Während die Nacht hereinbrach, fuhren Blade, Abigail, Dex und King mit dem Land Cruiser durch eine verlassene Schiffswerft zu den von Unkraut überwucherten Ruinen eines aufgegebenen Trockendocks. Blade sah nachdenklich aus dem getönten Seitenfenster, als der Cruiser an den skelettartigen Überresten alter Schlepper, schrottreifen Gabelstaplern und verschiedenen anderen verrosteten Überbleibseln einer einst blühenden Werft vorbeifuhr. Es herrschte völliges Chaos, und wenn Blade es nicht besser gewusst hätte, wäre er überzeugt gewesen, sich auf einem echten Schrottplatz zu befinden.
Der Land Cruiser holperte auf einem von Unrat und Trümmern übersäten Betonweg und bog auf eine ausladende überdachte Anlage ab, die von aufeinander gestapelten Containern und Betonbauten umgeben war. Der Platz war verlassen, der Wind pfiff über die Container und rappelte am Gebälk, als wolle er die herrschende Trostlosigkeit zusätzlich unterstreichen.
Der Cruiser erreichte das Verladebecken und Dex stellte den Motor ab.
In der eintretenden Stille konnte Blade nichts anderes hören als das Flattern einer Abdeckplane im Wind und das ferne Rauschen des Meeres. King und Abigail lösten ihre Sicherheitsgurte und stiegen aus. Blade folgte ihnen.
Der überdachte Bereich war düster und hatte etwas Höhlenartiges an sich, es roch intensiv nach Meersalz und Maschinenöl. Ein Licht flammte in der Dunkelheit auf, als Dex den Lichtschalter gleich neben dem Tor umlegte. Blade sah im’ Halbdunkel, dass gut ein halbes Dutzend Fahrzeuge darauf wartete, mit Panzerungen und Waffen ausgerüstet zu werden. Es gab ein kleineres Heer an Softail-Motorrädern, die alle in verschiedenen Umbauphasen steckten, sowie eine Handvoll Buell-Sportmotorräder, die ringsum an die Wände gelehnt waren. High-Tech-Werkzeuge und Drehbänke beanspruchten den verbleibenden Platz und warfen unheimliche Schatten auf den Boden.
Ein leises Summen ließ Blade aufhorchen. Er entdeckte eine Reihe von Überwachungskameras, die über ihm montiert waren und die jede seiner Bewegungen im Raum verfolgten.
Blade spürte, wie ihm ein Schauder über den Rücken lief. Das alles war ihm so vertraut, dass er seinen Atem anhielt, als er sich umsah. Fast hatte er gehofft, dass jeden Moment eine graubärtige Gestalt unter einer Motorhaube hervorkroch, sich die Hände an einem ölverschmierten Lappen abwischte und ihm anschließend vorhielt, was er nun wieder verkehrt gemacht hatte.
Was immer das für ein Ort war, er trug eindeutig die Handschrift des alten Mannes.
Ohne sich umzudrehen sah Blade zu King und sagte leise: „Ich dachte, die Vampire hätten Whistlers ganze Familie umgebracht.“
Abigail tauchte hinter ihm auf. „Das hatten sie auch. Ich kam später zur Welt, unehelich.“ Sie stellte sich neben Blade und betrachtete die Maschinen und die Ausrüstung. „Nach den Morden versteckte er mich. Er wollte, dass ich in Sicherheit war, weit weg von all diesen Dingen.“ Sie machte eine ausholende Geste, die die gesamte Werkstatt einbezog. „Aber ich schätze, die Jagd liegt uns im Blut.“
King bedeutete Blade, ihm zu folgen, und ging zu einer Treppe im hinteren Teil der Werkstatt. Schlamm und Algen machten die Stufen rutschig, die nach unten in das alte Trockendock führten.
