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Unten bei den Docks war es bitterkalt. Der Wind fuhr durch Grimwoods kurzgeschnittenes Haar, während er die Hände in die Hüften gestemmt dastand und darüber wachte, wie seine Vampircrew Danicas kostbare Fracht aus dem Bauch des Schiffs holte. Schwere Ketten glitten rasselnd über die Holzplanken des Decks, während Winden aufgestellt, überprüft und verankert wurden. Die Nacht war erfüllt von den Rufen der Crew, die die schwere Stahlkiste in Position brachte und dabei auf dem feuchten Metallboden des Frachtraums ins Rutschen geriet.

Grimwood zog an seiner Zigarette und ließ den heißen Rauch bis tief in seine Lungen vordringen. Er verspürte ein warmes Schaudern, als sich der Rauch in seinem kalten Inneren ausbreitete. Als Mensch hatte Grimwood pro Tag rund dreißig Zigaretten geraucht. Jetzt, als Vampir, schaffte er das gleiche Pensum in einer Stunde.

Asher tauchte neben Grimwood auf und kniff besorgt seine Augen zusammen, während er die Szene betrachtete, die sich vor ihm abspielte. „Ist er da drin auch wirklich sicher?“

„In dem Ding?“ Grimwood schnaubte. „So sicher wie meine Eier. Hör ihn dir nur an.“

Asher war darum bemüht, eben nicht hinzuhören. Aus der mannshohen Kiste drang ein unablässiges Knurren, das hin und wieder von einem Zischen oder Schnalzen unterbrochen wurde. Alle paar Minuten waren Laute zu hören, die auf Bewegungen im Inneren schließen ließen. Es war das Geräusch von Klauen, die an den Innenwänden kratzten, da der Gefangene rastlos von einer Ecke zur anderen wanderte, um einen Weg nach draußen zu suchen.

Misstrauisch sah Asher zu, wie die Vampircrew die Ketten nach unten dirigierte und an den riesigen Haken festmachte, die an alle vier Ecken an die Kiste geschweißt worden waren. Ein elektronisches Surren war zu hören, als die Winde in Aktion trat und die Stahlkiste hoch in die Luft hob. Er hielt den Atem an, als der Kran in Richtung Dock schwenkte, wo ein schwerer Army-Truck bereitstand, an dem ein halbes Dutzend menschlicher Dockarbeiter wartete. Selbst der kleinste Fehler würde sie alle teuer zu stehen kommen, vor allem weil Danica ihm den Transport ihrer lebenden Fracht anvertraut hatte. Wenn Asher diesen Job in den Sand setzte, stand ihm bei seiner Heimkehr ein Schicksal bevor, über das er lieber nicht nachdenken wollte.

Grimwood hustete abgehackt und Asher warf ihm einen gereizten Blick zu. Dünne Rauchschwaden drangen durch Grimwoods Kampfbekleidung, als sei er ein riesiges Sieb. Asher verzog das Gesicht und fuchtelte mit der Hand, um den Rauch zu vertreiben. „Kannst du das nicht mal nachsehen lassen?“

„Schon passiert, schau mal.“ Grimwood hob sein Oberteil an und zeigte Asher seinen muskulösen, tätowierten Bauch. Eine saubere Linie aus Stichen, die mit silbernem Pflaster bedeckt waren, verlief über seinen Bauch, der mit blutigen Quetschungen überzogen war. „Ich glaube, ich reagiere allergisch auf dieses Zeugs.“ Er kratzte an einem der Pflaster, worauf eine neue Rauchschwade austrat.

„Dann kratz nicht.“ Ungeduldig richtete Asher seine Aufmerksamkeit auf die leicht schaukelnde Kiste und ignorierte Grimwoods Murren. Er konnte es noch immer nicht fassen, dass sie dieses Himmelfahrtskommando wirklich durchzogen. Wachsam beobachtete er die Kiste. Er hoffte, dass sie wirklich standhalten würde. Das riesige metallene Behältnis wies – abgesehen von einer seitlich eingelassen Klapptür – praktisch keinerlei markante Merkmale auf. Diese Tür maß etwa einen halben Meter mal einen halben Meter. An ihrer oberen Kante war ein Sehschlitz eingelassen, etwa so groß wie die Einwurföffnung eines Briefkastens. Acht Zentimeter dicke Stäbe waren auf die Tür geschweißt worden, damit sie nicht geöffnet werden konnte.

Asher sah zwischen den Stäben hindurch, konnte aber nicht erkennen, was sich im Innern befand.

Er fand, dass ihr Gefangener mit einem Mal sogar sehr ruhig geworden war.

