15

Die magere Vampirin mit Namen Virago saß an einem Computer im Herzen des Biomedica-Komplexes und beriet sich mit Polizeichef Vreede. Im Gebäude war alles ruhig. Die einzigen Geräusche waren das leise Summen des Lüfters in ihrem Computer und das Kratzen von Vreedes Stift, als er sich verschiedene Dinge vom Bildschirm abschrieb.

Virago schob eine rote Tablette in den Mund und kaute gedankenverloren darauf herum. Die Pille war eine Mischung aus Ecstasy und dehydrierten roten Blutkörperchen. Sie bewirkte, dass man sofort high wurde, was Virago in verstärktem Maß nötig hatte, um die todlangweilige Nachtschicht zu überstehen. Es war ein öder Job, und hinzukam, dass das, was sie beobachteten, nicht einfach aufstehen und nach draußen spazieren konnte.

Sie rümpfte die Nase und rief weitere Statistiken auf, dann wandte sie sich zu Vreede um, der die Werte auf einen Plan übertrug, der vor ihm lag. Im beißend gelben Licht der Neonröhren sah das Gesicht des Chiefs ausgezehrt aus, ein Flickenteppich aus Licht und Schatten. Über ihnen bewegten sich die Zeiger der Stechuhr auf vier Uhr morgens zu.

Ein lautes Klopfen an der verstärkten Metalltür hallte im Raum nach und ließ sie beide aufschrecken. Vreede sah Virago an, die sich am Kopf kratzte und mit den Schultern zuckte.

Sie erwarteten um diese Zeit niemanden. Wer konnte das sein?

Virago stand auf und bewegte sich lautlos zur Tür, um auf dem kleinen Überwachungsmonitor nachzusehen, wer zu ihnen wollte.

Der Korridor vor der Tür war leer.

Seltsam.

Wieder zuckte sie mit den Schultern und wandte sich zu Vreede um.

Im nächsten Moment flog sie quer durch den Raum, als die Tür hinter ihr aus dem Rahmen gerissen wurde, als hätte eine gewaltige Hand sie eingeschlagen. Die Tür flog in hohem Bogen durch die Luft und landete auf Virago. Als sich der Staub gelegt hatte, kamen blutverschmierte Finger unter der Tür hervor und bewegten sich über den geriffelten Metallboden in Richtung von Vreedes Stiefeln.

Der machte einen erschrockenen Satz nach hinten, als Blade durch das Loch in der Mauer eintrat und seine Waffe zog. Während er sich das Aussehen des Raums einprägte, bückte er sich kurz und zog die arg mitgenommene Virago unter der Tür hervor. Die Vampirin hatte schwere Prellungen davongetragen, aber sie lebte noch.

Chief Vreede fluchte und wich zurück, gleichzeitig griff er in seine Jacke, um eine Waffe zu ziehen. Noch während er das machte, war ein deutliches Klicken von einer anderen entsicherten Waffe zu hören. Vreede schluckte, als er im nächsten Moment in den Lauf von Abigails Gewehr sah. Er erstarrte, dann zog er langsam seine Hand zurück.

Blades Gesicht wirkte im Schein der Neonröhre wie aus Stein gemeißelt. „Haben Sie noch einen Nebenjob, Chief?“

Blade nickte Abigail zu, die in Vreedes Jacke griff, um den Mann zu entwaffnen. Dann wurde sein Griff um die stöhnende Virago fester, und er flüsterte. „Komm her, wir müssen uns unterhalten.“

Virago beugte sich erwartungsvoll vor. Der Daywalker bedeutete ihr ermutigend, noch näher zu kommen, dann schlug er ihr mitten ins Gesicht. Sie sackte in sich zusammen und war einen Moment lang benommen.

„Und jetzt spuck’s aus, Beißerin“, knurrte Blade.

Virago taumelte leicht, als sie sich aus seinem Griff löste. Vorwurfsvoll wischte sie sich ihre blutende Nase. „Du weißt, was wir hier machen. Drake ist zurückgekommen.“ Sie warf Blade einen finsteren Blick zu. „Bald ist jeder von uns ein Daywalker, so wie du. Und dann wird uns die ganze Welt gehören.“

Die Stimme der Vampirin klang sehr danach, dass sie ein wenig schwachsinnig war, vermutlich wegen der Drogen, die sie die ganze Nacht über schluckte. Was ihrer kleine Rede noch fehlte, war ein hysterisches Lachen, das zu einem schurkischen Genie gepasst hätte.

Blade und Abigail sahen sich kurz an. Die Kleine hatte eindeutig abgehoben.

Blade deutete mit einer Kopfbewegung auf den hinteren Teil des Labors, wo sich eine weitere, dem Anschein nach schwer gesicherte Tür befand. „Was gibt’s denn da hinten?“, fragte er beiläufig.

Sie bemerkten, wie Virago und Vreede sich einen panischen Blick zuwarfen.

Volltreffer!

Nach einem Moment Ruhe stürzte sich Virago laut knurrend auf Blade und attackierte ihn mit Reißzähnen und Fäusten…

Ein lauter Knall ertönte, und an Viragos Stelle befand sich mit einem Mal eine Wolke aus weißer, glühender Asche, die im nächsten Augenblick zu Boden sank.

Blade öffnete die Augen und überzeugte sich davon, dass er unversehrt geblieben war. Er wischte sich Viragos Asche vom Kragen und warf Abigail einen vorwurfsvollen Blick zu, während sie ihre UV-Pistole wegsteckte. „Danke“, sagte er ironisch.

Abigail zuckte mit den Schultern. Sie hatte ihm schließlich geholfen, oder etwa nicht?

Neben dem Berg Asche waren von Virago nur noch ihre Brille und die angesengten Überreste ihrer Chipkarte geblieben. Blade bückte sich und zog die Plastikkarte vorsichtig aus dem qualmenden Haufen. Er sah über die Schulter zu Vreede, der sich in einer Ecke verkrochen hatte und entsetzt auf Viragos Überreste starrte. Nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, hatte der Chief noch nie einen Vampir sterben sehen. Er hoffte nur, Vreede erinnerte sich noch an diesen Anblick, wenn er sich daran machte, seine zukünftige Karriere zu planen.

Blade schnippte mit den Fingern, um Vreede auf sich aufmerksam zu machen, dann zeigte er auf die schwere Tür hinter ihm. „Also, was versteckt sich hinter Tor Nummer eins?“ überlegte er und spielte mit der Karte in seiner Hand.

