Das Edgar Vance Institute for Whole Being war in einem belebten Bürokomplex untergebracht, der im teureren Teil der Stadt lag. Das Gebäude befand sich an einer beliebten Allee und war von perfekt gepflegten Rasenflächen umgeben. Durch die Drehtüren strömten zahllose Menschen hinein, während andere auf dem Weg nach draußen waren. Die Klientel reichte vom Collegeabsolventen bis zum Geschäftsmann im schwarzen Armani-Zwirn. Ein hoch aufragendes Aluminiumschild mit dem Schriftzug VANCE INSTITUTE beherrschte die Rasenfläche vor dem Eingang und warf einen Schatten über die Gebäudefront.
Blade schritt selbstbewusst auf dem gepflasterten Weg in Richtung Haupteingang und machte sich keine Mühe, möglichst lange unentdeckt zu bleiben. Ihm folgten King und Abigail, die versuchten, unbewaffnet und unauffällig zu wirken – und in beiden Punkten kläglich versagten.
Abigail bemerkte auf einem Mast eine Überwachungskamera, die ihren Weg zum Haupteingang mitverfolgte. Ihr lief ein Schauer über den Rücken, als sie darüber nachdachte, was sie vorhatten. Blades Vorgehensweise war nicht annähernd so dezent wie die der Nightstalker, die vor einem Angriff üblicherweise erst lange Zeit warteten und die Risiken kalkulierten, ehe es dann zu einem kleinen, aber perfekt geplanten Zugriff kam. Sie mussten die Lage gründlichst recherchieren, denn wenn der eine Vampir, den sie töten wollten, plötzlich ein Dutzend Helfer bekam, dann konnte ein solcher Fehler sie das Leben kosten.
Blade dagegen schien es nichts auszumachen, einfach hereinzuplatzen, sobald er genug Informationen besaß, um die ungefähre Marschrichtung zu kennen. Abigail fragte sich, wie viele Menschen er deshalb in seiner zwanzig Jahre währenden Karriere wohl schon irrtümlich getötet hatte. Sie hoffte für ihn, dass es so wenige waren, wie Whistler ihr versichert hatte.
Als sie am Personalparkplatz vorbeigingen, stieß King sie an und zeigte auf einen blauen Jaguar mit einem vor Eitelkeit strotzenden Nummernschild, auf dem VANCE-1 stand.
King zog eine Augenbraue hoch, und Abigail teilte seinen unausgesprochenen Gedanken.
Dieser Kerl hatte Klasse.
Nur schade, dass er auf der falschen Seite stand.
King trottete voran und beeilte sich, dicht bei Blade zu bleiben, während er versuchte, sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen. Dieser Laden bescherte ihm schon jetzt eine Gänsehaut. Etwas Unheilvolles schien über allem zu liegen, und er vertraute nicht allzu sehr auf Blades Plan, einfach reinzumarschieren und loszuschlagen. Er ging seinen Vorrat an Vampirwitzen durch und suchte nach etwas, das dazu angetan war, eine etwas lockerere Atmosphäre zu schaffen. „Hey, Blade… warum wurde Keith Richards noch nie von einem Vampir gebissen?“
Blade verzog das Gesicht, da er nicht sicher war, wie lange er das noch aushalten konnte. Wenn Kings aufgekratzter Charakter schon nicht dadurch gedämpft worden war, dass er fünf lange Jahre als Vampir zugebracht hatte, dann würde er sich wohl durch gar nichts die gute Laune nehmen lassen.
King wartete einen Augenblick und hoffte auf eine Antwort. Eines Tages würde der schwarze Kerl ihn mit seinem Sinn für Humor überraschen. In diesem Schädel musste noch für etwas anderes Platz sein als nur für finsteres Dreinblicken und für Töten.
Schließlich breitete King die Arme aus und lieferte selbst die Pointe: „Weil alle meinen, dass er längst selbst ein Untoter ist.“
Blade ging nur kopfschüttelnd weiter.
King sah ihm nach. „Hey, nicht jeder Gag kann ein Volltreffer sein!“
Blade ignorierte ihn und betrat das Institut durch die schwere Drehtür. Gleich hinter dem Eingang befand sich ein weitläufiger, klinisch sauberer Empfangsbereich mit Wasserspendern und Grünpflanzen. Die Beleuchtung war gedämpft. Ein Dutzend signierter Schwarzweißfotos von zweitklassigen Prominenten war aufgehängt, die das Vance-Programm über alle Maßen lobten – und dafür zweifellos angemessen entlohnt worden waren.
