6

Etwas bewegte sich in der Dunkelheit.

Blade runzelte die Stirn. Seine Augen wanderten unter den flatternden Lidern hin und her. Ihm war kalt und er fühlte sich extrem schläfrig, aber er wusste, dass es für ihn überlebenswichtig war, nicht einzuschlafen.

Er wartete und lauschte. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, jede Sekunde dauerte unendlich lang, und es schien, als sei kein Ende absehbar.

Nach einem Zeitraum, der ihm tatsächlich wie eine Ewigkeit vorkam, bemerkte er es wieder. Eine minimale Bewegung in der endlosen Schwärze, so klein und schnell, dass sie nicht einmal einen Herzschlag lang dauerte.

Blade öffnete die Augen und wendete sich der Bewegung zu. In seinen Ohren hallte mit einem Mal das Echo eines Geräuschs wider, das er gerade noch hatte wahrnehmen können. Irritiert erhob er sich und bewegte sich Schritt um Schritt in der Dunkelheit vorwärts. Seine Nerven waren auf das Äußerste gespannt. Seine Beine fühlten sich an wie aus Gummi, und wenn seine Füße den Boden berührten, spürte er nichts davon. Dennoch wusste Blade, dass er sich beeilen musste. Er hatte nicht viel Zeit, und es war von größter Wichtigkeit, dass er zu Hause ankam, ehe das Geräusch ihn einholen konnte.

Er ging los und jeder Schritt hallte in der Nacht nach.

Hinter ihm war ein kurzes Geräusch zu hören, fast so, als hätte jemand ein Einzelbild aus einem alten Film herausgeschnitten und würde dieses kurze Stück Tonspur abspielen. Er drehte sich rasch herum und ging in kampfbereite Stellung, doch war außer völliger Schwärze nichts zu sehen.

Blades Augen wandten sich nach links, dann nach rechts. Eine matte, erdrückende Stille sank auf ihn nieder und legte sich wie Leim über ihn. Er hielt den Atem an und lauschte wieder, vernahm seinen eigenen gleichmäßigen Herzschlag in seinen Ohren, immer wieder überlagert von dem hochfrequenten Klingen verstärkter Stille.

Wieder von dem Gefühl erfasst, er müsse sich beeilen, wandte er sich um und lief weiter.

In gemäßigtem Tempo trabte er durch die Schwärze, alle Sinne aufs Äußerste angespannt, da er sich darauf konzentrierte, auch das leiseste Geräusch wahrnehmen zu können.

Plötzlich blendete ihn ein Blitz, der unerwartet durch die Dunkelheit zuckte. Blade geriet ins Taumeln, fiel nach hinten und drehte sich in Zeitlupe um seine eigene Achse. Mit einem schmerzhaften dumpfen Knall landete er auf dem Boden. Keuchend krallte Blade die Hände auf die Augen. In sein Gehirn eingebrannt war das Abbild eines Schwerts – seines Schwerts? –, das auf ihn herabfuhr und dessen diamantgeschliffene Klinge beim Kontakt mit seinen Sehnerven Funken sprühte, als sie sich wie eine Guillotine durch seinen Schädel fraß.

Blade hob den Kopf und sah auf seine Finger, da er erwartete, an ihnen Blut zu entdecken.

Nichts. Seine Hände waren völlig sauber.

Aus der Dunkelheit drang ein langgedehntes, tiefes Knurren an seine Ohren. Es kam von sehr weit weg, doch das Echo klang unnatürlich nah und verursachte in seinen Knochen seltsame Schwingungen. Blade merkte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten, als ein warnender Schauder seinen Körper durchfuhr. Er atmete tief durch, um zur Ruhe zu kommen, während er fühlte, wie Hitze und Adrenalin sich in ihm ausbreiteten, um ihn kampfbereit zu machen. Sein Zahnfleisch schmerzte, als seine Reißzähne zu wachsen begannen und so spitz wurden, dass sie ihn ins Fleisch stachen.