Vreede schüttelte entsetzt den Kopf und fuchtelte mit den Händen. „Die werden mich umbringen.“

Blade reagierte, wie man es nur selten bei ihm beobachten konnte: Er lächelte. „Ich auch. Aber mir wird es mehr Spaß machen.“

Vreede überlegte, dann stand er auf und wirkte wie ein Häuflein Elend, während er ein Lesegerät an der Tür aufspringen ließ. Blade führte die Chipkarte ein, dann wechselte das Kontrolllicht von Rot zu Grün, und im gleichen Moment glitt die schwere Tür auf, um den Blick auf einen höhlenartigen Raum freizugeben.

Abigail schnappte nach Luft, und selbst Blade bekam den Mund nicht zu. „Großer Gott…“

Der Raum hinter der Tür hatte die Ausmaße eines Fußballfeldes und wurde von Hunderten und Aberhunderten von glänzenden Glaskapseln gesäumt. Gefüllt waren sie mit leuchtend rotem Plasma, dicke Rohre an der Ober- und Unterseite ließen die Flüssigkeit im Tank zirkulieren. Jede der Kapseln war durch dicke Kabel mit einer zentralen Steuereinheit verbunden, und in jeder Kapsel befand sich ein menschlicher Körper.

Wie in einem Traum ging Abigail auf die Kapseln zu, ohne wirklich glauben zu können, was sie da sah. Die Körper waren nackt, und an ihnen waren Drähte befestigt, als seien sie alptraumhafte Marionetten, die jede an ein ausgefeiltes System aus Biosensor-Leitungen angeschlossen waren. Jeder Körper war mit einem Tropf verbunden, der ihn mit einer Nährstofflösung versorgte.

Blade fühlte sich gegen seinen Willen zu den Kapseln hingezogen, die ihn schockierten und Übelkeit in ihm aufsteigen ließen. Es waren so viele, und er konnte nicht den Blick von den Leibern abwenden. Zwar hatte er etwas Ähnliches schon mal gesehen, aber nicht in solchen Dimensionen.

„Was ist das hier?“ flüsterte Blade gefährlich ruhig.

Vreede trat von einem Fuß auf den anderen, da ihm die Situation sichtlich unangenehm war. „Eine Blutfarm… sozusagen.“ Er sah zu den Reihen eingeschlossener Menschen hinauf, die in ihren Kapseln umhertrieben wie längst tote Exemplare ihrer Spezies, die man in Spiritus eingelegt hatte. „Sie sind zu dem Schluss gekommen, dass die Jagd auf Menschen jeweils für eine Mahlzeit nicht sehr effizient ist. Warum soll man seine Beute töten, wenn sie noch produktiv sein kann, solange sie weiterlebt?“ Er kicherte nervös und sah immer wieder zur Tür. „Unter optimalen Bedingungen kann ein Spender pro Jahr zwischen fünfundzwanzig und fünfzig Liter Blut produzieren.“

Abigail hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Sie schüttelte sich, dann zwang sie sich, eine Frage zu stellen, die ihr auf dem Herzen lag. „Aber woher kommen all diese Leute?“

Vreede sah betreten zu Boden. „Sie holen sie von der Straße. Solche Fabriken gibt es in allen großen Städten. Jedes Jahr ziehen zwei bis drei Millionen Obdachlose durch die Staaten.“ Er zuckte mit den Schultern. „Niemand interessiert sich für sie. Im Grunde tun wir dem Land damit sogar einen Gefallen…“ Er verstummte, als er Abigails Miene sah.

Blade schüttelte langsam den Kopf. Er war angewidert von dieser schrecklichen Effizienz. „Die Endlösung der Vampire.“

Er ging zu einer der Kapseln und strich sanft mit der Hand über das Glas, während er die komatöse Person in ihrem Inneren betrachtete. Es war eine Frau, die deutlich über fünfzig war. Ihr langes graues Haar lag um ihr Gesicht und verdeckte zum Teil die faltigen Züge. Ihre Augen waren geschlossen, der Körper regte sich nicht.

Wut breitete sich in Blade aus, doch es gelang ihm, sie kontrollieren und tief in seinem Inneren zu vergraben, wo sich der Hass angesammelt hatte, den er von seiner Geburt an empfunden hatte.

Später war noch Zeit genug, um Vergeltung zu üben.

„Sind sie bei Bewusstsein? Fühlen sie irgend etwas?“ Blades Stimme klang ruhig, doch dahinter war ein stählerner Unterton zu vernehmen, der Vreede sagte, dass er seine Worte mit größter Sorgfalt wählen sollte.

Vreede schüttelte den Kopf, sein Herz raste. „Sie wurden mit chemischen Mitteln in ein künstliches Koma versetzt. Sie sind hirntot. Gemüse sozusagen.“

Blade starrte ihn an und zwang sich, die Erinnerungen zu ertragen, die in ihm hochkamen. Drei Jahre zuvor war Whistler von Deacon Frost und dessen Handlangern entführt worden. Blade hatte ihn nach einer schier endlosen Suche endlich gefunden, gefangen in einem riesigen Tank, vermutlich einem Prototyp dieser Dinger hier. Der alte Mann war bei vollem Bewusstsein gewesen, während er in diesem Ding in künstlichem Schlaf hing und die Wunden verheilten, die sie ihm zugefügt hatten.

Blade hatte mehr als ein Jahr gebraucht, um ihn zu finden.

Er hatte nicht einmal gewusst, dass sein Mentor noch lebte. Als er ihn vor der Entführung das letzte Mal gesehen hatte, da lag Whistler im Sterben. Nur eine halbe Stunde lang hatte Blade den alten Mann allein gelassen, und die Zeit hatte ihnen genügt, um ihn ausfindig zu machen.

Sie hatten ihn ausgefragt und in Stücke gerissen.

In nicht einmal dreißig Minuten hatten sie eine lebenslange Freundschaft vernichtet, und sie besaßen nicht mal genug Anstand, um ihn in Würde sterben zu lassen. Blade war heimgekehrt und hatte seinen Mentor vorgefunden, der sich nur noch an einen letzten Rest von Leben geklammert hatte. Er hatte die bis auf die Knochen reichenden Bisswunden gesehen, die seinen ganzen Körper durchsiebten. Da hatte er gewusst, was er tun musste. Er gab dem alten Mann eine seiner Mach-Pistolen, dann war er fortgegangen, und wenige Augenblicke war ein Schuss zu hören gewesen, der in seinen Ohren dröhnte.

Doch als er später in der Nacht zurückgekehrt war, da war Whistlers Leichnam verschwunden.

