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Eine finstere Gestalt bewegte sich durch die rußgeschwärzten Straßen im Geschäftsviertel von Downtown. Autohupen ertönten, Hot-Dog-Verkäufer schrieen ihre Preise in die Menge, während Drake auf dem Boulevard entlangging. In seiner lässigen Kleidung fiel Drake inmitten der Menschen nicht auf, die sich an diesem warmen Abend auf den Bürgersteigen drängten.

Drake blickte um sich und staunte über das Tempo und die Intensität des modernen Lebens. So viel Bewegung! Dieser Lärm! Das grelle Neonlicht tauchte ihn in ein Meer aus aufblitzenden elektrischen Farben, kalte Blautöne und warmes Rot malten Feuer und Schatten auf sein Gesicht. Fußgänger streiften ihn, ohne auch nur eine Spur von Angst vor ihm zu verspüren, während Drake den Duft von frischem Blut inhalierte, das dicht unter ihrer Haut strömte. Der Geruch war trotz des üblen Gestanks der Abgase wahrnehmbar, die wie der Rauch eines Fegefeuers in der Luft hingen.

Das gleichmäßige Dröhnen des innerstädtischen Verkehrs trat in den Hintergrund, als sich Drake völlig auf die Geräusche konzentrierte, die wirklich zählten – das Schlagen von Tausenden von Herzen jener Menschen, von denen er umgeben war. Hier floss der wahre Lebenssaft der Stadt, hier wo die lebhaften Blutkörperchen Dollar für Dollar den unsterblichen Leib der Zivilisation baute und neu erbaute.

Da war das kleine Mädchen, das auf den Schultern des Vaters saß und ausgelassen über die Lichter und den Lärm lachte und sich darüber freute, lange über die Schlafenszeit hinaus noch aufbleiben zu dürfen. Drake lauschte aufmerksam, als er die beiden passierte. Das Herz des Kindes schlug kraftvoll, unberührt von den Verwüstungen der Zeit. Es hatte noch ein ganzes Leben vor sich, ganz im Gegensatz zu seinem Vater, dessen von Cholesterin fast erstickendes Herz so mühsam arbeitete, dass er froh sein konnte, wenn er den fünfzehnten Geburtstag seiner Tochter noch miterleben durfte.

Dort war ein Junkie, der in einem Hauseingang lag, ein kränklicher junger Mann Mitte zwanzig. Seine Haut war fahl und klamm, sein Puls raste wie bei einem Rennpferd, das alles gegeben hatte. Während Drake ihn betrachtete, suchte der Mann etwas in einer Tasche, dann blieb seine Hand in der Kleidung stecken, er warf den Kopf nach hinten und lachte hysterisch – und übergab sich lautstark in eine Ecke. Er würde tot sein, noch bevor das Jahr um war, aber nicht wegen der Drogen, sondern wegen einer winzigen Unregelmäßigkeit in der linken Herzklappe, an der jedes Blutgerinnsel hängen bleiben würde, der größer war als ein Sandkorn, um dann sein Herz damit regelrecht zu strangulieren.

Drake sah ihn einen Moment lang an, ohne dass sich in seinen schwarzen Augen Mitleid abzeichnete. Wenn es stimmte, was über die moderne Medizin gesagt wurde, dann konnte man den jungen Mann retten. Doch wer nahm schon Notiz von einem Drogenabhängigen unter vielen, der zitternd in einem Eingang saß.

Drake ging weiter.

Ah, hier! Danach hatte er gesucht: Kultur.

