Für den berühmten Talkmaster Bently Tittle war es ein guter Tag. Nicht nur, dass die Scheidung von seiner dritten Frau endlich vollzogen war – und das drei Minuten, bevor er auf Sendung ging –, sein Produzent hatte wieder einmal Erfolg mit seiner Suche nach dem albernsten Diskussionsthema von ganz Amerika gehabt.
Bently und sein Produzent arbeiteten inzwischen seit über acht Jahren zusammen, und sie hatten sich schon lange von dem alten Mantra verabschiedet, das Fernsehen solle informativ, lehrreich und unterhaltsam sein. Sie suchten ihre Gäste mittlerweile am unteren Ende der Skala, um mit denkbar geringen Kosten den größtmöglichen Unterhaltungswert herauszuholen.
Heute hatten sie sich beide etwas ganz Besonderes vorgenommen. Bentlys Wette mit dem Ersten Beleuchter würde ihm zu Weihnachten einige Tage mehr in der Sonne einbringen, wenn diese Typen ihm Quote brachten.
Er rieb sich die Hände, während er das breite Fernsehlächeln aufsetzte, das zu seinem Markenzeichen geworden war. Im abgedunkelten Studio ringsum herrschte rege Betriebsamkeit, da sich die Crew für die erste Einstellung bereit machte, die Ausrüstung überprüfte und Monitore einschaltete. Die Dunkelheit vor ihm war erfüllt von einem Durcheinander aus Rufen und dem Scheppern von schwerem Gerät, das in Position gebracht wurde. Unten im Graben brannte ein Stromkabel in einer Fontäne aus blauen Funken durch, als einer der Kameraleute darüberfuhr. Aus dem Hintergrund ertönte ein erstickter Aufschrei, gefolgt von einem dumpfen Knall. Damit befand sich der Studioleiter mindestens in der zweiten Phase seines täglichen Nervenzusammenbruchs.
Bently rümpfte die Nase und warf dem geduckten Kameramann einen leicht verächtlichen Blick zu. Sie alle waren wie eine Horde Ameisen, da sie unentwegt hin und her rannten und so taten, als hätten sie unglaublich viel zu tun und würden sich ihr Gehalt tatsächlich verdienen. Wenn einer von ihnen zusammenbrach und irgendwas von Erschöpfung brabbelte, übernahm ein anderer so schnell seinen Platz, als hätte es seinen Vorgänger nie gegeben. Bently hatte sich längst abgewöhnt, sich auch nur noch einen Namen zu merken. Er und der Produzent waren offenbar die Einzigen, die hier ihren Mann standen.
Er gähnte und fuhr sich mit seiner manikürten Hand durch das perfekt sitzende Haar, dann sah er dorthin, wo die neue Praktikantin hinter dem Mann mit der Steadicam kauerte und ihn mit einer Mischung aus Heldenverehrung und beruflicher Gier ansah. Sie hieß Suzi. Oder Sally? Ach, wen kümmerte das schon?
Er stierte sie noch einen Moment lang an, dann nahm er seine Interviewnotizen vom Tisch und spielte mit der Büroklammer, mit der sie zusammengehalten wurden. Ganz gleich, wie die Kleine hieß, sie war auf jeden Fall ein Wahnsinnsgerät. Er hatte gehört, dass ihrem Vater so viele erstklassige Grundstücke gehörten wie einer gewissen, bestens bekannten Hamburgerkette. Es war eine Beziehung wie aus dem Paradies, auch wenn sie nur von kurzer Dauer sein würde.
Bently strahlte Suzi gütig an, während er überlegte, wie er es anstellen konnte, die Sendung in Rekordzeit zu beenden und die Kleine in seinem Trailer zu haben, noch bevor der Nachspann durch war. Es würde nicht so leicht sein, sie an den Wachleuten vorbeizuschmuggeln, aber was zum Teufel sollte er in diesem Loch anderes tun?