Zum Glück für Whistler – sofern man überhaupt von Glück reden konnte – hatte das Jahr in diesem Tank das Vampir-Virus daran gehindert, von ihm Besitz zu ergreifen. Es war Blade gelungen, ein wirksames Gegenmittel zu schaffen, indem er den alten Mann mit einem selbstgebrauten Cocktail aus seinem eigenen Serum und Allicin vollgepumpt hatte. Er hatte gehofft, dass die Kombination aus beidem den Vampirmüll aus seinem Körper brennen würde, anstatt ihn auf der Stelle umzubringen.

Aber beides war immer noch besser als das Schicksal, das ihn sonst erwartet hätte.

Als er jetzt die unzähligen konservierten Körper sah, spürte Blade, wie sich eine eiserne Faust um sein Herz legte. Es sah so aus, als hätten die Vampire ihren widerwärtigen Prozess schließlich doch noch perfektioniert, indem sie das Gehirn der gefangenen Menschen sterben ließen, während der Körper am Leben erhalten wurde.

Für keines dieser Opfer gab es noch ein Zurück.

Ohne Vorwarnung packte Blade Vreede und presste ihn mit dem Gesicht voran gegen eine der Kapseln. „Sieh es dir an! Ist das die Zukunft, die du anstrebst? Glaubst du, in dieser Welt wird es für dich noch einen Platz geben?“

Vreede begann zu heulen, mit schriller Stimme erwiderte er: „Wir haben keine andere Wahl! Sie werden gewinnen, siehst du das nicht? Er ist zurückgekommen! Niemand kann sie jetzt noch aufhalten.“

Blade riss Vreede zu sich herum, bis sich ihre Nasenspitzen fast berührten. Vreede sah ihm in die lodernden Augen und wurde sehr ruhig.

Nach ein paar Sekunden erwiderte Blade: „Doch. Ich.“

Er ließ Vreede los, der nach vorn fiel und vor Angst wirr drauflos plapperte. Blade drehte den Kopf des Chief zur Tür. „Verschwinde. Du hast dreißig Sekunden.“

Erleichtert aufschluchzend rappelte Vreede sich auf und stolperte in Richtung Tür davon.

Blade sah ihm einen Moment lang nach, dann kehrte sein Blick zurück zu der Menschenfarm. So viele Leute…

Er zog seine Mach-Pistole. Ohne sich umzudrehen, zielte er allein nach dem Geräusch der Schritte auf Chief Vreede, dann drückte er ab. Es folgte ein Geräusch, das sich anhörte, als falle ein nasser Sack zu Boden, und dann lag der Polizeichef tot da.

Blades Blick war noch immer auf die Reihen von Körpern gerichtet, während er seine Pistole wegsteckte.

Er ging zum zentralen Kontrollpult, das den Herzschlag und die Körpertemperatur von fast tausend verlorenen Seelen regulierte. Nachdem er den Hauptschalter gefunden hatte, packte Blade ihn und drehte ihn langsam, ja, fast liebevoll in die Aus-Stellung. Sofort leuchtete eine Warnlampe an der Konsole und ein Schriftzug flammte auf:

WARNUNG:

Alle Lebenserhaltungssysteme wurden abgeschaltet

Notlampen flammten auf, während das komplette System heruntergefahren wurde. Die Versorgung mit Nährlösung kam mit einem gurgelnden Laut zum Stillstand, tausend Sauerstoffpumpen wurden langsamer und blieben schließlich stehen. Nach und nach reduzierten sich die Anzeigen der Lebensfunktionen und der EKGs an jeder Kapsel auf eine schnurgerade Linie. Die Warntöne jeder einzelnen Einheit verschmolzen zu einem durchdringenden Heulen, das wie die Schreie von Toten klang.

Blade wandte sich zu Abigail um, seine Schultern hingen schlaff herunter. Es gab nichts mehr, was er noch hätte tun können. „Lass uns gehen.“

Im Hauptquartier arbeitete Sommerfield die Nacht hindurch, während sie darauf wartete, dass Abigail und Blade zurückkehrten. Zoe saß in ihrer Nähe vor den Überwachungsmonitoren des Labors und beobachtete Dex und Hedges, die im Lagerraum nebenan Basketball spielten, um das Koffein zu verbrennen, das sie die Nacht über zu sich genommen hatten.

Die Beleuchtung im Labor war ausgeschaltet, da Sommerfield sie für ihre Arbeit nicht benötigte. Sie war recht stolz auf diesen einen Punkt, da sie fand, dass sie so etwas für die Umwelt tun konnte. Oft überraschte sie damit die anderen, die in den dunklen Raum getapst kamen und sie an ihrem Tisch anrempelten.

Sie aktivierte die Sprachausgabe ihres Rechners und lehnte sich zurück, um den Statistiken zu lauschen, die der Computer ihr vorlas und die das modifizierte Seuchenvirus Day-Star angingen. „Zytogenetische Prüfdaten vom 15. August. Fruchtwasser, Eingabeverzögerung: null. Abnorme Proben: zwei. Bindefähigkeit: sieben Komma zwei.“

Die sanfte synthetische Stimme des Computers redete weiter, aber Sommerfields Konzentration driftete fort zu Blade und Abigail und der Sorge um sie. Es war eine Ewigkeit her, dass sie sich auf den Weg gemacht hatten. Sie konnte nur hoffen, dass sie nicht in Schwierigkeiten steckten und heil zurückkehren würden.

Nach einer Minute der Ungewissheit zog sie ein buntes Taschenbuch zwischen ihren verstreut liegenden Braille-Ausdrucken heraus. Zoe strahlte, als sie sah, dass ihre Mutter das Buch festhielt, und klatschte begeistert in die Hände. Ihre Geduld war belohnt worden, sie bekam jetzt eine Geschichte vorgelesen.

Sommerfield nahm die dunkle Brille ab, so dass sich der schwache Schein des Bildschirms in ihren fahlen, starkranken Augen spiegelte. Sie klappte das Buch an der Stelle auf, an der sich das Lesezeichen befand, und fuhr mit den Fingerspitzen zügig über den großen Braille-Text.

Das Buch hieß The Emerald City of Oz, eines von Zoes Lieblingsbüchern.

Sie begann zu lesen: „Der Grund, warum Leute schlecht sind, ist meistens der, dass sie nicht versuchen, gut zu sein. Der Gnomenkönig hatte noch nie versucht, gut zu sein, daher war er ganz besonders schlecht.“

Sommerfield schlug die Seite um und las weiter, während Zoe sie bewundernd beobachtete. Sie hatte diese Geschichte schon tausendmal gehört, aber sie liebte es immer wieder, sie vorgelesen zu bekommen.

