Als King allmählich wieder das Bewusstsein erlangte, nahm er drei Dinge wahr.
Erstens schmerzte sein Kopf.
Das war an sich nichts Neues. King war über die Jahre öfter bewusstlos geschlagen worden, als er sich an seinen Fingern abzählen konnte. Man konnte fast darauf wetten, dass es keinen Widersacher gab, der King noch nicht ins Land der Träume geschickt hatte. Als Folge davon war sein Schädel ein wenig dicker als bei einem durchschnittlichen Menschen, zugleich war sein Gehirn dadurch etwas besser geschützt. Normalerweise wachte er nach einer Gehirnerschütterung mit Kopfschmerzen auf – und mit einem eigenartigen Heißhunger auf Dosenfleisch, gegen den nicht einmal Sommerfield mit ihren kenntnisreichen Medikationen etwas tun konnte.
Aber schließlich war niemand vollkommen.
Zweitens schmerzten seine Handgelenke.
Das war an sich auch nicht weiter bedenklich. Die Barkeeperinnen im Dog House konnten sich nach dem Erlöschen der Beleuchtung als echte Teufelinnen entpuppen – im wahrsten Sinn des Wortes.
Drittens kam es ihm so vor, als würde ihm jemand mit einem Stück nassem Schmirgelpapier über die Wange streichen.
Was zum Teufel war das?
King seufzte leise. Wenn er alles zusammenfügte, dann bedeuteten all diese Dinge, dass die letzte Nacht entweder unglaublich gut gelaufen oder dass ihm etwas widerfahren war, das zu grässlich war, um überhaupt darüber nachzudenken.
Er bewegte sich ein wenig auf der Stelle, um eine bequemere Position zu finden. Der Boden, auf dem er lag, war sehr hart. In seinem Kopf pochte ein dumpfer Schmerz, der sich in seinen ganzen Körper fortzusetzen schien und von der obersten Schicht der Kopfhaut bis zu den Stiefelsohlen reichte. Gleich unterhalb des Bewusstseins lauerte etwas sehr Unangenehmes, so wie ein Zigarettenstummel, der in einer halb ausgetrunkenen Dose Bier schwamm. Er wusste, wenn er auch nur einen Augenblick zu lange darüber nachdachte, dann würde dieses Etwas sich sofort auf eine schreckliche Weise bemerkbar machen, und dann würde er sich damit auseinandersetzen müssen.
Aber es half alles nichts. Er würde aufwachen müssen.
King stöhnte so laut und aufdringlich, wie es nur möglich war.
Dann öffnete er vorsichtig ein Auge.
Schwindel erfasste ihn im gleichen Moment und wirbelte in seinem Gehirn herum. Seine Augen widersprachen dem, was sein Körper fühlte. Er lag gar nicht auf dem Boden, sondern kniete darauf. Der Beton, den er für den Fußboden gehalten hatte, gab ihm vielmehr Rückhalt. Seine Hände waren auf dem Rücken zusammengebunden. Ihm war mehr als kalt, er war bis auf die Knochen durchgefroren, was er einer überschwenglich arbeitenden Klimaanlage zu verdanken hatte.
Wo war sein Hemd? Er hatte es doch am Morgen angezogen. Was zum Teufel war hier los?
Dann sah King hinter sich und bekam die Antwort auf seine Frage.
Irgendein Idiot hatte ihn halbnackt an eine Säule gekettet.
Er blickte sich um und hoffte, dass ein paar tanzende Mädchen auftauchten, die genauso wenig am Leib trugen wie er und die ihm Schlagsahne mit Kirschgeschmack auf die Haut schmieren würden.
Das hoffnungsvolle Lächeln gefror ihm auf den Lippen, als er seine Umgebung in Augenschein nahm. Er befand sich in einem großen, schwach beleuchteten Raum, der zwar luxuriös wirkte, jedoch den Eindruck machte, als sei vor kurzem eine Bisonherde durchgerannt. Der ausladende Teppich war an mehreren Stellen zerrissen, und einige Gemälde hingen schief an den Wänden, deren Verputz faustgroße Löcher aufwies. Eines der mit einem Laden versehenen Fenster war zerschlagen worden, und eine Statue lag inmitten der Überreste eines einstmals edel aussehenden Glastisches.
Während sich King verwirrt umsah, lief etwas Warmes über seine Stirn, und wie gebannt beobachtete er, dass ein großer Blutstropfen seitlich über seine Nase lief und auf die Wange tropfte.
Plötzlich tauchte eine kleine rosafarbene Zunge scheinbar aus dem Nichts auf und leckte den Tropfen ab.
King riss erschrocken das andere Auge auf. Ein kleiner Spitz stand neben ihm auf den Hinterläufen, die Vorderpfoten auf seine Brust gestützt, und leckte hastig das Blut weg.
King spuckte und versuchte, seinen Kopf wegzudrehen. Die Reaktion darauf war ein helles, aber kehliges Knurren.
Er hob die Augenbrauen und sah den Fellball mit verkniffenen Augen an, als der nicht von ihm abließ. „Verschwinde, Köter.“
Er war nicht in der Stimmung für so etwas. Er musste von hier verschwinden und Blade finden, um ihn vor Whistler zu warnen, bevor er…
Wieder knurrte der Spitz, diesmal jedoch lauter. Einen Moment später hörte King ein seltsames, organisches Reißen. Am Kinn des Hundes bildete sich eine schmale blutige Linie, als habe ihm jemand mit einem unsichtbaren Messer ins Fleisch geschnitten. Während King entsetzt zusah, wurde der Schnitt länger und länger und weitete sich auf dem kleinen Hundekopf, der an einen Miniaturlöwen erinnerte, weiter aus, wie sich an einer Statue bei einem Erdbeben Risse bildeten.
Ohne Vorwarnung klappte die Schnauze der Kreatur in der Mitte auseinander, so dass King schockiert nach hinten zurückwich, während sich die untere Kopfhälfte des Tiers mit einem feuchten, saugenden Geräusch umkehrte. Sie klappte so an den Seiten des Hundekopfs weg, wie man eine Bananenschale in zwei Hälften zerteilte. Eine teuflische Zunge mit Widerhaken schoss aus dem weit aufgerissenen Maul hervor, die sich gierig nach King ausstreckte, der sich mit einem Aufschrei gegen die Säule presste. Der Spitz stellte die Vorderpfoten auf den Boden und brüllte, als wolle er ihm im nächsten Moment den Kopf abreißen.
„Heiliger Jesus!“
Ringsum ertönte schallendes Gelächter. Der bullige Grimwood kam zur Tür herein und riss das mutierte Tier an seiner Leine fort von King. Seine tätowierten Muskeln spannten sich an, als die winzige Kreatur wie wild um sich schnappte und sich Schaum vor ihrem Maul sammelte. Asher und Danica kamen hinter einer Säule hervor und kicherten wie zwei Schulmädchen.
