18

Blade ließ ein Meer aus vernichteten Leibern zurück, während er die stählerne Wendeltreppe hinauflief, die zum Obergeschoss des großzügig angelegten Atriums führte.

Dort oben stand Drake als große, finstere Gestalt.

Während Blade zu ihm sah, zog dieser schwungvoll ein großes Schwert aus poliertem Eisen. Lässig wirbelte er es in der Luft herum, damit es das Licht reflektierte. Dann senkte er die Waffe, bis ihre Spitze den Boden berührte.

Er hatte ihn herausgefordert.

„Bist du bereit zu sterben, Blade?“, rief Drake ihm zu. Seine Stimme war tief und zischend, so wie das Knurren eines Panthers, und doch schien sie den ganzen Raum zu erfüllen, hallte von den Wänden zurück und ließ in der Luft sonderbare Schwingungen entstehen.

Blade erreichte den Kopf der Treppe und stand nun vor Drake. Er verspürte das eigenartige Gefühl, sich in einer schicksalhaften Situation zu befinden. Er hatte Tausende von Vampiren getötet, doch das hier war etwas völlig anderes. Vor ihm stand Dracula, der Vampir schlechthin. Alle existierenden Vampire verdankten ihm ihr schmutziges untotes Leben, dessen heimliche Regentschaft eine blutige Spur durch die Geschichte zog und alles Leben vernichtete.

Blade musste bei diesem Gedanken leise knurren. Drake trug die Schuld daran, dass er als Monster zur Welt gekommen war, dass er hasste, was er war, und dass er dennoch nicht in der Lage war, etwas dagegen zu unternehmen. Es war Drakes Schuld, dass er sein Leben lang Vampire bekämpfte, auf sie einschlug, bis seine Finger blutig waren und dabei immer eines wusste: Er konnte heute so viele Vampire umbringen, wie er wollte, morgen würde ihre Zahl dennoch um hundert größer sein. Und Drake war Schuld, dass seine Mutter tot war. Und Whistler. Und Sommerfield, Dex, Hedges und so viele andere.

Und er war immer völlig machtlos gewesen, daran etwas zu ändern.

Bis jetzt.

Blade warf Drake einen finsteren Blick zu. „Das war ich schon seit dem Tag meiner Geburt, Motherfucker.“

„Dann lass mich dir dabei behilflich sein“, gab Drake lächelnd zurück.

Ohne zu zögern machte Drake einen Satz in die Luft und beschrieb eine Rolle rückwärts, dann landete er zwölf Meter tiefer, als sei ein solcher Sprung völlig normal. Erwartungsvoll sah er zu Blade.

Der wappnete sich für das, was kommen würde, sprang über das Geländer und folgte Drake, während er mitten im Flug sein blitzendes Schwert zog. Er landete in perfekter Kampfhaltung genau vor Drake, richtete sich auf und hob sein Schwert. Die beiden Krieger standen da, die Schwerter bereit, den Blick unverwandt auf die Augen des anderen gerichtet. Die erstarrte Haltung war die klassische Pose der Samurai.

Die Botschaft war unmissverständlich.

Wer sich zuerst bewegte, hatte schon verloren.

Drake schärfte seine übernatürlichen Sinne bis zum Äußersten und betrachtete Blade genau, um die Kraft des Daywalkers einzuschätzen. Er konnte die schwachen Geräusche wahrnehmen, die der Fußboden von sich gab, der nach Blades Landung wieder in seine ursprüngliche Struktur zurückkehrte. Ebenso nahm er das Knacken von Blades Schenkelknochen auf zellularer Ebene wahr, die beim Aufsetzen um Bruchteile von Millimetern gestaucht worden waren. Obwohl er sich gegen eine ganze Legion von Danicas Handlangern zur Wehr hatte setzen müssen, ging Blades Atem völlig gleichmäßig, sein Blick war klar. Drake roch das Blut von dreißig verschiedenen Vampiren, das sich mit dem Schweiß auf Blades athletischem Körper vermischte. Er roch keine Angst, nur Adrenalin und mühsam beherrschte Wut.