Er seufzte, während vor seinem geistigen Auge Bilder aus einem Privatporno abliefen. Er war so in seinen Tagtraum vertieft, dass er kaum den jungen Mexikaner zu seiner Rechten bemerkte, der ihn bereits anzählte.
Die auf ihn gerichteten Scheinwerfer gingen an. Bently räusperte sich und blinzelte kurz. Er strahlte in die Kamera und versuchte, jene Wärme und Seriosität auszustrahlen, durch die er diesen Job überhaupt erst bekommen hatte. Zehn Jahre zuvor hatte er diese Arbeit mit dem größten Vergnügen übernommen und war durch eine Sendung nach der anderen geschwebt, vorangetrieben von echtem Spaß am Job und dem Bedürfnis, die Welt zu unterhalten und im Rahmen seiner Möglichkeiten zu einem besseren Ort zu machen.
Wenn er heute dagegen nur einfach in die Kamera lächeln sollte, hätte er am liebsten seinen Kopf auf den billigen Plexiglastisch geschlagen und anschließend seine kleine Glock aus der Tasche gezogen, um die gesamte Toncrew im Feuerhagel untergehen zu lassen, während er wie ein Wahnsinniger lachte und um ihn herum das Studio niederbrannte…
Bently schluckte, da seine Kehle mit einem Mal wie ausgedörrt war. Die Wirkung seiner verschreibungspflichtigen Arznei schien nachzulassen. Doch bevor er in seine Tasche greifen und noch eine Tablette nehmen konnte, ertönte über die Lautsprecheranlage des Studios die Titelmelodie.
Er war auf Sendung.
Mit einem breiten Lächeln, das wie aufgeklebt wirkte, griff Bently nach seinen Unterlagen und stieß sie auf eine Weise zusammen, von der er hoffte, dass es überzeugend professionell aussah. „Heute Abend sprechen wir mit Doktor Edgar Vance, dem forensischen Psychiater und Autor des Bestsellers Menschliche Gesundheit: Der ganzheitliche Durchbruch.“
Er ignorierte das erstickte Kichern eines Beleuchters, nahm sich aber vor, den Mann bei der nächstbesten Gelegenheit zu feuern. Dann wandte er sich der zweiten Kamera zu und sprach weiter: „Außerdem zu Gast – Polizeichef Martin Vreede. Beide werden eine ganze Stunde hier sein und Ihre Anrufe beantworten – gleich… bei Bently Tittle Live!“
Er lehnte sich in seinem gepolsterten Ledersessel zurück und sah freundlich den Mann an, der ihm gegenüber Platz genommen hatte. Edgar Vance war Anfang vierzig und sah so gesund aus, wie es nur ein Mann konnte, der ein sechsstelliges Jahreseinkommen hatte und regelmäßig Besuch von einer Frau erhielt, die ihm einen Einlauf machte.
Edgar erwiderte das Lächeln, das es mit Bentlys oraler Wattzahl fast aufnehmen konnte. Er konnte schon im Geiste hören, wie bündelweise Dollarnoten abgezählt und anschließend seinem Konto gutgeschrieben wurden. Er hatte sich nur unter der Voraussetzung zu diesem Auftritt bereit erklärt, dass er allein die Vermarktungsrechte an dieser Episode bekam. Ein sechsköpfiges Team war in diesem Moment bereits damit beschäftigt, die Videocover zu drucken.
Er hoffte, seine Mutter hatte eingeschaltet. Falls nicht, würde er ihr möglichst bald einen Mitschnitt verkaufen.
