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Kurz vor Ladenschluss wartete Whistler geduldig an der Kasse des 7-Eleven. Der Kassierer suchte nach einem Päckchen Nikotinpflaster, das er hinter einer Reihe aus Wodka- und Rumflaschen vermutete, die alle mit Sicherheitssiegeln versehen waren.

Whistler sah sich im Geschäft um und pfiff tonlos vor sich hin. Es roch nach frittiertem Essen und Bodenreiniger mit Zitronenduft. Jeder Quadratzentimeter Freifläche war mit grellbunten Displays und eingerissenen alten Werbeplakaten behängt worden. An der Wand gegenüber blinkte ein Limonadenautomat, während sein technisches Innenleben langsam in der Feuchtigkeit im Laden verrottete.

Dass sein Vorrat an Pflastern fast aufgebracht war, war für Whistler der ideale Vorwand gewesen, eine Zeit lang das Bootshaus verlassen und seine Gedanken in Ruhe ordnen zu können. Er war sogar mehr als froh, dass er auf Abstand gehen konnte, vor allem nach den Ereignissen des heutigen Tages. Er durfte nicht einmal darüber nachdenken, weil er sonst sofort wieder eine Riesenwut auf Blade bekam. Allerdings wusste er auch, dass ihnen beiden damit nicht geholfen wäre.

„Sajne pluvos“, sagte er auf Esperanto zu dem Kassierer, um ein wenig Konversation zu betreiben. Sieht nach Regen aus.

Der Mann nickte beiläufig, kramte weiter und wurde immer besorgter, je mehr Schachteln er entdeckte, in der sich das Gesuchte auch nicht befand. Whistler verkniff sich ein ironisches Lächeln. Der junge Mann arbeitete erst seit zwei Wochen hier und wusste noch längst nicht, wo was zu finden war.

Whistler erinnerte sich gut daran, was es bedeutete, in einem solchen Geschäft zu arbeiten. Als er jung war, hatte er einen Job in einem Laden in seiner Nachbarschaft gehabt. Er wusste, wie schwierig es war, über die Runden zu kommen und gleichzeitig einen Funken Selbstrespekt zu wahren. Damals hatte er sich immer vorgemacht, er verkaufe sich nicht, sondern gestatte vielmehr einem anderen, ihn vorübergehend zu kaufen.

Schließlich sollte es nur vorübergehend sein, bis sich etwas Besseres ergab…

Er wusste noch gut, wie er sich genau das acht Monate lang eingeredet hatte, bis es eines Nachts zu einem Streit mit einem betrunkenen und schwerbewaffneten Mitglied der Hell’s Angels gekommen war. Der Mann war mit dem geforderten Preis nicht einverstanden gewesen, und Whistler hatte sich gleich danach gezwungen gesehen, nach einer anderen Beschäftigung Ausschau zu halten. Gleichzeitig war die Geschäftsleitung zu der Einsicht gekommen, dass der Fußboden vor der Ladentheke eines innerstädtischen Spirituosengeschäfts doch lieber möglichst dunkel gefärbt sein sollte.

So war es immer, dachte Whistler. Die meisten Leute gaben sich völlig damit zufrieden, dass sie im Leben gescheitert waren, solange sie sich vormachen konnten, dass sie sich nur momentan in einem Tief befanden. Es gab Menschen, die verbrachten sogar ihre ganzes Leben damit, sich auf die Zukunft zu freuen, während in der Realität eine klägliche Minute nach der anderen verstrich, aus der Stunden, Tage und schließlich Jahre wurden…

Whistler schüttelte den Kopf und suchte in der Tasche nach Kleingeld. Der Kassierer schob ihm ein kleines Päckchen über die Theke, das Whistler in der Jackentasche verstaute, in der sich etliche Bolzen und kleine Maschinenteile voller Schmierfett befanden.

Er war ein Verfechter des Sprichworts, wonach jeder seines eigenen Glückes Schmied war, und er achtete darauf, dass ihm gefiel, was er tat – und das immer nach dem Prinzip, von einem Tag zum anderen zu leben. Seine nächtlichen Spaziergänge waren Teil des wenigen Luxus, den er sich gönnte, ein kurzer Ausflug in die Welt des Normalen, ehe er in sein Leben voller Vampire und Gewalt zurückkehrte. Ein zufälliger Beobachter würde ihn für einen ganz normalen Mann halten, der nachts noch ein wenig spazierenging. Das gefiel Whistler mehr, als er es je zuzugeben wagte.

Auch wenn er wusste, dass völlige Geheimhaltung von größter Bedeutung für ihre Mission war, genoss er sein kleines Ritual viel zu sehr, als dass er darauf hätte verzichten wollen. Der lange Spaziergang an der Straße entlang und eine Viertelstunde Stöbern im Supermarkt wirkten beruhigend auf ihn und gaben ihm Zeit zum Nachdenken. Wenn er mit seinen Besorgungen zurückkehrte, war er bereit, sich wieder seiner Welt zu stellen.

Whistler schüttelte traurig den Kopf, dann wandte er sich ab und ging zur Tür.

Er wünschte, Blade würde ihn nur einmal begleiten, doch der blieb lieber zu Hause, schärfte sein verdammtes Schwert und brütete vor sich hin.

Das war natürlich Blades Problem, so viel war Whistler klar. Der Kerl verstand es einfach nicht, sich auch mal zu entspannen. Er hatte mit den Menschen viel gemeinsam, doch ein Hybridwesen zu sein, schien die Symptome nur umzukehren. Blade träumte von einer besseren Welt, einer Welt ohne Vampire, doch er weigerte sich, das Hier und Jetzt zu genießen, obwohl er nur zu gut wusste, wie kostbar jede Sekunde des Lebens war.

Etwas holte Whistler aus seinen Gedanken. Er blieb gegenüber vom Zeitschriftenregal stehen, dann ging er zurück bis zu dem Drehständer, in dem die aktuellen Tageszeitungen steckten.

Oh, Mist!

Die meisten Zeitungen befassten sich mit dem üblichen Chaos bei den Wahlen, aber es war die Schlagzeile einer Boulevardzeitung, die Whistlers Aufmerksamkeit auf sich lenkte.

Auf der Titelseite prangte eine Art Phantomzeichnung von Blade.