„Was soll die Scheiße?“ King betrachtete fassungslos die drei Vampire, sein Herz raste wie verrückt.
Asher trat noch ein Stück weiter vor. „Der Kleine heißt Pac Man. Wir haben Experimente durchgeführt, um Vampirgene auf andere Spezies zu übertragen.“ Während King mit aufgerissenen Augen zusah, beugte sich Asher vor und strich dem knurrenden Höllenhund über den Kopf. Auf die Berührung hin zog das Tier die insektenartige Zunge ein und klappte sein Maul wieder zusammen, als handele es sich um ein komplexes Origami-Puzzle.
Der Spitz sah Asher an und hechelte glücklich.
King konnte es nicht fassen. „Ihr habt einen gottverdammten Vampirhund geschaffen?“
Grimwood grinste. „Jau. Cool, was?“
King sackte in sich zusammen und versuchte, zu Atem zu kommen. Er war kreidebleich im Gesicht. „Kommt darauf an, wen du fragst. Denn der Hund hat auf jeden Fall einen größeren Schwanz als du.“
Grimwood knurrte. „Und wann willst du meinen Schwanz gesehen haben, du Arschgesicht?“ Wütend verpasste er King einen Schlag gegen den Kopf.
Vor Kings Augen drehte sich alles, dennoch deutete er auf Danica. „Autsch. Ich habe doch mit ihr gesprochen.“
Das arrogante Lächeln verschwand von Danicas Gesicht. Sie holte aus und trat mit der Stahlkappe ihrer hochhackigen Schuhe genau in sein Gesicht. Dann hockte sie sich vor ihn hin und begutachtete die Verletzung mit spöttisch-besorgter Miene. „Armer kleiner King. Du siehst so mitgenommen aus.“ Mit einem Finger wischte sie das Blut von Kings Mund, während er sie finster ansah, und leckte dann ihre Fingerspitze ab. „Du schmeckst etwas fad, mein Süßer“, erklärte sie lächelnd. „Du nimmst wohl nicht genug Fettsäuren zu dir, oder?“
King starrte sie nur durchdringend an, da er sich eine Antwort lieber verkniff.
„Mal ernsthaft“, fuhr Danica fort. „Hast du es mal mit Makrelen versucht? Oder mit Forellen?“
King strahlte sie an. „Wie wär’s, wenn du es mit einer Portion Zuckerguss von meiner Schwanzspitze versuchst?“
Einen Moment lang runzelte Danica die Stirn, dann lachte sie. „Oh, wir werden noch Zeit genug haben für Doktorspiele, das kannst du mir glauben.“ Sie ging noch tiefer in die Hocke, ihre Augen wanderten abschätzig über Kings muskulösen Oberkörper. „Aber erst einmal müssen wir uns unterhalten.“ Ihr Blick blieb an der blutigen Wunde haften, die der Pflock in seiner Brust verursacht hatte, dann strich sie mit einem Finger über sein Kinn, während das Lächeln von ihren Lippen verschwand. „Erzähl uns von dieser Biowaffe, an der ihr gearbeitet habt.“
King blinzelte, um seine Augen von einer schleimigen Mischung aus Blut und Hundespeichel zu befreien, während er heimlich testete, wie fest seine Handfesseln waren. „Ich kann dir zwei Sachen erzählen. Nichts und noch mal nichts. Und Nichts hat soeben das Gebäude verlassen.“
Grimwood hatte mit zwei ausholenden Schritten den Raum durchquert und legte eine Pranke um Kings Hals. „Spuck’s aus, du dämlicher Scheißkerl!“
Kings Leib zuckte, als er nach Luft schnappte, dann erst lockerte Grimwood den Griff ein wenig.
„Okay, ich sag, was ich über die Waffe weiß.“ King hustete, während Danica und Asher erwartungsvoll lauschten.
King spuckte auf den Boden, dann grinste er. „Es ist eine neue Geschmacksrichtung. Doppelt so schokoladig, nur die Hälfte Kalorien. Und es beugt Karies vor…“
Grimwood wollte ihn abermals packen, doch Danica stoppte ihn. Sie beugte sich zu King vor und lächelte ihn sanft an. „Du hast Mut, King, das muss ich dir lassen.“ Sie kam noch näher und strich über sein Gesicht. „Aber unter deinem ganzen Gehabe steckt nichts anderes als Angst, das weiß ich. Was wäre das Schlimmste für dich?“
Kings Lächeln erstarrte, der Humor wich langsam aus seinen Augen.
Danica rieb ihre Wange an seinen Bartstoppeln und schnurrte wie eine Katze. Ihre Lippen strichen über sein Ohr, als sie ihm zuflüsterte: „Du willst doch nicht wieder einer von uns werden, nicht wahr?“
Kings Kiefermuskeln begannen zu zucken. Schweiß mischte sich mit Blut auf seiner Stirn, während er versuchte, den Kopf abzuwenden, damit sie die Angst in seinen Augen nicht sah.
Danica legte ihre zarte Hand um sein Kinn und drehte sein Gesicht zu sich. Mit einem grausamen Lächeln auf den Lippen fuhr sie fort: „Ich werde dich wieder beißen, King. Und dann werde ich dich hier zurücklassen, während du dich verwandelst.“ Liebevoll strich sie sein blutverschmiertes Haar aus der Stirn. „Ich werde dich beobachten, Tag für Tag, während der Durst immer schlimmer und schlimmer wird. Und wenn du es dann überhaupt nicht mehr aushalten kannst“, Danica nickte jemandem zu, der im Schatten gestanden hatte. Drake kam in den Raum und hielt Zoe in den Armen. Das kleine Mädchen war geknebelt, es hatte entsetzliche Angst, aber es lebte.
Mit honigsüßer Stimme sprach Danica weiter: „Dann werde ich dir das Mädchen bringen, damit du deinen Durst stillen kannst.“ Mit einem Finger strich sie liebevoll an seinem Kiefer entlang. „Würde dir das gefallen, King? Hättest du Spaß daran, ihr Leben zu nehmen?“
Er wandte den Kopf ab und schloss angewidert die Augen.
Danica lächelte. „Na, dann sind wir doch schon einen Schritt weiter.“
Im Hauptquartier der Nightstalker stand Abigail an der Bank in der Werkbank und spannte wortlos eine neue Sehne in ihren Bogen.
Es war fast Morgen, auf den Tischen um sie herum war alle mögliche Ausrüstung verstreut: eine Bogenpresse, Sehnenspanner, Bogenschuppen und Schraubenschlüssel in verschiedenen Größen. Ihre Augen brannten, weil sie Schlaf dringend nötig hatte. Doch sie machte grimmig weiter, weil sie sicher sein wollte, dass alles bereit war. Sie war ganz auf ihre Arbeit konzentriert und versuchte, die Ereignisse der letzten Stunden aus ihrem Verstand zu verdrängen.