Bently legte die Fingerspitzen aneinander, als die Musik leiser und durch Beifall aus der Konserve übertönt wurde. „Doktor Vance, Sie sind Psychiater und Biochemiker, richtig?“
„Ja, das stimmt.“ Vance nickte und rutschte ein wenig auf seinem Platz hin und her, um sicherzustellen, dass die Scheinwerfer sein Gesicht gleichmäßig beleuchteten und keine hässlichen Schatten entstanden. „Ich bin seit langem der Ansicht, dass man wahre Gesundheit nur erreicht, wenn man Körper und Geist miteinander aussöhnt.“ Er hielt kurz inne und richtete seinen magnetischen Blick direkt in die Kamera. „Natürlich bedeutet das auch, dass man sich von alten Vorstellungen und vom Aberglauben befreit. Genau das ist es, womit ich mich bei meiner Arbeit beschäftige.“
Bently nickte verstehend, obwohl sein Verstand mit Bildern beschäftigt war, zu denen unter anderem die junge Suzi und ein sehr großes Glas Schokoladencreme gehörten. „Unterhalten wir uns doch mal darüber. Wie erklären Sie sich die Faszination für all die unheimlichen Dinge, die sich in der Dunkelheit abspielen? Ob in Filmen, Büchern oder Videospielen – es sieht ganz so aus, als könnten wir vom bösen schwarzen Mann gar nicht genug bekommen.“
Vance legte die Hände auf die Sessellehnen und beugte sich vor, wobei er geschickt mit der Kamera flirtete. „Monster sind für uns ein Mittel, um unsere düsteren und urtümlicheren Bedürfnisse auf etwas zu übertragen, das sich außerhalb unseres Körpers befindet.“ Als die Kamera ihn näher heranholte, sah er auf und legte seine Thesen näher aus. „Im Fall von Vampiren geht es um Tabuthemen wie Raublust und Sexualität in Verbindung mit Sadismus. Das sind unheimliche Dinge, die sich die Menschen nicht so leicht eingestehen können.“
„Also schieben wir sie einfach auf einen anderen?“
„Genau. Sieht man sich die Geschichte an, dann haben kranke Menschen schon immer als psychologische Sündenböcke herhalten müssen. Im Mittelalter wurde Schizophrenie oft damit erklärt, der Betroffene sei von Dämonen besessen.“
„Und Vampire?“
„Nun, es gibt eine vererbbare Blutkrankheit namens Porphyria, deren Symptome mit den klassischen Vampircharakteristika durchaus übereinstimmen. Wer an dieser Krankheit leidet, ist anämisch, er reagiert extrem empfindlich auf Sonnenlicht, er kann keinen Knoblauch vertragen…“
„Was ziemlich schade ist, denn mein Arzt hat mir gesagt, dass Knoblauch gut fürs Herz ist.“ Gelächter kam auf, dann räusperte sich Bently, bis wieder Ruhe eingekehrt war. Über Edgars offensichtliche Verärgerung ging er einfach weg und wandte sich stattdessen den Videomonitoren zu, die über ihnen montiert waren. Ein rotes Licht blinkte auf, als Chief Martin Vreede auf einem riesigen Plasmafernseher zu sehen war, der über eine Außenleitung zugeschaltet war.
„Chief Vreede, was sagen Sie zu den jüngsten Gerüchten über Blutsauger?“
Vreede lachte amüsiert. Obwohl er einen bemerkenswert kantigen Kiefer hatte, sah der Mann nicht ganz so gut aus wie Vance, weshalb man ihn wohl auch nicht in die Sendung eingeladen hatte. Er war Ende Vierzig und strahlte eine nervöse Energie aus, als sei er nur noch einen doppelten Espresso vom Überschnappen entfernt. Er zuckte mit den Schultern und lächelte schroff. „Die einzigen Blutsauger, die mir Sorgen machen, sind die, die von der Anwaltskammer zugelassen werden.“
Bentlys Blick huschte zur Seite, wo sein Produzent ihm mit hektischen Bewegungen zu verstehen geben wollte, dass er Vreede abwürgen sollte. Er entschied sich, ihn zu ignorieren, und hoffte darauf, dass die Sponsoren nicht ganz so genau hingehört hatten. Das war das Problem mit allen Live-Einspielungen, allerdings fand Bently mit Blick auf seine Karriere, dass Vreede der Sendung genau das gewisse Etwas gab, das sie dringend nötig hatte.