„Nachdem er beschlossen hatte“, fuhr ihre Mutter fort, „das Land Oz zu erobern und die Smaragdstadt zu zerstören und all ihre Bewohner zu versklaven, begann König Roquat der Rote zu planen, wie er diese furchtbare Sache ausführen konnte. Je länger er plante, desto fester glaubte er daran, dass er seinen Plan auch verwirklichen konnte…“

Hinter ihnen befand sich die Videowand, die in Schwarzweißbildern jeden Winkel des Hauptquartiers zeigte. Alle Räume waren leer, einige Monitore zeigten ein schwarzes Bild, weil das Licht ausgeschaltet worden war.

Nur ein Monitor bildete eine Ausnahme.

Der Eckmonitor bot eine Ansicht des Hauptlagers. Die große Zugangstür stand offen, die Neonröhren beleuchteten den weitläufigen, überdachten Arbeitsbereich und waren zugleich Lichtquelle für die Basketballpartie von Dex und Hedges. Das war nicht ungewöhnlich, die beiden spielten jeden Donnerstagabend, um die aufgestaute Anspannung der abgelaufenen Woche abbauen zu können. Man konnte nach den zweien fast die Uhr stellen.

Doch während Sommerfield weiter vorlas, bewegte sich hinter den Männern ein Schatten, und im nächsten Moment spähte hinter dem Land Cruiser eine Gestalt hervor. Sobald die beiden Nightstalker ihr den Rücken zukehrten, kam die Gestalt hinter dem Fahrzeug vor und sah sich um, als orientiere sie sich. Dann bewegte sie sich leicht humpelnd in Richtung Tür.

Dex und Hedges spielten weiter und waren so sehr in ihre Partie vertieft, dass sie nichts von der Gestalt wahrnahmen, die um die Ecke des Gebäudes verschwand und sich zum Eingang zu den Quartieren begab. Als die Gestalt dicht vor der Überwachungskamera erschien, wurde sie kurz in Licht getaucht und entpuppte sich als weißhaariger, bärtiger Mann in zerlumpter Kleidung.

Der automatische Alarm reagierte sofort und ließ zuckende grüne Lichtstrahlen über das Gesicht des Manns wandern, um es zu scannen. Dann schaltete sich das System ab, ohne Alarm auszulösen, da die Person identifiziert worden war. Das Haupttor öffnete sich, um ihr Einlass zu gewähren. Abraham Whistler betrat das Hauptquartier der Nightstalker und ging in Richtung Treppe.

King lag schnarchend auf seinem Bett und stand immer noch unter einer Restwirkung der Schmerztabletten, als die Tür zur Krankenstation aufging und sanft vom Türstopper zurückprallte.

Er öffnete die Augen einen Spaltbreit und sah die Silhouette einer dunklen Gestalt in der Türöffnung, die dastand und in den Raum sah.

King blinzelte im hellen Licht und gähnte ausgiebig. Es wurde auch Zeit. Mit der Zunge fuhr er über seine spröden Lippen, während er sich fragte, wie lange er wohl geschlafen hatte. Er war so hungrig, dass er das Gefühl hatte, sein Magen würde jeden Moment ohne ihn aufstehen und sich auf den Weg zum nächsten Supermarkt machen. „Hast du mir die Fruit Roll-Ups mitgebracht, die ich bestellt habe?“, fragte er.

Die Figur trat jetzt ins Licht und wirkte auf einmal sehr vertraut.

Kings Kiefer klappte unwillkürlich nach unten. Er schirmte seine Augen gegen das Licht ab, dann fragte er ungläubig: „Ey, Mann, bist du nicht tot?“

Der graubärtige Mann antwortete nicht.

King rutschte auf seinem Bett nach vorn und versuchte, sich aufzusetzen, damit er den alten Mann besser sehen konnte. Was hatte Dex ihm da bloß eingetrichtert? Er musste mehr davon haben. Das konnte nicht real sein. Er hatte das Bootshaus gesehen, besser gesagt: das, was vom Bootshaus geblieben war. Von Blades und Whistlers Versteck hatte nichts mehr existiert außer einem Haufen verbrannten Holz und verdrehter Metallträger. Die Vernichtung war so vollständig gewesen, dass sie nicht mal Whistlers Leichnam hatten finden können.

Kein Lebewesen konnte diese Explosion überlebt haben.

King sah verwirrt zu Whistler und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch sofort war der alte Mann bei ihm und legte seine runzlige Hand auf Kings Mund. Er drückte den Mann zurück aufs Bett, während King sich zu wehren versuchte, doch er war unglaublich stark. Der Nightstalker wand sich unter diesem stählernen Griff und zerrte an der Hand, die ihn ersticken wollte und die nur noch fester zupackte…

Draußen im Lagerraum lag Dex deutlich in Führung. Auch wenn er der Kleinere von beiden war, besaß er durch seine täglichen Kämpfe gegen Vampire und sein regelmäßiges Training mit Gewichten einen gewissen Vorteil. Dex duckte sich und wich zur Seite aus, wobei er den keuchenden Hedges mühelos abhängte, als sie über die groben Kreidemarkierungen auf dem staubigen Boden rannten.

Dex erzielte einen weiteren Korbleger und ließ den Ball mit einem Siegesgeheul vom Boden abprallen, dann lachte er über den Gesichtsausdruck seines Gegners. Seiner Meinung nach verbrachte Hedges zu viel Zeit in geschlossenen Räumen und befasste sich zu ausgiebig mit seinem Labor. Mann, dieser Kerl war so außer Übung, dass er nicht wissen würde, was er überhaupt tun sollte, falls ihm auf einmal ein Vampir gegenüberstand.

Er musste über eine Erinnerung lachen. Bei der einzigen Gelegenheit, bei der Hedges zu einem Einsatz mitgekommen war, hatten sie ihm die simple Aufgabe gegeben, ein Vampirkind festzuhalten, damit King ihm den Kopf abschlagen konnte. Als der Kopf dann explodiert war, hatte Hedges wie ein Mädchen geschrien und sich dann übergeben müssen, nachdem ihm durch die Wucht der Explosion die Eingeweide der Kreatur entgegengeschleudert waren und sich wie ein Wurstkranz um seinen Hals gelegt hatten. Dex hatte so sehr lachen müssen, dass er sich um ein Haar auch noch übergeben hätte. Später hatte er sich noch wochenlang darüber amüsieren können.

Dex dagegen sorgte dafür, dass er in Form blieb. Er meldete sich freiwillig zu jedem Einsatz, den Abigail zu bieten hatte, ob er Kisten im Lager stapeln oder ihr helfen sollte, einen Vampir zu verhören. Er war bei dieser Operation derjenige, der die Muskeln hatte, und das sollte auch jeder wissen.