Die Wohnhäuser wichen Einzelhandelsgeschäften, Drake ging hin, um zu sehen, was sie anboten. Ein großes, farbenprächtiges Schaufenster weckte sein Interesse, und er blieb stehen, um sich die Auslage anzusehen. Es handelte sich offenbar um ein Geschäft, das Ausstattungen für Maskenbälle oder einen Karneval anbot, auch wenn die grobschlächtigen Masken eher für eine mindere Qualität sprachen. Grässlich bemalte Plastikmasken starrten ihn an, die blutunterlaufene Augen und gefletschte Zähne aufwiesen. Alle möglichen Bestien waren vertreten, von Zombies über Werwölfe bis hin…

Drake blieb stehen und betrachtete eine Maske ganz besonders, eine Karikatur eines blassen Mannes mit schwarzem, glatt zurückgekämmtem Haar und langen Eckzähnen. Der Mann lachte wild, aus dem Mundwinkel lief ein blutiges Rinnsal.

Er zog überrascht eine Augenbraue hoch.

Also wussten die Menschen von der Existenz der Vampire. Und angesichts des Namens auf einem Schild unter der Maske, erinnerten sie sich auch noch an ihn.

Dracula.

Drake nahm zornig zur Kenntnis, dass sein alter Name wieder einmal falsch buchstabiert worden war, dann aber befasste er sich wieder näher mit der Maske. Sie war eine Karikatur, sie wirkte eher komisch als unheimlich, und sie wurde ganz sicher nicht dem Wesen gerecht, die es parodieren wollte. Drake verzog den Mund zu einem höhnischen Grinsen.

Er bewegte sich weiter am Schaufenster entlang und entdeckte ein Vampirgebiss aus Kunststoff sowie einen maßlos närrischen schwarzen Umhang, der mit falschem rotem Samt gefüttert war. Es gab noch weitere Reihen mit Vampirmasken, die wohl alle ihn darstellen sollten. Jedes Teil war nichts weiter als eine Travestienummer. Sein Name und ein grotesk karikiertes Gesicht zierten Schlüsselanhänger, Frühstücksdosen, T-Shirts und Schreibmäppchen. Es gab sogar eine Puppe nach seinem Ebenbild, ein abscheuliches Ding, das mit silbernen Knöpfen verziert war und lächerliche goldene Kleidung trug. Ein Knopf an der Puppe war mit einem Schild versehen, auf dem geschrieben stand: „Drück mich und ich schreie.“

Drake drückte das Kreuz durch, wodurch der Kontrast zwischen seiner eleganten, gutangezogenen Silhouette und diesem Müll dort noch deutlicher wurde.

Was hatten sie aus seinem stolzen Namen gemacht? Wie tief war er in den Augen der Menschheit gesunken? Zum ersten Mal in seiner Jahrtausende alten Existenz regte sich in ihm ein unheimliches Gefühl: Zweifel.

Eine Türglocke klingelte fröhlich, als Drake das Geschäft betrat. Es war ein krasser Gegensatz zu den hektischen Gongschlägen und Kriegshörnern, die früher ertönten, um vor seiner Ankunft zu warnen. Ein wenig irritiert blieb er in der Tür stehen.

Sein Blick wanderte durch das Geschäft, während sich seine Augen rasch an die Lichtverhältnisse gewöhnten. Obwohl mehr als ein Dutzend Lampen brannte, machte das Geschäft den Eindruck, dass es hier dunkler war als draußen in der Nacht. Es war feucht und unsauber, alles war bis zum Bersten vollgestellt, überall stapelten sich Ramsch und Plastikneuheiten, dazu bedruckte T-Shirts. Bücherregale aus Pressspan säumten die hintere Wand und präsentierten eine Auswahl an Comics, Gesellschaftsspielen und Horrorfilmen. Entlang des Regals waren da und dort unechte heruntergebrannte Kerzen und bemalte Gipstotenköpfe platziert worden. In einer Ecke fand sich ein Metallständer, der eine Auswahl an Unterwäsche aus Spitze oder Lack feilbot.

Drake trat ein paar Schritte nach vorn und sah sich mit zusammengekniffenen Augen im Geschäft um, da er kaum glauben konnte, was er zu sehen bekam.