Die Ähnlichkeit war nicht zu leugnen, und Whistler lief eine Gänsehaut über den Rücken. „Schießwütiger Psychopath bei Tat gefilmt“ schrie die Schlagzeile hinaus.

Na, das war doch was fürs Sammelalbum.

Gleich neben der Zeichnung fand sich ein grobkörniges Foto, das Blades jüngstes Blutbad zeigte, das offenbar von irgend jemandem mitgefilmt worden war. Whistler zog die Zeitung heraus und studierte sie aufmerksam, gab sich aber den Anschein, nur beiläufig interessiert zu sein. „Das gibt wohl mehr als nur ein bisschen Regen“, murmelte er.

Verdammt. Er hatte gewusst, dass so etwas irgendwann einmal passieren musste. Selbst ihm war aufgefallen, dass Blade immer größere Risiken einging. Vielleicht dachte er, er würde umso bessere Resultate erzielen, je mehr er aufs Spiel setzte. Whistler wusste, dass Blade vom Kämpfen genug hatte – ihm selbst erging es nicht anders –, aber so ließ sich dieses Problem nicht lösen.

Es gab keine globale Lösung, um die Vampire zu besiegen. Blade wusste das so gut wie Whistler, aber er wollte es nicht wahrhaben. Wenn sie beide starben, würde der Krieg weitergehen, vielleicht eine Generation, vielleicht aber auch hundert Generationen lang. Niemand vermochte das zu sagen. Sie konnten einfach nur weiterkämpfen und ihren täglichen Beitrag leisten. Mal retteten sie hier ein Leben, mal erledigten sie dort eine Gang. Das alles zählte, und es machte die Welt Stück für Stück zu einem besseren Ort.

Verzweiflung machte sich immer erst dann bemerkbar, wenn sie den Blick in die Zukunft richteten.

Whistler schauderte.

Der Kassierer sah ihn an. „Ist das alles?“ fragte er auf Esperanto.

Whistler nickte gedankenverloren und gab dem Mann eine Handvoll ölverschmierter Münzen, während er mit Zeitung wedelte. „Die nehme ich auch noch.“

„Der Typ braucht ein neues Hobby“, meinte der Kassierer, als er auf die Schlagzeile zeigte.

„Besser nicht“, erwiderte Whistler und sah wieder auf das Bild.

Er verließ das Geschäft und überflog auf dem Rückweg den Zeitungsartikel.

alte Mann war so in seine Zeitung vertieft, dass er den Schatten nicht bemerkte, der sich auf einem Dach ganz in der Nähe bewegte. Hoch oben in der Dunkelheit kauerte ein Beobachter des FBI auf einem Gang vor einer Galerie und hielt seine digitale Hochgeschwindigkeitskamera auf Whistler gerichtet, während er ein Foto nach dem anderen schoss. Sein Gesicht wurde von dem großen Objektiv verdeckt.

Der alte Mann verließ sein Blickfeld. Der Agent klappte seinen Kragen hoch und sprach leise in das Funkgerät, das am Futter seiner Jacke befestigt war. „Objekt bewegt sich in westlicher Richtung.“

In einem Zivilfahrzeug, das ganz in der Nähe geparkt war, saß Agent Cumberland geduckt hinter seinem Lenkrad und spähte aus dem Seitenfenster. Er wagte kaum zu hoffen, dass er richtig liegen könnte. Vor ihm trat ein ungepflegt aussehender Mann aus einem Geschäft und schlenderte langsam den Fußweg entlang, den Blick unverwandt auf eine Zeitung in seinen Händen geheftet.

Im Geiste hörte Cumberland einen Chor Halleluja singen.

Der Mann sah aus, als sei er Anfang sechzig und humpelte leicht. Ehe er die Straße überquerte, blieb er kurz stehen, um Luft zu holen, dann humpelte er auf die andere Seite. Von den Wagen, die ihn passierten, nahm er kaum Notiz, da ihn der Artikel viel zu sehr zu fesseln schien.

Gefährlich sah der Mann nicht aus, aber Cumberland übte seinen Job schon viel zu lange aus, als dass er Menschen noch nach ihrem Äußeren beurteilt hätte. Das lange graue Haar war zwar zerzaust, seine Kleidung wirkte eher wie Lumpen, doch für Cumberland war es so, als dürfe er einen Blick auf den Heiligen Gral werfen.

Abraham Whistler.

Endlich.

Whistler war Blades Komplize und einer der meistgesuchten Kriminellen auf der Liste, die das FBI monatlich erstellte. Der Mann wirkte alt und gebrechlich, aber sein Vorstrafenregister war sogar noch länger als das von Blade. Cumberland konnte sich noch daran erinnern, wie er die lange Liste zum ersten Mal zu Gesicht bekommen hatte. Ungläubig hatte er um eine Kopie gebeten, damit er sie in Ruhe zu Hause studieren konnte, doch die Druckerpatrone war leer gewesen, ehe die Seiten komplett ausgedruckt waren. Brandstiftung, schwerer Einbruch, Entführung, versuchter Mord, Widerstand bei der Festnahme… Ganz gleich, um welches Verbrechen es sich handelte, zu irgendeinem Zeitpunkt hatte Whistler es sicher begangen.

Aber er war nie verhaftet worden.

Cumberland lächelte und hatte dabei das Gefühl, als würde er das zum ersten Mal seit Wochen machen. Er griff nach dem Funkgerät, ohne den Blick von Whistler zu nehmen. Ein Gefühl sagte ihm, der Mann würde in dem Moment verschwunden sein, in dem er in eine andere Richtung sah. „Das ist er“, sagte er in das Funkgerät.

Endlich.

Vor Begeisterung begann sein Puls zu rasen. Cumberland startete den Motor und ließ den Wagen langsam am Straßenrand entlang rollen, ohne die Scheinwerfer einzuschalten.

„Gratuliere, jetzt bist du berühmt. Das hat uns gerade noch gefehlt.“

Whistler warf die Zeitung auf die Werkbank, Blade starrte sie ungerührt an, las interessiert die Schlagzeile und sah sich dann das Foto an.

Er war wirklich gut getroffen, lediglich sein Kinn war etwas ausgeprägter als auf der Zeichnung, und seiner Frisur wurde das Bild auch nicht gerecht.