Die Klienten, die am Empfang standen, drehten sich prompt um, als das finster dreinblickende Trio hereinkam, und begannen zu tuscheln.
Desinteressiert ließ Blade seinen Blick über sie schweifen. Er war vielmehr an einem Hinweis interessiert, wo im Haus Vance sich aufhielt. Vor einem Pappaufsteller von Vance blieben sie kurz stehen, um ihn zu betrachten. Der Pappkamerad grinste ihnen entgegen. Unterhalb seines Kopfs stand in goldgeprägten Buchstaben:
EDGAR VANCE, M.D.
PRÄSIDENT
VANCE INSTITUTE FOR WHOLE BEING
Ein Stück daneben war eine ganze Wand aus Monitoren aufgebaut, auf denen man einem jungen Pärchen zusehen konnte, wie es im goldenen Schein der aufgehenden Sonne badete. Blade sah zu, wie die beiden ausgelassen in den Wellen tobten, während eine ernste Stimme erklärte: „Erlangen Sie die Kontrolle über Ihr Leben zurück. Erleben Sie eine neue Morgendämmerung. Wir vom Edgar Vance Institute for Whole Being glauben an eine ganzheitliche Herangehensweise an die Gesundheit des Menschen.“
Das Bild wechselte zu Vance, der in schmeichelndem Licht lässig an die Schreibtischkante gelehnt dastand. Er beugte sich zur Kamera vor, als würde er immer nur einen Zuschauer direkt ansprechen wollen. „Ich bin Dr. Vance, willkommen in unserem Institut.“ Seine Stimme war sonor und kultiviert. „Als Angehöriger des Berufsstands der Mediziner möchte ich Ihnen versichern, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um mich so um Ihr Wohl zu kümmern, wie Sie es verdienen.“
Verächtlich schnaubend bedeutete Blade den anderen, ihm zu folgen. Sich um das Wohl seiner Klienten zu kümmern, war eine Sache. Sie unter Betäubungsmittel zu setzen und an den Feind auszuliefern, war eine andere Sache. Und er sollte besser nicht noch einmal mit diesem Unsinn von sexueller Verdrängung anfangen…
Sie gingen zu den Aufzügen, wo zwei weitere Monitore aufgestellt waren, die den gleichen Werbefilm zeigten. King und Abigail zogen ihre Jacken etwas enger um sich, da sich die Wirkung der auf Hochtouren laufenden Klimaanlage bemerkbar machte.
Kurz vor den Aufzügen stellten sich ihnen zwei uniformierte Sicherheitsleute in den Weg. „Entschuldigen Sie“, begann der eine. „Kann ich Ihnen behilfl…“
Das gönnerhafte Lächeln des Mannes verwandelte sich in eine schmerzerfüllte Grimasse, als Blade seine Jacke zu fassen bekam und ihn hochhob. Er packte auch den zweiten Mann und schleuderte die beiden durch die Luft. Jeder landete in einer anderen Monitorwand.
Das Trio setzte seinen Weg rasch fort, ehe jemand sie erkennen konnte. Ein Arzt in weißem Jackett hatte den Lärm gehört und kam aus seinem Büro, wurde aber sofort von Blade niedergeschlagen. Noch während der Mann zu Boden sank, lief Blade bereits um die nächste Ecke, wo er beinahe mit zwei weiteren Sicherheitsleuten zusammengestoßen wäre, die ihm entgegenkamen. Als sie den stöhnenden Doktor am Boden liegen sahen, zogen sie sofort ihre Schlagstöcke. Einer versuchte, Blade am Kopf zu treffen, der andere zielte auf die Knie.
Blade duckte sich und drehte sich zur Seite, um ihnen auszuweichen. Einen Augenblick später reagierte er bereits mit einer Serie von Haken und gezielten Schlägen auf ihre empfindlichsten Körperpartien, war aber nur darauf bedacht, die Männer außer Gefecht zu setzen, anstatt sie zu töten. Die Treffer hallten in dem Korridor ebenso wider wie die Schmerzensschreie und das Aufstöhnen der Wachleute. Dennoch waren die Männer außergewöhnlich gut trainiert, so dass Blade sich zwingen musste, ihnen keine schwereren Verletzungen beizubringen, obwohl sich ihre Fäuste bis auf wenige Zentimeter seinem Körper nähern konnten.