Blade hatte das Gefühl, sich nicht in der Realität zu bewegen. Noch keine zweiundsiebzig Stunden war es her, da hatte er sich bei einer Tasse Kaffee mit Whistler darüber unterhalten, wer sich wohl als Vampirjäger besser machen würde – Batman oder Wolverine. Jetzt war Whistler tot, und sein eigenes Leben war buchstäblich ruiniert – und nun war es durch diese seltsame alternative Realität ersetzt worden. Wie konnte Whistler dies alles vor ihm geheimhalten? Es schien, als stecke der Mann nach wie vor voller Überraschungen, auch wenn er nicht mehr lebte.
Ein leises Geräusch ließ Blade aufhorchen und nach oben blicken. Diesmal sah er ein kleines Mädchen, das vielleicht fünf Jahre alt sein mochte und ihn aufmerksam von einem der Container aus beobachtete. Als es merkte, dass er es entdeckt hatte, duckte sich das Mädchen und zog sich mucksmäuschenstill in den Schatten zurück.
Blade schüttelte den Kopf.
Noch mehr Geheimnisse.
Er ging weiter zum Fuß der Treppe.
Auf der letzten Stufe angekommen, verkrampfte sich Blade ein wenig, als eine kleine, aber schlagkräftige Reihe automatischer Waffen von der Decke herunterfuhr, die an einem Roboterarm befestigt waren und sich unablässig drehten, um ihn im Visier zu behalten. Blade und die anderen wurden von einem Gitternetz aus Infrarotstrahlen abgetastet, die mit der Zielerfassung der Waffen verbunden war. Blade erstarrte mitten in seiner Bewegung, als die Lichtpunkte auf seine Stirn trafen. Er hoffte, dass derjenige, die diese Dinger kontrollierte, seinen Finger weit vom Abzug entfernt hatte.
Mit einer Kopfbewegung machte sich Abigail über die Bedrohung durch die Waffen lustig und winkte in eine Kamera, die an der Holzdecke befestigt war. Die roten Strahlen richteten sich sofort auf sie, bewegten sich über ihr Gesicht, dann schaltete ein kleines Licht nahe der Tür auf Grün um. Auch die Waffen wurden zurückgerufen, während sich das automatische System zur Personenerkennung abschaltete.
Abigail sah sich beiläufig zu Blade um und fuhr in ihrer Erzählung fort: „Als ich alt genug war, spürte ich meinen Vater auf und sagte ihm, dass ich mitmachen wolle.“ Sie zuckte nüchtern die Schultern. „Und seitdem bin ich dabei.“
Sie erreichte das Ende der Empore, von der eine Steintreppe nach unten ins Trockendock führte. Ein gewaltiger, massiv bewaffneter Schleppkahn ruhte dort auf Stützstreben. Es war offensichtlich, dass er noch repariert wurde. Abigail winkte wieder in eine Kamera, dann öffnete sich eine Stahltür auf dem Kahn, um ihnen Einlass zu gewähren.
Blade fand sich in einem überraschend großen Raum wieder. In der stählernen Hülle des Schleppkahns waren eine Werkstatt, ein Labor und ein kleiner Schießstand untergebracht.
Blade fühlte sich hier sofort wohl.
Die Barke war wesentlich besser in Schuss als das Bootshaus, doch auch sie täuschte darüber hinweg, dass die Menschen, die hier arbeiteten, vermutlich auch in keinem Telefonverzeichnis geführt wurden. Das Innenleben war ein Mischmasch aus Alt und Neu, ein kleiner Berg rostiger Teile aus der Werft war neben der Tür aufgetürmt worden und teilte sich notgedrungen den Platz mit einem Arsenal an High-Tech-Waffen und mit der medizinischen Ausrüstung. Alte Industriemaschinen und beschädigte Kisten ragten hinter Zentrifugen und DNS-Sequenzern hervor, und in eine Kiste, die hinter einem hochmodernen Elektroporator stand, hatte man ein verschimmeltes Fischernetz gestopft.
Insgesamt wirkte es wie ein Flohmarktstand des Pentagon.