In Blades Bein zuckte ein Muskel, als sich eine überbeanspruchte Sehne meldete. Drake sah, dass die Aufmerksamkeit des Daywalkers für einen Sekundenbruchteil nachließ.

Er griff an.

Blade spürte, dass sich Drakes Schwert bewegte, noch bevor seine Augen die Bewegung registrieren konnten. Er wehrte den unglaublichen schnell ausgeführten Hieb mit einem kraftvollen Schlag nach oben ab, der die Muskeln in seinem Arm fast bersten ließ. Die beiden Klingen trafen in einem gleißenden Funkenregen aufeinander.

Der Kampf war eröffnet.

Blade stöhnte vor Anstrengung leise auf, als er sein Schwert von Drakes Waffe zurückzog und Metall über Metall kreischte. Durch sein Handgelenk und den Ellbogen fuhr ein Stich, der die Folge des urgewaltigen Schlags war. Er holte mit seiner Klinge aus und ging auf Drake zu, in seinen Augen ein erwartungsvolles Funkeln.

Sein Leben lang hatte er auf diesen Augenblick gewartet.

Er wehrte Drakes zweiten tödlichen Hieb ab, dann den dritten, den vierten, wobei er sein Schwert schneller und schneller bewegte, bis das Aufeinanderprallen der Klingen sich so anhörte, als würde ein Schmied ein Stück glühendes Metall unablässig mit dem Hammer bearbeiten. Blades Körper wurde zu einer verschwommenen Kontur, als er in rasender Abfolge nach dem König der Vampire ausholte, schlug und stach und ihn so zurücktrieb. Drake war schnell, doch Blade hatte schon früher gegen schnelle Widersacher gekämpft. Sein Verstand lief auf Hochtouren, als er Drakes übermenschlich schnelle Hiebe abwehrte. Er genoss die Kraft seiner Muskeln und die stählerne Macht seiner Gliedmaßen, die seinen Körper so exakt wie hydraulische Kolben vorantrieben. Jede Faser von Blades Sein war darauf ausgerichtet, Drake zurückzuschlagen. Zusätzlichen Antrieb erhielt seine Attacke durch Hass, der sich ein Leben lang angestaut hatte. Eine elektrische Adrenalinwoge feuerte ihn an, wieder und wieder anzugreifen und es Drake nicht zu gestatten, dass er auch nur einen Moment lang Ruhe bekam.

Drake wirbelte herum und knurrte Blade an, dann holte er mit seinem Schwert von unten aus. Der Hieb hätte das Herz des Daywalkers durchbohren sollen, doch Blade hatte den Angriff bereits erwartet, bevor er überhaupt begonnen hatte. Er blockte ihn mit einem diagonalen Hieb ab, der so schnell kam, dass er Drake fast das Schwert aus der Hand geschlagen hätte. Der musste sich ducken, um nicht enthauptet zu werden, während Blade den Hieb mit einem lauten Schrei durchzog, dabei aber die supragehärtete Klinge tief in einen Stahlträger hinter sich bohrte.

Schwitzend zerrte Blade an seinem Schwert, doch es steckte fest.

Verdammt!

Hinter ihm richtete Drake sich grollend auf. Innerhalb von Sekunden hatte er sich von Blades Attacke erholt und ließ sein Schwert unmenschlich schnell herabsausen, um die Hände des Daywalkers abzuschlagen.

Im allerletzten Augenblick gelang es Blade, die Klinge aus der Säule zu ziehen und in einem hohen Bogen hochzureißen, um Drakes Hieb zu blockieren. Sie pressten die Schwerter gegeneinander, und einen Herzschlag lang waren ihre Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt.

Blades Körper pulsierte vor Anspannung, während er sich bemühte, sich Drake vom Leib zu halten. Seine Arme zitterten, und er spürte die wahnsinnige Kraft, die hinter dem Schwert des Meistervampirs steckte. Ein Blick in die reptilartigen Augen ließ ihn die Verachtung erkennen, mit der Drake ihn betrachtete – als sei Blade ein Insekt, das zerquetscht werden müsse.

