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Im Flur gleich neben dem völlig demolierten Penthouse in den Phoenix Towers stand ein dunkelhaariger Mann am offenen Fenster und betrachtete die Stadt. Tief unter ihm säumten flackernde Neonschriften die Straßen. Sie waren aus allen Richtungen kilometerweit zu sehen. Das helle Licht der vielen Autoscheinwerfer und hell erleuchteten Bürokomplexe verlieh dem nächtlichen Himmel einen beißend gelben Glanz. Der Mond und die Sterne waren nicht zu sehen, da der künstliche Schein der Stadt sie verblassen ließ. Sogar die fernen Gebirgszüge schienen im Schatten der Betonlandschaft zu stehen, die sich nach überall hin erstreckte.

Er empfand diesen Anblick als schön und abstoßend zugleich.

Dreihundert Jahre war es her, dass er sich schlafen gelegt hatte. Die Frau, Danica, hatte ihm das jedenfalls gesagt. Innerhalb von knapp einem Tag hatte sie ihm fast drei Jahrhunderte Menschheitsgeschichte zusammengefasst, damit er auf dem aktuellen Stand war. Selbst für jemanden wie ihn war das sehr viel zu verarbeiten gewesen, nicht zuletzt deshalb, weil sie unablässig von den beiden Schoßhündchen der Frau unterbrochen worden waren. Wie nannten sie sich noch gleich? Ah, ja. Grimwood und Asher.

Degenerierte… alle beide.

Sie hatten ihm erklärt, er könne seinen alten Namen nicht benutzen, da der viel zu bekannt sei. Es war ein angenehmes Gefühl gewesen, dass er nicht in Vergessenheit geraten war.

Immerhin war er Draculea – oder „Dracula“, wie diese Primaten im Apartment den Namen immer wieder aussprachen. Er war Prinz und Krieger gewesen, Schlächter und Eroberer, ein Gott inmitten niederer Kreaturen. Warum sollten die Menschen den Namen eines solchen Mannes auch vergessen, ob er drei oder dreißig Jahrhunderte geschlafen hatte?

Doch Danica hatte darauf bestanden, dass er für dieses neue Zeitalter einen neuen Namen annahm, der keine unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich lenken würde. Für ihn war es völlig unwichtig. Er hatte in seinem langen Leben so viele verschiedene Namen geführt, dass er sich gar nicht an jeden von ihnen erinnern konnte. Doch für sie schien es wichtig zu sein, also ließ er die Frau einen neuen Namen wählen.

Sie hatte Drake vorgeschlagen, eine verkürzte Version seines alten Namens.

Der, der sich Grimwood nannte, hatte verächtlich auf den Vorschlag reagiert, doch genau das hatte den Ausschlag gegeben. Drake hatte seinen neuen Namen angenommen und dann Grimwood nur angesehen, um darauf zu warten, ob der es wagte, noch ein Wort zu sagen. Natürlich war der nur blass geworden und hatte weggesehen.

Drake lächelte. Es gab kein Wesen, das seinem Blick standhalten konnte, wenn er es nicht wollte. Ein Bastard wie Grimwood stellte keine Ausnahme dar.

Er widmete sich wieder dem Anblick der Stadt unter ihm und verdrängte das kindische Gezänk zwischen Danica und den anderen im Raum nebenan. Stattdessen lauschte er auf ein neues Geräusch – den Herzschlag der lebenden, atmenden Stadt.

Es war das Geräusch von elf Millionen Menschen, die in einem riesigen künstlichen Habitat lebten, das sie selbst errichtet hatten und das sie von den wenigen Verbindungen zum Land abschnitt. Aus Drakes Perspektive war es ein Leichtes zu glauben, dass die Stadt ein Paradies aus Licht war, der endgültige Sieg der Zivilisation über die Wildnis.

Doch von Danica wusste er, dass in dieser Stadt das Verbrechen regierte. In den verdreckten Seitenstraßen lauerten Mord, Vergewaltigung und Angst – und das in einem Maß, wie man es in früheren Jahrhunderten nicht gekannt hatte.

Trotz aller scheinbarer Fortschritte war diese Zivilisation genauso brutal wie jede andere in der Geschichte, vielleicht sogar noch brutaler. In früheren Jahrhunderten musste man nur Männer fürchten, die kräftig waren und die mit Fäusten und Schwertern umzugehen verstanden. Doch von Danica wusste er, dass die Technologie einen Punkt erreicht hatte, an dem ein schwächliches altes Weib mit einer Waffe ebenso leicht töten konnte wie ein junger Mann in der Blüte seines Lebens.