King lächelte und breitete die Arme aus. „Willkommen im Honeycomb Hideout.“
So neugierig ihn das Ganze auch machte, achtete Blade darauf, sich nichts davon anmerken zu lassen. Er wollte diesen Leuten nichts in die Hand geben, was sie womöglich gegen ihn verwenden konnten. Natürlich war er ihnen dankbar dafür, dass sie ihn gerettet hatten, doch er hatte eine Vorahnung, auf welches Ziel diese kleine Führung hinarbeitete. Sie würden sich nicht so viel Mühe geben, wenn sie nur vorgehabt hätten, ihm Eis und ein paar Kekse anzubieten. Vor allem King hatte ihn die ganze Zeit über beobachtet, als versuche er, sich von ihm ein Bild zu machen.
Nein, diese Leute wollten etwas von ihm, und Blade hätte sogar fast gewettet, dass er wusste, was es war.
Doch abgesehen davon gab es hier einige interessante Dinge zu sehen. Blade stieß einen leisen Pfiff aus, als er die Geräte und Maschinen näher betrachtete. Er musste unumwunden zugeben, dass er bei der Hälfte von Whistlers Ausrüstung keine Ahnung gehabt hatte, welchem Zweck sie dienen mochte, doch er wusste sehr wohl, was diese Dinge kosteten. Das meiste davon hatte er für ihn bezahlt, indem er Gegenstände verpfändete, die er toten Vampiren und deren Vertrauten abgenommen hatte – mal eine Brieftasche, mal ein Diamantcollier. So kam eine Menge zusammen, und es half ihnen, wieder einen Tag länger zu überstehen.
Aber das hier war mindestens viermal so groß wie ihr letztes Quartier, und locker zweimal so gut ausgerüstet. Neugierig drehte er sich zu King um. „Wie finanziert ihr das hier?“
„Internet-Pornos.“ Kings Miene war so ausdruckslos wie I die von Blade. „Die Leute zahlen dafür, dass sie Frauen sehen können, die Schwänze aussaugen, und damit finanzieren sie unseren Kampf gegen die Typen, die Leute aussaugen.“
Blade sah ihn reglos an.
King begann zu grinsen und klopfte Blade auf den Rücken. „Nur ein Scherz.“
Blade starrte ihn unverwandt an.
King grinste noch breiter. „Komm schon, Mann. Das hier ist keine kleine Stümperorganisation, Blade. Wir nehmen unsere Arbeit sehr ernst.“
Ein Stück von ihnen entfernt unterbrachen zwei Leute ihre Arbeit, als sie Blade entdeckten. Sie legten ihre Werkzeuge beiseite und betrachteten ihn interessiert. King winkte ihnen zu und stellte sie vor: „Die beiden da sind Hedges und Sommerfield.“
Hedges war ein junger Mann Mitte zwanzig. Er trug ein ramponiertes Buell-T-Shirt, und er hatte diesen leicht entrückten Blick jener Sorte Mensch, die sich nur wohl fühlten, wenn sie sich mit Kabeln und Stromspannungen befassen durften, anstatt sich den banalen Problemen des Alltags widmen. Hinter ihm auf der Werkbank stapelte sich ein ganzer Berg leerer Essensverpackungen vom China-Imbiss. Blade vermutete, dass es sich bei ihm um einen Ingenieur handelte.
Sommerfield war eine hübsche junge Frau Ende zwanzig. King erzählte ihm, sie sei Genetikerin, und zwar eine der besten. Sie war auch diejenige gewesen, die Blades Inhalator gebaut hatte. Sommerfield war blind und bediente ihre Computer mit Hilfe eines hochmodernen Spracherkennungsprogramms. Alles um sie herum war in Brailleschrift beschriftet, auch ihre Computertastatur. Sie trug eine modische Sonnenbrille und lächelte fröhlich.