Dann verstand Blade, was dieser Blick zu bedeuten hatte.

Dieser Mistkerl glaubte, er würde gewinnen.

Blade fühlte, wie der Zorn in ihm aufwallte. Er bleckte die messerscharfen Zähne, die im Kunstlicht aufblitzten, und knurrte Drake wie ein Tier an. Dann riss er wie wild sein Schwert los, indem er es nach oben zog und dabei Drake einen Schnitt auf der Wange zufügte.

Die Wunde war unbedeutend, doch sie schmerzte Drake aus einem anderen Grund. Er stieß einen Wutschrei aus und brachte sich mit einem großen Satz außer Reichweite seines Gegners, indem er auf einem hohen Mauervorsprung landete, von dem aus er das Atrium überblicken konnte. Er balancierte auf der Kante und wirkte dabei wie ein übergroßer Wasserspeier, während er die Schnittwunde berührte und mit trauriger Miene das vergossene Blut beklagte.

Er hob den Kopf und sah zu Blade, das Gesicht zu einer hasserfüllten Maske erstarrt. Er fühlte, wie sich seine Miene veränderte, als der Knorpel unter seiner Haut in Bewegung geriet und auf Stirn und Wangenknochen Wülste bildete, während sich über die ganze Länge seines Rückgrats nadelspitze Dornen aus dem Fleisch bohrten.

Einen Moment lang sah Blade Drakes wahres, Furcht erregendes Erscheinungsbild.

Mit Mühe bekam Drake sich wieder unter Kontrolle, die Dornen zogen sich mit einem Schnapplaut wieder ein und die Haut schloss sich wie fließendes Wasser über ihnen.

Mit einem kehligen Laut machte Drake einen Satz und sprang den Daywalker mit ausgestreckten Krallen an, um nach seinem Gesicht zu schlagen und Vergeltung für die zugefügte Verletzung zu üben. Ehe Blade sein Schwert heben konnte, hatte Drake ausgeholt und um ihm einen Haken verpasst, der ihn quer durch das Atrium schleuderte. Während Blade versuchte, sich wieder aufzurappeln, durchquerte Drake den Raum mit einem einzigen Sprung und packte ihn an der Kehle, um Blades Luftröhre zuzudrücken.

Der Daywalker versuchte, sich aus dem Griff zu befreien. Gleichzeitig wuchsen Drakes Reißzähne länger und länger und schoben sich mit einem Flüsterlaut aus seinem Schädel, als würde eine Rasierklinge über Fleisch kratzen. Er zog Blade mit einem Ruck hoch, dann vergrub er seine Zähne in dessen Schulter und durchbiss Sehnen und Knochen. Blade schrie auf.

Blades Schrei schallte durch die Flure der Phoenix Towers. Ein Stück weit entfernt gab King noch einmal Gas, während er sich zugleich an dem Geräusch orientierte. Er hastete durch kaum beleuchtete Korridore und suchte verzweifelt nach einer offenen Tür oder einem Notausgang, um den Höllenhunden zu entkommen, die ihm auf den Fersen waren.

Aber er fand keine Tür.

Er riskierte einen Blick über die Schulter und sah, dass die freakige Meute allmählich aufholte und dabei keinerlei Anzeichen für Ermüdung erkennen ließ.

King fluchte und trieb sich weiter an, während er den brennenden Schmerz in seinen Beinen ignorierte, da die Anstrengung für seine geschundenen Muskeln längst zu groß war. Er musste irgendwo in der Nähe des Atriums sein, er war sicher, dass es sich auf diesem Stockwerk befand. Wenn er es bis zu Blade oder Abigail schaffte, würden sie die Hunde lange genug ablenken können, damit er Zeit hatte, seine Waffe zu ziehen und die Köter in die Hölle zu schicken, wo sie auch hingehörten.

Er rannte um die Ecke in den nächsten Flur und…

Sackgasse!