Während sie kämpften, strahlte über ihnen Vance von einem Plasmabildschirm herab und fragte: „Was bedeutet es, Mensch zu sein?“ Blade versetzte unterdessen einem der Männer einen Schwinger, der ihn durch die Luft wirbeln ließ. „Seit Anbeginn der Schöpfung haben sich unsere Vorfahren diese Frage gestellt. Die moderne Welt präsentiert sich uns mit unzähligen Herausforderungen…“
Der erste Wachmann täuschte einen Tritt in Blades Weichteile vor, änderte aber im letzten Moment sein Ziel und trat ihm stattdessen in die Magengegend. Sein Fuß glitt jedoch am Kevlar-Schutzpanzer ab und der Mann taumelte aufschreiend nach hinten. Blade schlug ihn mühelos zu Boden und verpasste ihm dann mit seinem stahlbewehrten Motorradstiefel einen Tritt gegen die Schläfe, so dass sein Kopf zur Seite gerissen wurde und auf den Bodenfliesen aufprallte. Der Mann war sofort ohnmächtig, und Blade wandte sich augenblicklich dem zweiten Wachmann zu, der einen Satz auf ihn zu machte und dabei nach seiner Waffe griff.
Vances Werbevideo lief unverdrossen weiter, und der Doktor sprach nach wie vor in einem Tonfall, als wollte er seine Zuschauer hypnotisieren: „Wir glauben, wir sind gesund. Aber in Wahrheit führt unser Immunsystem einen Kampf auf Leben und Tod, um unser Wohlergehen aufrechtzuerhalten…“
Während der zweite Wachmann zu Boden sank und sich sein gebrochenes Handgelenk hielt, beschrieb Blade eine Drehung und landete einen präzisen Treffer. Der Monitor wurde im ersten Anlauf von der Wand gerissen, stürzte zu Boden und zerbarst in einem Regen aus Plasmafunken. Einen Augenblick später taugte der kostspielige Bildschirm nur noch als sehr teurer Bilderrahmen.
Blade führte die Nightstalker durch den dunklen Korridor zu einer großen, wichtig aussehenden Tür am Ende des Flurs. Er bedeutete ihnen, einen Schritt zurückzubleiben, dann zog er seine Waffe. Abigail räusperte sich kurz, während Blade einen Moment lang zögerte, ehe er seine Hand um den Türgriff legte. Die Tür war nicht abgeschlossen, Blade riss sie auf.
Bevor er aber einen Schritt in das Büro machen konnte, stellte sich ihm ein makellos gekleideter Managementassistent in den Weg. „Es tut mir Leid, aber Sie können nicht…“ Er verstummte, als sein Blick zu den Nightstalkern wanderte, die ihre Jacken öffneten und ein Furcht erregendes Waffenarsenal präsentierten.
In dem Sekundenbruchteil, den er benötigte, um wieder zu Blade zu sehen, trat Abigail vor, kickte dem Mann gegen das Knie und verpasste ihm gleichzeitig einen Handkantenschlag an die Kehle.
Tonlos nach Luft schnappend ging der Mann zu Boden.
Blade sah sich um und entdeckte sofort das Hauptbüro, da neben der Tür ein großes Namensschild aus Messing prangte. Während Abigail ihm Rückendeckung gab, zog er seine Schrotflinte aus dem Ledermantel und schraubte einen Schalldämpfer auf. Dann feuerte er eine Salve auf die Zahlentastatur neben der Tür ab. Das elektronische Zahlenschloss blitzte kurz auf, und Funken regneten auf den Teppichboden. Dann öffnete sich das Türschloss mit einem beleidigt klingenden, elektronischen Klagelaut. Blade trat die Tür auf und ging in Dr. Vances Büro.
Rasch und ein wenig abgelenkt nahm er wahr, wie riesig und opulent eingerichtet dieser Raum war, ehe sein Blick zu dem Mann wanderte, der vor ihm am Schreibtisch saß.
Doktor Vance. Endlich.
Vance sprang erschrocken auf und wischte sich mit einer Serviette den Mund ab. Er war irgendwie eigenartig angezogen, gar nicht, wie man es von dem Doktor erwartete, der er sein wollte. Seine Kleidung schien zwar maßgeschneidert zu sein, doch sie wirkte eine Spur zu groß, so als hätte sich ein Kind die Arbeitskleidung des Vaters übergestreift.
