13

Viele Stunden später im Hauptquartier der Nightstalker stand Abigail im Duschraum nackt vor dem gesprungenen Spiegel. Mit ausdrucksloser Miene und in Gedanken versunken starrte sie ihr Spiegelbild an. Sie sah so aus, wie sie sich fühlte – erschöpft und mitgenommen, und mit dem Blut eines anderen beschmiert. Die Platzwunde auf der Wange, die Drake ihr zugefügt hatte, war deutlich angeschwollen und nahm eine bemerkenswerte Blaufärbung an. Dazu passte die Prellung an ihrem Oberschenkel, den sie sich am Schreibtisch angestoßen hatte.

Sie verrieb eine antiseptische Salbe auf der Platzwunde und hoffte, dass keine Narbe zurückblieb. Das hätte ihr im Moment noch gefehlt.

Schaudernd öffnete sie die Tür zur Duschkabine und ging hinein. Sie drehte den Heißwasserhahn auf und stellte sich unter den Wasserstrahl, der an ihrem Körper entlang lief und ihr blutverklebtes Haar einweichte. Es nahm wieder eine honiggelbe Farbe an, während ihr Körper von einer wohltuenden Dampfwolke eingehüllt wurde.

Abigail hob den Kopf, damit das Wasser über ihr Gesicht lief. Sie stöhnte leise erleichtert auf, während einzelne Tropfen an ihren langen Wimpern hängen blieben. Nach einer Weile merkte sie, wie sich das getrocknete Blut von ihrer Haut löste und in karmesinroten Wasseradern über ihren Körper lief. Kings Blut war durch ihr Baumwoll-T-Shirt gedrungen, als sie ihn hochgehoben hatte, und jetzt bildete es große dunkelbraunen Flecken auf dem Bauch und an den Händen. Es würde eine Weile dauern, um alles zu entfernen.

Sie griff nach der Seife und rieb über die betroffenen Partien, worauf eine Mischung aus rosafarbenem Seifenschaum und dunkelroten Schlieren in die Duschwanne lief. Sie sah zu, wie beides Wirbel bildete und dann im Abfluss verschwand. Obwohl das Wasser recht heiß war, musste sie zittern. An den weißen Kacheln hinterließ sie rote Abdrücke, als sie den Heißwasserhahn noch weiter aufdrehte, damit ihr hoffentlich wärmer wurde und damit sie endlich etwas fühlte.

Doch die Tropfen prallten allesamt von ihrer Haut ab, die Hitze war verflogen, ehe sie sie hätte wärmen können.

Die Seife roch nach Lavendel. Abigails Hände begannen heftig zu zittern, als sie mit der Seife über ihre schmerzenden Gliedmaßen fuhr und mit den Händen über ihre Beine rieb, um wieder etwas zu spüren. Dann stützte sie sich mit beiden Händen an der Wand ab und ließ den Kopf hängen, so dass sich das Wasser in ihren Augen sammelte. Wenn sie doch auch nur all das Entsetzen hätte wegwaschen können, das sie gesehen hatte. Alles wegzuwaschen, bis nur noch blanker, weißer Knochen übrig wäre.

Sie würde es niemals laut aussprechen, doch an manchen Tagen beneidete sie Sommerfield darum, weder sich selbst im Spiegel noch all das Böse sehen zu müssen, das sich in der Welt abspielte, obwohl sie so viel tat und sich aufopferte, um es zu stoppen.

Abigail sah seltsam entrückt zu, wie der blutige Seifenschaum an ihren Beinen herabglitt und in den Abfluss lief. Sie fragte sich, wie lange sie das alles wohl noch mitmachen konnte.

Es war ihre eigene Entscheidung gewesen, sich den Nightstalkern anzuschließen, also hatte sie gar keinen Grund zur Klage. Die anderen hatte keine Wahl gehabt, und das unterschied sie alle von ihr.

Sie sah, wie sie die anderen manchmal anschauten – voller Zuneigung zwar, aber ohne den unausgesprochenen Respekt und das Einvernehmen, das zwischen ihnen herrschte. Sie hatte von Anfang an mit ihnen gekämpft, doch es war so, als würde sie durch eine unsichtbare Barriere von ihnen getrennt – auch wenn das nicht ihr Fehler war. Sie kämpften, weil die Vampire jemanden auf dem Gewissen hatten, der ihnen etwas bedeutete: Familienangehörige, Freunde, Geliebte. Sie dagegen kämpfte, weil sie sich dazu entschlossen hatte, weil sie ihrem Vater helfen wollte.

Auch wenn die anderen Nightstalker sie liebten, wusste sie, dass sie für sie niemals etwas anderes sein würde als die Tochter des Chefs, im Kopf und im Herzen.