Als Folge davon hatte jeder vor jedem Angst.

Natürlich traf das nicht auf Drake zu. Keinem Sterblichen war es möglich, ihn zu töten, ganz gleich, mit welcher gefährlichen Technologie derjenige auch bewaffnet sein mochte.

Drake trat näher ans Fenster und strich mit dem Finger über das Glas, dessen perfekte Glätte ihn faszinierte. Menschen hatten es geschaffen. Sie waren erfindungsreiche Kreaturen, allerdings nur in der Art, wie Ameisen ihre Kolonien bauten. Sie schufen diese Wunder, um zu überleben, da sie um ihre Schwächen wussten. Sie besaßen keine natürlichen Waffen, um sich zu schützen – keine Krallen oder Hörner –, sie waren von geringer Kraft und hatten stumpfe Zähne. Auch wenn ihre Städte spektakulär waren, dienten sie doch nur dem Zweck, die Menschen vor der Natur in all ihren Formen zu beschützen. Das konnte selbst er erkennen.

Drake ließ seinen spöttischen Blick durch den dunklen Korridor mit seinem weichen, durchgehenden Teppichboden, mit der summenden Klimaanlage und mit der Wasserquelle wandern, die in die Wand eingebaut war. Es ging nicht nur um das Überleben. Für die Menschen stellte die Natur das Ungewisse, Unkontrollierbare und Wilde da.

Das war es, was den Menschen die größte Angst einjagte.

Und darum hatten sie ihre Jäger auf ihn angesetzt. Drake verkörperte all die Dinge, die Menschen Entsetzen bereitete. Aus diesem Grund hatten die Menschen öfter versucht, ihn zu vernichten, als er hätte mitzählen können.

Und jedes Mal waren sie gescheitert.

Drake betrachtete wieder die riesenhafte Stadt und gestattete sich, seine Gedanken durch die Jahrtausende zurückwandern zu lassen, Gedanken, die sich wie Spinnennetze durch seine Synapsen zogen. Er reiste im Geist durch die siebentausend Jahre seiner Existenz zurück und erinnerte sich daran, wie die Dinge einst waren…

Er erinnerte sich an die fruchtbaren Ufer des Euphrat und an das Volk, das sich dort als Erstes niedergelassen hatte. Sein Volk, das von der Geschichte den Namen Ubaidi erhalten hatte. Männer und Frauen, die lernten, das Feld zu bestellen und Vieh zu hüten, während der größte Teil der Weltbevölkerung noch immer das Leben von Jägern und Sammlern führten. Er erinnerte sich an den Beginn der Zivilisation, denn er war dabei gewesen. Er war einer ihrer Begründer.

Er wusste noch, wie er vor allen anderen Männern und Frauen für etwas Großes auserwählt worden war – für die Unsterblichkeit.

Drake hatte keine Ahnung, was sich zugetragen hatte, er wusste nur von diesem Tag an, dass er anders war.

Auf eine schreckliche und tragische Weise anders.

Nachdem er seine Mutter, seinen Vater und jedes andere Familienmitglied getötet hatte, das vergebens schreiend in die Wildnis geflohen war, um ihm zu entkommen, war er mit der Aussicht konfrontiert worden, in einer Welt aufzuwachsen, in der er einzigartig war.

In jenen frühen Tagen war der Durst in ihm stark gewesen, zu stark, um ihn zu beherrschen. Er hatte über Jahre und Jahrzehnte hinweg Tag und Nacht seinesgleichen gejagt, bis sie in alle Winde verstreut und vergessen waren.

Die Jahrhunderte verstrichen, neue Völker kamen und gingen. Drake hatte sich bei ihnen allen seine Beute gesucht, ganz gleich, welcher Rasse sie angehörte, welchen Dienstgrad jemand hatte oder aus welcher Schicht er entstammte. Im Lauf der Jahre gelang es ihm aber, diesen Hunger immer besser zu kontrollieren, bis sich ein neues Volk am Euphrat niederließ, ein Volk, das an dessen Ufer die erste große Nation errichtete. Diese Menschen kultivierten das Land und beanspruchten es für sich. Sie gaben ihm einen Namen – Sumer –, und auf dem fruchtbaren Boden errichteten sie Städte und erließen Gesetze.

Da wurde Drake klar, welches seine Rolle war. Er sollte nicht bloß die Menschheit jagen, die er hinter sich gelassen hatte.

Seine Rolle war es, über sie zu herrschen.