Er sah die Eindringlinge von oben bis unten an, auf seinem Gesicht zeichnete sich ein empörter, aber auch verwirrter Ausdruck ab. „Was…“
„Der Tag der Rache, Vance.“
Blade richtete seine Schrotflinte auf den Kopf des Mannes und entsicherte sie, während er auf Vances Reaktion wartete.
Zu seiner Überraschung lächelte Vance ihn nur an.
Abigail spürte, dass etwas nicht stimmte, und hob eine Hand, damit Blade stehenblieb. Langsam ging sie um den Schreibtisch herum, um sicherzustellen, dass er unbewaffnet war.
Sie erstarrte, als sie etwas sah, was sie kaum glauben wollte.
Ein Mann in Arztkleidung lag hinter dem Schreibtisch auf dem Boden, seine Kehle war zerfetzt worden. Er lag in einer Lache aus frischem Blut, das Gesicht war zu einer ungläubigen Maske erstarrt.
Abigail schnappte nach Luft. Der Mann hatte Doktor Vances Gesicht.
King verstand als Erster, was hier geschehen war. Er wich zurück, während er in seiner Jacke hektisch nach einem silbernen Pflock suchte. „Jesus, er ist es! Dracula!“
Alle Blicke richteten sich auf den Mann hinter dem Schreibtisch, der noch immer lächelte und dann aus dem Stand auf die Tischplatte sprang. Gleichzeitig feuerte Blade seine Schrotflinte ab, doch sein Gegenüber konnte den Lauf im letzten Moment zur Seite wegschlagen, so dass er nur das Bürofenster hinter ihm zerschoss. Vances Doppelgänger knurrte wie ein Tier und landete einen kraftvollen Treffer gegen Blades Oberkörper, der ihn quer durch das Büro schleuderte. Der Daywalker flog in eine Vitrine, die unter dem Aufprall zerbarst und ihn inmitten der Scherben landen ließ.
King zog einen Silberpflock aus dem Harnisch an seinem Gürtel und lief los, um Blade zu unterstützen. Abrupt blieb er stehen, als er sah, wie sich die Knochenstruktur unter der Gesichtshaut des Mannes verschob, als würden sich Würmer dort bewegen. Begleitet wurde die Metamorphose von einem Knacken, das Übelkeit auslöste.
Gegen seinen Willen wich King zurück, als der mutierende „Doktor“ einen Schritt auf ihn zu machte. Das war doch eine Nummer zu abgehoben. Hätte er nur sein Exorzismus-Zubehör mitgebracht…
Ehe King sich entscheiden konnte, wie er nun vorgehen sollte, machte der mittlerweile völlig unkenntlich gewordene Doktor einen so schnellen Satz vorwärts, dass seine Konturen verwischten. Er bekam Kings Handgelenk zu fassen und entriss ihm den Pflock, um dann in einer raschen, fließenden Bewegung den Pflock umzudrehen und ihn durch Kings Brustkasten zu jagen. Im nächsten Moment hatte er ihn damit durchbohrt und die Spitze in die hölzerne Tischplatte gerammt.
Während Kings Schreie durch das Zimmer gellten, wandte sich der Doppelgänger Abigail zu. Auch der letzte Rest von Vances Gesichtszügen verschwand und ließ Drakes wahres Aussehen zum Vorschein kommen.
Abigail wollte nach ihrer Armbrust greifen, doch Drake stand fast augenblicklich dicht vor ihr und versetzte ihr mit dem Handrücken einen Schlag, der sie rückwärts durch den Raum schleuderte. Sie schlug neben dem zappelnden King auf den blutbeschmierten Schreibtisch und prallte mit dem Kopf auf das Holz. Benommen rutschte sie auf den Teppichboden.
Drake lief durch das Büro zum zerschossenen Fenster und hechtete durch die Öffnung, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Blade sprang auf und schüttelte kleinere Scherben ab, dann rannte er zum Fenster, stützte sich auf der Fensterbank ab und sah nach unten, wo Drake soeben zwei Stockwerke tiefer unversehrt landete. Der König der Vampire drehte sich um und sah nach oben zu Blade, wobei er die Zähne bleckte – vielleicht aus Trotz, vielleicht aber auch aus Vergnügen. Dann lief er um eine Ecke des Gebäudes und steuerte den Hintereingang an.
Es gab nur eines, was Blade jetzt tun konnte. Er biss die Zähne zusammen, kletterte durch das Fenster und sprang. Sein schwarzer Mantel flatterte hinter ihm wie eine Flamme. In der Haltung eines Sprinters an den Startblöcken landete er auf dem Weg vor dem Gebäude und spannte seine Muskeln an.