Das Heulen verstummte, zurück blieb eine Stille, die zur Eile antrieb. Vorsichtig stand Blade auf und hielt sich in der kalten Nachtluft nur schwankend auf den Beinen. Die Atmosphäre rings um ihn knisterte, so greifbar schien die Bedrohung zu sein, fast wie eine bösartige Präsenz. Blade sah sich um und bemerkte, dass in der samtenen Schwärze, die sich vor ihm erstreckte, eine Bewegung auszumachen war, so als würde eine steife Brise einen schwarzen Ozean peitschen.

Blade stand reglos da und atmete tief und gleichmäßig. Seine Arme baumelten entspannt herunter, bereit, sofort einen Pflock oder Dolch zu zücken, um das, was da so heulte, in blutenden, kreischenden Staub zu verwandeln. Er war noch nie hier gewesen, dennoch wusste er aus irgendeinem Grund, was kommen würde. Es war ein unausweichliches Schicksal.

Etwas war da draußen, etwas Übles, und er musste es finden, bevor es ihn fand. Wenn er es nicht überraschen konnte, würde er es niemals besiegen können.

Blade strengte alle seine Sinne an und versuchte festzustellen, aus welcher Richtung das Geräusch kam.

Auf einmal tropfte etwas Kaltes auf sein Kinn. Blade hob eine Hand und wischte es beiläufig fort. Regnete es etwa?

Nein, diese Flüssigkeit war zäh und ein wenig klebrig. Er roch daran. Es war auch kein Blut. Die Flüssigkeit roch scharf und stechend, fast so wie Ammoniak, aber doch etwas süßlicher und nicht ganz so aggressiv. Eigenartig.

Der Wind wurde stärker und wehte ihm heftig entgegen. Blade sah auf und bemerkte, wie seine Kleidung hinter ihm im Wind flatterte. Die Luft war kalt und roch sehr intensiv nach Meer. Er musste sich irgendwo in der Nähe des Flusses befinden, aber wo genau war er? Er konnte die Landschaft nicht erkennen.

Plötzlich musste er husten. In seiner Kehle stieg ein gallenbitterer Geschmack auf. Er hustete erneut, diesmal jedoch stärker, um den Geschmack wieder loszuwerden. Als er nach unten sah, bemerkte er, dass seine Hand mit einer schwarzen Flüssigkeit bespritzt worden war. Er betrachtete entsetzt seine Hand, als er merkte, dass diese Flüssigkeit aus seiner Nase und seinen Augen tropfte und wie dicke schwarze Tränen über seine Wangen lief. Angewidert wischte er sie weg, aber sofort quoll mehr davon aus ihm heraus.

Entsetzt wirbelte Blade herum und rannte los. Er musste weg von hier! Was immer es auch sein mochte, es war nichts, was er bekämpfen konnte. Instinktiv wusste er, je länger er blieb, umso schwieriger würde es werden, diesen Ort zu verlassen. Und es gab nichts, was er sich mehr wünschte.

Schritte ertönten hinter ihm, als er durch die Dunkelheit rannte. Zuerst waren es nur die Schritte eines einzigen Läufers, doch dann kamen mehr und mehr dazu, die alle hinter ihm herliefen. Sie hatten ihn gefunden.

Ohne sich umzudrehen, verdoppelte Blade sein Tempo, indem er auf die Kraftreserven seiner übernatürlichen Energie zurückgriff. Doch die Schritte hielten mühelos mit ihm mit.

Er konnte jetzt auch Rufe hören, außerdem bellende Hunde. Aus dem Augenwinkel sah er den Schein greller Fackeln, woraufhin Blade noch einmal schneller wurde, da ihm klar wurde, dass man ihn nicht bloß verfolgte, sondern jagte.

Blade flog förmlich über den Untergrund, die Beine arbeiteten auf Hochtouren, während er versuchte, seinen Verfolgern zu entkommen. Nach einer Weile erkannte er jedoch, dass sie nicht nur problemlos mit seinem Tempo mithalten konnten, sondern ihn auch beängstigend schnell einholten.