Sein Verstand überschlug sich, während er den kurzen Korridor betrachtete. Gut anderthalb Meter vor ihm befanden sich zwei Fenster, hinter denen es vermutlich in die Tiefe ging. Die Wände zu beiden Seiten waren völlig glatt. Keine Tür, keine Luke, nichts.

Er saß in der Falle.

Das Getrappel der Pfoten auf dem glatten Boden war zu hören, als sich die Vampirhunde seiner Position näherten, um ihn zu töten. Sie bellten sich gegenseitig an, einer schnappte nach dem anderen, da jedes der Tiere King zuerst erreichen wollte.

King sah sich weiter hektisch um und entdeckte ein Rohr, das dicht unter der Decke verlief. Er machte einen Satz nach oben, bekam das Rohr nur mit Mühe zu fassen, dann zog er sich mit aller Kraft hinauf.

Die Vampirhunde preschten um die Ecke, viel zu schnell, um noch anhalten zu können. Im nächsten Augenblick durchbrachen sie die Fensterscheiben und stürzten jaulend in die Tiefe. Der Spitz kläffte unablässig, während das Trio zwanzig Stockwerke tiefer auf die belebte Kreuzung vor dem Gebäude fiel und vom Verkehr verschluckt wurde.

King ließ sich wieder zu Boden fallen und lachte gehässig. O Mann, was war er gut! Jackie Chan hätte das nicht besser hingekriegt.

Er klopfte sich triumphierend den Staub von den Händen und drehte sich um.

Oh, Scheiße!

Im gleichen Augenblick wurde King mit voller Wucht von einem hundert Pfund schweren Rottweiler-Mutanten getroffen. Er wurde nach hinten geworfen und prallte gegen die Fensterbank, die mit Glassplittern übersät war und an der King sich den Kopf aufschlug, ehe er auf dem Boden zusammensank. Seine Pistole glitt aus dem Halfter und rutschte auf den Fliesen von ihm weg.

Keuchend hob er den Kopf und sah, dass der Rottweiler mit gefletschten Zähnen auf ihn zukam. Er spürte, wie der üble Atem des Hundes heiß über sein Gesicht strich. Er hätte schwören können, dass alle drei Hunde in die Tiefe gestürzt waren, aber offenbar hatte sich einer von ihnen doch dem Schicksal seiner Artgenossen entziehen können.

Die Zeit schien stillzustehen, als beide sich anstarrten.

Als King seinen Blick ein wenig zur Seite schweifen ließ, um nach seiner Waffe zu suchen, war der Bann gebrochen.

Der Hund machte einen Satz auf ihn zu. Das Ganze wirkte noch bedrohlicher, da er dabei keinen Laut von sich gab. King warf die Arme schützend vor sein Gesicht, als der Vampirhund ihn wie eine Wand aus feuchten, haarigen Ziegelsteinen traf und ihn gegen die Wand drückte. Er schrie sich förmlich die Lunge aus dem Leib, als er sah, wie die Kreatur ihr Maul aufriss. Er bekam den Hund am Hals zu fassen und vergrub seine Finger tief im dichten Fell, um das Tier zurückzuhalten, damit es ihm nicht das Gesicht vom Schädel biss. Mit der anderen Hand tastete er blindlings nach seiner Pistole herum.

Der Rottweiler schüttelte und wand sich, sein schnappendes Maul kam Kings Kehle immer näher. King brüllte, ließ den Hund los und rammte ihm blitzschnell den Ellbogen gegen den ungeschützten Hals.

Die Kreatur jaulte vor Schmerz und wich ein Stück zurück, was King genug Zeit brachte, um die Knie dicht an die Brust zu ziehen. Als der Hund ihn dann ein zweites Mal ansprang, rammte er ihm seine Stiefel in den Bauch und stemmte sich rechts und links an der Hüfte des Tieres ab. Mit aller Kraft drückte er seine Beine nach oben und hob die schwere Kreatur langsam in die Höhe.