Dann rannte er los, um Drake zu stoppen.
Vor dem Vance Institute bahnte sich Drake mit übermenschlicher Schnelligkeit seinen Weg durch die Massen von Patienten. Das hintere Tor zum Gebäude war verschlossen. Mit einem Satz sprang er über den hohen Zaun und durchbrach eine Straßenabsperrung auf der anderen Seite, ohne auch nur eine Sekunde langsamer zu werden. Er lief weiter die rückwärtige Straße entlang, um eventuelle Verfolger abzuschütteln.
Blade sprintete hinter Drake her und stürmte um eine Ecke, als der Jahrtausende alte Vampir unglaublich stilvoll über den großen Abfallcontainer am anderen Ende der Gasse setzte, der gut hundert Meter von Blade entfernt war. Der Daywalker erhöhte sein Tempo.
Drake wandte sich kurz um, da er ein Geräusch gehört hatte. Sein Blick durchdrang die Schatten in der Gasse, während er Blades schnelle Schritte hörte und vor lauter Konzentration etwas langsamer wurde.
Der Daywalker folgte ihm also. Wie berechenbar er doch war.
Mit hoher Geschwindigkeit lief Drake über einen belebten Markt, der auf einem Platz hinter dem Vance Institute abgehalten wurde. Seine Laufrichtung entsprach einer vollkommen geraden Linie, so dass er Stände niederwalzte und Passanten umrannte, die ihm im Weg waren. Blade folgte ihm und rannte über die Waren, die von Drake auf der Straße verstreut worden waren.
Drake durchbrach den einfachen Zaun am anderen Ende des Marktplatzes und fand sich auf dem Bürgersteig einer belebten Straße wieder. Seine Fluchtroute wurde ihm durch eine vierspurige, stark befahrene Verkehrsader abgeschnitten. Unbeeindruckt lief Drake auf die Fahrbahn, sprang auf die Motorhaube eines herankommenden Wagens und hielt mühelos die Balance, während der Fahrer wie wild hupte und das Lenkrad verriss, so dass der Wagen mit qualmenden Reifen zum quer zur Fahrtrichtung stehenblieb. Drake sprang von diesem Wagen auf die Haube des nächsten und dann eines dritten Fahrzeugs.
Die Drehung des ersten Wagens hatte ihn allerdings wertvolle Sekunden gekostet, denn auf der anderen Seite der Straße kam Blade durch den zerstörten Zaun gestürmt. Mit einem Blick erfasste er die Situation und folgte Drake auf die gleiche Weise über die Fahrbahn. Beide rannten sie durch den fließenden Verkehr und benutzte Motorhauben und Autodächer wie große Steine, die man in einen Fluss geworfen hatte, um ihn mühelos überqueren zu können.
Nachdem Drake vom letzten Fahrzeug gesprungen war – einem Pizzalieferwagen, der aus der Spur geriet –, lief er zu einer dunklen Gasse auf der anderen Straßenseite. Gerade noch rechtzeitig nahm er das Rumpeln von Reifen war und sprang nach hinten zurück, als ein Müllwagen laut hupend auf der äußersten Fahrspur vorbeidonnerte.
Blade wurde durch diesen Wagen von Drake getrennt und musste ihn erst passieren lassen. Er verlor wertvolle Sekunden. Drake lief auf dem Bürgersteig entlang und verschwand im erstbesten Gebäude, einem alten Wohnblock. Die fünf Stufen zum Eingang nahm er mit einem Satz, dann rannte er ins Foyer und stürmte mit atemberaubendem Tempo die Treppe hinauf.
Der Daywalker war dicht hinter ihm und erreichte das Treppenende gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Drake um die Ecke eines Korridors verschwand. Vor ihm türmte sich ein chaotisches Durcheinander aus verstreuter Wäsche und umgeworfenen Möbelstücken. Ein Hund schoss aus einer Tür und bellte ihn an. Ein Stück weiter vorne lag ein älterer Jamaikaner auf dem Boden und fluchte halblaut, weil er versuchte, an seine Gehhilfe zu gelangen, die Drake im Vorbeirennen umgeworfen hatte.