Auf einmal bemerkte er zu seinem Entsetzen, dass er langsamer wurde. Die schwarze Flüssigkeit lief in seinem Körper nach unten und sammelte sich in seinen Beinen, die erschreckend taub wurden. Was war das für ein Zeugs? Blade knurrte frustriert, als die tödliche Substanz seine Beinmuskulatur überschwemmte und sich die Kälte in seine Nervenbahnen übertrug, die augenblicklich regelrecht abgeschaltet wurden. Er stolperte und fiel fast hin, konnte sich aber im letzten Moment fangen und weiterlaufen, wobei er die Zähne zusammenbeißen musste, um sich Schritt für Schritt weiterzuquälen.

Die rufenden Stimmen waren nun sehr dicht hinter ihm. Blade zwang sich, in Bewegung zu bleiben, aber sogar das Atmen wurde immer schwieriger. Schwäche erfasste ihn, schwarzer Schweiß trat auf seine Stirn, während er sich weiter vorankämpfte und zudem den immer stärker werdenden Wind ertragen musste.

Es dauerte nicht lang, da war Blade klar, dass er nicht weiterlaufen konnte. Der Wind schlug ihm erschreckend heftig entgegen, und seine Muskeln waren total überanstrengt. Er musste seine Kräfte schonen, um gegen die Menge kämpfen zu können, die ihn verfolgte.

Knurrend fletschte Blade die Zähne und drehte sich zu seinen Jägern um.

Doch da war niemand.

Im nächsten Moment wurde er von einer ganzen Welle von Leibern überrannt, die sich ihm von hinten genähert hatten. Blade merkte, wie Hände nach ihm griffen und seine Arme und Beine auf die trockene Erde unter ihm drückten. Andere Hände zerrten an seiner Kleidung, rissen ihm das Hemd vom Leib und setzten seinen nackten Oberkörper der kalten Nacht aus. Über ihm waren Gesichter zu sehen, die ihn anstarrten, ihn verhöhnten. Gesichter mit scharfen Zähnen und gelben Augen.

Vampire.

Blade versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien.

Doch sie waren anders als die Vampire, die er kannte. Knurrend näherte sich ihm der Anführer, dessen beeindruckende Zähne mehrere Zentimeter lang waren und auf dessen Stirnmitte eine Reihe von Wirbeln verlief, die fast wie ein Kamm wirkten. Wie ein Greifvogel legte der Vampir den Kopf schräg und beugte sich über Blade, um neugierig dessen Gesicht zu berühren…

Mit einem Aufschrei riss sich Blade los, schwang sich zur Seite und kam wieder auf die Beine. Dann senkte er den Kopf und rannte auf die Wand aus spottenden Gestalten los, die ihn umgaben. Mit seinen allerletzten Kraftreserven stürmte er wie ein Rammbock vorwärts, um alles umzurennen, was ihm den Weg in die Freiheit versperrte.

Wamm! Auf einmal schlug sein Kopf gegen ein Objekt, das ihm nicht auswich. Benommen schüttelte Blade den Kopf und sah, dass Whistler vor ihm stand. Sein langes graues Haar und sein Bart flatterten im Wind. Der alte Mann lehnte sich gemächlich an eine zerfallende Lehmziegelmauer, die zu einer gewaltigen Pyramide zu gehören schien.

Blade erhob sich unsicher. Er hätte schwören können, dass diese Pyramide eben noch nicht da gestanden hatte. Doch das war die Geringste seiner Sorgen. Er blickte über die Schulter und sah, dass die Vampire ihm wieder nacheilten und mit gebleckten Zähnen auf Whistler zuliefen. Blade öffnete den Mund, um seinen Mentor zu warnen, ihn zur Flucht aufzufordern, solange noch Zeit dafür war.

Doch bevor er ein Wort herausbringen konnte, stand Whistler seltsamerweise plötzlich neben ihm. Blade wandte sich überrascht um, als der alte Mann hinter ihn griff und mit einem sanften metallenen Zischen das Schwert aus Blades Scheide auf dem Rücken zog.

Aber… das war gar nicht sein Schwert.