Von allen neuen Techno-Waffen, die Hedges für sie über die Jahre hinweg konstruiert hatte, war ihr der Bogen am liebsten. Allein die Menge der Geräte in der Werkstatt, die nur der Wartung dieses Bogens dienten, sprach für sich. Es war sogar ein ganzer Raum für sie reserviert worden, in dem sie üben konnte. Auf der anderen Seite der weitläufigen Halle gab eine halb geöffnete Tür den Blick frei auf einen improvisierten Schießstand mit einer Reihe von Zielen, die von einfachen Zielscheiben bis hin zu Silhouetten von Scharfschützen reichten.
Abigail hatte einen großen Teil ihrer Zeit bei den Nightstalkern darauf verwendet, den Bogen beherrschen zu lernen. Sie hatte Hedges den Entwurf ursprünglich zum Spaß vorgestellt. Umso überraschter war sie gewesen, als er ihr nach einer Weile die fertige Waffe präsentiert hatte.
Sie sah konzentriert nach unten, während sie die winzigen Schrauben anzog, die das Gerät zusammenhielten. Es unterschied sich deutlich von einem gewöhnlichen Bogen. Er bestand aus Titan und war damit leichter, zugleich aber auch viel kraftvoller und reaktionsfreudiger. Die Sehne war so empfindlich gelagert, dass man nur eine Sekunde lang unaufmerksam sein musste, schon hatte man sich den Bolzen in die Kniescheibe gejagt. Also hatte Abigail gelernt, ihre Reflexe zu kontrollieren. Vom ganzen Team war sie die Einzige, die den Bogen richtig bedienen konnte. Dex war zu stark gewesen und neigte dazu, die Sehne beim Spannen zu zerreißen, und King war zu ungeduldig und verließ sich lieber auf seine Schusswaffen. Er hatte immer gesagt, ihm würden das Zielen und Feuern mehr zusagen…
Abigail verdrängte rasch den Gedanken an King. Sie musste bei der Sache sein, sie durfte sich nicht ablenken lassen.
Mit dem Bogen war sie schon immer gut gewesen. Zu ihrem dreizehnten Geburtstag hatte ihr Vater ihr mit der Post Pfeil und Bogen geschickt. Es war nur ein Plastikmodell mit einem Nylonfaden als Sehne gewesen, doch sie hatte ihre Mutter dadurch verwundert, dass sie das Teil überall hin mitgenommen hatte. Die Katzen in der Gegend hatten bald begriffen, dass sie Abigails Haus besser weiträumig mieden, da sie praktisch endlos übte. Schließlich hatte ihr Stiefvater ihr den Bogen abgenommen, um die wenigen noch unversehrten Pflanzen und Einrichtungsgegenstände im Haus vor ihr zu retten.
Doch egal, wo er ihn versteckte, Abigail fand den Bogen immer wieder, auch wenn sie Schränke ausräumen und auf der Garderobe herumklettern musste. Eines Tages war ihr Stiefvater das Theater leid gewesen und hatte den Bogen in den Müll geworfen. Abigail war ziemlich sauer gewesen, allerdings nicht so sauer wie ihre Eltern, als sie drei Tage später mit einem echten Bogen aufgetaucht war – komplett mit Köcher und Pfeilen. Und einer Zielscheibe in Menschenform, der sie eine Perücke mit der gleichen Haarfarbe wie ihr Stiefvater aufgesetzt hatte.
So wie jeder Vater hatte Whistler gewollt, dass seine Tochter in Sicherheit war, weit entfernt vom Schrecken dieser Welt. Gleichzeitig musste er aber auch erkannt haben, dass er deswegen Abigail nicht in Watte packen konnte. Nachdem die Morde geschehen waren, hatte er jeglichen Kontakt zu ihr und ihrer Mutter abgebrochen, da er um ihre Sicherheit fürchtete. Jahrelang wussten weder sie noch ihre Mutter, wo Whistler lebte. Sie hatten nicht einmal seine Telefonnummer.
Und doch hatte Abigail immer das Gefühl gehabt, dass er in der Nähe war, dass er sie vielleicht sogar beobachtete. Tag und Nacht hatte sie mit ihrem neuen Bogen geübt, da sie ihrem Dad helfen wollte, die Monster zu töten, die seine andere Familie umgebracht hatten.
Als sie nach jahrelanger Suche Whistler endlich aufgespürt hatte, da hatte er ihr verboten, sich einem Vampir auch nur zu nähern. Zumindest so lange er nicht mit eigenen Augen gesehen hatte, was sie mit ihrem Bogen anstellen konnte. Anschließend schien er seine Meinung geändert zu haben.
Sie war fest entschlossen gewesen, ihm zu helfen. Whistler hatte jedoch darauf bestanden, dass sie sich dem neuen Team anschloss, das er zu der Zeit aufbaute: die Nightstalker. Damals bestand das Team noch aus einem bunt zusammengewürfelten Haufen von Ausgestoßenen. Aus Menschen, die vor ihrem eigenen Leben die Flucht ergriffen hatten und die nur von dem einen Gedanken zusammengehalten wurden, den Kreaturen ein Ende zu bereiten, die ihr Glück zerstört hatten. Whistler hatte ihnen dabei geholfen, ein Hauptquartier zu finden, und anschließend hatte er sie in vollem Umfang auf seine Datenbanken zugreifen lassen und sie alles gelehrt, was er über das Töten von Vampiren wusste.
Den Rest überließ er ihnen selbst.
Diese Leute würden auf Abigail aufpassen, hatte er sich immer wieder gesagt. Es wäre viel zu riskant gewesen, wenn seine Tochter direkt mit ihm zusammengearbeitet hätte. Würde sie jemals in die Fänge von Vampiren geraten, so hatte Whistler ihr ohne Umschweife erklärt, dann wusste er mit absoluter Sicherheit, dass er sein Leben und vielleicht sogar Blades Leben geben würde, um sie zu retten. Mit einer solchen Sorge wollte er sich aber nicht belasten.
Außerdem – so hatte er ihr ein wenig verlegen gestanden – würde sie keinen Gefallen daran finden, wenn er und Blade sich einmal wöchentlich Horrorfilme ansahen und dabei ihr bevorzugtes Currygericht aßen.
Bei den Nightstalkern würde Abigail in Sicherheit sein, und sie musste dort nicht ständig steinhart gewordenes Fladenbrot von den Kissen wischen. Gemeinsam würden sich ihre individuellen Talente zu einer mächtigen Geheimwaffe gegen die Vampire vereinen, die an seiner Stelle weitermachen konnte, wenn ihm und Blade jemals etwas zustoßen sollte.