Er lauschte intensiver. Selbst sein überlegenes Vampirgehör konnte keine anderen Geräusche wahrnehmen als das Rauschen des Meeres und das Surren der Winde. Er steckte die Hände in die Taschen und wippte auf den Absätzen vor und zurück, während er hoffte, dass alles so bald wie möglich vorüber war. Das Ding in der Kiste bereitete ihm Gänsehaut.

„Wo ist Dan hin?“ fragte er und bemühte sich, in seiner Stimme nichts von seiner Gereiztheit mitklingen zu lassen.

„Ist nach Hause gegangen, weil sie duschen wollte, um das ganze Blut abzuwaschen.“ Grimwood kicherte. „Verdammte Verschwendung, wenn du mich fragst…“ Er leckte sich die Lippen und seine Augen funkelten belustigt.

Asher drehte sich abrupt um und warf Grimwood einen stechenden Blick zu. Der große Vampir verzog keine Miene und rauchte seelenruhig weiter. Das Licht der Deckscheinwerfer wurde von seinen Edelstahlzähnen reflektiert. Vor zwei Jahren hatte er Danica gegen bewaffnete Eindringlinge verteidigt und dabei seine Reißzähne verloren. Seitdem war er unausstehlich, und dieser jüngste Sieg machte es nur noch schlimmer.

Asher schob sich dicht an Grimwood heran. „Hör zu, du Neandertaler…“, zischte er, hielt dann aber inne.

„Was zum Teufel…“, ereiferte sich Grimwood.

„Schhhhht!“ Asher brachte ihn zum Schweigen und lauschte aufmerksam. Als er den Gesichtsausdruck seines Gegenübers sah, zog der große Vampir eine finstere Miene und schwieg.

Einen Moment später hörten sie beide das Geräusch. Ein gedämpftes, metallisches Kratzen, so als würde jemand ein Messer an einem Feuerstein schärfen.

Es kam aus der Kiste.

Gleichzeitig drehten die beiden Vampire sich um und sahen zu der riesigen Metallkiste, die sich langsam dem Rand des Frachtraums näherte. War es pure Einbildung, oder war die Kiste tatsächlich ein wenig zu einer Seite geneigt?

Ein lautes Scheppern ertönte, und auf einmal bewegte sich die Kiste abrupt vorwärts, als wäre sie von einem unsichtbaren Panzer gerammt worden. Während die Vampircrew aufsprang und aufgeregte Rufe ausstieß, ruckte die Kiste erneut heftig. Diesmal schwang sie um neunzig Grad in die Höhe. Die Ketten folgten der Bewegung und ächzten, als die Kiste in ihre Ausgangsposition zurückschaukelte und ihr volles Gewicht an den Gliedern zerrte. Eine der Ketten hielt dieser Belastung nicht stand und riss, worauf die Kiste in eine bedenkliche Schieflage geriet und wie eine Wippe hin und her schaukelte.

„Was zum Teufel ist denn jetzt los?“ Asher lief los, gefolgt von Grimwood. Von unten hörte man die Rufe des Kranwagenfahrers, dessen Fahrzeug durch die plötzliche Verlagerung des Gewichts mit den Hinterrädern den Halt verlor.

„Hilf ihm!“ Asher gab Grimwood einen Stoß, damit der zum Kranführer lief.

Der ließ sich nicht zweimal auffordern und rannte zum Kranwagen, machte einen Satz und bekam das Heck des Fahrzeugs zu fassen. Er stöhnte vor Anstrengung, als er seine gewaltigen Muskeln anspannte und den Kranwagen nach unten zog, bis die Hinterräder wieder Bodenkontakt hatten. Der Kran reagierte auf diese Belastung mit lautem Knarren und Ächzen.

Während Grimwood mit einer Hand weiter den Kranwagen festhielt, zog er ein Stück Tau vom Heck des Fahrzeugs und machte es am nächsten Ankerpfosten aus massivem Eisen fest.

Verschwitzt wischte er sich das Schmierfett von den Händen und wandte sich zu Asher um, der Befehle in sein Walkie-Talkie bellte. Beide sahen sie zu, wie die Vampircrew über die Gangway rannte und vom Ufer aus Seile über die Kiste warf, damit sie über den gut drei Meter breiten Zwischenraum zwischen Schiff und Dock gezogen werden konnte. Unter ihnen gischtete das Wasser hoch auf.