Whistler schlug mit der flachen Hand auf das Bild und Blade zuckte zusammen. „Blade, jemand hat uns in die Suppe gespuckt. Dein Gesicht ziert die Zeitungen und ist im Fernsehen zu sehen!“ Er zog die Brauen zusammen und fuchtelte mit einer Hand wie wild umher. „Die Medien stürzen sich drauf!“

Blade schnaubte. „Kümmert mich das?“

„Es sollte dich kümmern“, sagte Whistler schroff. „Du hast einen Menschen umgebracht, auch wenn er für die Vampire gearbeitet hat. Für den Rest der Welt bist du jetzt Staatsfeind Nummer Eins!“

Blade sah Whistler von der Seite an. „Ich wusste gar nicht, dass es hier um einen Beliebtheitswettbewerb geht.“

Whistler presste die Lippen zusammen, während er versuchte, seine Wut zu bändigen. „Verdammt, Blade, begreifst du denn nicht?“ Er packte die Zeitung und fuchtelte damit seinem Schützling vor dem Gesicht herum. „Die Scheißkerle werden endlich schlau. Sie starten eine gottverdammte PR-Kampagne!“ Er warf die Zeitung wieder auf die Werkbank. „Jetzt müssen wir uns nicht nur um die Vampire kümmern, sondern der Rest der Welt hat es nun auch noch auf uns abgesehen.“

Whistler wandte sich ab. Seine Gedanken überschlugen sich. Die Vampire hatten ihnen alles genommen, und jetzt wollten sie noch mehr. Sie lebten schon wie die Ratten, sie opferten jeglichen Komfort und ihre geistige Gesundheit, nur um Leben zu retten. Und nun sah es so aus, als würde man ihnen diesen letzten Rest auch noch nehmen.

Das war nun wirklich zu viel.

Whistlers kobaltblaue Augen erfassten die Werkstatt mit all ihren behelfsmäßigen Konstruktionen. Aus ihrem letzten Hauptquartier hatte er gerettet, was noch zu retten gewesen war. Aber das meiste war von den Vampiren völlig vernichtet worden. Die wenigen verbliebenen Werkzeuge und Ausrüstungsgegenstände hatte er sich zum größten Teil aus einem medizinischen Labor am Stadtrand „geborgt“. Die übrige Einrichtung war bereits vorhanden gewesen, als sie hier einzogen, offenbar von den Farmarbeitern zurückgelassen, die früher hier gewohnt hatten.

Es hatte Wochen gedauert, bis die Matratzen nicht mehr nach Ziegen gestunken hatten.

Er wandte sich wieder Blade zu und bemühte sich, mit ruhiger Stimme zu reden. „Sie zwingen uns zur Flucht. Seit Monaten sind wir kaum noch in der Lage, ihnen auch nur einen Schritt voraus zu sein…“

Blade legte eine Hand auf Whistlers Schulter und drückte sie. „Du machst dir zu viel Gedanken, alter Mann.“

Whistlers Augen blitzten wütend auf. Er wirbelte herum und schlug die Hand des anderen zur Seite. „Ich habe das hier schon getan, bevor du auf der Welt warst, Blade. In dem Augenblick, in dem du aufhörst, dir Gedanken zu machen, bist du tot.“

Einen Moment lang starrten sich die beiden an. Ihre Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Dann wurden Whistlers Züge sanfter. „Seit dem Tag, an dem ich dich fand, bist du für mich wie ein Sohn gewesen. Ich habe dir alles beigebracht, was ich weiß.“ Er atmete pfeifend ein, dann seufzte er. „Aber ich bin müde. Verstehst du das?“

Mit diesen Worten wandte er sich ab und ging weg.

In seinem spartanisch eingerichteten Zimmer saß Whistler im Dunkeln auf dem Bett und starrte auf den angelaufenen Ehering an seinem schwieligen Finger. Er drehte ihn langsam und gedankenverloren.

Auf der anderen Seite der Diele kniete Blade mit geschlossenen Augen vor einem kleinen Zen-Schrein. Weihrauch stieg aus einer matten silbernen Räuchervase auf, die hinter ihm auf dem Boden stand. Ein süßlicher und zugleich leicht beißender Duft breitete sich im Zimmer aus. Auf einem zeremoniellen Ständer ruhte Blades Schwert, die gravierte Titanium-Klinge glänzte im Mondschein. Darunter lagen seine Sonnenbrille und seine Lederjacke, deren Ärmel noch immer feucht waren vom Blut der Vampire. Die Stille im Zimmer wurde nur von der regelmäßigen Brandung und vom Wind, der sich in den Ritzen des Fensterrahmens fing, unterbrochen.

Blade konzentrierte sich auf das Rauschen des Meeres und zwang sich, all die hässlichen Geräusche in seinem Kopf zu ignorieren. Schreie und Schüsse spielten sich wieder und wieder in seinem übermüdeten Gehirn ab, untermalt vom unablässigen Motorgebrüll seines Chargers. Immer wieder tauchte Gedges Gesicht auf, wie er im Sterben lag, wie hinter der Angst und dem Schmerz der Triumph einer Klapperschlange gleich lauerte. Der Mann war davon überzeugt gewesen, dass sein Tod eine tiefere Bedeutung hatte, so als habe er irgendein Opfer gebracht.

Blade steckte in Schwierigkeiten, so viel war klar. Er hatte in aller Öffentlichkeit einen Menschen umgebracht, und dafür würde er bezahlen müssen.

Aber ihm und Whistler würde letzten Endes nichts passieren – so wie ihnen nie etwas passierte. Er musste bloß diese Kakophonie des Todes aus seinem Kopf bekommen, dann würde er sich dem Problem von jeder nur denkbaren Seite widmen und eine Lösung finden.

So wie er es immer machte.

Blade hatte sein Leben lang gegen die Bedrohung durch die Vampire gekämpft, seit er aus dem Bauch seiner sterbenden Mutter gerettet worden war, in all den Jahren des Schmerzes und des Leidens, die bis zu dem Tag gedauert hatten, als er Whistler begegnet war.

Er hatte durchgehalten. Er hatte durchhalten müssen.

Denn er war einer von ihnen.