Die Waffe, die Whistler in der Hand hielt, sah viel älter aus und war aus narbigem, geschwärztem Metall geschmiedet worden. Während Blade die Szene verwirrt beobachtete, legte Whistler ihm auf einmal die Hand auf die Schulter und lächelte ihn freundlich an.

Im nächsten Augenblick trieb er die Klinge bis zum Heft mitten in Blades Brust.

Der schnappte nach Luft und packte Whistler an den Schultern, als das heiße Blut über sein zerrissenes Hemd lief. Schockiert starrte er seinen Mentor an, dessen Gesichtsausdruck sich nicht verändert hatte. Dann aber wurde sein Lächeln breiter und ließ spitze, geschwungene Eckzähne erkennen.

Blade wusste, dass er endgültig verloren war.

Seine Knie gaben unter ihm nach und er fiel zu Boden. Um ihn herum nahm die Schwärze Form an und wirbelte von einem unsichtbaren Himmel herab. Während Blade sich auf dem Boden wand und nach Luft schnappte, bildete die Schwärze eine Spirale, die, einer Windhose gleich, alles in ihrem Umfeld mit sich riss. Als sie die Pyramide erreichte, drang ein lautes Krachen durch die Nacht. Wie gelähmt sah Blade, wie die Pyramide hinter den Vampiren von schwarzen Rissen durchzogen wurde, die wie die Negative von Blitzen aussahen.

Die Vampire schienen nichts von der immensen Zerstörung mitzubekommen, die sich hinter ihnen abspielte, da sie wieder Blade bedrängten und umherstießen. Einer nach dem anderen holten sie hölzerne Pflöcke hervor. Blade wollte aufschreien, doch der Wind trug seine Stimme mit sich. Ehe er sich versah, hatten sich die Vampire abermals auf ihn gestürzt, drückten seinen Rücken fest auf den Untergrund und bohrten ihre Pflöcke in seine Hand- und Fußgelenke und durch seine Schultern. Blade verspürte dabei keinen Schmerz, nur einen deutlichen Druck, der umso stärker wurde, je mehr Pflöcke in seinen Körper getrieben wurden.

Hilflos musste er mit ansehen, wie Whistler vortrat und sich vor ihm aufbaute. Er hielt immer noch das antike Schwert in der Hand. Langsam begann aus dem Weiß der Augen des alten Mannes eine ölige schwarze Substanz zu tropfen. Whistler trat einen Schritt vor und setzte die Schwertspitze auf Blades nackte Brust. Dann begann er, ein Muster in das Fleisch zu schneiden, wobei das Metall zischte und kreischte, als sei es rotglühend.

Blade biss die Zähne zusammen. Der Schmerz ging durch und durch, aber er war nichts im Vergleich zu dem Schmerz, den er bei Whistlers Tod empfunden hatte. Während der Wind immer heftiger und lauter wurde, nahm er am Rande wahr, dass die gewaltigen Lehmblöcke, aus denen die Pyramide errichtet worden war, sich im Wind bewegten, Risse bekamen und zerfielen, so dass Bruchstücke durch die Luft gewirbelt wurden. Ein tiefes Poltern erschütterte die Erde, als wolle der Boden nachgeben und sie alle in den finsteren Untiefen begraben.

Whistler hatte unterdessen sein Muster vollendet und zog sein Schwert weg. Dann legte er den Kopf schräg, um seine Arbeit zu begutachten. Es war eine winzige Geste, die Blade aber so vertraut war, dass ihm fast die Tränen gekommen wären. Als er einen Blick auf seine Brust warf, erkannte er, dass ein großes, recht grobschlächtiges Vampirschriftzeichen in seine Haut geschnitten worden war, dessen Umrisse von durchtrenntem Fleisch und rotem Blut gebildet wurden.