Was hatte Danica noch gleich gesagt, worauf sie achten sollten, wenn ein fließendes Gewässer überquert werden musste? Grimwood dachte mit Schuldgefühlen an die Wochen zurück, die ihrer Expedition vorausgegangen waren. Es war viel recherchiert und trainiert worden, um diese Mission vorzubereiten, die größtenteils von Danica organisiert worden war. Er hatte nicht mal die Hälfte von ihren Ausführungen behalten, was vor allem daran lag, dass er gedacht hatte, das Ganze wäre nur ein schlechter Witz.

Als die Kiste das letzte Stück über das Wasser zurücklegte, war daraus ein aufgebrachtes Kreischen zu hören. Die Ketten rasselten, als die Kiste von innen heraus wieder hin und her geschleudert wurde. Die heftigen Bewegungen sorgten dafür, dass den Vampiren die meisten der zusätzlich über die Kiste geworfenen Seile aus der Hand gerissen wurden. Einige der Männer verloren dabei den Halt und fielen ins Wasser. Grimwood stieß einen Warnschrei aus, als auch die zweite Kette riss. Eine Seite der Kiste kippte weg und sprühte Funken, als die Kante auf die metallene Plattform des Docks traf.

Hoch oben ächzte das Kabel der Winde unter der extremen Belastung der ungleichmäßig verteilten Fracht. Die Kiste hing nun im Winkel von fünfundvierzig Grad an den zwei letzten Ketten, die Unterkante hatte sich in das weiche Metall der Plattform gebohrt. Rauch stieg aus dem Motor des Kranwagens, der wie wild arbeitete und versuchte, die Kiste wieder anzuheben. Doch die Kante steckte fest und löste sich nicht aus der Plattform.

Wieder und wieder bewegte sich das Behältnis heftig hin und her, als der erzürnte Gefangene versuchte, sich einen Weg durch die stählerne Klapptür zu bahnen. Mit jedem Rucken bohrte sich die Kiste noch tiefer in den Untergrund, und die Luft war von lauten Schlägen auf Metall erfüllt, während sich in einer Seitenwand der Kiste erste Beulen und Risse zeigten. Im nächsten Moment machte die Crew einen Satz nach hinten, als plötzlich entlang des Docks Bolzen und Nieten explosionsartig umherflogen. Das minderwertige Metall, aus dem die Umrandung der Plattform bestand, hielt das Gewicht der Kiste nicht länger aus. Hilflos sahen die Vampire mit an, wie sich die komplette Plattform vom Dock löste und sich mitsamt der Kiste zum Wasser hin neigte.

Ohne zu zögern lief Grimwood zum Kranwagen, zerrte den Führer von seinem Platz und kletterte in die kleine Kabine. Er schaltete den Kran ab und legte den Rückwärtsgang ein, dann gab er Gas. Die Reifen des Kranwagens drehten auf dem nassen Asphalt durch, während sie versuchten, Halt zu finden, gleichzeitig knarrte der Kran höchst bedenklich, da er die Belastung nicht mehr lange durchhalten würde.

Zentimeter um Zentimeter bewegte sich der Kranwagen fort vom Dock und zog die Kiste zurück auf die Plattform.

Als er sicher war, dass nichts mehr passieren konnte, schaltete Grimwood den Motor des Kranwagens aus und sprang aus der Kabine. Er sah, wie sich die Vampircrew der Kiste näherte und hinaufkletterte, um die Ketten zu lösen.

Asher kam zu ihm geeilt und sah noch bleicher aus als sonst. „Na“, meinte er, „das war ja ein tolles Schauspiel.“

Grimwood warf ihm einen finsteren Blick zu, dann betrachtete er argwöhnisch die umgestürzte Kiste. Ein zorniges Knurren drang nach draußen, das wie eine Mischung zwischen einer aufjaulenden Raubkatze und dem tiefen Bass eines Bären klang.

„Ich glaube, er ist ziemlich sauer auf uns.“ Asher sprach noch leiser als üblich.

„Ach ja? Glaubst du das?“, tat Grimwood Ashers Bemerkung ab und ging zu der Crew, um dabei zu helfen, die Kiste zu sichern und auf Schäden zu untersuchen. Zum Glück waren die Stahlwände intakt geblieben.

Grimwood strich mit einer Hand über das feuchte Metall. Möchte ja nicht in der Nähe sein, wenn das Ding da rauskommt, dachte er und kratzte beiläufig seine Wunden, wobei er unter seine Bomberjacke griff, um die juckenden Klebestreifen von seiner Haut zu ziehen. Sein körperlicher Einsatz hatte dazu geführt, dass alle Nähe aufgerissen waren und das Blut über seinen Bauch bis an den Saum seiner Jeans lief, wo es aufgesogen wurde.