War er nicht schließlich stärker und weiser als sie alle? Hatte er nicht länger gelebt als jedes andere Wesen? Hatte er nicht mehr gesehen als jeder andere? Er kam zu dem Schluss, dass diese Sumerer gleichzeitig seine Untergebenen und seine Herde sein sollten.

Also unterwarf er das Volk von Sumer und ließ eine Stadt errichten, in der er als ihr König herrschen konnte. Sein Volk gab ihm einen neuen Namen, um den zu ersetzen, den er vor so langer Zeit vergessen hatte.

Gilgamesch.

Sein Name und seine Errungenschaften dieser Zeit waren auch noch Jahrtausende später bekannt. Sie stellten die Grundlagen für die erste aufgezeichnete Legende dar.

Doch nichts währt ewig, und er stellte keine Ausnahme dar.

Die Herrscher anderer Städte wurden eifersüchtig auf den offenbar unsterblichen König, und sie begannen, seine Stadt und ihren Wohlstand zu begehren. Drake erinnerte sich noch gut an das erste Mal, als eine Armee aufgestellt wurde, um gegen ihn zu marschieren. Mit seinem Volk im Rücken konnte er seine Feinde in alle Himmelsrichtungen zerschlagen. Doch es kamen mehr und immer mehr, und auch wenn Drake schließlich lernte, wie er seine Unsterblichkeit und einen Bruchteil seiner Kraft weitergeben konnte, genügte es nicht, um seine Stadt vor der Zerstörung zu bewahren und die Krone auf dem Kopf zu behalten.

Selbst seine ersten Vampirnachkommen, die an seiner Seite kämpften, konnten nichts daran ändern, dass Drakes Armee schließlich von einem Mann aufgerieben wurde, der als König Etana in die Geschichte eingehen sollte.

Drake dachte zurück an die letzten Tage dieses Krieges. Er erinnerte sich daran, wie alle seine Krieger gefallen waren, bis nur noch er dastand, unantastbar für die Klauen des Todes und unbesiegbar, egal, welcher Sterbliche es versuchte. Doch es waren so viele Feinde, die gegen ihn standen, und die Vernichtung seiner Stadt und das Abschlachten seines Volks waren so allumfassend, dass Drake aus diesem Konflikt keinen Vorteil mehr ziehen konnte. Er hatte das Schlachtfeld verlassen und unzählige Tote und Sterbende zurückgelassen, doch er hatte geschworen, Rache zu üben.

Drake wusste noch, welchen Entschluss er nach dieser Schlacht gefasst hatte: Wenn die Menschen durch ihre Eifersucht nicht in der Lage waren, ihn als Herrscher auf Erden zu akzeptieren, dann würde er sie eben von einem Reich unter der Erde aus regieren.

Wenn sie immer danach strebten, Krieg an den Sitz seiner Macht zu tragen, dann würde er diesen Sitz in ihre Herzen verlegen. Wenn sie ihn nicht respektierten und fürchteten, solange er im Schein der Sonne herrschte, dann würden sie dies tun müssen, wenn er sie durch die Nacht jagte. Wenn sie ihn nicht als den Gott akzeptierten, der er war, und wenn sie nicht vor seinem Thron niederknieten, um ihn zu verehren, dann würde er sie dazu bringen, sich vor dem Monster zu fürchten, zu dem er wurde, und sie würden im Staub vor ihm kriechen, um ihn anzuflehen.

Als König Gilgamesch verschwand Drake aus dem Blickfeld der Geschichte. Jahrhunderte trieb er in allen besiedelten Ländern sein Unwesen, und wo immer er auftauchte, blieben Geschichten von Entsetzen und Vernichtung zurück.

Als die Armeen des Königs Sargon von Akkad gegen die Länder von Sumer zogen, schloss Drake sich ihnen an und kämpfte unter einer glühenden Sonne gegen das Volk, das ihn als Herrscher gestürzt hatte. Doch nach einer Weile wandte sich Drake aus eigenem Antrieb auch gegen die Angreifer und wurde zu einem Dämon, der in den Religionen dieses Gebiets für alle Zeit erhalten blieb.

Drake machte weiter und schlug eine blutige Schneise in die Geschichte. Er starb nicht, er gab nicht nach, er fühlte sich zu jedem Krieg und jeder Schlacht hingezogen, während er durch sieben Jahrtausende hindurch Menschen abschlachtete. Er kämpfte gegen die Assyrer und Hyksos, die Ägypter und die Kuschiten, die Babylonier, die Kanaaniter, die Israeliten, die Perser, die Griechen und zahllose andere Völker. Es gab kein Volk, keine Nation, die von ihm verschont wurde. Manchen blieb er als schreckerregender Kriegsherr oder Söldner in Erinnerung, anderen als ein wilder und gnadenloser Dämon aus einer Volkssage.