King zeigte auf eine Tür, da er endlich weitergehen wollte. „Die Kleine, die du vorhin gesehen hast, ist Sommerfields Tochter Zoe.“ Er lächelte seine Kollegen an, und nach einer wohlgesetzten Pause fügte er hinzu: „Wir nennen uns die Nightstalker.“
Blade schnaubte. „Klingt wie eine Cartoonserie, die man nach der ersten Episode abgesetzt hat.“
Wieder grinste King. „Eigentlich wollten wir uns die Kuschelbären nennen, aber der Name war schon vergeben.“
Abigail betrat den Raum und begrüßte die anderen, dann ging sie zu einer Werkbank und begann, ihre Waffen abzulegen. Hinter seiner Sonnenbrille weiteten sich Blades Augen überrascht, als er sah, welches Arsenal an Waffen sie an den unmöglichsten Stellen ihres Körpers untergebracht hatte. Zum Abschluss legte sie den Bogen und den schwarzen Köcher mit den Pfeilen auf den Berg.
Sie streckte sich und vermied Blades verblüfften Blick. Dann nahm sie den Bogen und reichte ihn Hedges. „Der muss neu justiert werden.“
Im Geiste sah sie, wie Grimwood mit dem Pfeil in seinem rechten Augen zu Boden ging. Sie schüttelte den Kopf und ermahnte sich innerlich, nicht daran zu denken.
Sie hatte auf das linke Auge gezielt.
Hedges nickte. „Ich lasse ihn durch die Presse laufen.“
Blade entfernte sich ein Stück von King und sah sich in der Werkstatt um, wobei er sich mit manchen Ausrüstungsgegenständen eingehender befasste, während er sich bemühte, eine Vorstellung davon zu bekommen, welche Dimensionen dieses Unternehmen hatte. „Wie viele Leute habt ihr insgesamt?“
„Genug.“ King nickte den anderen zu. „Wir arbeiten mit Schläferzellen. Wenn eine ausgelöscht wird, springt die nächste ein, um ihre Arbeit fortzusetzen.“ Er sah zu Blade und lächelte freundlich. „Wir sind sozusagen deine Verstärkung.“
Blade betrachtete eine kleine Waffe, die aussah wie ein Raketenwerfer im Miniaturformat und die von zwei gewöhnlichen Batterien angetrieben wurde. Das war der Satz, auf den er gewartet hatte.
So viel zum Thema Eis und Kekse…
Er schnaubte gereizt und fühlte, wie er allmählich wütend wurde. „Nur damit ich das richtig verstehe: Ihr Amateure sollt mir helfen?“
Blade legte die Waffe wieder hin. Dann baute er sich vor King auf und nahm zum ersten Mal seit seinem Eintreffen seine getönte Brille ab, um King einen Furcht erregenden Blick zuzuwerfen. „Ihr seid Kinder.“ Mit einer Handbewegung deutete er auf Kings Kleidung. „Sieh dir doch nur was du trägst. Soll das taktisch klug sein?“ Er las Kings Namensschild. „Und was soll das? Findest du, dass das alle; nur ein großartiger Witz ist? Meinst du, du spielst hier in irgendeiner beschissenen Sitcom?“
King setzte eine beleidigte Miene auf. „Entschuldige, aber wenn ich mich nicht irre, dann haben wir doch vorhin deinen Arsch gerettet.“
Abigail trat vor. Sie hatte mit einer solchen Situation gerechnet. „Hör zu, Blade, mein Vater wollte, dass wir dir helfen. Ob es dir gefällt oder nicht – wir sind alles, was du hast.“
„Als Whistler starb“, mischte sich Sommerfield ein und zeigte auf die bis zum Rand vollgepackte Werkstatt, „aktivierte er ein Notfallprotokoll. Sein gesamtes Wissen wurde auf unsere Server hier übertragen.“
Blades Blick ruhte noch immer auf King. Er starrte ihn kühl an, dann fragte er mit sanfter Stimme: „Und wieso glaubst du, dass du so viel darüber weißt, wie man Vampire tötet?“
King stellte sich ins Licht und klappte den Kragen seiner Jacke nach unten. Zum Vorschein kam vernarbtes Gewebe, das die typische Form eines Vampirbisses aufwies. Zum ersten Mal sah Blade ihn nicht lächeln. „Nun, ein Grund wäre, dass ich selbst mal einer war.“ King sah zu Blade auf, tiefe Schatten überzogen sein Gesicht. „Habe ich damit das Vorstellungsgespräch erfolgreich hinter mich gebracht?“
„Dieser verdammte Hannibal King!“
Im luxuriösen Penthouse der Phoenix Towers schlug Danica mit der bloßen Faust gegen die Wand und rammte ein Loch in das Mauerwerk aus massiven Ziegelsteinen. Als sie die Faust mit einem Aufschrei wieder zurückzog, bildeten sich über und unter dem Loch Risse im Verputz. Ihre Hand war völlig unversehrt geblieben.