Hinter der Theke saß ein blasser junger Mann, den mehrere Piercings schmückten und der zerrissene schwarze Kleidung trug, die mit Sicherheitsnadeln zusammengehalten wurde. Drake bemerkte, dass der junge Mann, der dünn wie ein Strich war, das Wort „Goth“ auf die Knöchel der linken Hand hatte tätowieren lassen. Aus einer Plastikschachtel, in die ein großes „M“ eingeprägt war, nahm er etwas zu essen und stopfte es sich in den Mund. Ein Stück neben ihm stand ein ramponierter alter Fernseher, in dem ein Zeichentrickfilm zu sehen war. Das Gerät war mit künstlichen Spinnennetzen verziert, und um die Antenne war etwas gewickelt, das wie ein abgetrennter blutiger Arm aussah.

Hinter dem Mann stand eine attraktive Frau, die ähnlich gekleidet war, die Arme verschränkt hatte und die recht gelangweilt wirkte.

Drake ging zur Theke, aber der Junge sah gar nicht erst zu ihm auf, sondern hatte den Blick auf den Fernseher geheftet. Ein Zeichentrickvampir war dort zu sehen, darunter der Schriftzug „Little Bit“. Er bändigte seinen wachsenden Ärger und räusperte sich. „Im Schaufenster… Sie verkaufen doch Vampirzubehör, nicht wahr?“

Der Junge sah ein wenig gereizt auf und wischte sich den Mund mit einer Serviette ab. Offenbar hatte Drake ihn in seiner Pause gestört. „Ahm, ja… ich glaube, wir haben ein paar Sachen. Sehen Sie sich ruhig um.“

Er und die junge Frau kicherten, offenbar ein Scherz auf Drakes Kosten, dann widmeten sie sich ihm nicht weiter. Wenn dieser Freak nicht sehen konnte, dass sich fast alles in diesem Laden um Vampire drehte, dann war ihm auch nicht zu helfen.

In dem Moment fiel der Frau die Überwachungskammer ein. Sie zog eine finstere Miene. An manchen Tagen schaltete der Fettsack, dem der Laden gehörte, die Kamera ein und nahm alles auf, was im Laden geschah, dann wieder dachte er nicht daran. Ausgerechnet heute hatte er es nicht vergessen. Sie deutete mit einer Handbewegung auf ein Display gleich neben Drake, um den Eindruck von Hilfsbereitschaft zu erwecken. „Wir haben Dracula-Frühstücksboxen“, sagte sie. „Haben Sie die gesehen?“

Drake presste die Lippen aufeinander, als sie seinen Namen falsch aussprach, dann sah er, was vor ihm im Regal einsortiert worden war. Angewidert verzog er den Mund.

Dann wanderte sein Blick zu der Frau, die wesentlich angenehmer anzusehen war als alles, was im Geschäft zum Verkauf angeboten wurde. Ihre Haut war so weiß wie Elfenbein und wirkte noch blasser, da ihre extrem eng anliegende Kleidung pechschwarz war. Um den Hals trug sie ein silberfarbenes Hundehalsband, ihre Augen wurden durch breiten schwarzen Eyeliner betont, der wegen der feuchten Hitze im Laden ein wenig verlaufen war.

Drake ließ seinen Blick über ihren Körper wandern, als bewege sich eine Hand über sanften Samt. Auch wenn sie wohl fünf Kilo Übergewicht hatte, stand es der jungen Frau gut, vor allem mit Blick auf ihre Oberweite. Der Schwung ihrer Hüfte musste das Blut eines jeden Mannes in Wallung bringen. Ihre vollen Brüste pressten sich verführerisch gegen den Stoff ihres spitzenbesetzten Tops. Drake spürte, wie sich der Hunger in ihm regte und durch den Gedanken an seine jahrhundertelange Fastenzeit noch verstärkt wurde. Das Blut der Vampire, das er zuvor getrunken hatte, machte zwar satt, befriedigte ihn aber nicht. Dem Vampirblut fehlte das gewisse Etwas: das Leben. Auf der Zunge brannte es wie ein scharfes Gewürz, doch davon abgesehen war es dünnflüssig und fad. Wenn ein Vampir nicht erst vor kurzem getrunken hatte, war sein Blut die Mühe nicht wert.