Der Vampirhund wehrte sich mit unglaublicher Kraft, attackierte unablässig und kratzte mit den schwarzen Krallen wie wild auf dem Boden, um wieder Fuß zu fassen. Die Kreatur bellte jetzt in einem fort und mit ohrenbetäubender Lautstärke. King sah, wie sich das metallische Braun der Augen mit Blut füllte, während der Hund die Schnauze aufriss, um ihn zu verschlingen.

Jetzt oder nie.

Mit einem gellenden Aufschrei drückte King den Hund von sich fort und packte seine Pistole. Seine Finger schlossen sich um den Griff, während er sich auf Rücken rollte. Der Hund landete wieder auf ihm, doch diesmal drückte er ihm die Pistole ins Fell.

Er betätigte den Abzug, und im nächsten Moment verwandelte eine Explosion den Hund in einen Ascheregen.

Während sich der Staub legte, öffnete King die Augen und spuckte ein Büschel verbrannter Hundehaare aus. Kopfschüttelnd setzte er sich auf.

„Böser Hund.“

Einige Etagen tiefer schlich sich Abigail auf die obere Ebene des Atriums. Zoe klammerte sich so sehr an ihrer Hand fest, dass die Knöchel weiß hervortraten, während sie lauschten, welche Geräusche von unten kamen.

Abigail sah sich um und suchte nach einem sicheren Versteck für das Mädchen. Sie entschied sich für eine tief in die Wand eingelassene Nische und bedeutete Zoe, sich dort zu verstecken. Die Kleine zog sich in den Schatten zurück. Abigail beugte sich zu ihr vor, strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht und lächelte sie aufmunternd an. Dann zog sie vorsichtshalber aus ihrem Gürtel einen Silberpflock und drückte ihn Zoe in die Hand.

Sie eilte zum Geländer der oberen Ebene. Die Ruhe, die sie eben noch dem Kind gegenüber ausgestrahlt hatte, war verschwunden.

Unten kämpften Blade und Drake wie zwei lebendige Tornados, zerschlugen das Mobiliar und rissen Löcher in die Wände. Abigail sah, dass sich Drake in Blades Schulter verbissen hatte. Die beiden attackierten sich wie zwei Kampfhunde, von denen der eine verzweifelt versuchte, von dem anderen freizukommen. Das Gesicht des Daywalkers war von Schmerz gezeichnet. Blut lief in breiten Strömen von seiner Schulter herab.

Abigail stockte der Atem. Jetzt hatte sie ihre Chance. Drake war damit beschäftigt, mit Blade zu kämpfen. Er hatte noch nicht bemerkt, dass sie sich mit ihnen im Raum befand. Vermutlich würde sie eine so gute Gelegenheit nicht wieder bekommen.

Sie bewegte sich hin und her, um einen guten Abschusspunkt zu finden, gleichzeitig zog sie den Pfeil mit der Ampulle aus der Kühlkapsel und legte ihn mit zitternden Fingern an. Gegen die kalte Steinsäule gedrückt, versuchte sie, ihr Ziel zu erfassen. Sie richtete das Visier auf Drakes Schulter aus und zog die Sehne zurück, während sie den Atem anhielt.

Der Augenblick war gekommen.

Doch in dem Moment wirbelte Blade herum, presste seinen Arm um Drakes Schultern und nahm ihr damit die Sicht. Verärgert verlagerte Abigail ihre Position und versuchte es noch mal, zielte nun aber auf Drakes ungeschützten Oberschenkel.

Doch wieder kam ihr Blade in den Weg.

So ging es einfach nicht. Die beiden Titanen bewegten sich viel zu schnell, als dass Abigail sicher ihr Ziel hätte treffen können. Sie hatte keine freie Schussbahn, und sie konnte es auch nicht riskieren, Blade zu treffen.

Sie musste irgendeinen anderen Weg finden, und zwar schnell, da Blade anscheinend nicht mehr lange durchhielt.

