sie Richtung Südosten in die Sacramento Mountains. Hatte Dave vielleicht recht? Waren SETI und Argus nur das Hirngespinst von ein paar verschrobenen Astronomen? Stimmte es, daß das Projekt auch ohne Erfolg jahrelang weitergeführt werden würde und daß man immer neue Strategien entwickeln und sich noch ausgefallenere und teurere Instrumente ausdenken würde? Was wäre denn ein überzeugendes Zeichen dafür, daß sie gescheitert waren? Wann wäre sie bereit, aufzugeben und sich etwas Sichererem zuzuwenden, das mehr Erfolg versprach? Das Nobeyama-Observatorium in Japan hatte eben die Entdeckung von Adenosin, einem komplexen organischen Molekül und Baustein der DNS, in einer dichten Molekülwolke im All bekanntgegeben. Auch sie konnte bestimmt, wenn sie die Suche nach außerirdischen Intelligenzen aufgab, erfolgreich nach solchen mit Leben in Beziehung stehenden Molekülen im Weltall suchen.

In den Bergen stoppte Ellie den Wagen, stieg aus und betrachtete den südlichen Horizont. Ganz schwach konnte sie das Sternbild des Centaurus erkennen. In ihm hatten die alten Griechen ein schimärenhaftes Wesen, halb Mensch, halb Pferd, gesehen, das Zeus weise Dinge gelehrt hatte. Aber Ellie war von der Anordnung der Sterne noch nie auch nur entfernt an einen Zentauren erinnert worden. Der Alpha Centauri, der hellste Stern der Gruppe, gefiel ihr am besten. Von allen Sternen war er mit viereinviertel Lichtjahren der Erde am nächsten. In Wirklichkeit handelte es sich bei dem hellen Gebilde um ein Dreifachsternsystem. Zwei dicht beieinanderliegende Sonnen kreisten umeinander, und eine dritte, weiter entfernt liegende, kreiste um diese beiden. Von der Erde aus erschienen die drei Sterne als ein einziger Lichtpunkt. In besonders klaren Nächten wie dieser sah sie ihn hin und wieder über Mexiko stehen. Möglicherweise gab es Planeten dort, die man nur schwer ausfindig machen konnte. Einige kreisten vielleicht ganz dicht um eine der drei Sonnen.

Eine besonders interessante Umlaufbahn von einer gewissen Stabilität wäre die Acht, die sich um die zwei inneren Sonnen legte. Wie es wohl war, auf einer Welt mit drei Sonnen am Himmel zu leben? Wahrscheinlich wäre es dort noch heißer als in New Mexico.

Mit leichtem Schaudern entdeckte Ellie zu beiden Seiten des zweispurigen Highways Unmengen von Hasen. Sie hatte die Tiere früher schon gesehen, wenn sie auf ihren Fahrten bis ins westliche Texas kam. Seite an Seite saßen sie auf allen vieren am Straßenrand, doch wenn einer für einen kurzen Augenblick von den neuen Halogenscheinwerfern des Thunderbird angestrahlt wurde, stellte er sich auf die Hinterbeine, ließ die Vorderpfoten schlaff herunterhängen und bewegte sich nicht mehr. Meilenweit salutierte so eine Ehrenwache von Wüstenhasen vor ihr. Zumindest hatte sie diesen Eindruck, während sie durch die Nacht brauste. Die Tiere schauten auf, tausend rosafarbene Näschen schnupperten und zweitausend glänzende Augen leuchteten in der Nacht und starrten auf die Erscheinung, die auf sie zuraste. Vielleicht war es für sie eine Art religiöser Erfahrung, dachte Ellie. Es schienen in der Mehrzahl junge Hasen zu sein. Vielleicht hatten sie noch nie Autoscheinwerfer gesehen. Die zwei hellen Lichtstrahlen, die mit 130 km/h vorbeirasten, mußten ein verblüffender Anblick sein. Obwohl Tausende von Tieren die Straße säumten, sah Ellie nie eines, das etwa in der Mitte der Straße auf dem Markierungsstreifen gesessen hätte oder aufgescheucht im Dunkel verschwunden wäre. Auch einen toten Hasen sah sie nie. Aber warum saßen die Tiere überhaupt am Straßenrand? Vielleicht hing es mit der Temperatur des Asphalts zusammen. Oder sie waren auf Nahrungssuche in den Büschen neben der Straße und wollten vielleicht nur wissen, was die herankommenden hellen Lichter bedeuteten. Doch wie sollte man sich erklären, daß nie eines über die Straße hoppelte, um seine Cousins auf der anderen Seite zu besuchen? Was war der Highway für die Hasen? Ein Fremdkörper inmitten ihrer Welt, unergründlich in seiner Funktion und gebaut von Wesen, die die meisten von ihnen nie zu Gesicht bekommen hatten? Aber wahrscheinlich dachten die Tiere überhaupt nicht darüber nach.