Der Vampir, der seiner Mutter das Leben genommen hatte, war auch dafür verantwortlich, dass er bei Blade unauslöschliche Spuren hinterlassen hatte. Als er sie biss, übertrug sich der parasitäre Virus im Speichel der Kreatur durch die Plazenta auf Blade. Sein Blut wurde infiziert, während er zusammengekauert im Bauch seiner Mutter lautlos geschrien hatte.

Noch bevor er zur Welt gekommen war, hatte sich Blade unfreiwillig in etwas verwandelt, was er nicht sein wollte. Nicht ganz Mensch, nicht ganz Vampir. Es war ihm nie möglich gewesen, sich in Sicherheit zu bringen, sich und seine Mutter vor dem Monster zu beschützen, das ihr die Kehle herausgerissen und dann auf der Straße dem Tod überlassen hatte.

Jeden Tag in seinem Erwachsenenleben hatte Blade damit verbracht, Vampire zu töten, immer in der Hoffnung, er könnte so die Dinge irgendwie wieder gerade rücken. Jeder getötete Vampir gab ihm ein winziges Stück seines Selbst zurück, auch wenn er tief in seinem Inneren wusste, dass es nie genügen würde, um den angerichteten Schaden vollständig ungeschehen zu machen.

In gewisser Weise wusste Blade, dass er sich glücklich schätzen konnte. Er verfügte über alle Kräfte der Vampirrasse, die ihn hervorgebracht hatte, aber über keine ihrer Schwächen. Weder Knoblauch noch Silber oder Sonnenlicht konnten ihm etwas anhaben. Blade war im Vorteil, wenn er gegen Vampire kämpfte. Und diesen Vorteil nutzte er stets gnadenlos aus.

Daywalker nannten sie ihn.

Hinter seinem Rücken hatten sie allerdings noch ganz andere Bezeichnungen für ihn.

Anstelle eines reinrassigen Vampirs war Blade ein lebendes und atmendes menschliches Wesen, aber er war noch mehr. Das Virus hatte ihm große Kraft verliehen, seinen Blutdruck erhöht und den Stoffwechsel beschleunigt, ohne dass ihm dabei die Risiken drohten, die mit diesem Prozess normalerweise einhergingen. Sein Körper war unvergleichlich leistungsfähiger als der anderer Menschen, er konnte gespeicherten Blutzucker sofort in Energie umwandeln. Den Sauerstoff in seinem Blut konnte er fast zu hundert Prozent nutzen.

Whistlers erste Untersuchungen hatten außerdem gezeigt, dass das Virus die Drüsen umgebaut hatte, die Adrenalin produzierten. Tests bewiesen, dass Blades Adrenalin etwa zehnmal so wirkungsvoll wie das eines Menschen war und dass es nicht nur in Extremsituationen, sondern permanent ausgeschüttet wurde. Dies und einige andere biologische Verbesserungen machten Blade so übermenschlich schnell und stark. Und deshalb lief bei ihm auch der Heilungsprozess erheblich schneller ab.

Dafür war er durchaus dankbar, weil es ihm half, seine Aufgabe zu erledigen.

Doch für all dies musste er einen Preis bezahlen: Genau wie bei einem Vampir war sein Durst auf menschliches Blut ausgerichtet.

Blade hatte in seinen frühen Jahren damit zu kämpfen gehabt, seine Mordlust zu unterdrücken, da der Vampirparasit in jeder Zelle seines Körper danach schrie, genährt zu werden. Er hatte seine Jugend nur überstanden, indem er ein raues Leben führte und sich von Obdachlosen und Pennern ernährte. Zwar hasste er sich dafür, aber er war nicht in der Lage gewesen, etwas dagegen zu unternehmen. Der Durst hatte irgendwann in der Pubertät eingesetzt und aus dem gelegentlichen Appetit auf ein möglichst blutiges Steak den Drang zum Töten entstehen lassen. Blade war von seinen Pflegeeltern abgehauen und hatte die nächsten Jahre auf der Straße gelebt. Dort war es nur darum gegangen, zu überleben und den Behörden zu entkommen, die ihn unablässig jagten, um ihn für immer hinter Gitter zu stecken.

Whistler hatte dem ein Ende gesetzt: Er hatte ihn aufgenommen und auf ihn aufgepasst, obwohl er damit sein eigenes Leben einem beträchtlichen Risiko aussetzte. Das Wort Schmerz hatte eine ganz neue Bedeutung bekommen, als der alte Mann Blade geduldig beigebracht hatte, das Unmenschliche zu kontrollieren, dass in ihm steckte, anstatt mit Wut darauf zu reagieren. Durch Whistler hatte er gelernt, zu kämpfen anstatt zu jagen, zu jagen anstatt zu fliehen, und die Vampire zu hassen anstatt sich selbst.

Von Whistler hatte er auch gelernt, welche Wirkung Sonnenlicht, Knoblauch und Silber auf Vampire ausübten, und der alte Mann hatte Jahre seines Lebens damit zugebracht, neue und erfindungsreiche Mittel und Wege zu finden, um diese drei Dinge als Waffen einzusetzen. Whistlers früheres Leben als Büchsenmacher war in dem Moment beendet, als die Vampire seine Familie abgeschlachtet hatten. Von da an diente sein Wissen, das er in seinem Beruf erlangt hatte, nur noch einem einzigen Zweck.

Im Rahmen von Blades Rehabilitation hatte Whistler auch einen Impfstoff entwickelt, der direkt in den Blutkreislauf gespritzt wurde und der seinen unablässigen Durst nach Blut zum größten Teil unterdrückte.

Damit hatte Whistler das Unvorstellbare geschafft: Er hatte Blade das Leben wiedergegeben.

Jetzt, rund zwanzig Jahre später, war das ungleiche Duo immer noch zusammen und kämpfte gegen die Geschöpfe der Finsternis, die eine permanente Gefahr für die Menschheit darstellten. Sie wurden für ihre Arbeit nicht bezahlt, niemand wusste zu schätzen, was sie taten. Sie waren die anonymen Helden der Stadt gewesen.

Bis jetzt.