Das ganze Zimmer war auf eine beeindruckende Weise möbliert worden. Das Dekor verriet Macht, Geld und einen gewissen perversen Sinn für Ästhetik. Doch es war eindeutig kein Ort für einen Vampir mit einem Wutanfall.
Aber Danica gehörte das alles, und ihr war es völlig egal.
Außer sich vor Zorn schlug sie ein zweites Loch gleich neben dem ersten in die Wand. Dieser Kretin! Wie konnte er einen solchen Auftritt wagen? Monate sorgfältigster Planung waren dahin, und jetzt standen sie mit weniger da als zu Beginn. Schlimmer noch! Blade hatte ihre Gesichter gesehen, so dass es nur noch eine Frage der Zeit war, ehe er beschloss, herzukommen und ihrer Existenz ein Ende zu setzen.
Danica erinnerte sich nur zu gut an die Miene des Daywalkers, als sie ihm sagte, was sie getan hatte. Der unausgesprochene Vorwurf war praktisch zu hören gewesen: Sie hatte Whistler getötet. Blade würde dafür sorgen, dass sie für den Tod des alten Mannes bezahlte.
Und mit King an seiner Seite würde der Daywalker so gut wie unaufhaltbar sein.
Danica wirbelte herum, eine Wolke aus Gips und Verputz folgte ihr. Hinter ihr saßen Asher und Grimwood steif auf Samtkissen, während ihre Wunden versorgt wurden. Grimwood versuchte, nicht zusammenzuzucken, als der Arzt sich bemühte, den Pfeil aus der geschwollenen und geschwärzten Augenhöhle zu ziehen.
Die beiden zu sehen, machte Danica nur noch wütender. Sie ließ ihren Blick schweifen auf der Suche nach weiteren kostbaren Dingen, die sie zerschmettern konnte. Es war so gut wie nichts übrig, doch dann entdeckte sie ein paar zerschlagene chinesische Vasen, die auf dem Boden lagen, aber die nur in wenige Stücke zerbrochen waren. Vor Wut rasend trampelte sie darauf herum, bis nur noch kleine Scherben übrig blieben.
Nahe der Eingangstür standen drei Vampirwachen, die jedes Mal zusammenzuckten, sobald Danica wieder etwas zerschlug. Jeder von ihnen neigte sich nervös zur Seite, um sich möglichst weit von Danica zu entfernen, ohne sich dabei von der Stelle zu rühren. Ein großer Rottweiler saß vor ihnen und beobachtete sie aufmerksam, und neben ihm stand ein kleiner Spitz, der kläffte und mit dem Schwanz wedelte, wenn Danica wieder etwas zerschlug, als wolle er sie noch anfeuern.
Sie fuhr sich durch ihr völlig zerzaustes Haar, dann nahm sie ein edles, in Leder gebundenes Buch vom Kaminsims und schleuderte es mit aller Kraft aus dem zerbrochenen Fenster. Ein leises Klirren war zu hören, als das Buch eine Scheibe in dem Bürohochhaus gleich nebenan durchschlug. „Wir hatten Blade am Haken!“, schrie sie dem Buch hinterher. „Wir hatten ihn! Ich hätte ihm sein Herz aus dem Leib reißen sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte!“ Sie wirbelte wieder herum und zeigte vorwurfsvoll auf ihren Bruder. „Und du kommst besser gar nicht erst auf die Idee, mir zu erzählen: ,Ich hab’s dir ja gesagt.’“
Asher hob stumm seine Hand, da ihm nicht daran gelegen war, seine Schwester noch mehr zu reizen. Mit einem Aufschrei setzte sie ihren Tobsuchtsanfall fort und schleuderte eine unbezahlbare Marmorstatue quer durch den Raum. Sie landete auf einem Tisch und durchbrach die gläserne Tischplatte.