Von China bis Indien, Afrika, Norwegen und Sibirien und in allen Ländern, die dazwischen lagen, berichteten die Geschichtsbücher von Drakes Eroberungen und Untaten. Er hatte die Menschheit von Anfang an begleitet, hatte zugesehen, wie sich die menschliche Rasse vermehrte und bis zur Unkenntlichkeit veränderte, und so wie die Schlange im Garten Eden tat er alles, um den Glauben der Menschen an Erlösung zu zerstören und alle, die seinen Weg kreuzten, in das reinste Böse zu verwandeln.

Am wichtigsten von allem war aber, dass er eine neue Rasse zeugte, seine eigene Spezies: hominus nocturna.

Den Vampir.

Mit der Zeit jedoch verblasste der Ruhm der Vampirrasse.

Drake hatte es gespürt. Während er zu vollkommener Stärke und Unsterblichkeit gelangt war und ähnlich wie der große Weiße Hai die Spitze der Evolution seiner Spezies verkörperte, hatten sich seine Kinder verändert.

Über die Jahrtausende hinweg beobachtete er, wie der Kontakt seiner Rasse mit den verfluchten Menschen sie schwächte, bis ein Punkt in ihrer Entwicklung erreicht war, an dem es ihnen nicht länger möglich war, sich im Sonnenlicht aufzuhalten. Nur ein flüchtiger Kontakt mit einem Sonnenstrahl genügte, um sie sofort in Flammen aufgehen zu lassen. Diese elende Schwäche hatte so rasch um sich gegriffen, dass nicht einmal er selbst um das genaue Ausmaß wusste.

Danica hatte ihm von den Experimenten erzählt, die die Vampirnation in den Jahrhunderten seit seinem Verschwinden durchgeführt hatte. Sie erklärte ihm, dass eine bestimmte Wellenlänge des Sonnenlichts – etwas, das sie als ultraviolettes Licht bezeichnete – die Schädigung verursachte. Diese spezielle Frequenz durchdrang die hypersensiblen Zellen eines Vampirs und entzündete den in hoher Konzentration gespeicherten Phosphor, was zu einer unaufhaltsamen Kettenreaktion führte, die den Körper auf der Stelle verbrannte.

Schön und gut, doch Drake wusste, was wirklich dahintersteckte. Diese niederen Vampire wurden in Wahrheit für ihre Bedeutungslosigkeit, Arroganz und Gedankenlosigkeit bestraft.

Drake erinnerte sich daran, wie sich diese Schwäche erstmals in den einfacheren Angehörigen seiner Art gezeigt hatte: verzweifelten Mischlingen, die sich von denen ernährten – und sie gedankenlos ebenfalls zu Vampiren machten –, die selbst von den Menschen gemieden wurden, sei es, dass sie wahnsinnig waren, die Pest oder eine andere Krankheit hatten, und die von Rauschgiften abhängig waren.

All das hatte dazu geführt, dass der Segen, den Drake so freimütig den Ersten seiner Art geschenkt hatte, verdreht und verwässert wurde. Hinzu kamen Jahrtausende der Inzucht, die das Blut zusätzlich schwächten. Bei manchem Vampir war Drakes Blutlinie so verseucht worden, dass die infizierten Vampire fast so etwas wie eine gänzlich andere Spezies waren.

Im Lauf der Jahre hatten mehr und mehr Vampire diese Störung geerbt, bis Drakes entfernteste und am stärksten degenerierte Nachkommen sich gegen ihn und die wenigen noch lebenden Kinder reinen Blutes erhoben. Aus Eifersucht auf ihre Kraft und ihre Unempfindlichkeit gegen Sonnenlicht begannen die niederen, zahlenmäßig aber überlegenen Vampir die zu jagen, die reinen Blutes waren, und sie zu töten, wo immer sich die Gelegenheit dazu ergab.

Sie machten Drake krank. Er hasste die Mischlinge für ihren mangelnden Respekt und ihre unberechtigte Arroganz, und er begann, die reinen Blutes waren, zu verabscheuen, da ihre Angst vor den niederen Vampiren immer größer wurde.

Darum hatte er sich von ihnen zurückgezogen. Von ihnen allen.

Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts kehrte er in sein Geburtsland zurück und achtete darauf, allen Siedlungen von Mensch und Vampir aus dem Weg zu gehen. Dann ging er buchstäblich in den Untergrund. Er hoffte, wenn er irgendwann aus seinem Schlaf erwachte, würden sich seine Nachkommen selbst von ihrer Dummheit und ihren Schwächen geheilt oder aber sich gegenseitig vollständig ausgelöscht haben. Bis zu diesem Tag wollte Drake mit seiner degenerierten Nachkommenschaft nichts mehr zu tun haben.

Wie sich herausstellte, hatte sein Schlaf bloß drei Jahrhunderte gedauert, ehe Danica und ihre Trottel ihn gefunden und ihn gegen seinen Willen ins einundzwanzigste Jahrhundert gezerrt hatten.

Nachdem er seinen Hunger genügend gestillt hatte, um ein vollständig menschliches Aussehen anzunehmen, bat Drake Danica, ihn zu denen zu fuhren, die reinen Blutes waren, vorausgesetzt, in dieser Ära lebten noch welche von ihrer Art. Doch sie erwiderte, einige von ihnen würden zwar noch leben, doch die größte Enklave in der Region war von einer Kreuzung aus Vampir und Mensch ausgelöscht worden, einem Abtrünnigen, der als der Daywalker bekannt war.

Sie sagte ihm, der Daywalker sei zu einem Fluch für alle Vampire oder nicht, ob reinen Blutes oder nicht, denn er schlachtete sie alle mit der gleichen Verachtung und mit scheinbarer Leichtigkeit ab.

Drake ließ seine Gedanken in die Gegenwart zurückkehren und lächelte flüchtig.

Er würde gern diesen Daywalker kennen lernen. Er war neugierig, einem Vampir gegenüberzutreten, der sich im Sonnenschein bewegen konnte, so wie es allen Kindern von Drake hatte möglich sein sollen. Einem Vampir, der seine eigene Art so leidenschaftlich hasste, dass er sie als Spezies auslöschen wollte.

In gewisser Weise konnte Drake mit dem Daywalker sogar mitfühlen.

Nach den spärlichen Informationen, die Danica ihm gegeben hatte, stellten die Vampire nur einen winzigen Anteil an der gesamten Bevölkerung. Und offenbar glaubten die meisten Menschen gar nicht an die Existenz von Vampiren. „Moderne“ Vampire – soweit Drake das richtig verstanden hatte – bevorzugten ein Leben im Untergrund und waren in exklusiven Kreisen und Gesellschaften organisiert. Ihre Treffpunkte und ihre Verbündeten erkannte man nur, wenn man die weitverbreiteten Vampirschriftzeichen erkannte, eine hässliche Kurzschrift, die aus den wenigen erhalten gebliebenen Texten der Sumerer abgeleitet war.

Ein Stirnrunzeln prägte einen Moment lang Drakes ausgesprochen schönes Gesicht. Es war ein Trend, der vor vielen Jahrhunderten eingesetzt hatte, aber er mochte ihn heute so wenig wie damals. Die Vampire versteckten sich vor den Menschen seit der Zeit, da die Degeneration ihrer Linie eingesetzt hatte. Doch sie versteckten sich nicht in der Form, die Drake betrieben hatte. Er war von Nation zu Nation gereist. Dabei hatte er immer neue Namen und Identitäten angenommen, um bei allen Völkern Angst und Entsetzen auszulösen, damit die unbedeutenden Menschen erkannte, dass es nach wie vor Dinge gab, die größer waren als sie. Dinge, denen sie unterlegen sein würden, ganz gleich, welchen Reichtum, welche Macht oder welchen Status sie hatten.

Nein, die Vampire der Gegenwart schienen sich zu verstecken, da sie fürchteten, von den Menschen entdeckt und verfolgt zu werden. Doch wenigstens verhielten sie sich Drake gegenüber so respektvoll, wie es auch angemessen war. Und sie schienen die Grundlagen für eine Technik gefunden zu haben, die sie von ihrer geerbten Schwäche befreien und wieder zu den lebenden Göttern werden ließen, die sie seinem Willen nach hatten sein sollen.

Vielleicht gab es ja noch Hoffnung für sie. Denn auch wenn die Menschheit mehrheitlich nicht an Vampire glaubte, erinnerte man sich doch auch an ihn – wenn auch aus einer Zeit, als er einen anderen Namen trug. Wenn das stimmte, war es ein gutes Zeichen.

Doch er konnte sich nicht auf die Speichelleckerei von Danica und den anderen verlassen.

Er wandte sich vom Fenster ab und ging durch den Korridor, bis er die nach unten führende Treppe erreicht hatte.

Er würde selbst nach den Hinweisen auf sein großes Vermächtnis suchen.

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