Blade kehrte abrupt in die Gegenwart zurück. Die Schreie in seinem Kopf verstummten sofort und wurden von einer Stille abgelöst, die etwas Drängendes an sich hatte. Blade riss die Augen auf und starrte in die Finsternis, seine gesamte Aufmerksamkeit auf ein winziges Geräusch gerichtet, das gerade noch wahrnehmbar war.

Irgend etwas stimmte nicht.

Blade sprang augenblicklich auf, die Müdigkeit war wie weggewischt. Er griff nach seinem Schwert und huschte nach draußen in die große verlassene Werkstatt. An einem der seitlichen Fenster angekommen, hob er mit der Schwertspitze die Jalousie ein wenig an und lauschte konzentriert. Der Mond stand über dem Wasser. Durch einen Sprung in der Glasscheibe drang der Geruch der See herein.

Alles war ruhig.

Zu ruhig.

Ein leises Geräusch war hinter ihm zu hören, und als er sich umdrehte, sah er Whistler, wie er in einem Schatten verschwand. Er war vollständig angezogen und hielt eine 9-mm-Browning in der Hand.

„Was ist?“ flüsterte er.

Blade sah wieder in Richtung Ozean, tat einen Schritt nach hinten und erhob sein Schwert. Er schluckte, um das Gefühl von Übelkeit zu unterdrücken, das wie bittere Galle in seiner Kehle aufstieg. „Das, worüber du dir Gedanken gemacht hast.“

Sie standen beide reglos da und horchten, wie die Wellen an Land schlugen und sich wieder zurückzogen.

Sie rollten an Land, sie zogen sich zurück.

An Land und zurück.

An…

In diesem Moment wurde das Fenster eingeschlagen. Glassplitter regneten in den Raum. Blade und Whistler gingen hinter einer Werkbank in Deckung, als zwei schwerbewaffnete SWAT-Agenten in kugelsicherer Kleidung durch die Fensterläden krachten und sich in den Raum fallen ließen. Zwei weitere Männer durchbrachen die Fensterreihen zu beiden Seiten des Hauses und schwangen sich auf Blade und Whistler zu. Sie feuerten Tränengasgranaten ab. Sofort entstand eine Wand aus dichtem grauem Rauch, die das Labor von einer Tür bis zur anderen blockierte.

Die Behörden hatten sie gefunden.

Blade stürmte los, um sich den Eindringlingen in den Weg zu stellen, während er Whistler zurief, er solle sich zurückziehen.

Der alte Mann verschwand in der relativen Sicherheit der Waffenkammer. Im gleichen Augenblick wurde die verstärkte Haustür aufgesprengt und schlug mit einem metallischen Dröhnen auf dem Boden auf. Wie eine dunkle Flutwelle stürmten Agenten in die Werkstatt, die kugelsichere Kleidung und Gasmasken trugen und mit Heckler & Koch-Sturmgewehren vom Typ MP-5 bewaffnet waren.

Einer von ihnen warf eine Blendgranate. Zwar schloss Blade seine Augen, ehe der Blitz den Raum in gleißendes Licht tauchte, doch da er das Schwert in der Hand hielt, konnte er nicht gleichzeitig die Ohren zuhalten. Er stöhnte auf, als sein überempfindliches Gehör vom Explosionsgeräusch getroffen wurde.

Während das Echo der Blendgranate verhallte, ertönte draußen eine Reihe von Detonationen. Blade sah durch das zerschmetterte Fenster ungläubig mit an, wie die Barrikade, die den Zugang zu ihrer Zuflucht vom Ozean her schützen sollte, durch eine Explosion zerstört wurde und ins Wasser stürzte. Ein Militärschlauchboot bahnte sich den Weg an dem einstigen Hindernis vorbei, glitt ein Stück weit die hölzerne Rampe hinauf und kam neben dem Bootshaus zum Stehen. Es war mit weiteren Agenten besetzt, die allesamt schwarze Schutzkleidung trugen und mit Suchscheinwerfern und Gewehren ausgerüstet waren. Sie sprangen aus dem Boot und verteilten sich rasch rund um das Gebäude.

Blade suchte hinter einem Stützpfeiler Schutz. Sein Herz raste wie wild. Das war alles nur seine Schuld. Er war unachtsam gewesen, und nun würde er dafür bezahlen müssen.

Er fluchte lautlos, als er mit ansah, wie die Agenten die Werkstatt auseinandernahmen und bei ihrem Ansturm die empfindlichen Ausrüstungsgegenstände zu Boden rissen.

Als er wieder Glas splittern hörte, zuckte er zusammen. Blade ahnte, dass kein Gerät mehr zu gebrauchen sein würde, wenn die Cops fertig waren. Aus langjähriger Erfahrung wusste er nur zu gut, dass die Polizei noch schlimmer war als die Vampire, wenn es darum ging, Dinge zu zerschlagen.

Er konnte nur hoffen, dass Whistler das Haus versichert hatte…

In der Waffenkammer öffnete Whistler im Halbdunkel seinen hölzernen Munitionsschrank. Ihm blieben nur noch Sekunden, ehe die Agenten das Haus nach ihm absuchen würden. Seine Pistole konnte er nicht benutzen, um sich zur Wehr zu setzen, da er das SWAT-Team damit nur dazu einladen würde, das Feuer zu erwidern. Und angesichts des Interesses der Medien an Blade wären mehrere erschossene Polizisten eine denkbar ungünstige Meldung.

Er musste einen Weg finden, sich mit nicht so todbringenden Mitteln zu verteidigen.

In dem Moment platzte ein schwarzgekleideter Agent in die Waffenkammer, richtete seine Pistole auf Whistler und brüllte: „Auf den Boden! Auf den Boden!“

Der tauchte zur Seite weg und gab zwei Warnschüsse auf den Boden gleich neben dem Agenten ab, dann trat er die Flucht an.

Weitere Agenten folgten und erwiderten das Feuer, so dass Whistler hinter einem Betonpfeiler Schutz suchen musste, als eine Salve auf ihn abgeschossen wurde. Whistler antwortete mit einem Schwenk seiner Waffe, während er sie abfeuerte. Die Agenten wichen zurück und verließen den Raum, worauf Whistler mit Furcht erregendem Gebrüll in Richtung der Computer hechtete.