Anders das Blut der Menschen.

Vor allem das von jungen weiblichen Menschen.

Die junge Frau redete derweil nichtsahnend in einem monotonen Tonfall weiter, ohne sich der Tatsache bewusst zu sein, dass ihr Leben in diesem Augenblick so sehr in Gefahr war wie noch nie zuvor. „Wir haben auch Wackelköpfe, PEZ-Spender, na ja, eigentlich so ziemlich alles, was man sich vorstellen kann.“

Etwas im Hinterkopf der Frau regte sich und weckte einen verschütteten Überlebensinstinkt. Ohne den Grund so recht zu wissen, sah sie zu Drake auf und nahm ihn zum ersten Mal als Person wahr. Kunden jeden Schlags kamen ins Geschäft, das stimmte wohl, doch etwas sagte ihr, dass dieser Kunde nicht an Sammelkarten interessiert war. Er war gut angezogen. Seine Kleidung ließ erahnen, was für ein Mann dahinter steckte, der eher drohend vor ihr aufzuragen schien, als dass er vor ihr stand.

Offenbar hatte der Typ Geld. Vielleicht auch Macht, sofern es zwischen den beiden Dingen heutzutage überhaupt noch einen Unterschied gab.

Er sah gar nicht mal so schlecht aus, wenn auch auf eine leicht unheimliche Art.

Die Frau lächelte in keck an, dann griff sie hinter sich und zeigte sich mit einem Mal von einer eher ausgelassenen Seite. „Wir haben auch Vampir-Vibratoren.“

Drake sah sie sekundenlang an und versuchte, den Sinn ihrer Worte zu begreifen, gab es dann aber schnaubend auf. Hier gab es nichts für ihn. Dieses komplette Geschäft war nur eine Farce, die Ware taugte für einen Scheiterhaufen, für sonst aber nichts.

Er warf dem jungen Mann einen eisigen Blick zu, der immer noch mit seinem Essen beschäftigt war. Drake schnupperte, dann stieß er den Atem angewidert durch die Nase aus, um sie von dem Übelkeit erregenden Gestank zu befreien, der von dem fetttriefenden, gebratenen Fleisch ausging. Niemand hier verspürte Angst. Der Junge interessierte sich überhaupt nicht für ihn, was in Drake Wut aufsteigen ließ, die den bohrenden Hunger auf ein dumpfes Pochen reduzierte.

Drakes funkelnde Augen schossen zurück zu der Frau, die mit einem Mal nicht mehr ganz so attraktiv wirkte. Zu seinem Ärger sah sie ihn noch immer an wie ein verliebtes Ferkel, und sie versuchte nach wie vor, ihm irgendein Fruchtbarkeitsobjekt zu verkaufen, das die Form eines seiner eigenen Körperteile aufwies!

Wenn diese Kinder nichts von dem Respekt und der Angst zeigten, die ihm angemessen war, wer dann?

Er blickte sich um. Ein Muskel in seinem Kiefer zuckte, während er die Lippen aufeinander presste. Alles, was ihm vor die Augen kam, machte ihn nur noch wütender. Es gab sogar Weihnachtsanhänger, die man mit Vampiren versehen hatte! Wussten sie nicht, was es mit diesem Ereignis auf sich hatte? Und was sollten diese gedruckten Fotos dort oben? Nosferatu, Lugosi, Der kleine Vampir und Liebe auf den ersten Biss. Gab es etwa schon Vampir-Schauspiele?

Nein, das waren alles Abscheulichkeiten. Sie benutzten sein Abbild, um Erfindungen zu verkaufen und falsche Geschichten zu erzählen. Keiner der Vampire, die hier zu sehen waren, entsprach ihm.