Das Summen der Reifen auf dem Highway klang wie weißes Rauschen, und sie wurde sich bewußt, daß sie auch jetzt unwillkürlich auf bestimmte Gesetzmäßigkeiten achtete. Sie hatte sich angewöhnt, auf alle möglichen Quellen weißen Rauschens zu hören: Den Motor des Kühlschranks, der mitten in der Nacht ansprang; das Wasser, das in die Badewanne floß; die Waschmaschine, die in der kleinen Kammer neben der Küche die Wäsche wusch; das Donnern des Ozeans während des kurzen Ausflugs zum Sporttauchen nach Cozumel, einer Yukatan vorgelagerten Insel, den sie aus Ungeduld, wieder an die Arbeit zu kommen, vorzeitig abgebrochen hatte. Immer achtete sie auf solche Geräusche des Alltags und versuchte herauszufinden, ob es dort weniger deutlich hörbare Gesetzmäßigkeiten gab als bei dem Rauschen im interstellaren Raum.

Im vergangenen August war Ellie in New York City auf einem Kongreß der URSI (die französische Abkürzung für die International Scientific Radio Union) gewesen. Die U-Bahnen seien gefährlich, hatte man sie gewarnt, aber ihr weißes Rauschen war unwiderstehlich. In dem klack-klack, klack- klack der Untergrundbahn meinte sie eine wichtige Gesetzmäßigkeit zu hören. Kurz entschlossen nahm sie sich einen halben Tag frei und fuhr von der 34. Straße nach Coney Island und von dort wieder nach Manhattan. Dann fuhr sie mit einer anderen Linie bis ins hinterste Queens. In Jamaica stieg sie aus und machte sich erhitzt und außer Atem — immerhin war es ein heißer Augusttag — auf den Rückweg ins Kongreßhotel. Manchmal, wenn sich die Untergrundbahn in eine steile Kurve legte, ging die Innenbeleuchtung aus und Ellie konnte eine gleichmäßige Abfolge blauer Lichter sehen, die draußen in einem Tempo vorbeirasten, als säße sie in einem interstellaren Raumschiff, das schneller als Licht war und durch einen Haufen junger blauer Überriesen schoß. Wenn der Zug dann auf eine gerade Strecke kam und die Lichter wieder aufflammten, war sie mit einem Schlag wieder auf der Erde mit ihren stoßenden und drängelnden Menschen, die sich an den Halteschlaufen festhielten, mit den beißenden Gerüchen, den kleinen, in Schutzkäfige eingeschlossenen Überwachungskameras, die ein Sprayer mit Farbe übersprüht hatte, mit der mehrfarbigen Übersichtskarte, auf der das gesamte U-Bahnnetz New Yorks abgebildet war, und dem hochfrequenten Kreischen der Bremsen, wenn der Zug in den nächsten Bahnhof einfuhr.