Er versuchte gerade, das Blut abzuwischen, als hinter ihm plötzlich ein Schrei durch die Nacht gellte. Grimwood wirbelte herum. Ein Mann von der Vampircrew warf sich auf der Kiste hin und her und hielt sein Bein umklammert. Ein muskelbepackter Arm hatte sich zwischen den Stäben vor dem Sehschlitz hindurchgezwängt, die klauenbewehrte Hand hielt den Knöchel des Vampirs fest und wollte nicht wieder loslassen.

„Das ist doch wohl ein schlechter Witz!“ Grimwood betrachtete den Arm, der wie bei einer Echse mit einer Art Schuppen und Stacheln überzogen war.

Noch während er zusah, drückte die Hand so fest zu, dass trotz der Schreie des Crewmitglieds deutlich zu hören war, wie der Knochen zerquetscht wurde. Der Mann wurde bleich und begann wie wild an der Hand des Wesens zu zerren. Doch trotz seiner übernatürlichen Kraft war der Vampir nicht in der Lage, sich zu befreien.

Grimwood wich zurück, als das Ding auf einmal auch die zweite Hand zwischen den Gitterstäben hindurchschob und mit einer unglaublichen Brutalität an der Klapptür zu rütteln begann. Im nächsten Moment gaben die Scharniere mit einem durchdringenden Kreischen ihren Widerstand auf, dann verschwand die ganze Tür in der Finsternis der Kiste, lediglich die von außen angeschweißten Metallstäbe waren noch an ihrem Platz. Das Crewmitglied wurde noch blasser, als es sah, was sich unter ihm befand. Seine Befreiungsversuche wurden noch energischer, als sie es schon vorher gewesen waren.

Die anderen ließen die Seile fallen und zogen sich langsam zurück. Keiner von ihnen wurde gut genug bezahlt, um sich mit einer solchen Gefahr abzugeben. Grimwood schrie sie zwar an, doch einer nach dem anderen wandte sich ab und trat die Flucht an.

Grimwood sah zu Asher, der hinter einem der Ankerpfosten kauerte. Er verbeugte sich spöttisch vor ihm und machte eine ausholende Handbewegung hin zu dem Crewmitglied, das sich nach vor in seiner misslichen Lage befand. „Dein Auftritt, Schwuchtel.“

Asher starrte Grimwood einen Moment lang an, dann knurrte er kehlig und war mit einem Satz auf der Kiste. Warum musste es bei Grimwood bloß immer auf einen Wettstreit hinauslaufen? Er würde es ihm schon zeigen.

Asher ging über die metallene Fläche hin zu der Stelle, an der der glücklose Vampir auf dem Boden lag.

Während er sich ihm näherte, sah er, wie die zweite Schuppenhand zwischen den Stäben hindurchkam und den anderen Fuß seines Opfers packte. Ehe der Vampir Luft holen konnte, um einen Schrei auszustoßen, riss die Kreatur ihn schon mit aller Wucht ins Innere der Kiste.

Asher sprang zurück, als ein blutiger Regen auf ihn niederging. Die Kreatur hatte den Vampir mit solcher Heftigkeit nach unten gerissen, dass der vom Schritt bis zur Schulter von den Gitterstäben in zwei Hälften zerteilt worden war – so wie man mit einem Küchenschneider eine Selleriestange halbierte.

Ein metallischer dumpfer Knall war zu hören, als der Kopf des Vampirs zwischen den Stäben stecken blieb. Aus dem Inneren drang ein ungeduldiges Schnauben, dann wurde der Körper einmal leicht angehoben und so ruckartig nach unten gezogen, dass der Kopf sich vom Rumpf losriss und zum Rand der Kiste rollte. Er fiel herab, wurde auf dem Dock von nichts aufgehalten und traf mit einem leisen Platscher auf dem Wasser auf, ehe er unterging.

Asher zuckte erschrocken zusammen und wich zurück. Er sah zu Grimwood, der wieder eine seiner verfluchten Zigaretten paffte. Seine Miene strahlte unendliche Befriedigung aus. Er pustete den Rauch zu Asher und hob sarkastisch eine Augenbraue. „Sag bloß, du hast vergessen ihn zu füttern?“

Asher wischte sich das Blut vom Gesicht und sprang von der Kiste zurück aufs Dock, während er versuchte, die gierigen, schmatzenden Geräusche zu ignorieren. Mit steifen Schritten ging er zu Grimwood hinüber. Er war zu angewidert, um sich eine passende Antwort zu überlegen. Gemeinsam lehnten sich die beiden Vampire gegen die Kaimauer und betrachteten die Kiste.

„Glaubst du wirklich, dass er es ist?“ unterbrach Asher das lange Schweigen.