Drake wich vor den Postern an der Wand zurück und schloss die Augen. Die Welt hatte die Wahrheit vergessen. Sie hatte alles vergessen: seine Taten und seine Bedeutung.

Die Welt hatte ihn wirklich vollkommen vergessen.

„Hier, wie wär’s denn damit?“ Die Frau lächelte Drake an und versuchte, sich freundlich zu geben, damit der unheimliche, reiche Typ etwas kaufte – oder noch besser: damit er sie fragte, ob sie mit ihm ausgehen würde. Sie griff unter die Theke und holte eine Dose eines Erfrischungsgetränks hervor. Auf der Dose stand DRA-COLA und zeigte einen stilisierten Vampir, der in das Firmenlogo biss.

Die Frau schüttelte die Dose. „Da würden Sie wohl am liebsten losheulen, wie?“

Drake starrte nur die Dose an, während sich sein Geist durch die Jahrhunderte zurückzog, da es einfach zu schrecklich war. Siebentausend Jahre Blutvergießen und Größe, Gott inmitten so vieler Insekten, und das war alles, was von seiner Herrschaft geblieben war? Er konnte es nicht fassen, dass sich die Welt in nur drei Jahrhunderten so weit entwickeln würde. Die Vampire und die Menschen hatten ihn weit hinter sich zurückgelassen.

Und so wurde er nun für seine Verbrechen bestraft!

Sie hatten aus ihm eine Witzfigur gemacht!

„Ey Typ, sie redet mit dir.“

Drake riss den Kopf herum. In seinen schwarzen Augen brannte unbändiger Hass, während sich der junge Mann eine Süßigkeit namens Graf Schokula in ein Schälchen schüttete.

Passanten gingen schnell in Deckung, als ein schreiender junge Mann durch das Schaufenster geflogen kam. Seine Flugbahn beschrieb eine perfekte Parabel quer über die Straße, bis er mit dem Kopf voran in das Schaufenster des Geschäfts gegenüber krachte.

Im Laden schrie sich die junge Frau die Lunge aus dem Hals, während Drake sich ihr voller Zorn näherte. Ehe sie Luft holen konnte für einen zweiten Schrei, schoss Drakes Arm so schnell vor wie eine zuschnappende Viper. Er packte ihr volles Haar und riss sie rückwärts über die Theke. Seine Kiefer drückten sich auf ihre samtweiche Kehle, das Blut spritzte umher, als er seine ausgefahrenen Reißzähne durch ihre blasse Haut trieb. Warmes Blut lief in einem dicklichen Strom über seine Zunge und die Kehle hinunter. Drake trank gierig und schluckte so schnell, wie das Herz der Frau schlug. Er spürte, wie ihn das Leben erfüllte, das aus ihrem Körper wich. Seine fahle Haut bekam Farbe, als das geraubte Hämoglobin Wirkung zeigte und ihn auf Zellniveau verjüngte.

Die Glasplatte der Theke gab unter der zappelnden Frau, nach. Nur mit Mühe konnte Drake sich von ihrer Kehle losreißen, eine glitzernder Blutfaden spann sich wie ein hauchzarter Messerschnitt über ihre weiße Haut. Blindlings hob er sein blutverschmiertes Gesicht, während die Knochen unter seiner Haut sich verschoben und für den Bruchteil einer Sekunde eine andere, finstere Gestalt an der Oberfläche seines Körpers abbildeten. Es war eine Gestalt, die die Menschheit seit Jahrhunderten nicht mehr zu sehen bekommen hatte, die aber von Zeit zu Zeit in Alpträumen und Todesvisionen auftauchte.