Sofort wollten die Agenten ihm hinterher stürmen, aber der Anführer der Gruppe gab ein Zeichen, dass sie zurückbleiben sollten. Er holte eine Tränengasgranate aus seinem Rucksack, zog den Stift mit den Zähnen heraus und warf sie Whistler nach.

Sie würden den verrückten alten Kerl einfach ausräuchern.

Mit schussbereiten Waffen stand das SWAT-Team da und wartete.

Ein langer Konvoi aus Polizeiwagen und SWAT-Trucks rumpelte den Feldweg entlang und näherte sich dem Bootshaus mit heulenden Sirenen. Die Türen der Trucks wurden aufgeschoben, eine weitere Welle von FBI-Agenten und Polizisten sprang heraus. Sie luden Sturmgewehre aus und riefen sich gegenseitig per Megaphon Anweisungen zu. Drüben am Dock stiegen die Agenten Cumberland und Haie aus ihrem unscheinbaren Fahrzeug. Sie trugen kugelsichere Westen und hielten Schusswaffen im Anschlag.

Bei diesen Freaks würden sie kein Risiko eingehen.

Cumberland griff nach seinem Funkgerät. „Macht von allen Seiten zu, es darf keiner rauskommen!“

Weitere Polizeiboote näherten sich den Docks und blockierten den Fluss auf voller Breite. Auf dem Dach hatten SWAT-Scharfschützen Stellung bezogen und warteten darauf, dass die Verdächtigen aus dem Gebäude kamen.

Im Bootshaus versuchte Blade mit allen Mitteln, sich den Weg durch die Menge Polizisten freizukämpfen, um zu Whistler zu gelangen. Er wusste, der alte Mann konnte gut auf sich selbst aufpassen, doch Blade war mit einem Mal bewusst geworden, dass er vermutlich bleiben und kämpfen würde. Ein Blick nach draußen genügte, um zu erkennen, dass sie diese Option nicht mehr hatten. Ihr neues Hauptquartier war verloren. Ihnen blieb nur noch der Rückzug. Zu viele Agenten strömten ins Haus, als dass er sie noch hätte zurücktreiben können. Töten konnte er keinen von ihnen, wenn er nicht riskieren wollte, dass die Situation für ihn noch schwieriger wurde.

Blade hatte sich schon mit mehr Gegnern konfrontiert gesehen, aber diesmal verhielt es sich anders, denn dies waren Menschen. Unschuldige.

Ein einziger toter Mensch war bereits zu viel, und angesichts der Tatsache, dass es nun über hundert Augenzeugen gab, die jede seiner Bewegungen mitverfolgten, war eines klar: Wenn man ihn zu fassen bekam, dann würde er garantiert nie wieder das Tageslicht zu sehen bekommen.

Blade beobachtete die Menge mit geschultem Blick. Dann senkte er die Schultern und rannte durch eine Mauer aus einem halben Dutzend Agenten, die in alle Richtungen geschleudert wurden. Da er sein Schwert nicht einsetzen wollte, packte er den erstbesten Agenten und schlug ihn mit einer Kopfnuss bewusstlos, wobei er dem Mann zugleich die Nase brach und das Blut bis an die Wand spritzte. Er hob den schlaffen Körper hoch und warf ihn zwei Männern in den Weg, die ihn von der Seite überrennen wollten. Dann griff er hinter sich, bekam die Kleidung eines anderen Agenten zu fassen und schleuderte ihn durch ein Fenster. Das Platschen des Wassers, als der Mann im Fluss landete, hatte für Blade etwas Befriedigendes, doch schon im nächsten Moment versperrten vier weitere Agenten ihm den Weg.

Blade knurrte ungeduldig. Zu viele Leute hinderten ihn am Vorankommen. Er musste zu Whistler gelangen, aber er konnte nicht so weiterkämpfen, wenn er kein allzu großes Blutvergießen riskieren wollte.

Er wich langsam zurück und schlug und schubste sich den Weg frei. Er hatte diese Situation heraufbeschworen, er würde sie auch bereinigen. Er konnte nur hoffen, dass der alte Mann schlau genug war, sich aus der Schusslinie zu halten.

Nebenan im Computerraum erkannte Whistler rasch die zentralen Arbeitsstationen und fuhr die Rechner hoch, während sich der Raum allmählich mit Tränengas füllte. Hustend und halbblind hastete er zu einer Reihe altmodischer Computer und gab unbeholfen Befehle ein. Ein halbes Dutzend Monitore um ihn herum erwachte zum Leben, als sich die Arbeitsstationen mit den Servern abstimmten und auf jedem Monitor die gleichen Textzeilen zu lesen waren:

- Server 1 Schutz AKTIV 

- Server 1 Schutz AKTIV 

> Datenschutzroutine aktivieren J/N?

Whistler tippte auf das „J“ und duckte sich hinter eine Werkbank.

Ein Surren war zu hören, das schnell höher wurde, als die Festplatten des Computers ein letztes Backup der Daten aus der letzten Nacht vornahmen. Ein rotes Licht an der Vorderseite der Netzwerk-Speichereinheit leuchtete konstant auf.

Einen Augenblick später leuchtete ein Päckchen Semtex, das mit Klebeband seitlich an der Einheit befestigt war, orangerot auf und explodierte beinahe sofort. Sekunden später ging auch der zweite vernetzte Server in die Luft und ließ einen Regen aus verkohlten Kabeln und Trümmern im Raum niedergehen.

Mit Bedauern betrachtete Whistler das Ausmaß der Zerstörung, dann presste er sich einen ölverschmierten Lappen vor Nase und Mund und stürmte in die Rauchwand aus Tränengas hinein.

Draußen sprang Cumberland erschrocken hinter einem Polizeiwagen in Deckung, als es im Bootshaus zu einer dritten Explosion kam. Rauch quoll aus den Fenstern und sank langsam nach unten auf den Parkplatz. Hektisch rief Cumberland ins Funkgerät: „Was ist denn da drinnen los?“

Die Stimme eines Agenten drang krachend aus dem Lautsprecher: „Irgendeine Art von Selbstzerstörung. Die rösten ihre Festplatten!“

Cumberland biss sich nervös auf die Lippen und stellte das Funkgerät ab. Kriminelle mit Computern? Das war ja noch schlimmer als erwartet.