Es kam einem Testament so nahe, wie es Whistler nur eben möglich war.
Abigail betrachtete den Bogen in ihren Händen. Eine plötzliche Woge der Angst durchlief ihren Körper. Sie bekam eine Gänsehaut und musste sich aufstützen, um ihre Fassung wiederzuerlangen. Ihr Vater war gerade mal seit zwei Tagen tot, und schon waren die Nightstalker auf die denkbar grausamste Weise vernichtet worden.
Sie war nur eine Stunde fortgewesen…
Abigail schüttelte nachdrücklich den Kopf. Sie konnte sich dafür nicht die Schuld geben. Sie wusste, wenn sie geblieben wäre, dann hätte man sie höchstwahrscheinlich auch umgebracht. Es war nicht ihr Fehler gewesen.
Aber warum fühlte sie sich dann so verdammt schuldig?
Sie griff nach einem kleinen Schraubenzieher und arbeitete ruhig und präzise an ihrem Bogen, nahm hier und da kleinere Anpassungen vor. Tränen brannten in ihren Augen, sie wischte sie wütend weg, damit sie sehen konnte, was sie tat. Wenn King noch lebte, musste sie auf den Millimeter genau treffen können.
In der Dunkelheit außerhalb der Werkstatt bewegte sich etwas. Blade erschien in der Tür, ein Schatten inmitten von Schatten. Einen Moment lang beobachtete er Abigail stumm. Er war sich nicht sicher, ob er sie störte oder nicht. Sie war jetzt schon seit über einer Stunde mit dem Bogen beschäftigt, und er fragte sich allmählich, was daran so lange Zeit in Ansprach nehmen konnte.
Er lehnte sich gegen den Türrahmen, während er ihr weiter bei der Arbeit zusah. Sie hielt den Kopf gesenkt und war völlig konzentriert, während sie mit ihren geschickten Fingern winzige Veränderungen an der elektronischen Spannungsanzeige vornahm.
Nachdem er noch einen Moment lang gewartet hatte, räusperte er sich, doch Abigail machte einfach weiter und drehte sich gleichzeitig ein wenig von ihm weg, während sie nach einem Tuch griff und sich daran machte, das elektronische Visier zu säubern.
Blade runzelte die Stirn. Ignorierte sie ihn jetzt absichtlich? Vielleicht störte er wirklich, doch seit sie Sommerfields Leiche entdeckt hatten, war ihr kaum noch ein Wort über die Lippen gekommen. Blade fand, er sollte etwas sagen, bevor das Schweigen noch länger anhielt. Ob es ihnen gefiel oder nicht – sie beide waren jeder die einzigen Überlebenden ihrer Organisationen. Es war lebenswichtig, dass sie sich austauschten.
Wieder räusperte er sich, diesmal geringfügig lauter. „Alles in Ordnung?“, fragte er ein wenig schroff.
„Mir geht’s gut.“ Abigail antwortete reflexartig, aber ihr Tonfall war schneidender, als sie es beabsichtigt hatte. Sie hustete und starrte auf den Lappen in ihrer Hand, während sie versuchte, die Tränen aufzuhalten. Wenn er doch endlich verschwinden würde!
Blade nickte knapp. Abigail wollte in Ruhe gelassen werden, das war sogar ihm klar. Er war schließlich nicht völlig gefühllos.
Er wandte sich zum Gehen, zögerte dann aber und kämpfte mit sich selbst. Sein Blick kehrte zu Abigail zurück, die sich weiter dem Visier widmete und den Kopf gesenkt hielt. Eine Erinnerung ging ihm durch den Kopf, die ihn traurig lächeln ließ.
Wie der Vater, so die Tochter. Er kannte Abigail erst seit kurzer Zeit, aber schon jetzt erkannte er all die kleinen Eigenarten, die sie mit Whistler gemeinsam hatte. Whistler war genauso stur gewesen, wenn es darum ging, seine Gefühle zum Ausdruck zu bringen. In so vielen Nächten war Blade von einem Auftrag zurückgekehrt und hatte den alten Mann vor dem winzigen Schwarzweißfernseher angetroffen, eine Flasche Scotch in der einen, ein paar verblasste Schnappschüsse in der anderen Hand. Sobald er hörte, wie die Tür ins Schloss fiel, schob er sie unter ein Kissen, aber der Daywalker hatte die Tränen in den Augen des alten Mannes sehen können, bevor er sie rasch mit dem Ärmel oder einem alten Lappen weggewischt hatte.
Er hatte noch immer um die Familie getrauert, die er verloren hatte, das war Blade klar. Doch Whistler behielt seine Gefühle für sich und versteckte sie hinter einem gewohnheitsmäßig schroffen Gehaben und hinter Macho-Getue. Er wollte, dass Blade ihn als einen starken Mann sah, weil er dachte, Blade würde dadurch ebenfalls stark. Doch in Wahrheit hatte es Blade zu einem harten Mann gemacht, der wenig mehr konnte, als zu jagen, zu töten und gelegentlich ein paar Lebensmittel einzukaufen.
Von Natur aus war Blades Leben voller extremer Emotionen. Doch im Lauf der Jahre hatte er sie immer mehr ignoriert und ihnen gestattet, zu einem Teil seines Jobs zu werden, aber zu nichts weiter. So wie er die Sache sah, war es nicht seine Aufgabe, hinter den Vampiren aufzuräumen. Er hatte sie nur zu töten, sollte sich doch der Rest der Welt darum kümmern, die Folgen in den Griff zu bekommen. Er war ein Killer, kein Therapeut.
Es war nicht so, dass es ihn nicht gekümmert hätte. Er wusste bloß nicht, wie er das ausdrücken sollte. Blades Verstand funktionierte wie eine gut geölte Maschine, voller praktischer Erwägungen und Strategien, Gegenmaßnahmen und Angriffspläne. Töte den Vampir. Rette die Frau. Schaff das Kind ins Krankenhaus. Fackel das Versteck ab. Wenn es darum ging, Vampire zu jagen, war Blade der Beste, den man finden konnte. Aber wenn es um emotionsgeladene Situationen ging, machte Blade lieber einen großen Bogen um sie. Sterbende Opfer überließ er dem Krankenhauspersonal, als hätte er einfach irgendein Päckchen abgeliefert. Und wenn er seine Kleidung von Blut reinigte, war er in Gedanken schon beim nächsten Fall und schluckte Tabletten, um die Schreie seiner letzten Opfer vergessen zu können.
Aber Situationen wie diese hier…
Blade sah Abigail zu, wie sie einen Schraubenschlüssel nahm und die Zielerfassung auszurichten begann. Sein erster und stärkster Impuls war der, sie allein zu lassen, damit sich jemand anders ihrer annehmen konnte.