Vor vielen Jahren war er einer von den Boxern gewesen, die mit bloßen Fäusten kämpften. Jeden Mittwochabend war er vor Hunderten von Zuschauern angetreten, um den Jackpot abzuräumen. Er war Woche um Woche ungeschlagen geblieben, bis zu jenem schicksalhaften Abend im Spätherbst, als ein verärgerter Vampirwetter seine Verlobte getötet hatte, um sich dafür zu rächen, dass er den Lokalmatador im Mittelgewicht besiegt hatte. Nun kämpfte Dex einen anderen Kampf, bei dem er versuchte, sein in tausend Stücke zerschlagenes Leben Stück für Stück wieder in den Griff zu bekommen. Jeder Blutsauger, den er tötete, war ihm dabei behilflich.

Dex hörte das stumme Grölen der Menge, als er Hedges den Ball abnahm und hinter dem Rücken des Ingenieurs den Ball im Sprung warf. Er ging zum dritten Mal innerhalb weniger Minuten durch den Ring, und Dex reckte triumphierend den Arm in die Höhe.

Das war zu leicht. Er würde den Kerl heute Nacht regelrecht abschlachten.

Hinter ihm trat ein Mann mit grauem Bart aus dem Schatten.

Sommerfield war fast am Ende der Geschichte angelangt, als sie ein seltsames Geräusch aus dem Lagerraum vernahm – ein dumpfer Aufprall, gefolgt von einem gedämpften Tropfen, als sei ein Wasserhahn nicht ganz zugedreht worden. Dann kehrte abrupt tödliche Stille ein.

Irritiert drehte sie sich auf ihrem Bürostuhl um und wandte sich der offenstehenden Tür zu, die zum Lagerraum führte. Ihr Computer las derweil mit ruhiger, monotoner Stimme weiter Daten vor: „Blut, Eingabeverzögerung: null. Abnorme Proben: zehn. Bindefähigkeit: acht Komma eins…“

Sommerfield konzentrierte sich voll auf ihr Gehör. Diese Stille wirkte beängstigend.

Sie streckte eine Hand aus und unterbrach die Sprachausgabe. „Jungs? Alles in Ordnung?“

Wie eine Reaktion auf ihre Frage kam der Basketball durch die Tür geflogen, prallte ein paar Mal vom Boden ab und stieß leicht gegen die Stuhlbeine, um dann unter eine Bank zu rollen.

Sommerfield konnte hören, wo er gelandet war. Sie stand langsam auf und fischte den Ball mit ihrem Stock unter der Bank hervor.

Die Jungs mussten mal wieder ihr Ziel weit verfehlt haben, dachte sie belustigt. Dabei hatte sie ihnen schon mehr als einmal gesagt, sie sollten die Tür zumachen. Na ja, wenigstens hatten sie nichts Wertvolles zerbro…

Sie erstarrte, als sich ihre Finger um den Ball schlossen. Etwas Warmes, Klebriges haftete auf seiner Oberfläche. Vorsichtig stippte sie einen Finger in die Flüssigkeit und verrieb sie, um ihre Konsistenz zu ertasten. Zögernd nahm sie ihre Hand hoch, um zu schnuppern.

Blut.

Sommerfields Herz begann zu rasen. Der Ball glitt ihr aus den Fingern, die ihr mit einem Mal nicht mehr gehorchen wollten, und prallte ein paar Mal vom Boden ab. „Zoe?“, rief sie.

Die Kleine sah gehorsam zu ihrer Mutter auf.

„Geh und versteck dich, meine Süße.“

Zoe zögerte und blickte von ihrer Mutter zu dem Buch, das mit den Seiten nach unten auf dem Tisch lag.

Sommerfield holte mit ihrem Stock aus und schlug gegen ein Regal. „Verdammt, nun geh schon! Verschwinde von hier, Zoe!“

Mit einem leisen Angstschrei machte sich Zoe auf den Weg.

Ihre Mutter ertastete sich unterdessen so schnell und so leise, wie es nur ging, den Weg durchs Labor, um zum Lagerraum zu gelangen. Sie fand den Waffenschrank an der Wand neben der Tür und fasste hinein, um sich eine von Kings elektronischen Pistolen zu greifen. Dann bewegte sie sich Schritt für Schritt auf das Lager zu.

Dort war es dank einer ganzen Reihe von leistungsstarken Deckenventilatoren kalt. Sommerfields Haut kribbelte, als sie die Gefahr spürte. Sie blieb in der Türöffnung stehen und horchte angestrengt auf das leiseste Geräusch. Ihr eigener Herzschlag pochte so laut in ihren Ohren, dass sie frustriert den Kopf schüttelte, weil sie sich von ihrem eigenen Körper verraten fühlte.

Sie wartete weiter, die Nerven auf das Äußerste angespannt, doch aus dem Lagerraum war kein Laut mehr wahrzunehmen. Allerdings fühlte sie an der Art, wie sich die Luft im Raum bewegte und wie sich der akustische Eindruck verändert hatte, dass sich ein Lebewesen dort aufhielt. Sie kannte jeden Meter der Werft in- und auswendig, und sie fühlte, dass etwas nicht stimmte. Es hing so deutlich wahrnehmbar in der Luft, als treibe dort eine dicke Rauchwolke.

So leise es ging, entsicherte sie Kings Waffe. Wenn Dex und Hedges ihr irgendeinen dummen Streich spielen wollten, dann wäre es ihre eigene Schuld, wenn sie sie beide erschoss.

Doch noch während ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging, wusste sie, dass dies kein alberner Scherz war. Es war viel zu ruhig, fast so, als sei die Zeit erstarrt.

Sommerfield ließ eine ganze Minute verstreichen, während sie einfach nur flach atmete, um zur Ruhe zu kommen. Sie musste das machen, es gab keine andere Lösung. Abigail und Blade waren am anderen Ende der Stadt, King lag oben im Bett und war bewusstlos.

Sie musste Zoe beschützen, und das um jeden Preis.

Als die Minute um war, trat sie vorsichtig durch die Tür, wobei sie inständig betete, dass der Eindringling – wenn es sich um einen solchen handelte – das Gelände längst wieder verlassen hatte.

Es war ihr nicht möglich, die Grauen erregende Szene zu sehen, die sich ihr dort präsentierte, doch sie konnte das Blut riechen. Der Geruch traf sie mit Wucht, da er von den Deckenventilatoren aufgewirbelt und im Raum verteilt wurde. Der Betonboden war damit durchtränkt, und Sommerfield musste einen Entsetzensschrei unterdrücken, als ihr Stock auf dem Blut wegrutschte.