Beim Anblick des Schriftzeichens überkam Blade ein überwältigendes Gefühl der Furcht. Er war schon einmal hier gewesen, und jetzt erinnerte er sich auch daran, was als Nächstes kommen würde. Er wollte sich von den Pflöcken befreien, doch ihm fehlte längst die Kraft dafür. Er konnte nur zusehen, wie Whistler das Schwert hoch über seinen Kopf hob und ihn mit diesen schrecklichen schwarzen Augen anstarrte. Der Wind erreichte inzwischen die Stärke eine Hurrikans, der die Luft in kreischende Wirbel zerriss und die anderen Vampire wie Herbstlaub mit sich in den Himmel aufsteigen ließ.

Mit einem unglaublichen Krachen wurde die Pyramide vom Sturm zerrissen, die Wände flogen nach oben und zur Seite, als hätte sich im Inneren eine Explosion zugetragen. In ihrem Mittelpunkt war eine gähnende schwarze Leere zu sehen, aus der sich windende, schwarze Schatten austraten. Die breiteten sich zischend und kreischend in einer dunklen Welle auf der Erde aus, bis es so schien, als würden diese Geräusche die ganze Welt erfüllen und sogar noch das Tosen des Sturms übertönen.

Während Blade auf dem Boden lag und tonlos schrie, trat Whistler lächelnd ganz nah an ihn heran. Das antike Schwert sauste nach unten und bohrte sich mit entsetzlicher Geschwindigkeit in Blades Herz…

Blades Körper zuckte im Schlaf, seine Augen bewegten sich hastig hinter den geschlossenen Lidern. Dann wurde sein Atem gleichmäßiger. Er begann sich zu regen, als er langsam aufwachte und durch die schwarzen Gezeiten des Schlafs zur Oberfläche aufstieg.

Sein Bewusstsein kehrte allmählich zurück, und Blade konnte nach und nach seinen Körper wieder wahrnehmen. Arme und Beine fühlten sich merkwürdig schwer an, in seiner Brust verspürte er ein eigenartiges, dumpfes und zugleich kribbelndes Gefühl, als hätte ihn jemand mit einem Eispickel getroffen.

Blade runzelte die Stirn und versuchte, sich wieder abdriften zu lassen, doch es half nichts. Irgend etwas versuchte, sein Bewusstsein in das Land der Lebenden zurückzuholen, etwas Fröhliches und Gehässiges, das ihm ins Ohr flüsterte, dass es ganz gleich war, was er beim Erwachen sehen würde – es würde ihm nur noch mehr Schmerz bereiten.

„Aufwachen, Schlafmütze.“

Blade stöhnte und versuchte, sich an dem kostbaren Moment des grauen Vergessens festzuklammern, der den Schlaf vom Wachsein trennte. Er fühlte sich schwach und ausgemergelt. Sein ganzer Körper schmerzte, und es kam ihm so vor, als sei sein ganzer Kopf voller kleiner wütender Moskitos, die sich einen Weg aus seinem Schädel fressen wollten.

Er kniff die Augen zusammen, um in das gnädige Nichts des Schlafs zurückzukehren, doch eine leise Stimme irgendwo in seinem Hinterkopf schrie ihn an. Er ignorierte sie, aber sie wurde lauter. Blade wollte eine Hand an den Kopf nehmen, um seine Schläfe zu reiben, doch er musste feststellen, dass er an den Handgelenken gefesselt war.

Scheiße.

Es half alles nichts.

Seufzend öffnete er langsam die Augen.

Er befand sich in einem kleinen rechteckigen Raum ohne Fenster. An der Decke hingen zwei gelbliche, summende Neonröhren. Zwei ausgesprochen verärgert dreinblickende Männer mittleren Alters saßen ihm an einem langen Metalltisch gegenüber und sahen ihn finster an. Einer von ihnen war groß und wirkte streng, der andere war deutlich kleiner und trug ein Toupet, das eher danach aussah, als sei irgendein Tier auf seinem Kopf verendet. Sie waren beide lässig gekleidet, dennoch wirkte es so, als würden sie diese Kleidung wie eine Uniform tragen. Hinter ihnen befand sich ein großer Spiegel, durch den man von der anderen Seite sehen konnte. In einer Ecke hing eine Überwachungskamera, deren rotes Licht anzeigte, dass die Aufnahme lief. Sie machte surrende und klickende Geräusche, als sie näher an Blade heranzoomte.