Blade hatte überhaupt nicht bemerkt, dass Abigail in der Nähe war. Er kämpfte unverdrossen mit Drake, doch es wollte ihm nicht gelingen, seine Schulter aus den Fängen des Vampirs zu befreien. Drake knurrte, Blut sprudelte zwischen den Lippen hervor, während er seine langen Reißzähne tiefer in Blades Fleisch bohrte und sich in die Sehnen seiner Schulter verbiss. Je mehr Blade versuchte, sich von ihm zu befreien, desto fester biss Drake zu.

Keuchend griff Blade nach seinem Waffengurt und schaffte es, einen Pflock herauszuziehen. Er zog seine Schulter zurück und rammte den Pflock mit aller Kraft in Drakes ungeschützten Gehörgang. Der Vampir stieß einen gellenden Schrei aus und ließ Blade los, der sich zur Seite rollte und eine Hand auf seine Schulter presste, um die Blutung zu stoppen. Verzweifelt sah er sich im Zimmer um. Würde er doch nur an sein Schwert herankommen können…

Drake zog jaulend den Pflock aus seinem Kopf und schleuderte ihn wutentbrannt gegen die Wand. Sofort stürmte er wieder auf Blade zu und hob die Fäuste, um mit den Panzerhandschuhen den Kopf seines Widersachers zu zerschmettern.

Irgendwie gelang es Blade, sich zu ducken, so dass Drake nur einen Teil der Wand einriss und dabei ein Heizungsrohr beschädigte. Eine dichte Wolke kochenden Wasserdampfes trat mit hohem Druck zischend aus der Wand aus. Mit einem kehligen Wutgebrüll griff Drake in das Loch in der Wand und zerrte mühelos ein Rohrstück von gut zweieinhalb Metern Länge heraus.

Ehe Blade Zeit fand, sich aus dem Weg zu rollen, nahm Drake bereits mit seinem provisorischen Knüppel Maß und traf den Brustkorb des Daywalkers mit voller Wucht. Drake holte aus und attackierte erneut. Blade konnte sich nur mit knapper Not retten, weil Drake ihn verfehlte und stattdessen ein Loch in den Boden schlug. Wie ein Berserker versuchte der Vampir wieder, Blade zu treffen, aber der wich ein ums andere Mal aus, so dass nach und nach auch die restliche noch intakte Einrichtung vernichtet wurde.

Abigail rannte auf der Galerie hin und her, immer auf der Suche nach einer Möglichkeit, wie sie sicher den Pfeil abfeuern konnte. Der Raum war erfüllt vom Lärm der Zerstörung, die Drake anrichtete, indem er immer wieder nach Blade schlug, dabei aber nur Glas und Stahl zertrümmerte. Das Atrium war längst nur noch ein Trümmerfeld, das völlig von der Asche der abgeschlachteten Vampire überzogen war.

Selbst Abigail erkannte, dass der Daywalker allmählich mit seinen Kräften am Ende war. Sie sah, dass seine Versuche, Drake auszuweichen, durch Blutverlust und Erschöpfung immer schwerfälliger wurden. Gegen das schwere Metallrohr war sein Schwert nutzlos, dennoch machte er weiter und wich Drake hartnäckig aus, der immer wütender wurde. Als er Blade zum zehnten Mal in Folge verpasste, stieß er einen zornigen Schrei aus und fegte aus Frust eine kostbare Marmorstatue von ihrem Podest.

Abigail wusste, dass sie sich beeilen musste. Ein Treffer mit dem Rohr genügte, um Blades Schädel wie eine Eierschale zu zerquetschen.

In einem Anflug von Panik sah Abigail nach oben und bemerkte über sich eine Konstruktion aus Dachbalken, die sich über die gesamte Breite der Atriumdecke erstreckte und an der eine Reihe von Lampen befestigt war. Ihr kam eine Idee. Sie steckte den Pfeil mit der Ampulle zurück in den Köcher und befestigte den Bogen auf dem Rücken. Dann stellte sie sich auf das Geländer, balancierte einen Moment lang höchst bedenklich und überschlug mit geübtem Blick die Distanz.

Dann sprang sie los.