Es war die Gestalt, die unter Kinderbetten lauerte, mit rotglühenden Augen, während sie darauf wartete, zuzuschlagen und sich zu laben…

Die Gestalt, die Jugendlichen nachts durch die Straßen folgte, aber immer außerhalb des Lichtscheins der Straßenlaternen blieb…

Die Gestalt, die erwachsene Männer dazu brachte, nachts um drei schreiend aufzuwachen und sich am Bettzeug festzuklammern, um dann nach Schatten zu schlagen, die sich in der Morgendämmerung auflösten…

Und nun endlich war der Alptraum freigelassen worden.

Und er war in die reale Welt gelangt.

Drake schleuderte den blutleeren Leichnam der jungen Frau in eines der übervollen Regale. Während er dabei einen Ständer mit Buffy-Figuren umriss, hatte sich Drake bereits abgewandt und stieß ein markerschütterndes Wutgebrüll aus, das zur schwarzgestrichenen Decke gerichtet war.

Der Schrei, der nicht von dieser Erde zu sein schien, hallte in den Betonschluchten von Downtown wider und wurde von einem Chor aus jaulenden Hunden beantwortet, die durch die Seitenstraßen streunten.

Die Botschaft war unmissverständlich.

Die Menschen würden für ihre Ignoranz teuer bezahlen.

Als der Morgen anbrach, gesellten sich die anderen zu Blade und King in den Waffenraum des Nightstalker-Hauptquartiers.

Die beiden hatten sich die ganze Nacht hindurch unterhalten. Blade war hellwach, angetrieben vom Adrenalinstoß der Ereignisse. King rieb sich die Augen und gähnte. Die Oberlichter waren geöffnet worden, grelle weiße Sonnenstrahlen fielen in den Raum und streiften ihre Schultern mit Wärme.

Gemeinsam saßen sie da und schwiegen nachdenklich, während sie zusahen, wie aus einer Kanne mit schwarzem Kaffee Dampf aufstieg.

Blade dachte über das nach, was King ihm berichtet hatte. Sie hatten die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden aus jedem nur denkbaren Blickwinkel diskutiert, aber er war noch immer kein bisschen schlauer, was die Vampire vorhatten. Er lehnte sich nach hinten gegen die ramponierte Werkbank und streckte seine muskulösen Arme in die Höhe, während er sich das Geschehene noch einmal durch den Kopf gehen ließ: die verstärkten Vampir-Aktivitäten der letzten drei Monate, Draculas Existenz und seine Auferstehung, der Versuch der Vampirgang, ihm einen Mord anzuhängen.

Irgendeinen Zusammenhang musste es zwischen diesen Dingen geben.

Blade tippte unschlüssig mit den Fingern auf die Platte der Werkbank. „Warum wecken sie ihn ausgerechnet jetzt auf?“

Abigail fuhr mit einer Hand durch Zoes Haar, während sie sich mit abwesender Miene in dem vollgestellten Labor umsah. „Das versuchen wir ja herauszufinden.“

King drehte sich nachdenklich zu Blade um. „Als ich Vampir war, wurde von einer Vampir-Endlösung gesprochen.“ Er rieb sich den Nacken und sagte mehr zu sich selbst: „Aber ich habe nie begriffen, warum sie ihre Nahrungsquelle auslöschen wollten.“ Wieder sah er zu Blade: „Das wäre doch dumm, nicht wahr? Sie haben schon immer irgendwelche Pläne für die menschliche Rasse geschmiedet, aber so wie es aussieht, ist Draculas Rückkehr Teil dieser Planungen.“

Blade nickte nachdenklich.

King stützte sich auf die Werkbank und betrachtete die Sonnenstrahlen, die durch die offenen Fenster fielen. „Seien wir doch mal ehrlich, Blade. Wir stehen auf verlorenem Posten. Jedes Jahr bringen wir ein paar Hundert von ihnen um, na und? Tausende Vampire sind da draußen unterwegs. Vielleicht sogar Zehntausende. Wir brauchen eine neue Taktik.“

Blade zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. „Zum Beispiel?“

King beugte sich vor, seine Augen blitzten auf. „Eine biologische Waffe.“

Sommerfield begab sich zu ihrer Braille-Tastatur und tippte etwas ein. Sie lächelte, als sie sich wieder umdrehte. „Für diejenigen unter euch, die sehen können – hier gibt es was für euch.“

Blade und King drehten sich um, als ein Flachbildmonitor gleich neben ihnen anging und das Bild eines vergrößerten Virus zeigte, das sich in Echtzeit vermehrte. Während sie zusahen, teilte sich das Virus immer weiter, bis nach wenigen Sekunden nur noch eine schwarze Zellmasse zu sehen war.