Instinktiv wollte Blade dem alten Mann aufhelfen, als er das Geräusch splitternden Glases hörte, dann schrie eine Frau: „Mein Baby!“
Blades Kopf schoss hoch. Mit einem Satz sprang er über den alten Mann hinweg und sprintete weiter durch den Korridor. Sekunden später stürmte er in eine Wohnung, deren Tür weit offen stand.
Von Drake war keine Spur zu sehen.
Hier war nur die hysterische Mutter, die völlig aufgelöst das umgeworfene Kinderbett anstarrte. Blade lief durch die Wohnung zu einem Fenster, dessen Gardinen zur Seite gezogen waren. Ohne zu zögern rollte er sich zusammen, damit die Scherben ihm nichts anhaben konnten, dann sprang er durch das Fenster und landete auf der schwarz gestrichenen Feuerleiter.
Als er nach oben schaute, entdeckte er eine schemenhafte Gestalt. Es war Drake, der mit übermenschlicher Geschwindigkeit weiter nach oben kletterte. Leise fluchend machte sich Blade an die Verfolgung. Auch er bewegte sich auf der Leiter so schnell Etage um Etage nach oben, dass er nur noch als huschender Schatten zu sehen war.
Nachdem er drei Stockwerke zurückgelegt hatte, wurde Blade allmählich langsamer. Trotz seiner übermenschlichen Ausdauer begannen sich die Anstrengungen der Verfolgungsjagd bemerkbar zu machen. Seine Hände waren so schwer wie Blei, während er sich Stufe um Stufe nach oben zog, ein Muskel in seinem Schenkel begann sich zu verkrampfen und der Krampf drohte, sich auf das ganze Bein auszuweiten. Blades Kraft und Durchhaltevermögen übertrafen die eines normalen Menschen bei weitem, aber letzten Endes war er selbst doch auch nur ein Mensch. Jedenfalls größtenteils.
Seine Sinne waren aufs Äußerste angespannt, und reflexartig warf er sich zur Seite, um dem großen Pflanzenbottich auszuweichen, der ihm auf der Leiter entgegengeschleudert wurde. Er spürte den heftigen Luftzug, als er an ihm vorüberflog, und sein Magen verkrampfte sich, als er den Sturz des Bottichs in die Tiefe beobachtete.
Einen Moment lang hing Blade nur mit einer Hand an der Leiter. Er hoffte, dass das Metall nicht nachgeben würde. Schließlich holte er genug Schwung, um wieder auf den Sprossen zu landen, dann lief er doppelt so schnell weiter. Er durfte Drake nicht entkommen lassen. Wer konnte schon sagen, in welchen teuflischen Plan die Vampire ihn einbeziehen wollten? Er musste ihn aufhalten, und zwar so schnell wie möglich.
Blade legte zwei weitere Etagen zurück, dann endlich war er am Ende der Feuerleiter angekommen. Ein Schwarm Tauben flog hoch, als er ihre Ruhe störte, und nachdem er sie alle verscheucht hatte, überwand er den Höhenunterschied von gut dreieinhalb Metern bis zum Dach des Hauses mit einem kraftvollen Sprung. Er bekam die Dachkante zu fassen und schwang wie ein Hochseilartist hin und her, bis er den Schwung hatte, um aufs Dach zu gelangen.
Gleichzeitig beschrieb er einen Überschlag und landete auf den Füßen, während er sein Schwert zog. Nach Luft schnappend sah er sich rasch um.
Niemand war zu sehen.
„Du bist also der Jäger, den alle fürchten.“
Blade wirbelte herum.
Drake stand am äußersten Rand des Dachs und hielt ein Baby im Arm. Der Anblick des Kindes war der einzige Grund, dass Blade sich nicht auf Drake stürzte und ihn in die Tiefe schickte. Die gelbe Nachmittagssonne stand hinter Drake am Himmel und umgab den uralten Vampir mit einem gleißenden Heiligenschein.
Drake ließ Blade nicht aus den Augen, als er den Kopf ein wenig neigte und dann auf das Kind in seiner Armbeuge deutete. „Nur damit wir uns nicht missverstehen, Daywalker.“
Mit der freien Hand rieb er seinen Kiefer. Blade hörte ein leises Krachen, als auch die letzten Knorpelstücke in Drakes Kinn nach der Verwandlung an ihren ursprünglichen Platz zurückkehrten.
Blade ließ die Luft langsam aus seinen Lungen entweichen, da er versuchte, seine Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen. Drake durfte ihm keine Schwäche anmerken. Schweiß lief ihm von der Stirn in den Augenwinkel. Er wischte sich daraufhin das Kinn ab, wobei er versuchte, es wie eine zufällige Geste aussehen zu lassen.
