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Blade stand auf den Klippen und sah hinaus auf das Meer. Es war ein strahlender Sommermorgen, ein paar Stunden nach Sonnenaufgang. Die gelbe Scheibe stand noch nicht hoch am Himmel, allmählich wurde es wärmer. Eine kräftige Brise fuhr durch das Gebüsch, das sich an den Klippen festklammerte. Die kleinen roten Blüten wurden vom Wind bewegt und erfüllten die Luft mit ihrem sanften Duft.

Er atmete die Meeresluft tief ein, so tief, dass seine bandagierten Rippen krachten. Er konnte das frische Grün der See riechen, das Salz und den Tang, dazu der schwache Geruch der Moospolster, auf denen er stand.

Es war ein guter, klarer Geruch. Blade fühlte, wie er von ihm erfüllt wurde und wie der Gestank nach Schießpulver, nach Blut und Tod schwächer wurde. Es kam ihr vor, als hätte er noch nie zuvor wirklich etwas gerochen, als hätte er die letzten dreißig Jahre in einem Grab tief unter der Erde verbracht.

Was in gewisser Weise auch stimmte. Das Seuchenvirus hatte ihn nicht umgebracht. Die menschlichen Gene hatten am Ende die Oberhand behalten, und Blade war von den Wirkungen der Seuche so schnell genesen wie von einer leichten Grippe.

In den drei Wochen nach seinem letzten Kampf mit Drake hatte sich das Virus auf der ganzen Welt unaufhaltsam ausgebreitet. Die Menschen hatten zur Verbreitung beigetragen, so wie Sommerfield es vorhergesagt hatte. Am Körper und an der Kleidung hatten sie es per Zug, Schiff und Flugzeug in alle Welt getragen, von Mexiko bis Mosambik. Jeder Vampir, der einem infizierten Menschen über den Weg gelaufen war, starb binnen weniger Minuten.

Innerhalb von Wochen war der Krieg gewonnen worden.

Die Vampire überall auf der Welt waren tot.

Blade drehte sich in die Richtung, aus der die Brise kam, und genoss das Gefühl. Seine Erinnerung an den Kampf mit Drake war recht verschwommen, aber die letzten Worte, die der Vampir an ihn gerichtet hatte, hatte er nicht vergessen. Drake wusste, dass die Behörden niemals aufgehört hätten, den Daywalker zu jagen, bis sie ihn endlich gefunden hatten – so wie die Jäger nie ihre Suche nach Dracula aufgegeben hatten. Als er erkannte, dass sein eigenes Volk dem Untergang geweiht war, da hatte Drake beschlossen, Blade ein Geschenk zu machen.

Freiheit.

Und mit der Freiheit eine zweite Chance im Leben.

Blade schloss die Augen und badete sein Gesicht im Schein der Sonne, die seine Augenlider angenehm rot leuchten ließ. Er lauschte auf die Geräusche ringsum – das Tosen der See, die Möwen, die hoch über ihm kreischend umherflogen, das Dröhnen eines Passagierflugzeugs, das in der Ferne vorbeizog.

Heute war ein besonderer Tag für ihn, auch wenn es in den Wochen, in denen er sich von seinen Verletzungen erholt hatte, viele wichtige Tage gegeben hatte. Doch heute Morgen war Blade zum ersten Mal seit zwanzig Jahren ohne seine Schutzkleidung aus dem Haus gegangen. Er stand völlig ohne Schutz auf der Klippe und genoss das Gefühl von Freiheit. Seine markante Sonnenbrille hatte er nicht aufgesetzt, und er trug auch nicht den Ledermantel, die schwarzen Stiefel oder den Waffengurt. Nichts davon benötigte er jetzt noch. Er kam sich sonderbar nackt vor, die Leichtigkeit seines Körpers ließ ihn fast übermütig werden, da er nicht länger von den Elementen abgeschirmt war. Er trug ein T-Shirt aus Baumwolle und dazu legere Kleidung, am Hosenbund steckte ein Mobiltelefon anstelle der bis dahin gewohnten Mach-Pistolen. Auf einen zufälligen Passanten wirkte Blade so wie jeder andere Spaziergänger, der am Morgen den Ausblick an der Küste genoss, ehe die Touristenströme einsetzten. Nur eines unterschied ihn von allen anderen: das Schwert. Blade hob es an und hielt es vor sich, um zu bewundern, wie das Heft das Licht funkelnd reflektierte. Es war tatsächlich ein Kunstwerk. Die gehärtete Klinge leuchtete im Sonnenschein silbern und ging fließend in das stabile, spitz auslaufende Heft über. Das kreisrunde Blatt war von jahrelangem, massivem Einsatz leicht geschwärzt, hatte er damit doch unentwegt Knochen, Fleisch und Sehnen durchtrennt, Schädel vom Rumpf geschnitten und Gliedmaßen von brennenden Leichen abgeschlagen.

Blade blinzelte und rieb sich mit der bloßen Hand die Augen, wodurch Nachbilder der Sonne innen auf seinen Augenlidern tanzten. Tausend Erinnerungen waren mit dieser Waffe verbunden, tausend Erinnerungen, die er nicht mehr brauchte, die er nicht mehr wollte. Dennoch würde ihm das Schwert sehr fehlen.

Unter ihm schlug die Brandung an die Felsen. Das Wasser hatte einen leuchtenden Türkiston.

Blade fuhr mit dem Ärmel über die Klinge und polierte das Heft auf Hochglanz, als wolle er seine Fingerabdrücke abwischen. Mit einem letzten komplizierten Schwung erschreckte er eine Amsel in einem Busch gleich neben ihm und teilte die Sonnenstrahlen, die auf das Metall fielen.

Blade drehte sich um sich selbst und schleuderte das Schwert mit aller Kraft hinaus aufs Wasser. Während es immer wieder um seine eigene Achse wirbelte, reflektierte es funkelnd den morgendlichen Sonnenschein. Dann traf es mit einem lauten Klatschen auf dem Wasser auf und versank schnell in den klaren Tiefen des Ozeans.

Blade wandte sich ab und ging fort, auf dem Weg, eine Legende zu werden.

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