Langsam bewegte sie sich weiter vor und strich mit ihrem Stock über den Boden, um nach Hindernissen zu suchen. Mit der anderen Hand hielt sie die Pistole fest umschlossen.

Nach einigen Schritten stieß sie gegen etwas Schweres, das auf dem Boden lag. Unwillkürlich stieß sie einen leisen Schrei aus, als sie etwas Warmes, Zähflüssiges spürte, das ihre Kleidung durchweichte.

Sommerfields Herz raste. Sie wich zurück, wobei sie den Stock so vor sich ausstreckte, als wollte sie Dämonen vertreiben. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Sie konnte doch nicht sehen, verdammt noch mal! Welche Chancen hätte sie wohl, etwas auszurichten, wenn sie gar nicht wusste, womit sie es zu tun hatte? Sie musste von hier verschwinden, die Türen zum Schlepper abschließen und sich ruhig verhalten, bis Blade und Abigail zurückgekehrt waren.

Es sei denn, das, was Dex und Hedges getötet hatte, hielt sich bereits dort auf…

Während ihr dieser entsetzliche Gedanke kam, vernahm Sommerfield ein leises Knacken, das aus der Richtung der offenen Tür kam. Es hörte sich fast so an, als hätte jemand einen Hühnerknochen zertreten.

Sommerfield versuchte, die wachsende Furcht zu bekämpfen, als sie sich langsam zu dem Geräusch umdrehte und mit zitternder Hand die Pistole hob…

Zoe rannte durch den Korridor in Richtung Badezimmer. Sie schluchzte ängstlich, als die Schreie ihrer Mutter durch den Schlepper hallten. Im Badezimmer lief sie in Panik umher, riss Spinde auf und warf Wäsche heraus, um nach einem Versteck zu suchen, das für sie groß genug war.

Sie entdeckte ein Lüftungsgitter hinter der Dusche und rannte weinend hinüber. Als sie daran zog, merkte sie, dass es zu fest saß. Sie kniete sich auf den nassen Boden und zerrte mit solcher Gewalt daran, dass die Anstrengung sie am ganzen Leib zittern ließ.

Die Angst verlieh ihr Kräfte, und tatsächlich löste sich das Gitter beim nächsten Versuch. Mit bloßen Fingern zog sie es aus der Halterung und steckte den Kopf durch die Öffnung, um sich zu vergewissern, dass der Platz für sie genügte. Dann kletterte sie mit den Füßen voran in den Warmluftschacht, so schnell sie konnte.

Der Schacht erstreckte sich ein Stück weit vor Zoe, dann beschrieb er eine Biegung um neunzig Grad nach oben. Sie schob sich hinein, wobei sie Mühe hatte, auf dem glatten Metall Halt zu finden. Dann griff sie nach dem Gitter und zog es hinter sich zu.

Sie kauerte in dem dunklen Metallschacht, der heiß und sehr beengt war und bei ihr sofort ein Gefühl der Klaustrophobie auslöste. Ihre Ohren dröhnten in der Stille, und sie war sicher, dass derjenige, der sich da draußen herumtrieb, durch die glatte Metallröhre hindurch ihr Herz schlagen hören konnte, das Zoes Position verriet.

Ihr Puls raste bei diesem Gedanken noch schneller. Zoe griff über sich und zog sich tief in den Schacht hinein. Nachdem sie sich angestrengt gewunden hatte, gelang es ihr, sich bis an die Stelle zu zwängen, an der der Schacht den Knick beschrieb, und rollte sich dort zusammen. Sie wartete voller Angst, das gesamte Bewusstsein auf das winzige Rechteck aus Licht gerichtet, das durch das Gitter in den Schacht fiel. Von ihrer Position aus konnte sie durch das Gitter ein paar Bodenfliesen und einen Teil der Tür sehen, durch die man in den Korridor gelangte.

Schließ nie die Tür hinter dir ab! Ihre Mutter hatte ihr das beigebracht und immer wiederholt, wenn sie mit ihr Verstecken gespielt hatte. Sommerfield wollte sicherstellen, dass Zoe wusste, was zu tun war, wenn sie sich jemals bedroht fühlen sollte. Wenn jemand sie verfolgte, dann würde eine verschlossene Tür diesen Verfolger nur dazu bringen, die Tür einzutreten, um zu sehen, was sich dahinter befand – so wie ein Mann kurz vor dem Hungertod, dem man eine geschlossene Dose Bohnen vorsetzte.

Dann würden sie einen erst recht erwischen.

Anders als die meisten Fünfjährigen wusste Zoe, wer „sie“ waren. Sie war erst drei gewesen, als die Vampirgang mitten in einer kalten Dezembernacht in ihr Haus eingebrochen war und ihren Daddy zerfleischte, doch sie konnte sich daran nur zu gut erinnern.

Am schlimmsten von allem waren die Schreie gewesen. Sie hatte nicht gedacht, dass ein Mensch so entsetzliche Schreie von sich geben konnte, wie es damals ihr Daddy getan hatte. Bis dahin hatte Zoe auch nicht gewusst, was Tod bedeutete. Aber als sie zwischen ihren Puppen und Teddybären in ihrem rosafarbenen Bett gelegen hatte, da hatte sie die Decke über den Kopf gezogen und vor Angst geweint. Sie erinnerte sich an den intensiven Blutgeruch, als ihre Mutter sie aus dem Bett holte und mit ihr durch das Haus rannte, über Spielzeug stolperte und gegen Möbel lief, bis sie es in die Garage geschafft hatten, die von innen abgeschlossen werden konnte.

Die Vampire waren ihnen lachend gefolgt und hatten versucht, die Tür einzutreten. Zoe wusste noch, dass es ohrenbetäubend gekracht hatte, während ihre Mutter sie gegen die hintere Wand gedrückt hatte, um sie mit ihrem Körper abzuschirmen. Doch es war den Kreaturen nicht gelungen, die schwere Metalltür zu zerstören.

Schließlich hatten die Vampire aufgegeben und sich zurückgezogen, allerdings nicht, ohne ihnen noch ein Abschiedsgeschenk zurückzulassen: die zerfetzten Überreste ihres Vaters, die sie im Garten um den geschmückten Weihnachtsbaum herum angeordnet hatten. Zoe erinnerte sich noch lebhaft daran, wie sie seine blutigen Eingeweide um den Baum gewickelt hatten, als handele es sich um Weihnachtsschmuck.

Das war das einzige Mal in Zoes Leben gewesen, dass sie froh darüber war, dass ihre Mutter nichts sehen konnte.