Doch alle anderen waren tot.
Verdammt.
Blade überlegte einen Moment lang und empfand es als unangenehm, immer noch in der Tür zu stehen. Er kratzte sich am Kopf, nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen. Was würde King in einer solchen Situation wohl sagen?
Schließlich drehte er sich wieder zu ihr um und gab ihr den einzigen Ratschlag, der ihm einfiel. „Lass nicht zu, dass es dich von innen auffrisst“, sagte er nur.
„Ist längst passiert“, gab Abigail zurück, ohne aufzusehen.
Blade zog die Augenbrauen hoch. Mit einer Antwort hatte er nicht gerechnet und ganz gewiss nicht mit einer so prompten. Es war fast so, als hätte Abigail nur darauf gewartet, dass er etwas sagte.
Er sah ihr zu, wie sie den Lappen zur Seite legte. Sie stand noch immer von ihm abgewandt da, stützte sich auf die Werkbank und sah aus dem Fenster in die Dunkelheit.
„Seit ich denken kann, steckt diese Klinge der Traurigkeit in meinem Herzen.“ Ihre Stimme war so leise, dass Blade sich anstrengen musste, um sie zu verstehen. Sie nahm wieder den Lappen in die Hand und begann, unsichtbare Fusseln von den Rändern zu wischen. „Solange die Klinge da steckt, bin ich stark und unantastbar. Aber sobald ich sie herausziehe…“ Sie drehte sich zu Blade um und sah ihm in die Augen. „Dann werde ich sterben.“
Dann wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu und machte weiter, als sei Blade gar nicht da.
Er verharrte noch eine Minute lang in der Tür, doch Abigail hatte sich entschieden, ihn wieder zu ignorieren.
Er ging so schnell, wie er zu ihr gekommen war.
Abigail wartete, bis die Schritte des Daywalkers verhallt waren. Dann stand sie auf und ging eilig hinüber zum Schießstand.
Sie band sich den Köcher auf den Rücken, legte einen Pfeil an und zog die Sehne nach hinten, wobei sie spürte, wie sich die Muskeln in ihrem Arm bei der Belastung anspannten. Sorgfältig zielte sie auf ein dreidimensionales Ziel in Menschenform, das am Ende des Schießstands an einem Netz festgemacht war. Die Zeit schien stillzustehen, als sie ihre Position minimal korrigierte, das Fadenkreuz ihres Visiers mit dem Ziel in Einklang brachte, während der Bogen unter der Spannung vibrierte.
Dann ließ sie den Pfeil los.
Er schoss durch den Raum und bohrte sich gleich über dem Herz in die Brust ihres Ziels. Sie warf einen Blick auf die Uhr neben ihr, die mit einem Ballistikcomputer verbunden war. Der Pfeil hatte eine Geschwindigkeit von 73 Metern pro Sekunde erreicht.
Nicht schlecht.
Abigail schoss erneut. 82 Meter.
Schon besser, aber noch nicht gut genug.
91 Meter.
96 Meter.
100 Meter.
Der Computer piepte im gleichen Rhythmus, in dem sie einen Pfeil nach dem anderen abfeuerte, bis sie aufhören musste, weil sie ins Leere griff. Der Köcher war leer.
Sie betrachtete ihr Ziel und sah, dass sich das Dutzend Pfeile in die Stelle gebohrt hatte, die bei einem lebenden Ziel zum Tod geführt hätte, und dass sie die Form eines Kreuzes bildeten.
Das würde genügen.
Draußen stand Blade im Eingang und sah zu den Docks hinaus. Alle seine Sinne waren angespannt, während er auf Abigail wartete. Die nächtliche Brise vom Meer war eigentlich recht mild, doch Blade empfand sie als unangenehm kalt und feucht, da er die trockene Hitze der Innenstadt gewöhnt war. Er zog seinen Ledermantel enger um sich und trat auf der Stelle hin und her, damit er warme Füße bekam.
Vor nicht ganz zwanzig Minuten hatte Abigail einen Freund angerufen, der einen Platz für sie hatte, an dem sie bleiben konnten. Offenbar war dieser Kerl jetzt auf dem Weg, um sie abzuholen. Blade wünschte, er würde sich ein wenig beeilen. Je eher sie von hier fortkamen, desto besser. Das ganze Gebäude roch nach Blut, und zu seinem Entsetzen hatte Blade feststellen müssen, dass ihn der Geruch hungrig machte. Wenn Abigail in seinen Kopf hätte blicken können, dann hätte sie wahrscheinlich sofort einen Pfeil durch sein noch schlagendes Herz gejagt.
Er sah hinauf zum nächtlichen Himmel. Sie mussten von nun an ständig in Bewegung bleiben. Im alten Hauptquartier konnten sie nicht länger bleiben, da es nicht mehr sicher war. Vampire waren wie Wespen. Ließ man eine herein, würden schon bald immer mehr folgen. Für diese Nacht konnten sie bei Abigails Freund bleiben, am nächsten Tag würden sie dann wieder herkommen, um mit der langwierigen Aufgabe zu beginnen, die Ausrüstung der Nightstalker an einen anderen Ort zu bringen.
Blade schauderte, tat aber so, als würde es ihn nicht kümmern. Er befand sich jetzt auf unbekanntem Territorium. Er war nur so lange geblieben, bis er sicher sein konnte, dass Abigail in Sicherheit war. Whistler hätte es so gewollt.
Er konnte fortgehen, wann immer er wollte.
Abigail kam aus dem Gebäude und ging zu ihm, den Bogen und einen kleinen Beutel mit Vorräten in der Hand. Blade stand auf. Sie wirkte jetzt ruhiger und irgendwie auch größer. „Ich bin startbereit“, erklärte sie.
Gemeinsam warteten sie, dass der Freund auftauchte.
Kurz darauf waren in einiger Entfernung Scheinwerfer zu sehen. Dann näherte sich ein Land Cruiser, der sich durch die Überreste der Werft bewegte, als handele es sich um ein Schlachtschiff, dass durch einen Schiffsfriedhof manövrierte. Der Wagen war ein neueres Modell als Kings Cruiser, er war anders lackiert, und die Radkappen waren schwarz gestrichen. Auf dem Fahrzeug lag eine dünne Staubschicht, als sei er erst vor kurzem in der Wüste unterwegs gewesen.
Blade bemerkte Einschusslöcher in der Karosserie, die nur grob verspachtelt worden waren. Abigails „Freund“ war ausgesprochen interessant.