Auf dem Bildschirm lief sich Chief Vreede gerade erst warm. „Aber mal ernsthaft. Wenn es Vampire geben würde, dann müssten wir sie inzwischen doch längst aufgespürt haben, oder nicht?“ Er lächelte einnehmend. „Tatsache ist, dass die Straßen noch nie so sicher wie momentan sind. Morde, Überfälle und Gewalttaten sind deutlich gesunken.“
Er machte eine Pause, um seine kleine Polizeiwerbung für einen Moment bleiben zu lassen, dann fuhr er mit erhobenem Zeigefinger fort: „Wenn die Leute sich über etwas Sorgen machen wollen, dann sollen sie sich auf Kriminelle wie Blade konzentrieren.“
Bently setzte sich auf, dankbar dafür, dass der Mann das Thema gewechselt hatte. „Blade, aha. Und wer ist das? Erzählen Sie mir etwas über ihn.“
Chief Vreede holte tief Luft. „Er ist ein wahnsinniger Killer, den wir…“
„Blade ist ein zutiefst gestörtes Individuum“, fiel Doktor Vance ihm mit sanfter Stimme ins Wort. Ohne auf Vreedes wütenden Blick zu reagieren, fuhr er fort: „Allein der Name, den er für sich gewählt hat, ist Besorgnis erregend. Verschiedenen Berichten zufolge glaubt er, mitten unter uns existiere eine gewaltige Verschwörung von Vampiren.“
Vance versuchte, sich ein Lächeln zu verkneifen, doch es wollte ihm nicht gelingen. Er schlug die Beine übereinander und drehte sich auf seinem Sessel so, dass er direkt in die Kamera blicken konnte. „Man muss sich einmal mit dem psychiatrischen Hintergrund befassen. Was will ein Mann wie Blade wirklich? Vieles spricht dafür, dass er nur irgendein inneres Trauma zu verarbeiten versucht. Er glaubt, er tötet Monster, aber in Wahrheit versucht er, Teile seines Selbst zu töten.“
Bently hob eine Augenbraue. Er fragte sich, ob er wohl jemanden dazu bringen konnte, ihm ein Exemplar des Buchs zu beschaffen, das dieser Kerl geschrieben hatte. Er würde es gut als Brennmaterial nützen können, wenn der Tag gekommen war, an dem er dieses verdammte Studio niederbrannte, vorzugsweise, wenn alle Interviewgäste der letzten drei Jahre hier eingesperrt worden waren.
Mit einem leisen zufriedenen Seufzer ließ er Vance schwadronieren, während Bently sich ein Szenario vorstellte, in dem er, Suzi und ein Haufen kanadischer Schlammcatcherinnen die Hauptrollen spielten.
Ach verdammt, er liebte seinen Job.
Rund 25 Kilometer entfernt saß Agent Ray Cumberland im regionalen Hauptquartier des FBI. Er hatte eben den Fernseher ausgeschaltet und starrte einen Moment lang den dunklen Bildschirm an, um zu verarbeiten, was Dr. Vance gesagt hatte. Dies war eine durchaus interessante Sichtweise des gesamten Mysteriums, das Blade umgab, und er nahm sich vor, einen seiner Leute umgehend mit diesem Doktor Kontakt aufnehmen zu lassen.
Cumberland sah auf eine Notiz, die er sich mit Kugelschreiber auf sein Handgelenk geschrieben hatte und die inzwischen verschmiert war. Hastig schaltete er den Fernseher wieder ein und wechselte den Kanal, bis er den Nachrichtensender gefunden hatte. Er war an diesem Abend fast fünf Stunden länger als üblich im Büro geblieben, um diesen einen Bericht aufnehmen zu können, für den auf dem Prime-time Network massiv Werbung gemacht worden war, nachdem die ersten Polizeiberichte über den Vorfall hereingekommen waren.