Seit jenem Tag hatte sich viel verändert. Dafür hatte Sommerfield gesorgt. Deshalb steckte Zoe jetzt in einem Lüftungsschacht, anstatt sich unter einer Bettdecke oder in einem Schrank zu verstecken.

Das Mondlicht wurde von den Fliesen vor dem Gitter reflektiert. Wie gebannt starrte Zoe darauf. Die schrecklichen Geräusche hatten aufgehört, doch Zoes Phantasie ging fast mit ihr durch, als sie ängstlich lauschte. Sie versuchte, nicht zu atmen, doch ihre Lungen barsten fast bei der Anstrengung.

Stille.

Dann… Schritte.

Zoe verkniff es sich, laut zu schreien, stattdessen drückte sie sich im Schacht noch ein Stück weiter nach hinten und presste sich mit aller Macht gegen die Wand hinter ihr.

Durch das Gitter sah sie ein Paar Stiefel, als jemand vor der offenen Tür stehen blieb.

Wer immer da stand, er lauschte so aufmerksam wie sie selbst.

Sie presste eine Hand auf den Mund, als die Stiefel nach links abzweigten und ins Badezimmer traten. Im letzten Moment schwenkten sie zu den Duschkabinen hinüber. Zoes Ohren dröhnten, als der Unbekannte einen Spind nach dem anderen aufriss und die Türen der Duschkabinen eintrat, als würde er nach etwas Bestimmten suchen.

Er suchte nach ihr.

Zoe sah entsetzt, wie die Stiefel wieder am Gitter vorbeigingen, diesmal näher als beim ersten Mal. Sie stoppten einen Moment lang, der ihr wie eine Ewigkeit vorkam, und Zoe kniff die Augen zu, da sie es nicht länger aushielt.

Diesmal würde sie ihm nicht entkommen.

Nach einer Weile hörte sie, wie sich die Schritte in Richtung Tür entfernten. Erleichtert atmete Zoe aus und öffnete die Augen wieder.

Und dann sah sie das Gesicht, das gegen das Gitter gedrückt war und sie anstarrte.

Zoe begann zu schreien.

Mit einem Wutschrei riss der Mann das Gitter aus der Wand, schob seinen Kopf durch die Öffnung und versuchte, sich in den Schacht zu zwängen, indem er sich wie eine Schlange wand, um hinein zu kommen. Doch sein Oberkörper war zu groß und er blieb in der Öffnung stecken.

Frustriert knurrend zog er sich zurück, kniete sich hin und steckte seinen rechten Arm so weit in den Schacht, wie es nur ging. Mit seiner Klauenhand schlug er nach Zoe, die wimmerte und versuchte, sich noch ein paar Zentimeter weiter zurückzuziehen, während ihr Tränen über die Wangen liefen.

Hilflos sah sie mit an, wie der Mann seinen Arm weiter streckte und mit seinen Fingern immer näher an sie herankam.

Dann kam er nicht weiter. Seine Finger griffen nach Zoes Gesicht, doch es fehlten ein paar Zentimeter.

Er konnte sie nicht zu fassen bekommen!

Zoe atmete aus. Sie hatte einen kleinen Aufschub gewonnen.

Auf einmal war ein Geräusch zu hören, als würde Knorpel knacken. Die Hand des Mannes begann ihre Form zu verändern, als sich winzige Knochen wie Würmer unter der Haut bewegten. Ungläubig und entsetzt sah Zoe mit an, wie die Finger des Mannes allmählich länger wurden und der Abstand zwischen ihnen und ihrem Gesicht dahinschmolz.

Zoe kniff die Augen fest zu und begann abermals zu schreien.

Draußen näherte sich der schwarze Land Cruiser der verlassenen Schiffswerft und bog in Richtung der Docks ab, um dann auf der kiesbedeckten Fläche unterhalb des überdachten Bereichs knirschend zum Stehen zu kommen. Blade stieg aus und schlug die Tür zu.

Als Abigail den Wagen verließ, starrte Blade auf das Türschloss, in das er eben den Schlüssel gesteckt hatte. In der Luft hing ein sonderbares Echo, obwohl kein Geräusch vorausgegangen war. Blade runzelte die Stirn, zog den Schlüssel heraus und beeilte sich, Abigail zu folgen, die bereits die Stufen zum Schlepper hinaufging.

Drinnen war alles dunkel. Sofort reagierten Blades extrem empfindliche Sinne, und er legte eine Hand auf Abigails Arm, damit sie stehen blieb.

Es war zu ruhig.

Irgend etwas stimmte nicht.

Abigail sah ihn an und spürte sein Unbehagen. Ohne ein Wort zu sagen, streckte sie den Arm aus und legte einen Lichtschalter dicht neben ihr um.

Nichts geschah. Der Strom war abgestellt worden.

Instinktiv zogen sie beide ihre Waffen, gingen in geduckte Haltung und bewegten sich voneinander fort durch den Raum. Was nun? Abigail entsicherte ihre Waffe und schlich durch die Finsternis bis in den Korridor. Entweder hatte Hedges die Sicherungen rausfliegen lassen, um in der Hochdruckpresse seine verdammten Pop-Tarts zu toasten, oder irgend etwas stimmte wirklich nicht.

Abigail verdrängte die Gedanken an das, was möglicherweise geschehen war, und konzentrierte sich darauf, mit Blade mitzuhalten, der durch die Tür vor ihnen lief. Mit einem Griff hatte er hinter der Tür zum Labor eine der Taschenlampen gepackt, schaltete sie ein und tauchte den Raum in einen gelblichen Lichtschein.

Abigail stockte der Atem. Sommerfields Labor war komplett verwüstet worden, als hätte ein Tornado im Raum gewütet. Die Computer waren zu Boden geworfen und zerstört worden. Sogar die schwersten Einrichtungsgegenstände waren umgestürzt. Weiter hinten im Raum lagen Tische und Stühle kreuz und quer auf dem Boden.

Sie musste sich einen Moment lang abstützen, ehe sie sich zu Blade umdrehte. Die Angst bescherte ihr einen Geschmack nach kaltem Metall im Mund. „King…“

Sie liefen zur Krankenstation. King war fort. Der Raum war ebenfalls verwüstet worden, Medikamente und Instrumente lagen auf dem Boden verstreut. Als würden sie sich durch einen bösen Traum bewegen, folgten die beiden der Spur aus Zerstörung durch das Labor bis in den Lagerbereich.

Als sie die Tür aufmachten, zuckte Abigail erschrocken zurück und musste sich eine Hand vor den Mund pressen, um nicht laut zu schreien.