Im Bootshaus wurde Whistler allmählich müde. Der Rauch war noch dicker geworden, nachdem die Agenten eine zweite Granate durch die Tür geschleudert hatten, um ihn nach draußen zu treiben. Bevor sie jedoch hochgegangen war, hatte er es geschafft, ein Fenster einzuschlagen, so dass ein Teil der Rauchschwaden abziehen konnte. Doch der Qualm war nach wie vor praktisch nicht zu durchdringen.

Whistler konnte kaum die Hand vor Augen erkennen und bediente die Computer nur noch nach Gefühl. Er wusste, dass der Rauch seinen Lungen schwere Schäden zufügte, doch es kümmerte ihn nicht. Ein Leben lang hatte er fünfzig Zigaretten am Tag geraucht, da kam es auf das bisschen Qualm auch nicht mehr an.

Egal was kam, die Polizei durfte niemals auf seine Datenbanken Zugriff erhalten. Das Video, das zeigte, wie Blade einen Menschen tötete, war schon belastend genug. Doch wenn die Cops seine Aufzeichnungen in die Finger bekamen, die von den Grundrissen der Tresorräume örtlicher Banken bis hin zu Blades täglicher Quote an getöteten Vampiren reichte… nun, er wollte nicht derjenige sein, der Blade vor der ersten und einzigen öffentlichen Hinrichtung in dieser Stadt retten musste.

Whistler war so in seine Arbeit vertieft, dass er den Agenten nicht bemerkte, der hinter ihm lautlos aus dem Rauch trat.

Der Agent sah, dass er freie Schussbahn hatte, und das nutzte er auch aus.

Whistler drehte sich herum, als er das Rascheln von Kleidung wahrnahm, doch es war bereits zu spät. Die Kugel traf ihn mitten in die Brust.

„Whistler!“ Blade befand sich im Raum nebenan, als er seinen Mentor vor Schmerzen aufschreien hörte, doch immer noch waren zu viele Agenten im Weg, als dass er zu ihm hätte gelangen können. Brüllend bewegte er sich durch die feindselige Menge zurück zum Waffenraum und bahnte sich seinen Weg, ohne davon Notiz zu nehmen, dass man ihn mit Fäusten und Gewehrkolben traktierte.

Ein Agent hob sein Gewehr und zielte auf Blade, doch in seinem verzweifelten Versuch, zu Whistler zu gelangen, ließ er sich von nichts aufhalten. Er verpasste dem Mann einen Schlag seitlich gegen den Kopf. Der Agent wurde zu Boden geworfen, noch bevor er den Abzug hatte berühren können Nebenan wankte Whistler durch den Einschlag der Kugel, blieb aber stehen. Die Lippen hatte er entschlossen zusammengepresst, während das Blut in seine Kleidung sickerte. Er verzog das Gesicht und presste einen Handballen auf das Einschussloch, um den Blutverlust in Maßen zu halten.

Whistler wusste, dass er schwer verletzt worden war, aber er musste weitermachen. Diese Hurensöhne würden ihm schon eine Kugel durch den Kopf jagen müssen, um ihn aufzuhalten. Er musste um jeden Preis seines und Blades Geheimnis wahren. Und das war seine einzige Chance dazu. Vielleicht würde er nicht überleben, aber er wollte verdammt sein, wenn er zuließ, dass sie Blade auch erledigen konnten.

Er kämpfte gegen die Schwärze an, die begann, sein Blickfeld einzuengen, ging zu einer anderen Arbeitsstation, löste das Notfallprotokoll aus und gab den Code zur Selbstzerstörung ein. Farbenprächtige Warnungen auf den Monitoren machten auf den drohenden Datenverlust aufmerksam, während sich die Speicher auf Hochtouren löschten, ehe sie einer nach dem anderen explodierten.

In dem Moment spähte ein zweiter Agent vorsichtig um die Ecke, sah Whistler und feuerte eine Salve auf seinen Oberschenkel ab, um den Mann am Weiterkommen zu hindern.

Gegen seinen Willen schrie Whistler auf.

Als er den zweiten Schuss hörte, schüttelte Blade die Agenten von sich ab, die sich auf ihn gestürzt hatten. Wut verzerrte sein Gesicht zu einer Grimasse, während sich Hände, Ellbogen, Knie und Füße so schnell bewegten, dass sie nur noch als verwischte Schemen wahrzunehmen waren. Mit einer unglaublichen Schnelligkeit ließ Blade seine Gliedmaßen wirbeln, um sich den Weg zu Whistler freizukämpfen. Arme und Beine wurden gebrochen, Blut spritzte, doch Blade scherte sich nicht darum.

Er durfte Whistler nicht sterben lassen.

Aber die Polizei war noch längst nicht zum Aufgeben bereit. Während sich Blade der Waffenkammer näherte, stürzten sich zwei Mann gleichzeitig auf ihn und rammten ihm ihre Gewehrkolben gegen Brust und Rippen. Dabei gingen sie mit solcher Entschlossenheit vor, dass Blade tatsächlich das Gleichgewicht verlor. Sein Stiefel blieb an einem dicken Kabelstrang hängen, so dass er nach hinten fiel, dabei aber die Uniformen der Agenten zu fassen bekam und sie mit sich zu Boden zog.

Ehe er seinen Fall bremsen konnte, explodierte der Computer gleich neben ihm und schleuderte ihn und die beiden Angreifer durch die Luft. Von einem Regen aus Holz- und Glassplittern begleitet flogen die drei durch eine Tür und landeten auf einem Stapel Holzreste gleich neben dem Bootshaus.

Als sich der aufgewirbelte Staub legte, trat Agent Cumberland in Aktion, setzte das Megaphon an den Mund und winkte den versammelten Polizisten zu: „Schnappt ihn euch!“

Einer der wartenden FBI-Agenten hob eine Coda-Netzpistole und feuerte sie auf Blade ab. Vier dolchähnliche Projektile schossen heraus und bohrten sich hinter Blade in den Boden, dann spannte sich das stählerne Netz, wickelte sich um den Daywalker und legte sich um seine Arme und Beine, als er sich zu befreien versuchte. Im nächsten Moment stürzte sich eine kleine Armee aus Agenten auf ihn, die aus einem der Wagen herbeigeeilt gekommen waren, und traktierten ihn mit Fausthieben, damit er sich endlich ergab. Ein nervös dreinblickender Arzt stieg aus einem schwarzen Armeelaster, in einer Hand eine große Spritze mit einem Beruhigungsmittel.