Es bedeutete für Cumberland nichts Außergewöhnliches, länger zu arbeiten. Schließlich war es sein Job, allen anderen stets einen Schritt voraus zu sein, und darauf war er stolz. Sogar seine Frau hatte aufgehört, sich über seine Dienstzeiten zu beschweren, und stattdessen begonnen, sich mittels Haftzetteln mit ihm auszutauschen, die sie in seine Brieftasche klebte.
Aber an diesem Abend war er sogar noch geblieben, als das Reinigungspersonal bereits wieder gegangen war. Im Büro herrschte völlige Stille, wenn man vom Knistern einer defekten Leuchtstoffröhre absah.
Er war geblieben, weil etwas wirklich Wichtiges geschehen war.
Cumberland lehnte sich in seinem Bürostuhl vor, als endlich die angekündigte Meldung gesendet wurde. Der Beitrag begann mit der extremen Nahaufnahme einer aufgeregten Frau, und während sie sich in ihre Panik hineinsteigerte, fuhr die Kamera noch näher an sie heran. „Es war schrecklich“, platzte es aus ihr heraus. „Der eine Wagen hatte einen Unfall, dann kam dieser Typ in dem langen Mantel und erschoss ihn einfach…“
Die Kamera schwenkte zu dem ernst dreinblickenden Reporter. „Das war nur ein Bruchteil dessen, was sich bei der Schießerei heute Abend zugetragen hat, bei der mindestens vier Menschen ums Leben gekommen sind. Ein bislang anonymer Bürger hat den Vorfall auf Video mitgeschnitten.“
Cumberland tippte etwas auf seiner Tastatur ein, die gleich neben dem Fernseher stand, dann begann der Computer mit der Aufzeichnung, bei der das Video als eine Reihe von Standbildern aufgenommen wurde. Die wurden allerdings in so kurzen Abständen gespeichert, dass sie beim Abspielen wie eine rasend schnelle Diavorführung wirkten. Die Bilder waren etwas grobkörnig, der Unbekannte hatte aus relativ großer Höhe und Entfernung mit einem für Nachtaufnahmen geeigneten Camcorder gefilmt. Aber Cumberland konnte deutlich erkennen, was sich unten abgespielt hatte. Wachsam betrachtete er die Bilder, während er von einer heftigen Erregung erfasst wurde. Wenn dieser Bericht zutreffend war, dann würde er sich um seine Karriere nie wieder Sorgen machen müssen.
Während die Meldung mitgeschnitten wurde, wandte der Detective seinen Blick vom Bildschirm ab und sah sich in seinem Büro um, das beengt und restlos vollgestellt war und dem es an jeder persönlichen Note fehlte – allerdings auch an jeglichem Bemühen, es sauber zu halten. Zahllose Ausdrucke quollen aus Dutzenden von Kartons, mit denen jede noch so kleine Fläche und jede Ecke vollgepackt worden war. An der Schreibtischkante stapelten sich zehn oder mehr benutzte Kaffeebecher bedenklich nah am Rand. Ihr Platz wurde ihnen von ganzen Stößen Eingangspost streitig gemacht, für die der Postkorb längst viel zu klein geworden war. An den Schränken hingen selbstentworfene Karten, die in leuchtenden Farben seine wöchentlichen Ermittlungsfortschritte aufzeigten. Eine Pinnwand verschwand nahezu vollständig unter Überwachungsfotos und Zeitungsausschnitten über seine Verdächtigen.
Cumberland verspürte ein Gefühl der Hoffnung. Zwar waren die meisten Fotos verschwommen und so undeutlich wie die Schnappschüsse, die das Ungeheuer von Loch Ness zeigten, doch diesmal war er auf eine Goldader gestoßen.
Endlich hatte er etwas Greifbares, mit dem er arbeiten konnte.