Jäger und Gejagter standen sich auf dem Dach gegenüber und sahen sich abschätzend an.
Blade sprach als Erster: „Warum hast du Vance getötet?“
Drake zuckte mit den Schultern. „Er war überflüssig geworden, er war nur noch eine Belastung.“ Drake schien das Thema nicht zu gefallen. Er sah Blade interessiert an und sagte: „Dein Schwert… ich habe dieses Heft schon einmal gesehen. Vor acht oder neun Jahrhunderten.“ Beeindruckt kehrte sein Blick zu Blades Augen zurück. „Der Jäger, der es trug, war ein guter Kämpfer.“ Drake drückte das Baby fester an sich und zeigte auf das Schwert. „Auf seine Weise war er ein ehrbarer Kämpfer. Er starb eines guten Todes.“
Blade nahm ihm das nicht ab. „Davon weiß ich nichts.“
„Du lügst.“ Drake sprach die Worte ohne Verärgerung, sondern sagte es wie eine simple Feststellung. „Du bist Teil einer großen Tradition, Blade. Ihr Jäger habt meinem Volk seit dem Tag zu schaffen gemacht, da wir das erste Mal auf der Erde wandelten.“ Er rieb sein Kinn. „Und ich habe sie auslöscht. Einen nach dem anderen.“
Er wandte sich von Blade ab, sah das Baby an und stupste es vorsichtig ans Kinn. Es griff mit seinen rosigen, rundlichen Händen nach ihm, als wollte es irgend etwas Essbares zu fassen bekommen. Drake lächelte, aber nicht auf eine boshafte Weise. Menschen waren so zerbrechlich, und doch taten sie so, als könne nichts sie umbringen. Das war die größte Schwäche der Menschen, seltsamerweise aber auch ihre größte Stärke.
Aus den Augenwinkeln sah er, wie Blade sich mit der Entscheidung herumquälte, die er treffen musste. Er konnte förmlich hören, was in Blades Kopf vorging. Das war die große Gelegenheit für ihn. Der König der Vampire allein auf einem Dach, ohne Möglichkeit, die Flucht zu ergreifen. Aber was war mit dem Baby? Sollte er sich auf Drake stürzen, so dass sie alle drei zu Tode kamen? Oder sollte er versuchen, den Kleinen erst noch zu retten?
Drake lachte leise und nahm das Baby in den anderen Arm, während er einen Schritt zurück zur Dachkante machte. Der Sturz über sechs Stockwerke in die Tiefe würde ihm nichts anhaben, aber der Daywalker würde ihn nicht so unversehrt überstehen. Wenn er überlebte und das Baby kam zu Tode, dann würde es ihn noch eine Spur berechenbarer machen, da er noch mehr auf Vergeltung sinnen würde. Genau das wollten die Vampire.
Blade bewegte sich mit Drake, wobei sein Blick immer wieder zu dem Kind wanderte. Angestrengt überlegte er, wie er den Vampir aufhalten konnte. Dann sagte er das Erste, was ihm in den Sinn kam: „Wieso kannst du das Tageslicht ertragen?“
Drake lächelte stolz. „Das konnte ich schon immer. Hast du nicht Bram Stokers Geschichte gelesen? Ich bin der erste Vampir. Ich bin einzigartig.“
Blade ging ein Licht auf, und er redete weiter, ehe er sich bremsen konnte. „Darum haben sie dich zurückgeholt.“
Drake nickte. Es machte nichts aus, wenn der Daywalker von seinem Plan wusste. Es würde alles nur noch interessanter machen, wenn es daran ging, ihn endlich zu töten. „Ja“, erwiderte er. „Meine Kinder wollen die Eigenschaften in meinem Blut isolieren, die mich gegen Sonnenlicht unempfindlich machen.“ Er sah wieder auf das Kind in seinem Arm hinunter. „Sie glauben, dass durch mich jeder von ihnen ein Daywalker werden kann.“
Plötzlich drangen laute Rufe auf das Dach. Drake sah nach unten, wo sich eine überraschend große Zahl Schaulustiger eingefunden hatte und zu ihm nach oben zeigte.