Blade stöhnte auf. Das sah alles andere als vielversprechend aus. Er tastete mit der Zunge seine Mundhöhle ab und versuchte, den Kopf zu heben, der so schwer wie eine Kanonenkugel war. „Wer…“

Der ältere, deutlich unfreundlichere der beiden Männer sah ihn an. „Special Agent Ray Cumberland, FBI. Und das ist Special Agent Wilson Haie, mein Kollege. Wir sind Ihnen schon seit langer Zeit auf der Spur.“

Auch wenn Blade sich nach wie vor ein wenig desorientiert fühlte, war er doch beeindruckt von der Art und Weise, mit welcher Betonung dieser Mann seinen Dienstgrad aussprach. Er musste das lange vor einem Spiegel geübt haben.

Die Erinnerung traf Blade wie ein Schlag. Er schoss von seinem Platz hoch und war mit einem Mal hellwach. Langsam holte er tief Luft, fürchtete sich aber davor, den Namen auszusprechen, der ihm soeben wieder ins Gedächtnis gekommen war. „Whistler…?“

Cumberland schüttelte den Kopf. In seinen Augen lag kalte Verachtung. „Tot. So wie alle Ihre Opfer.“

Blade schloss die Augen.

Das konnte nicht die Realität sein, das war einfach nicht möglich!

Cumberland erhob sich. „Wie viele Leute haben Sie getötet? Dreißig? Vierzig? Fünfzig?“ Der Detective sprach mit beherrschtem Tonfall, doch Blade hörte die Wut heraus, die unter der Oberfläche brodelte und zu der sich eine gefährliche Dosis Arroganz gesellte.

„Einhundertsiebenunddachtzig“, brummte Blade und ignorierte, dass Haie daraufhin hörbar die Luft einsog. „Allein in diesem Jahr“, fügte er nur im Geiste an. Er versuchte, sich aufrechter hinzusetzen und dem Detective in die Augen zu sehen. „Aber das waren alles Vertraute – Leute, die für sie arbeiteten.“

„Und mit sie meinen Sie Vampire, richtig?“ Cumberland nahm wieder Platz und umfasste die Tischkante. „Und als Nächstes werden Sie uns wohl erzählen, dass Bigfoot auch in dieser Verschwörung mit drinhängt, wie?“

Der Detective grinste arrogant, während Blade ihm einen finsteren Blick zuwarf. „Und was tötet diese Blutsauger, Sie knallharter Typ, Sie? Vielleicht können Sie uns da ja ein bisschen auf die Sprünge helfen.“ Cumberland zählte an seinen Fingern ab: „Man kann sie pfählen, nicht? Und dann ist da das Sonnenlicht. Und was ist mit Kruzifixen, Wilson? Funktionieren die immer noch?“

„Keine Ahnung, Ray. Und wenn es ein jüdischer Vampir ist?“

„Ein guter Einwand.“ Cumberland lächelte kalt. „Und was ist mit Knoblauch, wenn der Vampir ein Hindu ist? Muss man dann Safran oder was anderes nehmen?“

Haie kicherte.

Cumberland schüttelte den Kopf und wurde wieder ernst. „Sie können Ihre Nummer so lange spielen, wie Sie wollen, Blade, es wird Ihnen nichts bringen. Sie sind ein eiskalter Killer, und Sie sind verdammt krank.“

„Diese Diagnose sollten wohl besser die Experten stellen, nicht wahr, Ray?“

Cumberland drehte sich um und sah, dass Doktor Edgar Vance in der Tür stand und ihm grüßend zunickte. Dann trat er ein, legte seinen Lederkoffer auf den Tisch und setzte sich zu Blade, der ihn auf den ersten Blick nicht leiden konnte.