Die Nachrichtensendung widmete sich so wie alles, was sich in diesem Büro befand, seinem laufenden Fall, an dem jeder andere Agent im Haus bislang gescheitert war. Es war eine Sache, in den Cumberland inzwischen einige Jahre seines Berufslebens investiert hatte. Auch wenn er es niemals zugeben würde: Der Wunsch, die gefährlichen Kriminellen Blade und Whistler zu fassen, war längst zu einer fixen Idee für ihn geworden. Ihm war bewusst, dass man im Haus deshalb hinter seinem Rücken über ihn lachte, doch das kümmerte ihn nicht.
Umso schöner würde es sein, wenn er die beiden endlich präsentieren konnte.
„Ray! Ich höre, es gibt eine Spur!“
Cumberland rieb sich die Augen, als Wilson Haie aufgeregt ins Büro gestürmt kam. Der junge Haie war vor nicht mal drei Monaten dem Fall zugeteilt worden, aber er ging Cumberland schon jetzt auf die Nerven.
Er sah zu, wie Haie die Pinnwand absuchte und dann ein unscharfes Bild von Whistler herunterriss, das von einer Überwachungskamera auf der Straße aufgenommen worden war. Dabei lösten sich eine Reihe wichtiger Ausdrucke, die herabfielen und in einer Tasse mit abgestandenem, kaltem Kaffee landeten, die am Rand des Schreibtischs vergessen worden war.
Cumberland schloss kurz die Augen, sprach stumm einen Wunsch aus und sah wieder auf. Zu seiner Enttäuschung stand Haie noch immer vor ihm. Wäre er ein Hund gewesen, hätte er jetzt sicher mit dem Schwanz gewedelt.
Während er seinen Computer herunterfuhr, ergab sich Cumberland in sein Schicksal. „Reservier uns ein Taxi, Haie. Es wird Zeit, diesen Cowboys das Handwerk zu legen.“
Ein kalter Wind pfiff über das Wasser, als Blade seinen mitgenommenen Charger neben einem verfallenen Bootshaus unten am Fluss anhielt. Es war mitten in der Nacht, und am Himmel stand ein bleicher Vollmond, der die Landschaft in ein geisterhaftes Licht tauchte. Im Gebüsch zirpte eine Grille, während Blade den Motor abstellte, ausstieg und leise die Tür zudrückte.
Einen Moment blieb er am grasbewachsenen Ufer stehen und nahm die Stille der Nacht in sich auf. Die Nachtluft war erfüllt von den Geräuschen der Natur, die sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerte, die noch so winzig erscheinen mochten, aber für das Gesamte von großer Bedeutung waren. Der Wind peitschte das Wasser so, dass es schaumgekrönte Wellen schlug. Abfall aller Art wurde gegen das Schilf gespült, wo er sich nach und nach ansammelte.
Blade legte eine Hand auf die warme Motorhaube des Charger und atmete tief durch. Er sog den schwachen, aber stechenden Geruch des Salzwassers ein, der vom Meer herübergeweht wurde. Der Wind fuhr durch sein kurzgeschnittenes Haar, und er schloss einen Moment lang die Augen, um sich für das zu wappnen, was ihn erwartete.
Dann drehte er sich um und sah zum Bootshaus.
Das Gebäude lag in völliger Dunkelheit da, doch Blades extrem scharfe Sinne nahmen den Geruch eines Zigarettenstummels wahr, der im Gras lag und dessen fast erloschene Glut auf ihn wie ein winziges Leuchtfeuer in der Nacht wirkte. Als er genauer hinsah, entdeckte er mehrere gelbliche Lichtpunkte, die sich ihren Weg durch die vernagelte Tür bahnten.
Blade nahm sich vor, Whistler zu sagen, er solle morgen aus dem Baumarkt Teerfarbe holen, um diese Lücken zu schließen. Es musste nicht sein, dass ihre Tarnung aufflog, nur weil ein neugieriger Spaziergänger – oder schlimmer noch: ein Polizist – das entdeckte, was ihm aufgefallen war.