Daß sie übertrieb, war Ellie klar. Aber sie hatte schon immer eine lebhafte Phantasie gehabt. Na schön, dann reagierte sie eben zwanghaft, wenn sie Rauschen hörte. Schaden richtete sie damit ja wohl keinen an. Auf jeden Fall hing es mit ihrer Arbeit zusammen. Eigentlich hätte sie sogar ihren Ausflug nach Cozumel wegen des Rauschens der Ozeanbrecher von der Einkommenssteuer absetzen müssen. Na, vielleicht wurde es bei ihr allmählich wirklich zur fixen Idee. Erschrocken hatte sie festgestellt, daß sie schon am Rockefeller Center war. Hastig war sie über die auf dem Boden verstreuten Zeitungen gestiegen und aus dem U-Bahn-Wagen gesprungen. Dabei war ihr Blick auf die Schlagzeile der News-Post gefallen: RADIO JOBURG VON GUERILLAS EROBERT. Wenn wir mit ihnen sympathisieren, sind es Freiheitskämpfer, dachte Ellie. Mögen wir sie nicht, sind es Terroristen. In dem seltenen Fall, daß wir uns keine eigene Meinung bilden können, sind es zunächst einmal nur Guerillas. Auf einem Zeitungsfetzen daneben war das Photo eines selbstbewußten Mannes in den besten Jahren zu sehen, mit der Schlagzeile: DER UNTERGANG DER WELT: AUSZÜGE AUS DEM NEUEN BUCH VON REVEREND JO RANKINS. DIESE WOCHE EXKLUSIV IN DER NEWS-POST. Ellie hatte nur einen kurzen Blick auf die Schlagzeilen geworfen und dann versucht, sie schnell wieder zu vergessen. Durch die lärmende Menge hatte sie sich Richtung Kongreßhotel geschoben und gehofft, noch rechtzeitig zu Fujitas Vortrag über homomorphe Konstruktionspläne für Radioteleskope zu kommen.

Das Summen der Reifen wurde periodisch überlagert von dumpfen Schlägen an den Nahtstellen des Straßenbelags, der von verschiedenen Straßenbaukolonnen immer wieder erneuert worden war. Und wenn Argus nun eine interstellare Botschaft empfing, die aber sehr langsam gesendet wurde — ein Informationsbit pro Stunde oder Woche oder Jahrzehnt? Was, wenn es ein solches uraltes, sehr geduldiges Murmeln einer Zivilisation gab, das nicht erkannt werden konnte, weil wir bereits nach Sekunden oder Minuten erlahmten, wenn es um das Erkennen von Gesetzmäßigkeiten ging? Angenommen, sie lebten schon Zehntausende von Jahren und spraaaaaachen seeeeeehr laaaaaangsaaam. Argus würde das niemals entschlüsseln. Konnten solch langlebige Wesen existieren? Gab es genug Zeit in der Geschichte des Universums für Wesen, die sich ganz langsam fortpflanzten und eine höhere Intelligenz entwickelten? Würde nicht der statistische Zerfall chemischer Verbindungen, der Verschleiß ihrer Körper nach dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik sie zwingen, sich genauso schnell fortzupflanzen, wie es die Menschen taten? Und sich mit genauso langen Lebensspannen zu begnügen wie wir? Oder wohnten sie auf einem alten, kalten Planeten, auf dem selbst molekulare Zusammenstöße in extrem langsamen Bewegungen mit vielleicht nur einem Stoß pro Tag abliefen? Vergeblich versuchte Ellie, sich einen der gebräuchlichen Radiosender auf einem Felsen aus Methaneis vorzustellen, schwach beleuchtet von einer fernen röten Zwergsonne, während weit unten unaufhörlich die Wellen eines Ammoniakozeans an die Küste schlugen — und dabei ganz zufällig ein weißes Rauschen erzeugten, das vom dem der Brandung auf Cozumel nicht zu unterscheiden war.