Grimwood schnaubte. „Das will ich doch hoffen. Wenn nicht, schläft er heute Nacht in deinem Zimmer.“

Ein Anflug von Lächeln huschte über Ashers Gesicht, dann sah er wieder gedankenverloren die Kiste an. Er holte tief Luft, um sich für das zu stählen, was ihn erwartete. Er konnte nur hoffen, dass Danica wusste, was sie da tat…

Zwölf Stunden später bewegte sich Danica lautlos durch den Korridor der Phoenix Towers, lediglich ihre Absätze verursachten auf dem Marmorboden ein leises Klacken. Ihr Blick war geradeaus gerichtet, die Lippen hatte sie entschlossen zusammengepresst. Im Saal war es dunkel, doch sie benötigte kein Licht.

Sie ging weiter durch den in ultramodernem Design gehaltenen Flur. Die Metallbögen und die in sich verschlungenen Steinsäulen schrien förmlich vor architektonischer Meisterleistung. Geschrien hatte auch der Architekt selbst, als seine Klienten – die Vampire waren – keine weitere Verwendung für ihn mehr hatten.

Es gab keine Fenster und so war nicht möglich zu erkennen, ob draußen Tag oder Nacht war. Die einzige Lichtquelle waren schalenförmige, verchromte Lampen, die an geflochtenen Stahlseilen von der Decke herabhingen und die auf dem dunklen Boden in regelmäßigen Abständen helle Flächen bildeten.

Danica folgte eine zarte Parfümwolke wie ein edler Seidenschal. Sie hatte zuvor gut eine Stunde in ihrem luxuriösen Badezimmer verbracht, ihr glänzendes schwarzes Haar frisiert und dezentes Make-up auf ihre perfekt geformten Wangenknochen aufgetragen. Sie strahlte Unnahbarkeit und Professionalität aus.

In ihrer machtvollen Position als Botschafterin ihrer ganzen Rasse war es nur angemessen, wenn sie gut vorbereitet auftrat. Es war nur eine Schande, dass sie sich an ihrer letzten Zigarette verbrannt hatte. Ihre zitternden Finger hatten sie im Stich gelassen, als sie auf dem Balkon rasch noch eine hatte rauchen wollen, um ihre Nerven zu beruhigen.

Danica strich im Gehen ihre maßgeschneiderte Kleidung glatt und versuchte, die für sie typische Aura aus Selbstsicherheit und Arroganz herzustellen. Das hier sollte nicht schwieriger sein als jenes Dutzend Gespräche, die sie tagtäglich führte. Es war eine völlig schnörkellose Prozedur. Sie hatte ihre Absichten, und sie hatte ihr Gefängnis… obwohl… nein, ihr Gesprächspartner hatte das Gefängnis für sich in Beschlag genommen. Danicas Job bestand darin, sicherzustellen, dass ihre beiden Standpunkte deckungsgleich waren.

Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass dies ein Treffen von einem ganz anderen Kaliber war, und obwohl sie sich sonst so rigoros im Griff hatte, merkte Danica, wie sie schwitzte.

Am Ende des Korridors angekommen, nickte sie den beeindruckend aussehenden Soldaten zu, die in der Nähe Wache schoben und ihre automatischen Waffen im Anschlag hielten. Ein paar Meter daneben standen Asher, Grimwood und eine junge Vampirin namens Virago schweigend vor der gewaltigen Titaniumtür der Gruft und warteten auf sie.

Wenn es für einen Vampir überhaupt möglich war, nervös auszusehen, waren die drei ein Musterbeispiel für diesen Zustand.

Danica gesellte sich zu dem Trio und nickte knapp, dann sah sie zu dem großen Videobildschirm hinüber, der ein Thermobild aus dem Inneren der Gruft zeigte. Der immens große Raum lag in völliger Dunkelheit da, doch dank der Spezialkamera war es möglich, eine schattenhafte Figur zu erkennen, die in einer Ecke des Raums kauerte. Danica fuhr sich mit der Zunge über ihre Lippen, die auf einmal trocken waren, dann sah sie ihren Bruder Asher eindringlich an. „Was macht er?“

„Nichts“, erwiderte Asher, ohne seine dunklen Augen von dem Monitor abzuwenden. „Er sitzt einfach nur da, seit wir ihn hergebracht haben.“

Virago räusperte sich und fragte: „Glaubst du, unsere Sicherheitsvorkehrungen genügen?“ Es gelang der hübschen jungen Vampirin nicht, das Zittern ihrer Stimme zu überspielen. Dann verfiel sie wieder in ein unbehagliches Schweigen.