Allerdings war Whistler nach Blades kleinem Schauspiel am Abend wohl nicht in der Laune, ihm zuzuhören…
Blade warf einen gequälten Blick zu den verdunkelten Fenstern, dann zog er seine Lederjacke etwas enger um sich und ging langsam den morastigen Weg entlang, der zum Hintereingang führte.
Das vollgestellte Bootshaus wurde im Innern von leistungsstarken UV-Strahlern ausgeleuchtet. Ihre Helligkeit bildete einen krassen Gegensatz zur Dunkelheit und Abgeschiedenheit draußen. Blade zog seine Jacke aus und hängte sie an die behelfsmäßige Garderobe gleich neben dem Eingang.
Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und suchte nach Lebenszeichen. Es war kalt und es roch intensiv nach 01. Ringsum an den Wänden standen Maschinen, die an industrielle Anlagen erinnerten. Zwischen ihnen hingen Halterungen – mal für High-Tech-Geräte, mal für altmodische Waffen – an der Wand. Über der Tür war eine Dartscheibe angebracht und auf dem Boden war eine Mischung aus billigen Holzresten und Spanplatten verlegt worden. Gemahlener Schotter füllte die Lücken dazwischen. Auf einer Werkbank stand ein Ghettoblaster, der aus den achtziger Jahren zu stammen schien, inmitten von einem Haufen zerkratzter CDs.
Hier herrschte das Chaos, doch für Blade war dies das Einzige, was er auch nur annähernd als sein Zuhause bezeichnen konnte.
Während er sich verstohlen umsah, ging er hinüber zu einer Werkbank und begann, seine Kevlarschutzkleidung auszuziehen. Das Labor schien verlassen, und Blade hoffte darauf, dass Whistler sich zu einem seiner nächtlichen Spaziergänge zum nächsten 7-Eleven entschlossen hatte. Er würde wirklich gern erst einmal einen starken Kaffee trinken und sich eine Weile ausruhen, ehe er…
„Was zum Teufel ist da heute Abend passiert?“
Blade zuckte innerlich zusammen, während er sich weiter Stück für Stück seiner kugelsicheren Kleidung entledigte und dabei stur geradeaus sah. Er wählte seine Worte sehr sorgfältig, während er sich bemühte, gelassen zu klingen. „Woher sollte ich wissen, dass er ein Mensch war?“
Whistler kam durch die Tür hinter Blade und warf seinem jungen Schützling einen finsteren Blick zu. Die Falten in seinem gegerbten Gesicht wurden einen Augenblick lang tiefer, während er die Lippen schürzte und Blade beobachtete, als der die Gurte löste, mit denen seine Körperpanzerung festgehalten wurde. Glasscherben der Windschutzscheibe fielen klirrend zu Boden.
Blade spürte Whistlers stechenden Blick, begann aber scheinbar gleichgültig, seinen Patronengurt mit neuen Silberpflöcken zu bestücken. Er vertiefte sich bewusst in seine Arbeit, da er hoffte, dass Whistler das Thema wechseln würde. Auf einen Streit konnte er jetzt nur zu gut verzichten. Blade fiel auf, dass Whistler noch kein Wort über den Zustand des Charger hatte fallen lassen. Er spürte, wie ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief. Der alte Mann musste verdammt sauer sein, und er war der einzige Mensch auf der Welt, der Blade spüren lassen konnte, was es hieß, ihn wütend zu machen.
Die Atmosphäre im Raum war aufs Äußerste gespannt.
Whistler kochte vor Wut. Für wen hielt sich Blade? Er tat so, als sei nichts weiter geschehen, als habe er keine andere Wahl gehabt und habe in aller Öffentlichkeit eine Vampirhinrichtung vornehmen müssen.
Arroganter Hurensohn.
Whistlers lange graue Haare flatterten um seinen Kopf, als er in seinen schweren Motorradstiefeln quer durch den Raum stapfte und dabei wütend den Reißverschluss seiner Bomberjacke aufzog. Der drahtige, muskulöse Körper, der darunter zum Vorschein kam, war die Folge von zwanzig langen Jahren Vampirjagd, die ihn auf Kosten so vieler anderer Dinge in Form gehalten hatte.