Dann endlich gab Danica auf und ließ sich einen Sessel fallen.
Asher zog eine Augenbraue hoch. „Hast du jetzt umgeräumt, was du umräumen wolltest?“
„Leck mich.“
Der Rottweiler löste sich aus dem Schatten und trottete zu ihr hinüber. Unter seinem glatten schwarzen Fell zeichneten sich seine geschmeidigen Muskeln ab. Er setzte sich vor Danica hin, legte seinen schweren Kopf auf ihr Knie und sah sie traurig an.
Asher fuhr unbeeindruckt fort: „Sieh es ein, Dan. Die haben uns kalt erwischt. Wir haben die Nightstalker unterschätzt.“
„Kalt erwischt?“ fiel Grimwood ihm ins Wort. „Die haben uns in den Arsch gefickt! Das trifft es wohl besser… Autsch!“ Er schrie vor Schmerz auf, als der Pfeil endlich aus seinem Schädel gezogen wurde und ein blutiges Loch zurückblieb.
Es folgte eine bedrückende Stille, bis Asher fragte: „Weiß er schon davon?“
„Von eurem Versagen?“
Die Vampire sprangen abrupt auf und erstarrten förmlich, als ein dunkelhaariger Mann den Raum betrat. Er war zwar nicht sonderlich groß, strahlte aber etwas Gebieterisches aus. In seiner Stimme lagen Stärke und Charisma. Nach dem Aussehen zu urteilen, schien der Mann Mitte dreißig zu sein, doch seine Augen verrieten etwas anderes. Die Wachen gingen in Habachtstellung, sogar der Rottweiler winselte und zog sich mit angelegten Ohren in eine Ecke zurück.
Der kalte Blick des Fremden wanderte über die Suite. Danica betrachtete das Chaos, das sie angerichtet hatte, und schien ein wenig zu schrumpfen.
„Ja, ich weiß davon.“ Der Mann ging zu Danica und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Es war nur eine leichte Berührung, aber sie ließ Danica bis in ihr Innerstes frösteln. Sie sah weg, da sie ihm nicht ins Gesicht blicken konnte.
Der Mann nahm von Danicas Unbehagen nichts wahr, oder aber es kümmerte ihn nicht. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die Skyline der Stadt. Die kaputte Fensterscheibe reflektierte funkelnd das Licht.
„Vielleicht ist es an der Zeit, dass ich ins Geschehen eingreife.“
Im Hauptquartier der Nightstalker knöpfte King den Kragen wieder zu und wurde dabei von Blade und Abigail genau beobachtet.
„Kennst du diesen Typ Frau, bei dem man von vornherein nichts als Schwierigkeiten erwarten kann?“ King sah zu Boden, als er sprach. Offenbar musste er mit sich ringen, um darüber zu reden. „Du siehst so eine Frau nur an, und schon schrillen die Alarmglocken los. Dein Gehirn fordert dich auf, sofort das Weite zu suchen, trotzdem fragst du sie nach ihrer Telefonnummer. Das sind die Frauen, an die ich immer gerate.“ King schwieg kurz und dachte zurück an frühere Zeiten. Mit leiser Stimme und einem verschwörerischen Blick in den Augen sagte er dann: „Aber diese Betty hat alle anderen übertroffen.“
King ging zum nächsten Computer und zog seine elektronische Pistole. Er drückte auf einen Knopf an der Seite, dann wurde am Griff eine Minidisk ausgeworfen. Er legte sie in ein externes Laufwerk, das mit dem Rechner verbunden war, gab ein Passwort ein und ließ den Film ablaufen, den er mit der Kamera in der Waffe aufgezeichnet hatte, als sie Blade herausgeholt hatten.
Der war insgeheim höchst beeindruckt, auch wenn er sich wegen seiner Vorbehalte nichts anmerken ließ.