Danica sah weiter auf den Bildschirm. „Virago, wenn er hätte ausbrechen wollen, dann würde uns keine Armee der Welt schützen können.“ Sie erhöhte den Kontrast des Bildes, damit es etwas schärfer wurde. „Wir haben ihn nicht gefangen, sondern er hat es erlaubt, dass wir ihn herbringen.“ Sie atmete tief ein, während sie ihre Worte wirken ließ. „Hast du verstanden?“

Es kam keine Antwort, dafür schien die Luft eine Spur kälter zu werden.

Danica deutete mit einem Kopfnicken auf die Tür und wappnete sich. „Jetzt mach auf.“

Die anderen Vampire starrten sie ungläubig an, da sie es nicht für möglich gehalten hatten, dass sie ihren Plan durchziehen wollte. Asher blickte seine Schwester an. Sein Gesicht verriet große Sorge. Doch Danica schien völlig entspannt zu sein. Zwar hatte er vorgeschlagen, dass vielleicht Grimwood als Erster hineingehen sollte, um mit ihrem Gast Kontakt aufzunehmen, doch sie hatte offenbar kein Wort davon mitbekommen.

Andererseits war das für ihn auch nichts Neues.

Nach einem winzigen Zögern streckte Danica den Arm aus und legte ihre manikürte Hand auf den biometrischen Scanner neben der Tür. Nachdem sie mit den anderen nervöse Blicke ausgetauscht hatte, trat Virago an die Computerkonsole und tippte rasch eine Reihe von Befehlen ein. Das Surren verborgener Maschinen war zu hören, während sich die erste Tür zur Gruft mit einem leisen Summen öffnete und den Blick in eine Art Luftschleuse freigab, die auf einem Raumschiff keineswegs deplaziert gewirkt hätte.

Danica trat ein, dann betätigte Virago eine zweite Taste. Sofort schloss sich die Tür hinter ihr wieder.

Alleine im Vorraum, verschwand Danicas gespielte Gelassenheit mit einem Schlag. Sie blickte zu Boden und atmete zitternd ein, um ihre Nerven zu beruhigen. Mehrere Düsen nahmen ihre Arbeit auf, ließen die Luft in der Schleuse zirkulieren und wehten ihr einen kalten Hauch in den Nacken. Hinter ihr schoben sich Riegel zurück in den Rahmen, und als ihr eine Gänsehaut über den Rücken lief, wusste sie, dass es mit der Klimaanlage nichts zu tun hatte. Dies war der Moment, von dem sie drei Jahre lang geträumt hatte – auch in ihren Alpträumen. Endlich erfüllten sich nun alle Pläne und Träume.

Doch jetzt, da der Augenblick der Wahrheit gekommen war, wünschte sie sich voller Verzweiflung, es möge noch nicht soweit sein. Danica ballte eine Hand so krampfhaft zur Faust, dass sie einen frisch lackierten Fingernägel in ihr Fleisch trieb und sich Blut in ihrer Handfläche sammelte. Die zweite Tür der Luftschleuse glitt zur Seite und gab den Weg in die Dunkelheit frei.

In der Gruft gab es kein Licht, nichts, was die tödliche Schwärze durchbrach. Danica konnte in der Dunkelheit zwar gut sehen, doch hier gab es nicht einmal einen noch so schwachen Schein, den sie sich hätte zunutze machen können. Es war egal, ob sie ihre Augen schloss oder nicht – sehen konnte sie so oder so nichts.

Es zehrte an ihren Nerven.

Danica schüttelte sich und versuchte, Ruhe zu bewahren.

Die Stille war erdrückend. Danicas stressbedingtes schnelles Atmen hallte laut in ihren Ohren. Sie blinzelte und versuchte, sich an diese Finsternis zu gewöhnen. Sie wünschte sich, wenigstens einen Schatten sehen zu können, damit sich ihre Augen an irgend etwas orientieren konnten. Mit Schatten kam sie zurecht, doch hier gab es nur absolute Schwärze. Sie hätte ebensogut längst tot sein können, ohne es zu wissen.

„Warum hast du mich geweckt?“

Danica zuckte zusammen, als die Stimme wie Donner durch die Nacht hallte. Es war ein tiefer, polternder Bass, der unheilvoll bedeutungsschwanger klang.