Einen Moment lang war ihr schwindlig, als sie über der Leere schwebte, doch dann bekam sie mit den Fingerspitzen eine der Stellen zu fassen, an denen sich zwei Balken kreuzten. Wie ein Pendel schaukelte sie hin und her, bis sie genug Schwung hatte, um zum nächsten Kreuzungspunkt zu springen. Mit jedem zurückgelegten Meter wurde sie selbstsicherer, bis sie sich so natürlich wie ein Affe zur Mitte des Raums hangeln konnte. Sie gab sich alle Mühe, nicht daran zu denken, dass sich der Boden mindestens zehn Meter unter ihr befand. Stattdessen konzentrierte sie sich auf den gleichmäßigen Rhythmus ihrer Vorwärtsbewegung.

Es war gar nicht so schwer, sondern erinnerte sie daran, wie sie sich als Kind auf dem Spielplatz von Stange zu Stange gehangelt hatte.

Auf einmal gab es einen Knall, und am Geländer vor ihr flogen Funken. Abigail erschrak so, dass sie fast danebengegriffen hätte. Einen Moment lang schaukelte sie auf der Stelle, sah nach unten und entdeckte zwei Vampirwachen, die mit ihren Pistolen auf sie feuerten. Sie versuchten, sie abstürzen zu lassen.

Sie drehte sich mitten in der Luft, hatte aber keine Chance, den Kugeln auszuweichen, die auf sie abgefeuert wurden.

Sie war völlig ungeschützt. Das andere Ende der Balkenkonstruktion war noch gut zwanzig Meter entfernt. Bis dorthin würde sie es niemals schaffen.

Abigail holte tief Luft, bereit für den nächsten Sprung. Die Blutsauger würden ihr schon eine Kugel in jeden Teil ihres Körpers jagen müssen, wenn sie sie zum Aufgeben zwingen wollten. Es hing einfach zu viel von ihr ab, sie konnte nicht aufgeben, nur um ihr Leben zu retten.

So plötzlich das Feuer auf sie eröffnet worden war, so abrupt stoppte es auch wieder. Sie wagte einen weiteren Blick nach unten und sah, dass die beiden Vampire soeben in einer Explosion aus blauem Licht vergingen. Sie schaute zur Tür und entdeckte… „King!“ Noch nie war sie so froh gewesen, jemanden wiederzusehen. Der Vampirjäger stand oben auf der Empore des Atriums und gab Abigail Feuerschutz, damit sie ihre Mission erfüllen konnte. Ihr Schutzengel. Dann jedoch…

Abigail rief ihm eine Warnung zu, doch es war schon zu spät. Hinter King war ein Schatten aufgetaucht. Danica stand mit einem Mal hinter ihm. Durch das atomisierte Silber, das sie eingeatmet hatte, qualmte ihre Haut.

Mit einem zornigen Knurren bekam sie King zu fassen und rang ihn zu Boden.

King wehrte sich, doch er war zu erschöpft, während sich Danica hatte erholen können und außerdem frisches Blut benötigte. Ein Mensch konnte es selbst unter besten Umständen nicht mit bloßen Händen mit einem Vampir aufnehmen. Nach Kings Gesichtsausdruck zu urteilen, war ihm diese Tatsache nur zu bewusst. Hilflos musste Abigail mit ansehen, wie er sich in ihrem Griff wand und mit der E-Pistole fuchtelte, um auf Danicas Gesicht zielen zu können.

Mit dem Handballen wehrte sie seinen Versuch jedoch ab und bekam den Lauf der Waffe zu fassen, und dann hatte sie sie ihm auch schon abgenommen. In einer raschen Bewegung ließ sie das Magazin herausgleiten, so dass sich Kings Sundog-Kugeln auf dem Boden verteilten, die sie schließlich auch noch wegtrat, damit er keine Chance hatte.

Mit einem höhnischen Grinsen schleuderte sie die nutzlos gewordene Waffe fort und wandte sich King zu. Sie packte den blutbeschmierten Vampirjäger am Kragen, drückte seinen Kopf nach hinten und bleckte ihre Reißzähne…

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