Ebenso war das Gegenteil möglich: Schnellsprecher, manische kleine Wesen, die sich hastig und ruckartig bewegten und eine vollständige Radiobotschaft — etwa von der Länge einiger hundert Seiten Textes — in einer Nanosekunde funkten. Wenn man ein sehr enges Frequenzband im Empfänger hatte, hörte man nur einen winzigen Frequenzbereich und die Übermittlung dauerte damit viel länger. Man würde niemals in der Lage sein, eine schnelle Modulation zu entdecken. Das war eine Konsequenz aus der Theorie der Fourierintregrale, und stand in enger Beziehung zur Heisenbergschen Unschärferelation. Wenn man beispielsweise eine Frequenz von einem Kilohertz hatte, konnte man ein Signal, das schneller als eine Millisekunde modulierte, nicht finden. Es wäre eine Art verschwommener akustischer Eindruck. Die Bandbreiten bei Argus waren schmäler als ein Hertz, deshalb mußten eventuelle Sender langsamer modulieren als ein Bit pro Sekunde, damit man sie entdecken konnte. Noch längere Modulationen, die ganze Stunden dauerten, konnten leicht entdeckt werden, vorausgesetzt, man war außergewöhnlich geduldig und obendrein willens, ein Teleskop so lange auf einen Sender zu richten. Es gab so viele Himmelsregionen und Hunderte Milliarden Sterne zu beobachten. Man konnte nicht seine gesamte Zeit nur mit einigen wenigen davon verbringen. Ellie befürchtete, daß man in der Eile, mit der man einen Gesamtüberblick über den Himmel in weniger als einem Menschenleben gewinnen und alles am Himmel in Milliarden Frequenzen abhören wollte, die Möglichkeit rasend schnell oder unheimlich langsam sendender Wesen nicht genügend berücksichtigte.

Aber sicher wußten außerirdische Wesen besser als wir, welche Frequenzmodulationen akzeptabel waren. Vielleicht hatten sie aus einer früheren Zeit Erfahrung mit interstellarer Kommunikation und neu in Erscheinung tretenden Zivilisationen. Wenn es einen Bereich für diese Pulsraten gab, den eine empfangende Zivilisation mit größter Wahrscheinlichkeit abhören konnte, dann würde die sendende Zivilisation in diesem Bereich funken. Ob sie in Mikrosekunden oder in Stunden modulierte, was machte ihr das aus? Im Verhältnis zur Erde würde sie über überlegene Techniken und gewaltige Energiequellen verfügen. Wenn sie mit uns Kontakt aufnehmen wollte, würde sie es uns einfach machen. Sie würde Signale auf verschiedenen Frequenzen schicken. Sie würde verschiedene Modulationsgeschwindigkeiten benutzen. Sie würde von unserer Rückständigkeit wissen und Mitleid haben.

Aber warum hatte man noch nie ein Signal empfangen? Hatte Dave vielleicht doch recht? Gab es keine außerirdischen Zivilisationen? Lagen all die Milliarden Welten ohne Leben unfruchtbar brach? Gab es intelligente Wesen nur in dieser einen dunklen Ecke des unfaßbar weiten Universums? Ellie brachte es einfach nicht übers Herz, an diese Möglichkeit zu glauben. Sie entsprach so perfekt den menschlichen Ängsten und Sehnsüchten, den nicht bewiesenen Lehren über das Leben nach dem Tod und Pseudo-Wissenschaften wie Astrologie. Es war die moderne Inkarnation des geozentrischen Solipsismus, der Vorstellung unserer Vorfahren, daß wir das Zentrum des Universums waren. Drumlins Argumentation war schon deswegen zweifelhaft, weil wir nur zu gern bereit waren, sie zu glauben. Also immer mit der Ruhe, dachte Ellie. Wir haben noch nicht einmal die nördliche Hemisphäre vollständig untersucht. Wenn wir in den nächsten sieben oder acht Jahren nichts hören, dann kann man sich immer noch Sorgen machen. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte sind wir in der Lage, nach Bewohnern anderer Welten zu suchen. Wenn wir scheitern, haben wir die Seltenheit und Kostbarkeit des Lebens auf unserem Planeten bestätigt, eine Tatsache — wenn es eine ist —, die zu kennen sich lohnt. Und wenn wir Erfolg haben, werden wir die Geschichte der Menschheit verändern und die Fesseln unseres Provinzialismus abstreifen. Bei einem so hohen Einsatz mußte man bereit sein, ein kleines berufliches Risiko auf sich zu nehmen. Ellie riß das Steuer herum, schaltete in den höchsten Gang und raste mit quietschenden Reifen zurück zur Argus-Anlage. Die Hasen, die immer noch am Straßenrand saßen und jetzt von der Morgendämmerung in rosiges Licht getaucht wurden, reckten die Hälse.

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