Sie erstarrte und musste gegen den plötzlichen Drang ankämpfen, umzukehren und wegzulaufen. Stattdessen räusperte sie sich und zwang sich, mit ruhiger, fester Stimme zu sprechen: „Euer Volk braucht Euch, Sir.“

Ihre Stimme klang selbst in Danicas eigenen Ohren schwach und substanzlos, was sie zutiefst verabscheute. Sie trat einige Schritte vor und folgte dabei dem Klang der Stimme, dann kniete sie nieder und senkte den Kopf, um so die uralte Geste der Unterwürfigkeit eines Vampirs zu vollziehen. Sie wusste, die anderen würden sie dafür aufziehen – sofern sie das hier überlebte – aber es war einfach notwendig. Schließlich ging es ums Geschäft.

In gewisser Weise.

„Mein Volk?“ Diesmal war die Stimme spöttisch. Danica zuckte abermals zusammen. Eine Pause folgte. Offenbar dachte der Sprecher über ihre Worte nach. „Denkst du, ich bin euer Messias? Euer Erlöser?“

Ein Rascheln war in der Dunkelheit zu hören, und es war Danicas Überlebensinstinkt, der sie veranlasste aufzusehen, während ihr Körper in der unterwürfigen Haltung verharrte. Ein rotes Augenpaar durchdrang die Finsternis, das von innen heraus leuchtete. Der höllische Schein genügte ihr, um die Kammer und das Ding vor ihr zu erkennen.

Danica schluckte und widersetzte sich dem Impuls, sofort wegzulaufen. Das schwache Licht ließ das, was sie sah, nur noch entsetzlicher wirken.

Die Kreatur grinste höhnisch. Ihre Klauen verursachten auf dem Stahlboden ein leises Klicken, während sie sich Danica näherte. „Und wieso glaubst du, dass ich zurückgeholt werden wollte?“

In der Dunkelheit zeichnete sich eine gepanzerte Hand ab, die von dem roten Glimmen der Augen beleuchtet wurde. Danica musste ihre jahrelange Kampferfahrung bemühen, um nicht aufzuspringen, durch die Kammer zu stürmen und an der verstärkten Schleusentür zu kratzen und dabei wie eine Todesfee zu schreien. Sie zwang sich, nicht vor der Klaue zurückzuweichen, die leicht über ihre Kehle strich. Ihr Blick war stur geradeaus gerichtet, ihr Kinn hielt sie hoch erhoben. „Die Zeiten haben sich geändert. Die Wissenschaft hat große Fortschritte gemacht…“

Das Ding gab einen verächtlichen Laut von sich, doch Danica sprach weiter. Mit jedem Wort wurde ihre Stimme fester und entschlossener. Eine Umkehr war jetzt nicht mehr möglich. „Euer Blut – das Sakrament, das Ihr geben könnt… es kann uns heute befreien.“

„Ich verstehe.“ Der Tonfall ließ Danica auf eine schmerzliche Weise erkennen, dass das Gegenteil der Fall war. „Und die, die ich zuvor tötete? Waren sie Vampire?“

Danica nickte und versuchte, diese Erinnerung aus ihrem Gedächtnis zu verbannen.

Die Kreatur gab einen polternden Laut von sich, der möglicherweise als Gelächter zu deuten war. „Du musst mir vergeben. Es ist Jahrhunderte her, seit ich das letzte Mal aß.“

Danica atmete tief durch und ballte die Fäuste. „Ich verstehe.“

Die Kreatur beschrieb mit ihrem Finger ein Muster über Danicas Kehle und schob ihn dann unter ihr Kinn, um ihren Kopf anzuheben. Danica spürte die Schuppen an der Unterseite des knochigen Fingers. Ihr schauderte.

Über ihr in der Dunkelheit bemerkte sie eine Bewegung, dann wurde der Griff um ihr Kinn fester. „Dann opfere du dich mir, Kind, und lass mich meinen Durst stillen.“

Draußen vor der Kamera wurde Asher immer ungeduldiger. Danica war jetzt seit zehn Minuten fort. Nichts ließ darauf schließen, dass sie bald herauskommen würde. Der Monitor war eingeschaltet, jedoch hatte sie sich nicht von der Tür entfernt und stand genau unter der Überwachungskamera. Die Kreatur war zu ihr gekommen, und nun konnten sie keinen von beiden auf dem Bildschirm sehen.

Asher bemerkte, dass er auf und ab lief, während sich seine Gedanken überschlugen. Warum in aller Welt hatte er zugelassen, dass seine eigene Schwester zu diesem Ding hineinging?

Doch das war typisch für sie. Danica war immer schon die Leichtsinnige in der Familie gewesen, allen Versuchen zum Trotz, es ihr abzugewöhnen. Während es Asher immer genügt hatte, abzuwarten und die Dinge einfach geschehen zu lassen, war Danica stets diejenige, die alles überstürzte, damit ja kein anderer ihr die Gelegenheit nahm, als Heldin dazustehen.