Der Land Cruiser hielt vor ihnen und der Fahrer ließ das Fenster herunter. Hinter dem Lenkrad saß ein glattrasierter Mann, der etwas jünger zu sein schien als Dex, es in Sachen gutes Aussehen aber mühelos mit ihm aufnehmen konnte. Er hob grüßend eine Hand. „Gestatten, mein Name ist Culder. Ich bin der Fahrer für heute Abend.“ Blade spürte, wie ihm schauderte. Minuten später glitt der Land Cruiser durch die Dunkelheit der nächtlichen Stadt. Blade lehnte sich auf seinem Sitz zurück und versuchte zu meditieren, während er aus dem Seitenfenster sah. Die Stadt huschte in Schemen aus Neonlicht vorbei. Er hörte das leise Klicken zweier Vampirzähne, die mit einer dünnen Schnur am Rückspiegel befestigt waren und die durch die Bewegungen des Fahrzeugs aneinander schlugen.
Blades Mundwinkel zuckten bei dem Anblick unwillkürlich nach oben. Das hätte Whistler gefallen.
Ein Gedanke ging ihm durch den Kopf, der seine Konzentration störte. Er berührte Culder an der Schulter und fragte: „Wohin fahren wir?“
„Zu einem anderen sicheren Ort.“ Culder drehte den Innenspiegel so, dass er Blade sehen konnte, dann konzentrierte er sich wieder auf die Straße.
Blade brummte. Er wollte mehr wissen, aber die Atmosphäre im Cruiser war für eine eingehende Unterhaltung alles andere als förderlich. Dieser Culder war nicht sehr geschwätzig.
Unbewusst begann er, mit den Fingern einen Takt auf seinem Knie zu klopfen, während er sich daran zu erinnern versuchte, was King ihm über die Nightstalker gesagt hatte. Es schien alles so unendlich lange her zu sein…
Abigail drehte sich auf ihrem Sitz um und warf Blade einen scharfen Blick zu, woraufhin er sofort seine Finger ruhig hielt. Sie schob ihre Tasche mit den Vorräten unter den Vordersitz, dann wandte sie sich wieder Blade zu und beantwortete seine unausgesprochene Frage: „Wir haben es dir erzählt, Blade. Wir operieren mit Schläferzellen. Wenn die eine zerstört ist, wird eine neue Zelle aktiviert, um zu übernehmen.“
Sie sprach die Worte mechanisch, während sie versuchte, die Bilder zu ignorieren, die in ihrem Kopf entstanden. Wieder wandte sie sich ab und sah aus dem Fenster. Sie beobachtete, wie die Scheibe beschlug, sobald sie dagegen atmete.
Dass Blade in keiner Weise persönlich für den Tod ihrer Freunde verantwortlich war, wusste sie sehr wohl. Aber allein die Tatsache, ihn in ihrer Nähe zu haben, und das Wissen, dass er zum Teil Vampir war, sorgten dafür, dass sie sich unbehaglich fühlte. So als würden winzige, eiskalte Ameisen unter ihrer Haut umherkrabbeln. Sie hoffte, dass diese Fahrt bald vorüber war, damit sie etwas Zeit für sich bekam, um ihre Gedanken zu ordnen.
Sie fragte sich, wie ihr Vater mit Blade zurechtgekommen war. So weit ihr das bekannt war, hatte Whistler sich nicht weiter um Blades Herkunft gekümmert, sondern mit dem Daywalker unter einem Dach gelebt, als sei der einfach nur irgendein Haustier. Nach allem, was sie wusste, hatte Blade ihrem Vater nie absichtlich wehgetan, daher konnte sie nicht verstehen, warum sie solche Schwierigkeiten hatte, diesen Mann zu akzeptieren.
Gleichzeitig gingen ihr so viele Zweifel durch den Kopf. Wie sehr hatte Blade sich wirklich unter Kontrolle? Was geschah, wenn sein Serum aufgebraucht war? Wie weit konnte sie ihm vertrauen, dass er sich wie ein Teil des Teams verhielt?
Abigail rutschte auf ihrem Sitz umher. Whistler hatte sich oft über Blades Sturheit und starrsinnige Unabhängigkeit beklagt. Er hatte ihr unter anderem davon erzählt, dass Blade nach einem Streit lieber zwanzig Kilometer und mehr zu Fuß nach Hause gegangen war, anstatt sich wieder zu ihm in den Wagen zu setzen. Ein solches Verhalten warf Fragen auf, die Abigail nicht beantworten konnte. Was, wenn der Daywalker zu dem Entschluss kam, es sei zu riskant, mit ihr zu arbeiten?
Auf einmal wurde ihr etwas klar. Trotz aller Vorbehalte, die sie persönlich gegen ihn hegte, brauchte sie Blade. Sie musste zusehen, dass sie ihre Ängste in den Griff bekam, und das aus einem sehr wichtigen Grund. Wenn King…
Abigails Verstand stockte. Wieder rutschte sie umher und versuchte einen erneuten Anlauf.
Wenn King nicht mehr…
Nein, sie schaffte es nicht.
Sie zwinkerte ein paar Mal in rascher Folge und umklammerte den Bogen fester.
Wenn King irgend etwas zugestoßen war, dann benötigte sie so viel Muskelkraft, wie sie nur aufbringen konnte. Sie musste Drake aufhalten, auch wenn es sie umbringen sollte. Sie konnte nicht zulassen, dass der blutsaugende Bastard ungeschoren davonkam, nach allem, was er den anderen Nightstalkern angetan hatte. Aber allein konnte sie gegen den König der Vampire nichts ausrichten. Nur Blade besaß die nötige Kraft und das Durchhaltevermögen. Für sie bedeutete das, dass sie lernen musste, mit ihm zu leben, ob es ihr gefiel oder nicht. Zumindest würde sie ihn brauchen, um ihr zu helfen, Kings Tod…
Verdammt!
Blade sah Abigail fragend an, doch sie blickte stur aus dem Fenster und tat so, als würde sie nichts bemerken.
Das Problem war nur, dass Blade sie auch brauchte, und nach seiner unglücklichen Miene zu urteilen, wusste er es wohl auch. Er musste bei ihr bleiben. Sie war die einzige Verbindung zu den Nightstalkern und damit zu deren Gerät und deren technologischem Wissen. Da Whistler tot und das Bootshaus zerstört war, konnte er seine Waffen nicht warten, und erst recht fehlte ihm der Zugriff auf sein lebenswichtiges Serum.
Abigail war sich recht sicher, dass Blade von Genetik, Chemie oder Medikamenten keine Ahnung hatte. Sollte das tatsächlich der Fall sein, dann würde sie um keinen Preis in der Nähe sein wollen, wenn er nach getaner Arbeit die Wirkung eines selbst gemischten Serums testete. Er musste doch erkannt haben, dass die Vorteile, bei den Nightstalkern zu bleiben, schwerer wogen als die Risiken, oder etwa nicht?
Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu. Wenn ihr eigenes Gesicht ein Buch mit sieben Siegeln war, das nichts über ihre Gefühle verriet, dann war sein Gesicht ein Buch mit zwölf Siegeln, dessen Seiten man zusammengeklebt und das man in Ketten gelegt hatte, um es auf dem Meeresgrund zu versenken. Er saß jetzt von ihr abgewandt und schaute mürrisch aus dem Seitenfenster, wobei er kaum einmal blinzelte. Von ihr und der Welt um ihn herum war er völlig abgeschnitten. Abigail setzte zum Reden an, überlegte es sich dann jedoch anders.
Dies war nicht der richtige Augenblick. Es war so, als klaffte unter den wenigen Zentimetern, die sie beide trennten, eine tiefe felsige Schlucht, in der sich all die Toten und das Blut und ein Leben voller Schmerz und Bedauern gesammelt hatten. Sie sah, dass dieser Schmerz die harten Linien in Blades Gesicht zeichnete, die Mundwinkel nach unten zog und seinen kantigen Kiefer hervortreten ließ.
Abigail legte den Kopf ein wenig schräg und betrachtete Blade aus den Augenwinkeln. Eigentlich hatte er ein ansprechendes Gesicht, das in einer anderen Realität die Titelbilder von Hochglanzmagazinen und Fotostrecken über die neueste Herrenmode geschmückt hätte, aber nicht in der FBI-Übersicht der meistgesuchten Verbrecher aufgetaucht wäre. Zum ersten Mal fielen ihr die großformatigen Tätowierungen am Genick des Daywalkers auf, die bis zum Haaransatz reichten und dort in die kantigen Muster übergingen, die in seine Frisur rasiert worden waren. Sie fragte sich, woher die Tätowierungen stammten und wie weit sie über seinen Rücken reichten…
Blade merkte, dass Abigail ihn ansah, wandte sich ihr zu und sah ihr einige Sekunden lang ausdruckslos in die Augen. Dann richtete er den Blick wieder auf die Straße und nickte knapp, als habe er soeben irgend etwas klargestellt oder bewiesen.
Sie spürte, wie sich ihre Nackenhaare sträubten, und sah fort. Sie fragte sich, was zum Teufel in sie gefahren war, dass sie diesen Hybriden so eingehend musterte. Er mochte ja gut aussehen, aber Blade war ein verdammter, Angst einflößender Mistkerl. Sie hoffte bei Gott, dass Culder mit Blades Serum ausreichend eingedeckt war, damit sie die nächsten vierundzwanzig Stunden überbrücken konnten. Wenn nicht, dann würde sie sich schnellstens absetzen.
Culder hielt vor einem Geschäft für Aquaristik, das in einer schmalen, holprigen Nebenstraße gelegen war. Sie stiegen aus, und Culder führte sie zu einem Nebeneingang. Die Schaufenster waren dunkel, doch Blade und Abigail wussten aus Erfahrung, dass dies nichts darüber aussagte, ob das Geschäft leer stand oder nicht.
Im Ladenlokal zog Culder einen dicken Schlüsselbund hervor und schloss ein Sicherheitsgitter auf, das wie ein Akkordeon zur Seite geschoben wurde. Die Hintertür des Geschäfts öffnete sich leise, sie traten ein und wurden von Culder durch die dunklen Gänge geführt.
Zu beiden Seiten standen Aquarien. Pumpen summten, um Meerestiere aller Art mit Sauerstoff zu versorgen, die in Kunstlicht umher schwammen. Ein riesiger Koi beobachtete sie genau und kam angeschwommen, als sie sein Becken passierten, da er wohl erwartete, dass er gleich gefüttert wurde. Über ihnen hing ein buntes Fischmobile, dessen Plastikfische sich im Luftzug langsam bewegten.
Blade betrachtete die langen Reihen aus Aquarien und dachte an das zerbrechliche Glas der wassergefüllten Becken. Er beeilte sich, schnell auf Abstand zu gehen. Aus Erfahrung wusste er, dass dieser Ort für ihn denkbar ungeeignet war. Ein entkommener Vampir genügte, und schon würde jeder Fisch im Laden auf dem Boden liegend nach Luft schnappen, noch bevor Culder etwas dagegen hätte unternehmen können.
Das Versteck befand sich im hinteren Teil des Gebäudes. Culder knipste das Licht an und zeigte ihnen ihr neues Quartier. Es war relativ klein und bestand aus einem einfachen Labor und einer Kombination aus Werkstatt und Waffenlager. Filmplakate mit Eselsohren hingen an den Wänden und der Decke, es roch schwach nach Knoblauch und Schwefel.
Mit dem letzten Hauptquartier war das nicht zu vergleichen, doch für den Augenblick musste das hier genügen.
Abigail legte ihre mitgebrachten Vorräte auf eine Bank und lehnte sich mit verschränkten Armen dagegen, während Culder einen der drei Computer hochfuhr. Das Dialogfenster eines Media Players erschien auf dem Bildschirm, Culder rief eine Videodatei auf.
Auf Blades fragenden Blick hin hielt Culder kurz inne, ehe er die Wiedergabe startete. „Sommerfield hat für euch eine Videonachricht hinterlassen“, sagte er nüchtern, doch Blade fühlte ein Schaudern, als ihm die Bedeutung dieser Worte bewusst wurde.
Culder ließ die Aufnahme ablaufen, und Sommerfields Gesicht tauchte auf dem Monitor auf. Um die Datei nicht unnötig aufzublähen, war die Auflösung des Bildes relativ niedrig, so dass sich bei jeder Bewegung Kästchen bildeten. Es war aber deutlich genug, um zu erkennen, dass es sich tatsächlich um Sommerfield handelte. Sie machte eine ernste Miene und war blass, so als hätte sie noch kurz zuvor geheult.
Sie begann zu reden, aber die Lippenbewegungen hinkten den Worten ein wenig hinterher. „Wenn ihr das seht, dann bin ich bereits tot. Sollte Zoe noch leben, dann versprecht mir, dass ihr euch um sie kümmern werdet.“
Sie machte eine kurze Pause und schien auf etwas zu lauschen, dann fuhr sie mit leiserer Stimme fort: „Ich lese ihr jeden Abend aus den Oz-Büchern vor. Wir haben gerade mit The Emerald City of Oz begonnen, das mit dem König der Gnome…“
Ihre Stimme versagte, sie musste wieder eine Pause machen und sich die Augen wischen, die nichts sahen. Es schien so, als bekomme sie sich wieder in den Griff, dann wechselte sie schnell das Thema und sprach mit ernster Stimme weiter: „Ich glaube, es ist mir gelungen, eine funktionsfähige Version des DayStar-Virus zu züchten. Vorsichtshalber habe ich die genetische Sequenz an Culder übermittelt, für den Fall, dass unser Bestand vernichtet worden ist.“
Abigail sah hoffnungsvoll zu Culder, der die Fäuste in einer triumphierenden Geste hob, dann aber auf den Monitor zeigte, damit sie weiter zuhörte, was Sommerfield sagte.