Vance drehte seinen Stuhl zu Blade und sah ihn interessiert an. „Hallo, Blade, ich bin Doktor Vance. Ich arbeite für die Abteilung für geistige Gesundheit und ich habe den Auftrag bekommen, ein psychiatrisches Gutachten über Sie zu erstellen.“

Er sah die beiden Detectives an. „Gentlemen, würden Sie uns bitte ein paar Minuten allein lassen?“

Haie blickte zu Cumberland, der empört schnaubte, dann aber nickte. Die beiden standen auf, gingen hinaus und schlugen wütend die Tür hinter sich zu.

Vance lächelte Blade an und versuchte, ihm stumm sein Mitgefühl zu vermitteln. Er streckte ihm seine Hände entgegen und sprach mit Blade, als hätte er einen geistig minderbemittelten Welpen vor sich. „Ich kann mir vorstellen, dass dies alles auf Sie sehr erschreckend wirken muss. Aber ich möchte Sie wissen lassen, dass ich hier bin, um Ihnen zu helfen. Um das tun zu können, muss ich Ihnen ein paar Fragen stellen.“ Vance rückte seinen Stuhl zurecht. „Können Sie mir sagen, welcher Wochentag heute ist?“

Blade starrte Vance einfach nur an und machte sich gar nicht erst die Mühe, etwas zu erwidern. Er konnte das Blut riechen, das durch die Adern dieses Mannes gepumpt wurde. Blade erkannte, dass Vance keinesfalls so gelassen und selbstsicher war, wie er vorgab. Über ihnen tickte die Uhr weiter und unterstrich sein Schweigen.

Gerade mal zwanzig Sekunden waren verstrichen, doch Blade war es wie eine Ewigkeit vorgekommen.

Whistler war tot.

„Was ist mit dem Präsidenten?“ wechselte Vance freundlich das Thema. „Wissen Sie, wer im Weißen Haus regiert?“

„Ein Arschloch“, gab Blade zurück, ehe er sich selbst daran hindern konnte.

Vance seufzte und machte im Geiste ein Häkchen. Blade war also einer von der Sorte.

„Also gut, reden wir über Vampire. Was können Sie mir über sie erzählen?“

„Da gibt es nichts zu erzählen“, gab Blade mit tonloser Stimme zurück. „Sie existieren.“ Er fühlte, dass Cumberland und Haie ihn durch den Spiegel beobachteten. Es war noch jemand mit ihnen in diesem Raum hinter der Scheibe. Blade atmete mehrmals heftig durch. Wer immer da bei ihnen war, verströmte den Geruch von Angst – und den Geruch von einem Sandwich mit Speck und Ei.

Blade rümpfte die Nase. Das war keine gute Kombination.

„Und Sie sind einer von ihnen?“ Vance rückte näher an Blade heran. Nach einer kleinen Pause fügte er an: „Was hat es mit dem Blut auf sich? Verspüren Sie sexuelle Erregung, wenn Sie Blut trinken?“

Blade warf ihm einen eisigen Blick zu und wünschte sich, der arrogante Bastard würde in Flammen aufgehen. Hinter dem Rücken bewegte er seine Hände in der Hoffnung, eine Schwachstelle in seinen Fesseln zu finden. Wäre er bei Kräften, dann hätte er die Fesseln längst in Stücke gerissen. In seiner gegenwärtigen Verfassung schaffte er es dagegen kaum, die Fäuste zu ballen. Er hatte seit achtundvierzig Stunden kein Serum mehr eingenommen. Er befand sich in der gleichen körperlichen Verfassung wie ein normaler Vampir, der seit einem Monat keinen Schluck Blut mehr bekommen hatte.

Vance stellte weiter seine Fragen, während Blades Magen knurrte. Er begann, heftiger zu atmen, da er versuchte, das Feuer zu bändigen, das durch seinen Körper jagte. Nur zu gut war ihm bewusst, dass sich eine Mahlzeit in greifbarer Nähe befand… ein Mensch, durch den warmes, köstliches Blut pulsierte… der Mann… so dicht bei ihm…

Blade biss die Zähne zusammen, um sich zu beherrschen.