So hatte das Ganze auch überhaupt erst angefangen. Sie konnte sich nicht mit ihrer Macht und ihrem Prestige zufrieden geben, sondern sie wollte noch eins draufsetzen, indem sie ihn zurückholte.

Und das auch nur, um zu beweisen, dass sie dazu in der Lage war.

Danica hatte immer betont, sie wolle ihre Rasse retten, doch dafür kannte Asher sie viel zu gut. Sie tat es, weil niemand mehr da war, der sie aufhalten konnte.

Seit der Rat der Vampirnation vor drei Jahren durch diesen Bastard von Daywalker zerstört worden war, hatte Danica im Schatten gelauert, bereit, sich die Macht der wenigen Überlebenden anzueignen, die reinen Blutes waren. Als Bastardtochter einer der Vampirwachen hatte sie lange auf eine Gelegenheit gewartet, um ihren niedrigen Status hinter sich zu lassen und sich an der muffigen, zum Witz verkommenen Institution zu rächen, zu der die Vampirnation sich entwickelt hatte.

Daywalkers Angriff hatte ihr diese Chance gegeben. Asher erinnerte sich noch gut daran, wie seine Schwester die Wachen nach dem Angriff um sich geschart hatte und wie die wenigen überlebenden Ratsmitglieder von ihr auf die Straße gesetzt worden waren. Sie hatte übernommen, was von dem Gebäude übrig geblieben war, alle Vermögenswerte und die Angestellten eingeschlossen. Ihre Entdeckung der verkohlten Überreste des Buchs Erebus – der Bibel der Vampire – im ausgebrannten Keller war für sie nicht weiter wichtig gewesen, bis Asher aus purer Neugier einen der Papierfetzen entziffert hatte.

Danica hatte sich die darauf enthaltene Information sofort angeeignet und ihm aufgetragen, jedes unversehrte Stück zu entschlüsseln. Das war ihre Chance, den Rat für alles verspotten zu können, wofür er je gestanden hatte – nämlich weiter den Alten Wegen zu folgen und im Verborgenen zu bleiben, versteckt vor den neugierigen Blicken der niederen Menschen. Und wohin hatte das die Rasse der Vampire geführt, außer dass sie einen um den anderen elenden Tag dahinvegetierte?

Nein, das war für Danica nicht gut genug. Sie wollte nicht bloß überleben, sie wollte leben. Sie träumte davon, in den Sonnenschein hinauszutreten, umgeben von ihren jubelnden Anhängern, die nicht länger zu einem Leben in der Nacht verdammt waren.

Damit hatte ihre Besessenheit begonnen, die Geheimnisse um die Ursprünge der Vampirrasse zu entschlüsseln und ihr Volk letztlich wieder zu seinem früheren Glanz zu führen. Ihre fixe Idee hatte sie gemeinsam von Amerika nach Afrika, durch Europa bis nach Asien und zurück reisen lassen. Drei Jahre hatte ihre Mission gedauert, bis sie in der irakischen Wüste in Blut und Tod geendet war – und mit der Entdeckung der Kreatur, die jetzt mit Danica in der Gruft saß.

Asher schauderte. Diesmal war Danica wirklich zu weit gegangen. Die Grabruhe eines der Alten zu stören, war selbst nach Vampirmaßstäben ein Sakrileg, und viel älter als dieser hier war kaum noch möglich.

Er warf einen nervösen Blick zur Tür. Wenn das Ding dort drin ihre Erlösung bedeutete, wollte er damit nichts zu tun haben. Wenn er nur halbwegs bei Verstand war, dann ließ er die beiden da drin, damit sie es unter sich austragen konnten. Danica war dieser Sache nicht im mindestens gewachsen, und sie war zu stur, um das zuzugeben.

Asher versuchte, sich nicht vorzustellen, was er tun würde, I wenn ihr irgend etwas zustieß…

Die Tür zur Gruft glitt auf, Danica taumelte nach draußen und fiel ihrem Bruder regelrecht in die Arme. Ihre Haut war totenbleich, an Hals und Schulter waren frische Bisswunden zu sehen. Ihr Seidentop war blutgetränkt.

„Danica!“ Asher legte seine Arme fester um sie, da ihr Beine den Dienst versagten. „Geht es dir gut?“ Er wusste, war eine verrückte Idee gewesen. Er griff nach seiner Waffel doch Danica legte ihre Hand auf seine. Sie zitterte und kämpfte mit sich, um sich wieder unter Kontrolle zu bekommen.

„Lass ihn raus. Er will sehen, was aus seiner Welt geworden ist.“

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