Trotz der mäßigen Qualität des digitalisierten Materials waren die Gesichter von Asher, Danica und Grimwood deutlich zu erkennen. King drückte auf die Maus, so dass die Aufnahme in Zeitlupe Bild für Bild vorrückte. Er zeigte auf die Frau auf dem Monitor. „Ihr Name ist Danica Talos. Du hast sie kennen gelernt. Das links ist ihr Bruder Asher.“ King holte das Bild näher ran. „Der grobe Klotz hinter den beiden ist Jarko Grimwood.“
King betätigte wieder die Maus, das Bild stoppte und zeigte Danicas Gesicht in solcher Vergrößerung, dass die einzelnen Pixel erkennbar wurden. Er deutete auf den Monitor. „Ich lernte sie in einer Bar kennen, ich hatte einen One-Night-Stand mit ihr, und danach war ich fünf Jahre ihr kleines Vampirschoßhündchen.“
Er sah wie hypnotisiert auf den Bildschirm. Danica war wirklich eine Schönheit, doch Kings Hass auf sie war so gewaltig, dass er sich mit aller Macht beherrschen musste, nicht den Monitor zu zerschmettern, nur um dieses Bild verschwinden zu lassen. Schmerzhafte Erinnerungen schnitten sich wie eine Welle aus glänzenden Rasierklingen durch seinem Kopf, doch er musste sich zwingen, das Gefühl zu verdrängen. Die Rache konnte noch warten. Erst einmal mussten sie wissen, was sie vorhatte.
King winkte Blade zu sich, öffnete seine Gürtelschnalle und schob seine Hose ein Stück weit nach unten. Blade starrte ihn nur an, doch King deutete auf das markante Vampirschriftzeichen, das ihm auf die Hüfte tätowiert worden war. Es war Danicas Name in der Schrift der Vampire.
King sagte nichts, sondern ließ Blade diese Enthüllung erst einmal verarbeiten. Dann zog er die Hose wieder hoch und wandte sich dem Daywalker zu. „Schließlich fand mich Abigail. Sommerfield entdeckte einen Weg, um mich zu heilen. Jetzt töte ich sie.“
Er holte tief Luft und kämpfte mit sich, ehe er ein schwaches Lächeln zustande brachte. „Das nennt man ,ein Stirnrunzeln auf den Kopf stellen’.“
Abigail übernahm rasch für ihn: „Wir müssen unsere Ressourcen zusammenwerfen, Blade.“
Sein Blick war noch immer auf King gerichtet. „Warum?“
„Weil er zurückkommt.“ Abigail warf Blade einen Ausgabe des Comics Tomb of Dracula über den Tisch zu. Der sah kurz auf die Titelseite, dann starrte er Abigail an.
„Das soll doch wohl ein Witz sein.“
„Es gibt ihn wirklich, Blade.“ King spreizte die Finger. „Du musst nur hinter all diese Filme und Mythen blicken. Du musst all das entfernen, was unsere Kultur in den letzten fünfhundert Jahren dazugedichtet hat, dann stößt du auf die Wahrheit.“
Blade war nicht davon überzeugt. „Dann zeigen diese Filme alle die Wahrheit?“
King schüttelte den Kopf. „Die sind nur Märchen, die Trost spenden – jedenfalls im Vergleich zur Wahrheit. Bei diesem Kerl gibt es kein Happy End. Peter Cushing kommt nicht in letzter Sekunde ins Zimmer gestürmt und rettet die Welt mit einem Kruzifix und etwas Weihwasser.“ Er zeigte auf das gespenstische Titelbild des Comics. „Der gute alte Bram Stoker hat eine ganz nette Geschichte geschrieben. Aber was er 1897 beschrieb, war nur ein winziges Mosaiksteinchen. Der wahre Ursprung von Dracula liegt viel weiter zurück.“
„Wie viel weiter?“
Abigail meldet sich zu Wort. „Bei sechs- bis siebentausend Jahren dürftest du ziemlich nah dran sein.“