Agent Cumberland hinter seinem Polizeiwagen streckte eine Faust in die Luft und führte einen Freudentanz auf.

Whistler lag in den Überresten des Bootshauses. Er war noch nicht tot. Doch er wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde. Jede Zelle seines Körpers sagte ihm das, und ausnahmsweise widersprach er nicht. Er wusste, was kommen würde, aber er hatte keine Angst.

Es war den Preis wert gewesen.

Blades Leben für seines.

Er hatte immer gewusst, dass er eines Tages diesen Preis würde bezahlen müssen. Doch je näher der Zeitpunkt rückte, desto mehr wünschte sich Whistler, diesmal anschreiben lassen zu können.

Er zog seinen von Kugeln durchsiebten Körper über den Fußboden, legte die klebrige Hand um ein schweres Gerät und stemmte sich zum Sitzen hoch. Die Anstrengung ließ ihn ächzen, während er sich so drehte, dass er mit dem Rücken zu der Maschine sitzen konnte. Aus etlichen Schusswunden in der Brust und im Bein strömte das Blut und bildete dunkle Lachen auf dem mit Sägemehl bestreuten Boden.

Whistler kniff frustriert die Augen zusammen, als er durch die im Rauch verborgene Tür zu sehen versuchte. Nebenan gab es noch einen letzten Server, doch er wusste, dass er es nicht bis dorthin schaffen würde. Er spürte, wie sein Körper sich mit jeder verstreichenden Sekunde mehr und mehr abschaltete, und ihm wurde bewusst, dass ihm wohl nicht mehr viel Zeit blieb.

Vom Flussufer waren auf einmal laute Rufe zu hören, die immer wieder von Blades wütenden Flüchen unterbrochen wurden.

Whistler verzog den Mund zu einem gequälten Lächeln.

Es war geschafft, Blade befand sich nicht mehr im Haus.

Jetzt hatte er nur noch eines zu tun.

Er spuckte Blut auf den Boden, wischte sich die Lippen ab und wartete.

Einige Augenblicke verstrichen, dann tauchten aus dem Rauch mindestens ein Dutzend Agenten auf, die sich mit schussbereiten Waffen vorsichtig vor ihm aufbauten. So etwas hatten sie noch nie gesehen. Der alte Sack hätte schon drei Runden zuvor tot zusammenbrechen müssen, aber er klammerte sich noch immer an sein Leben. Als könnte es für einen Kriminellen wie ihn jetzt noch irgend etwas geben, für das es sich zu leben lohnte.

Einer der Agenten drückte eine Taste an seiner Gasmaske, dann sagte er: „Wenn Sie auch nur einen Finger bewegen, sind Sie ein toter Mann!“

Whistlers Mundwinkel zuckte, er konnte nur noch keuchend atmen. Dann fragte er: „Wie wär’s denn mit dem Finger?“ Gleichzeitig streckte er dem Mann den Mittelfinger entgegen.

Dann öffnete er seine andere Hand weit genug, damit eine kleine schwarze Fernbedienung zum Vorschein kam. Alle Augen waren auf die großen digitalen Zahlen gerichtet, die kontinuierlich rückwärts zählten.

00:04… 00:03… 00:02… 

Alle hielten den Atem an, nur einer der etwas schwerfälligeren Agenten – ein Mann mittleren Alters, der auf den Spitznamen Spud hörte – streckte den Arm aus und rief: „Hey, er hält was in der…“

Eine Serie von gewaltigen Explosionen erschütterte die Werkstatt, als drei Fässer Kerosin hochgingen und zwei Dutzend Minen auslöste, die in den Hohlräumen der Wände verborgen worden waren.

Draußen rannten die Polizisten und Agenten um ihr Leben, als die gesamte Vorderfront weggesprengt wurde. Schwarzer Rauch stieg in den Nachthimmel auf, Trümmer wurden umhergeschleudert, während die Druckwelle die umstehenden Schaulustigen zu Boden warf.

Mitten in diesem Inferno gelang es Blade, sich von den Agenten loszureißen. Laut brüllte er den Namen seines Mentors in die Nacht hinaus. Mit bloßen Fingern versuchte er, das stählerne Netz um seinen Körper zu zerreißen, um zu retten, was noch zu retten war.

Doch es war längst zu spät.

Hilflos sah Blade, wie die Explosion im Waffenraum eine Kettenreaktion auslösten, die sich durch das ganze Gebäude fortsetzte, da eine Mine nach der anderen hochging. Das Labor flog in die Luft, gefolgt von der Werkstatt, dann wurden die Reservekanister mit Stickstoffoxid erfasst, die im Schuppen gelagert waren. Eine Wand aus Licht und Feuer brach aus dem Bootshaus hervor und nahm alles mit, was sich ihr in den Weg stellte.

Dann war alles vorüber. Trümmerteile regneten ringsum zu Boden.

Blade starrte in das Inferno, das einmal sein Zuhause und sein Leben gewesen war. Die Welt verschwamm vor seinen Augen, und er musste sich festhalten. Nur am Rande nahm er war, dass Soldaten der Army sich um ihn herum aufbauten und langsam vorrückten, da ihnen der blutverschmierte Mann nicht geheuer war, der alleine die Hälfte des Einsatzteams ausgeschaltet hatte.

Beinahe alleine…

Ein Muskel in Blades Kiefer zuckte. Abrupt ging er auf die Knie nieder und legte sein Schwert fast zärtlich vor sich auf den Boden, während er sich ehrerbietig verbeugte.

Whistler war tot, nichts zählte jetzt noch.

Dann stürmten die uniformierten Agenten auf ihn zu und packten ihn, im nächsten Moment spürte Blade einen Stich, als eine Injektionsnadel in seinen Arm gejagt wurde. Müde sah er auf zum Himmel, wo ein Polizeihubschrauber kreiste, langsam tiefer ging und einen Suchscheinwerfer auf Blade richtete, dessen Welt in blendendes Weiß getaucht wurde.

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