Vance schwadronierte weiter, ohne auch nur zu ahnen, in welcher Gefahr er schwebte. „Sehen Sie, mir scheint es, dass dieser Vampirismus sehr stark einer sexuellen Desorientierung gleichkommt. Sie wissen schon, der Austausch von Körperflüssigkeiten und so.“ Vance warf einen Blick auf seine manikürten Fingernägel. „Man muss herausfinden, welche Ursache das hat. Ich frage mich zum Beispiel, wie Ihr Verhältnis zu Ihrer Mutter war. Standen Sie beide sich nahe?“

Blade kniff die Augen zusammen.

Sobald er frei war, würde er diesen Kerl umbringen.

Zehn Minuten später ging Dr. Vance hinüber in den Beobachtungsraum zu den beiden Detectives, zu denen sich inzwischen ein weiterer Mann gesellt hatte – Polizeichef Vreede. Er schloss die Tür hinter sich und blickte finster drein.

Chief Vreede trat einen Schritt nach vorn. „Was halten Sie von ihm, Doktor?“

Vance schüttelte betrübt den Kopf und deutete auf Blade, der auf der anderen Seite des Spiegels saß. „Er ist hochgradig psychotisch, dazu kommen noch paranoide Züge.“ Der Doktor zog seinen Notizblock und warf einen Blick darauf. „Außerdem legt er ein gestörtes Verhalten an den Tag. Ganz offensichtlich ist bei ihm das Unrechtsbewusstsein nicht ausgebildet.“ Er klappte den Block zusammen und steckte ihn in die Gesäßtasche, dann breitete er als Geste seiner Ernsthaftigkeit die Hände aus. „Zu seinem eigenen Schutz und auch zum Schutz der Öffentlichkeit empfehle ich eine Verlegung in die Psychiatrische Einrichtung des Countys, damit er weiter behandelt werden kann.“

Cumberland schnappte nach Luft, mehrmals klappte er den Mund auf und zu wie ein gestrandeter Fisch. „Da mache ich nicht mit“, brach es aus ihm heraus. „Dieser Mann wird in Verbindung mit einer ellenlangen Liste von Kapitalverbrechen gebracht.“ Er baute sich vor Vance auf und sah ihm trotzig in die Augen. „Er soll noch heute Abend mit dem Flugzeug in die Haftanstalt in Washington gebracht werden.“

„Agent Cumberland, dieser Mann ist gar nicht in der Lage, sich einem Gerichtsverfahren zu stellen.“

Cumberland und Haie starrten Vreede ungläubig an. Haie räusperte sich: „Chief, wir haben einen FBI-Haftbefehl, der eindeutig mehr Gewicht…“

„Ihr Haftbefehl interessiert mich nicht.“ Polizeichef Vreede durchquerte den Raum und stellte sich neben Vance, um ihm den Rücken zu stärken. „Das hier ist meine Zuständigkeit. Wenn Sie damit ein Problem haben, wenden Sie sich an den Gouverneur.“

Dr. Vance machte eine entschuldigende Geste, die an die Detectives gerichtet war. „Es tut mir Leid, Gentlemen, aber es ist bereits alles arrangiert. Jeden Moment wird ein Team des Krankenhauses eintreffen, um die Verlegung zu überwachen.“

Einige Etagen tiefer betrat Danica die Polizeiwache durch den marmorverkleideten Eingang. Sie trug einen strahlend weißen Krankenhauskittel. Asher und Grimwood gingen direkt hinter ihr und knöpften im Gehen ihre Kittel zu. Vier vampirische Helfer, die als Pfleger gekleidet waren, folgten ihnen und trugen eine speziell verstärkte Zwangsjacke, eine Tasche mit unheilvoll aussehenden Metallfesseln sowie eine zusammenklappbare Krankentrage.

Danica ging zum Empfang hinüber. Jeder ihrer Schritte auf ihren hohen Absätzen hallte vom gefliesten Boden wider. Dem diensthabenden Sergeant hielt sie einen Ausweis hin und lächelte ihn freundlich an. „Hi. Wir sollen einen Patienten ins County General bringen. Können Sie uns sagen, wo er sich befindet?“

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