Der Betonboden war mit Blut getränkt. Dex und Hedges waren in Fetzen gerissen worden, die so verstreut lagen wie Fleischreste auf dem Boden eines Schlachthofs.

Abigail fühlte, wie ein eisiger Schock sie erfasste.

Das durfte nicht wahr sein.

Wie magnetisch wurde ihr Blick zu den Überresten ihrer Kollegen gezogen und wanderte über die blutigen Eingeweide, die überall auf dem Boden herumlagen. Sie wusste, sie sollte besser nicht hinsehen, weil sie es in jeder Nacht ihres Lebens bereuen würde, die sie allein verbrachte, doch sie konnte einfach nicht anders.

Nichts hätte sie auf diesen Anblick vorbereiten können. Es war, als hätte jemand ihren schlimmsten Alptraum herausgefunden und ihn bis ins letzte Detail Wirklichkeit werden lassen, so wie ein schlechter Scherz für eine Fernsehsendung mit versteckter Kamera. Ihr war immer klar gewesen, dass irgendwann der Tag kam, an dem die Vampire sie entdecken würden. Doch so hatte sie sich das nicht vorgestellt.

Aber ihre Phantasie hätte niemals ausgereicht, um sich etwas derart Entsetzliches auszumalen.

Blade trat einen Schritt auf sie zu und hob seine Hand, um sie sanft an der Schulter zu berühren, doch Abigail wich abrupt vor ihm zurück. Wenn er sie jetzt noch anfasste, dann war sie verloren. Sie musste das hier sehen, damit sie die Kraft hatte, denjenigen – oder dasjenige – zu vernichten, der dafür verantwortlich war.

Etwas knirschte unter ihrem Stiefel. Sie blickte nach unten und sah Hedges’ Armbanduhr in der Blutlache liegen – ein paar Meter vom blutigen Stumpf seiner abgerissenen Hand entfernt. Dieser Anblick ließ etwas in ihr verkrampfen, und sie fühlte, wie eine übermächtige Wut sie überkam. Das war mehr, als nur das Leben eines anderen Menschen zu beenden. Das war ein Abschlachten, ein Blutbad, nichts weiter. Wer auch immer Dex und Hedges umgebracht hatte, er hatte es mit dem größten Vergnügen getan. So viel Blut schwamm auf dem Betonboden, viel mehr, als sich eigentlich in zwei erwachsenen Menschen befinden sollte…

Abigail erstarrte, als sich ein entsetzlicher Gedanke in ihren Kopf fraß. „Zoe! Wo ist Zoe?“

Noch eiliger als zuvor durchsuchten sie und Blade das Hauptquartier: die Zimmer, die Garage, einfach jeden Winkel.

Von dem kleinen Mädchen war keine Spur zu entdecken.

„Wo ist sie nur?“ Abigail hatte das Gefühl, dass der Boden unter ihr wegbrach, während sie durch das Gebäude rannte, Türen und Schränke öffnete und immer wieder Zoes Namen rief. So oft hatte sie auf ihrem Bett gelegen und sich im Traum hin und her geworfen, als sich dieses Szenario in ihrem Kopf abspielte. Und jedes Mal war sie aufgewacht und hatte gehört, wie Hedges und Dex in der Werkstatt ihre Witze rissen und wie Sommerfield in ihrem Labor nebenan ihre nächtlichen Berichte schrieb. Das Leben war ihr normal vorgekommen, als sei es schon immer so gewesen und als würde es auch immer so bleiben.

Abigail hatte insgeheim immer gewusst, dass die Operation der Nightstalker eine riskante Sache war, die nicht von Dauer sein konnte. Und doch hatte die Routine dafür gesorgt, dass ein trügerisches Gefühl der Sicherheit aufgekommen war.

Die Gefahr war in den Hintergrund getreten, und sie waren mit der Zeit alle nachlässig geworden.

Und jetzt hatte irgendetwas zugeschlagen.

Abigail sah auf, als sie Blade rufen hörte. Ihr Magen krampfte sich zusammen, während sie zu ihm lief. Sie wollte nicht darüber nachdenken, was sie jeden Augenblick zu Gesicht bekommen würde.

Sie platzte in das Badezimmer und sah Blade mit hängenden Schultern bei den Waschbecken stehen. Wortlos blickte er auf das blutige Rinnsal, das über die feuchten Fliesen lief.

Abigail hielt einen Moment lang inne, dann machte sie eine entschlossene Miene, nahm die Taschenlampe, die Blade ihr hinhielt, und folgte der Blutspur zu den Duschen, voller Angst, was sie dort vorfinden würde.

Der Schein der Lampe glitt über die weiß gekachelte Wand der Duschen, Abigail schloss die Augen und schnappte nach Luft. Es war schon zu spät. Das Bild war da, unauslöschlich eingebrannt in ihr Gehirn.

Sommerfields Leichnam.

Blutüberströmt, zerschlagen, geschändet.

Der Körper war wie eine Verhöhnung der Kreuzigung Christi zwischen den Duschköpfen aufgehängt worden, Blut lief aus den Augen und dem Mund.

Neben ihr stand mit Blut an die Wand geschrieben:

UNSTERBLICH WERDEN DIE,

DIE DAFÜR BEREIT SIND.

Sommerfields dunkle Brille lag auf dem Boden, vorsätzlich in tausend Stücke zerschlagen.

Abigail gab einen erstickten Laut von sich und ging näher zu Sommerfields Leichnam. Blade las die Nachricht, dann betrachtete er den zerschmetterten Körper der Genetikerin.

Langsam ballte er die Fäuste.

Drake.

Schließlich half er Abigail, da es sonst nichts für ihn zu tun gab.

Gemeinsam hoben sie Sommerfield von der Wand, Abigail nahm die Tote in die Arme und wiegte sie sanft, während ihr Tränen über das Gesicht liefen.

Blade betrachtete sie durch seine dunkle Brille. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos. Dann legte er eine Hand auf ihre Schulter und flüsterte: „Tu es.“ Abigail reagierte nicht. Sie zitterte am ganzen Leib.

Blades Griff um ihre Schulter wurde fester. „Tu es.“

Langsam sah sie auf, bis sich ihre Blick begegneten. Ihre Augen waren gerötet und von blankem Hass erfüllt.

Er bewegte seine Hand nicht von der Stelle. „Tu es!“

Abigail hob den Kopf und stieß einen gequälten Schrei aus, der aus dem Innersten ihrer Seele kam.

Drake befand sich außerhalb des Hauptquartiers der Nightstalker. Er lauschte… und lächelte.

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