Er holte die abgesägte Schrotflinte heraus und warf sie auf die Werkbank, wobei er mit einer gewissen Genugtuung zur Kenntnis nahm, dass Blade bei dem Knall zusammenzuckte. Dann wandte er ihm den Rücken zu und löste die Metallklammer, die sein rechtes Bein umschloss. Das verdammte Ding schien mit jedem Tag schwerer zu werden.
Nachdem er einen kräftigen Schluck Malt Whisky getrunken hatte und das Gesicht verzog, als sich die bernsteinfarbene Flüssigkeit brennend in seinem Magen verteilte, hielt er die Flasche ins Licht und betrachtete das Etikett. Ein guter Jahrgang. Er wünschte, er hätte noch mehr davon.
„Du wirst unachtsam, Blade“, sagte er schroff. „Du tötest einen Vampir? Fein. Er zerfallt zu Asche und hinterlässt keine Beweise.“ Mit einer Hand fuhr er über seine grauen Bartstoppeln am Kinn. „Aber das hier – ein menschlicher Leichnam… eine hässliche Sache.“
Ein metallisches Scheppern war zu hören, als Blade den Waffengurt abnahm und auf die Werkbank fallen ließ. Er griff nach einer Kiste mit Magazinen und machte sich daran, in aller Ruhe eine seiner Mach-Pistolen nachzuladen.
Whistler sah ihn einen Moment lang an, dann schüttelte er verärgert den Kopf. Wenn er nicht zu ihm durchdrang, dann gelang das auch niemandem sonst. Das Problem war nur, Blade spielte dieses Spiel schon so lange, dass er sich für unbesiegbar hielt.
Whistler hätte ihm zwar etwas darüber erzählen können, was für gewöhnlich auf Hochmut folgt, aber wie sollte man das einem Kerl erklären, der einen Mannschaftswagen der Polizei mit seinen Schenkeln zusammendrücken konnte?
Er schüttelte abermals den Kopf. „Hoff lieber, dass dich niemand identifizieren konnte.“
Blade zuckte gelassen mit den Schultern, erwiderte aber nichts.
Seufzend holte Whistler aus seinem Leinenrucksack eine neue technische Spielerei und gab sie Blade ohne ein weiteres Wort. Der griff automatisch danach und drehte das Teil in der Hand hin und her. „Was ist das?“
„Eine neue Methode, dir dein Serum zu verabreichen. Es ist ein Schauminhalator. Wirkt schneller und sollte nicht so schmerzhaft sein.“
Blade betrachtet das Gerät überrascht. Das Serum war sein Lebensretter, ein komplexer Cocktail aus Allicin und verschiedenen retroviralen Verbindungen, die seinen „Zustand“ unter Kontrolle hielten. Seit Jahren versuchte Whistler, die exakt richtige Formel zu finden, aber selbst er musste zugeben, dass er noch immer nicht die perfekte Mischung gefunden hatte. Ein Problem dabei war, dass Blades Körper nach und nach resistenter dagegen wurde. Als er mit dem Serum begann, waren nur ein paar Milligramm erforderlich, um Wirkung zu zeigen. Jetzt, fast zwanzig Jahre später, war er bei über fünfzig Milligramm angelangt, eine fast schon tödliche Dosis. Das Verabreichen – eine Injektion per Druckluft in den Hals, allerdings mit einem Gerät, das für ein Pferd angemessen wäre – war dabei höchst unangenehm.
„Beiß einfach auf das Mundstück, dann bekommst du deine Dosis automatisch.“
Blade sah zu Whistler, eine Frage auf den Lippen, die er nicht aussprach.
„Freunde von mir haben das gebastelt“, sagte Whistler, ohne zu ihm aufzusehen.
„Freunde?“
„Ja, Freunde.“ Einen Moment lang schwieg Whistler. „Weißt du noch, was Freunde sind?“