„Um maximale tödliche Wirkung zu erzielen, müsst ihr es mit Drakes Blut versetzen. Wenn es funktioniert, sollte jeder Vampir in unmittelbarer Nähe praktisch auf der Stelle sterben.“
Blade richtete sich ein wenig auf und hörte aufmerksam zu.
„Danach dürfte es nur noch eine Frage von Wochen sein, bis sich das Virus über die ganze Welt ausgebreitet hat.“
Sie zögerte, als sei sie unschlüssig, wie sie am besten auf das nächste Thema zu sprechen kam. „Da ist noch etwas, Blade. Du solltest wissen, dass dieses Virus dich ebenfalls vernichten könnte. Da du ein Hybride bist, kann ich nicht sicher sagen, ob dein Immunsystem damit zurechtkommt.“ Sie sah zur Seite. „Es tut mir Leid“, fuhr sie fort. „Wir hatten keine Zeit, das Virus ausgiebig zu testen.“ Nach einem Blick hinter sich streckte sie ihre Hand zur Kamera aus, dann war nur noch ein Rauschen zu sehen.
Culder schaltete den Monitor aus, dann sahen er und Abigail zu Blade. Wie immer war dessen Miene völlig ausdruckslos. Gott allein mochte wissen, was in seinem Kopf vorging.
„Seht euch mal den Pfeil an“, sagte Culder und setzte damit dem schweigsamen Warten ein Ende. Sie hatten noch eine Menge zu tun.
Er holte ein Aluminiumkästchen aus dem Gefrierschrank, öffnete es und hielt es Blade hin. Im Inneren lag auf Styropor gebettet eine Glasampulle, in der sich das Seuchenvirus befand. Aus einem Ende der Ampulle ragte ein Mechanismus heraus, der an einen Pflock erinnerte und der dem Ganzen das Aussehen einer High Tech-Harpune verlieh.
Culder legte seine Hand über das Kästchen. „Ich hatte gerade genug Zeit, um eine kleine Menge DayStar herzustellen“, erklärte er. „Die Ampulle ist mit einem Druckluft-Projektil versehen, so dass man sie mit einem Gewehr oder einem Bogen abfeuern können sollte.“ Er lächelte ironisch und fügte mit bemüht lockerem Tonfall an: „Gebt euch nur Mühe, dass ihr ins Schwarze trefft. Für einen zweiten Versuch reicht es nicht.“
Abigail arbeitete mit Culder bis zum Morgengrauen, um die Ampulle mit größter Sorgfalt an der modifizierten Pfeilspitze zu befestigen.
Als sie fertig war, steckte sie den Pfeil behutsam in ihren Köcher und zog ihren Laptop aus der Tasche. Schnell markierte sie ein Dutzend Songs auf der Titelliste und verschob sie auf die MP3-Liste, dann schloss sie den Player an und kopierte die Stücke auf das Gerät. Während sie wartete, bis der Download abgeschlossen war, setzte sie ihre Ohrhörer ein und startete den Track „Atom Bomb“ von Fluke, dessen brodelndes Intro durch die Kabel bis in ihr Gehirn dröhnte. Abigail nickte zufrieden und ließ ihre Sinne von der Musik überspülen, während sie ihre Waffen zusammenstellte, um sich für den Kampfbereit zu machen.
Hinter ihr steckte Blade so viele von Culders maßgeschneiderten Waffen ein, wie er am Körper tragen konnte. Einen Silberpflock nach dem anderen schob er in die leeren Abteilungen seiner ledernen Waffengurte, die er um den Rumpf sowie um Arme und Beine trug. Dann lud er die Magazine seiner Schusswaffen mit Silberkugeln.
Schließlich polierte er sein Schwert, bis das Metall glänzte, hielt die Waffe ins Licht, um die Klinge auf Kerben zu untersuchen. Dann holte er einmal mit dem Schwert aus, was ihm einen beunruhigten Blick von Culder einbrachte, und ließ die Klinge dann mit einer fast prahlerischen Bewegung in der Scheide auf seinem Rücken verschwinden.
Es war wichtig für ihn, gut vorbereitet zu sein. Diesmal war es so weit. Das war der große Schlag, der Moment, auf den er sein Leben lang gewartet hatte. Seine Chance, alle Vampire in einem Zug auszulöschen. Er wollte kaum glauben, dass es wirklich möglich sein sollte, doch er wusste, dass er es zumindest versuchen musste. Morgen um diese Zeit würden Abigail und diese neue Zelle der Nightstalker entweder einen unglaublichen Sieg feiern, wie es ihn noch nie gegeben hatte, oder sie würden alle in ihrem eigenen Blut schwimmen.
So oder so sprach einiges dafür, dass Blade dabei umkommen würde.
Sein Leben für das der Menschen. Das war die simple Formel.
Minuten später wurde die Gasse vor der Aquarienhandlung vom lauten Dröhnen eines leistungsstarken Motors erfüllt. Blade kam auf einem umgebauten Motorrad vom Typ Buell Lightening XB12s aus der Garage gefahren und drehte den Gasgriff, um den Motor aufheulen zu lassen und die Kraft zu spüren, die sein Gefährt besaß. Obwohl er mit Waffen schwer beladen war, trug die Federung der Maschine mühelos sein Gewicht.
Während er auf Abigail wartete, bemerkte Blade, dass sich seine Silhouette im Licht der ersten Sonnenstrahlen im Schaufenster spiegelte. Er drehte seinen Oberkörper ein wenig, straffte die Schultern und schob die Sonnenbrille ein Stück nach unten.
Er sah auf der Maschine verdammt gut aus.
Wenn er diesen Tag überlebte, würde er vielleicht versuchen, sie zu stehlen.
Während er noch nachdachte, wurde ein zweites Motorrad in der dunklen Garage angelassen, dann kam Abigail auf ihrer Maschine zu ihm gefahren. Es war eine leichtere Maschine, eine Buell Firebolt, die für sie besser geeignet war. Sie drehte ebenfalls den Gasgriff, so dass das Motorengeräusch durch die Stille der Gasse brüllte. Sie trug eine Lederjacke und schwarze Handschuhe, die speziell für Bogenschützen geschnitten waren. Den Bogen hatte sie ebenso auf den Rücken geschnallt wie auch den einzigen Köcher mit den Pfeilen.
Blade warf ihr einen zufriedenen Blick zu, dann gab er Gas.
Gemeinsam fuhren die beiden der Sonne entgegen.
Die Zeit war gekommen.