„Die Welt hat sich verändert, seit ich mich das letzte Mal schlafen gelegt hatte“, meinte Drake nachdenklich. „Wie überlaufen sie doch heute ist.“ Sein Blick wanderte zu Blade. Mit einem Kopfnicken deutete er auf die Menschenmenge. „Sieh sie dir nur an. Ein Leben so kurz wie das einer Eintagsfliege. Glaubst du, sie werden jemals begreifen können, was es heißt, unsterblich zu sein, so wie wir?“
Blade sah Drake verächtlich an. Wollte er sie beide tatsächlich auf eine Stufe stellen? Wütend verzog er den Mund. „Du bist nicht unsterblich. Hunderte von deinen Leuten haben das schon behauptet, und jeder von ihnen starb durch mein Schwert.“
Blade verlagerte sein Gewicht auf seine Fußballen, während er zugleich die Knie minimal beugte, um sich zum Sprung bereit zu machen. Er musste das Baby retten.
Drake musste unwillkürlich lächeln. So oft hatte er diese Worte schon gehört, dass er es längst nicht mehr mitzählte. Trotzdem schadete es nichts, den jungen Jäger ein wenig aufzuheitern. „Vielleicht wird mir das auch widerfahren“, sagte er und trat noch zwei Schritte nach hinten. „Aber ich halte es für wahrscheinlicher, dass du vor mir sterben wirst.“
Während Blade seine Muskeln sprungbereit anspannte, rief Drake auf einmal: „Fang auf!“
Dann warf er ihm das Baby zu.
Ohne nachzudenken, hechtete Blade einen Riesensatz nach vorn und drehte sich mitten im Sprung, um das Kind aufzufangen, ehe es auf dem Betondach aufschlagen konnte.
Blade fiel auf den Rücken und kam mit einer fließenden Bewegung wieder auf die Beine, wobei er das Kind an seine breite Brust drückte. Als er sich umdrehte, war von Drake nichts mehr zu sehen.
„Scheiße!“
Drei Blocks entfernt im Vance Institute stemmte Abigail ihre Knie am Schreibtisch ab und legte die Hände um das Ende des Silberpflocks, der aus Kings Brust ragte. Sie betrachtete das weiße Gesicht ihres Kameraden, ihre Augenbrauen hatte sie hochgezogen, ihre Frage blieb aber unausgesprochen.
King nickte kaum merklich, sein Blick war starr auf das zerschmetterte Fenster gerichtet.
Ehe er es sich noch einmal überlegen konnte, zog sie den Pflock heraus, der sich mit einem schmatzenden Geräusch löste und an dem das dickliche Blut klebte. King schrie vor Schmerz auf und drückte eine Hand auf die Wunde. Abigail fing ihn auf, als er vom Tisch rutschte und beinahe das Bewusstsein verlor.
Langsam ließ sie ihn auf den Boden herunter und half ihm, sich gegen die Wand am Fenster zu lehnen. King hielt die Hand auf die klaffende Wunde gepresst, die schreckliche Schmerzen verursachte. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor, durchtränkte seine Kleidung und bildete eine kleine Pfütze unter ihm.
„Jesus, das tut weh!“ King wischte sich mit einer zitternden Hand über die Stirn und kniff die Augen zusammen, um nicht in einen Schockzustand zu verfallen. „Ich will wieder ein Vampir sein. Scheiße!“ Er atmete hastig, während er auf das Fenster deutete. „Hast du den Typ gesehen? Wir werden verlieren. Verdammt, wir werden verlieren!“
Er verstummte stöhnend.
Abigail ignorierte ihn ganz bewusst, während sie mit ihrem Taschenmesser sein T-Shirt aufschnitt. Nach ihrer Miene zu urteilen, war es nicht das erste Mal, dass sie so etwas machte. Aus ihrem Gürtel zog sie eine kleine Spraydose.
„Was ist das?“, fragte King argwöhnisch.
„Fibrin-Dichtungsschaum. Ein elastisches Protein.“ Sie deutete auf seine Brust. „Hilf mir, die Wunde aufzuhalten. Der Schaum soll die Blutung im Inneren stoppen.“
Sie ging über seinen beunruhigten Ausdruck hinweg und zog an den blutigen Rändern. King begann, schneller und lauter zu atmen, als er den Schmerz bekämpfte.
„Hey“, er stieß sie leicht an, während er nach Luft schnappte. „Wie verabschieden sich lesbische Vampire?“
Abigail schüttelte die Dose. „Halt die Klappe, King.“
Er grinste schwach. „Dann bis in achtundzwanzig Tagen…“ Seine Stimme wurde leiser, während er in Ohnmacht fiel.