Sommerfield betätigte eine andere Taste und holte eine der sich bewegenden Viruszellen heran, die sich so schnell teilte, dass der Ablauf fast nur noch verwischt zu sehen war. „Das ganze letzte Jahr über habe ich mit synthetischer DNS experimentiert, um ein künstliches Virus zu erschaffen, das speziell auf Vampire ausgerichtet ist. Wir nennen es DayStar.“

King stand begeistert auf. „Überleg doch, Blade. Wir könnten sie alle mit einem Schlag vernichten.“

„Und was hat euch bislang davon abgehalten?“ gab Blade zurück, der nicht überzeugt war.

Sommerfield seufzte. „Wir haben es bei mehreren Gefangenen getestet. Den Krankheitsvektor haben wir gut im Griff, es wird leicht übertragen. Aber es wirkt nicht bei jedem Vampir tödlich.“

Abigail stand auf: „Was wir brauchen, ist eine bessere DNS-Probe.“ Sie wandte sich ab und sah nachdenklich aus dem Fenster. „Wir brauchen Draculas Blut.“

Blade starrte sie nur an.

Sommerfield schaltete den Computer aus. „Vampir-DNS ist ein Mischmasch aus verschiedenen Genen, die mit allen möglichen Arten von Junk-DNS durchsetzt ist.“ Sie zeigte auf eine Wandtafel. „Da Dracula der Urvater der Vampirrasse ist, besitzt er die völlig reine Basis-DNS. Sie wurde nicht über Hunderte von Generationen verdünnt. Sie besitzt alle erforderlichen Zellverbindungen, um das Virus zu kodieren.“ Sie unterbrach sich kurz. „Wenn wir sein Blut haben, können wir DayStar auf hundertprozentige Wirkung verbessern.“

King wandte sich zu Blade um und sah, wie diese Erkenntnisse auf ihn einwirkten. Das Gesicht des Daywalkers war so ausdruckslos wie immer, doch King konnte mit ziemlicher Sicherheit sagen, was ihm durch den Kopf ging. Er konnte fast hören, wie sich die Rädchen in seinem Gehirn drehten.

Blade ignorierte Kings begierige Blicke, als er überlegte. Ein Virus, das die Vampire auslöschen konnte – nicht nur hier in der Stadt, sondern auf der ganzen Welt.

Das war eine gewaltige Sache, eine wirklich gewaltige Sache.

Es würde bedeuten, dass sein lebenslanger Kampf gegen die Blutsauger ein Ende hätte, ein Sieg, von dem letztlich die ganze Menschheit profitieren würde. Hunderttausende von Menschenleben konnten so gerettet werden, eine ganze Generation, die nicht mehr den Schmerz erleben musste, wie ein Mitglied der Familie unter mysteriösen Umständen ums Leben kam oder verschwand.

Und was noch wichtiger war: Es würde ihm Erlösung bringen, ein Ende der täglichen Gewalt und des Tötens – Dinge, die ihn langsam von innen heraus aufzehrten und seinen letzten Rest von geistiger Gesundheit angriffen, die seine Seele mit getrocknetem Blut befleckten, während die Zahl der Tötungen von Tag zu Tag anstieg.

King stieß Blade gutgelaunt an. „Also? Wirst du Mitglied in unserem Club? Du bekommst dann auch einen streng geheimen Nightstalker-Decodierring.“

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