Doch jetzt, da ihr Vater tot war, waren die Dinge mit einem Mal viel härter. Abigail hatte immer um das hohe Risiko ihres Jobs gewusst, und die Nachricht von seinem Tod hatte sie so wortlos akzeptiert, dass die anderen darauf mit besorgten Blicken reagiert hatten. Anstatt zwischen ihr und dem Team eine Annäherung zu bewirken, hatte Whistlers Tod den Graben nur noch breiter werden lassen.

Abigail wusste, es war nicht ihr Fehler. Tief in ihrem Inneren war ihr klar, dass sie längst darauf gefasst gewesen war, ihren Vater durch diesen Job zu verlieren. Er war viel zu große Risiken eingegangen, als dass es anders hätte kommen können. Auch wenn es ihr sehr zu schaffen gemacht hatte, war sie letztlich doch damit einverstanden gewesen, dass er weiter die Vampire bekämpfte, weil sie wusste, es war für ihn mehr als nur ein Job. Er musste es tun, um seinen Frieden zu finden.

Als Whistlers Familie – seine geliebte Frau und ihre beiden Mädchen im Teenageralter – von den Vampiren abgeschlachtet worden war, hatten sie ihn so brutal zusammengeschlagen, dass er nur knapp überlebt hatte. Die Metallklammer, die er bis zum Ende um sein Bein hatte tragen müssen, war für ihn immer wieder eine Gedächtnisstütze gewesen. Denn nachdem er hatte miterleben müssen, wie seine Familie einer nach dem anderen zerrissen worden war, hatte er sich gegen die Vampire gewehrt. Bis sie ihn aus dem Fenster im obersten Stock geschleudert hatten.

Er hatte den Sturz überlebt und von da an Vampire gejagt. So simpel war das.

Abigail dagegen hatte nie einen solchen Verlust erfahren. Sie hatte zusammen mit ihrem Vater um dessen erste Familie getrauert, doch sie wurde nur von Wut und dem Gedanken angetrieben, Unrecht zu vergelten. Es steckte kein persönliches Leid dahinter. Als sie sich den Nightstalkern anschloss, wollte sie in dieser Welt etwas bewirken und anderen den Schmerz zu ersparen, den ihr Vater hatte durchmachen müssen.

Sie selbst hatte den Schmerz nicht erfahren, aber sie sagte sich immer wieder, dass sie ihn verstand. Sie wusste, dass es dieser Schmerz war, der King manchmal mitten in der Nacht losziehen ließ, um dann um fünf Uhr morgens blutüberströmt zurückzukehren. Es war dieser Schmerz, der Sommerfield jeden Abend über ihrer Braille-Tastatur einschlafen und der sie komplexe Krankheitsvektoren für das Seuchenvirus entwickeln ließ. Es war der Schmerz, der Dex dazu brachte, die Nadel noch etwas tiefer ins Fleisch zu jagen, wenn er gefangenen Vampiren Blutproben entnahm.

Sie taten das nicht für die Menschheit, sondern für sich.

Und nun hatte auch Abigail einen echten Grund. Seltsam nur, dass sie sich deswegen nicht anders fühlte. Es war, als sei nichts passiert. Sie hatte erwartet, bei der Nachricht vom Tod ihres Vaters eine Reaktion zu zeigen. Eine lodernde Wut, die sie anstacheln und hinaus auf die Straße treiben würde, um auf plündernde Vampir-Gangs loszugehen, bis alles rot von ihrem Blut war.

Doch sie fühlte sich einfach nur müde.

Whistler war tot, aber das Leben ging weiter. Es musste weiter geplant werden, Waffen mussten nachgeladen und benutzte Kaffeetassen gespült werden. Sie war zu der kleinen Totenfeier gegangen, die Hedges für ihren Vater abgehalten hatte. Sie hatte versucht, um ihn zu weinen, doch die Tränen wollten sich nicht einstellen. Stattdessen war sie sich wie ein Eindringling vorgekommen, als sie am Fluss stand und das kleine Behältnis in der Hand hielt, in der die Asche war, die King vom rußgeschwärzten Boden im Bootshaus zusammengefegt hatte. King selbst meinte, es sei vermutlich bloß die Asche von Whistlers Toaster, doch sie hatte die Geste zu schätzen gewusst und die Asche im Fluss verstreut. Danach war sie schweigend nach Hause gegangen und hatte sich um die Wäsche gekümmert.

Seitdem wartete sie darauf, dass sich ihr Leben änderte, doch das war nicht geschehen. In gewisser Weise war sie fast froh, dass sie Blade gefunden hatten, auch wenn ihr das lediglich ein Gefühl gab, etwas sei anders. Sie hatte nicht einmal den Leichnam ihres Vaters zu sehen bekommen. Blade zu sehen, kam für sie dem Akt am nächsten, die Realität seines Todes zu akzeptieren.

Und das galt auch für Dracula.

Sie legte die Seife weg, und obwohl noch einige Blutflecken an ihr klebten, fehlte ihr mit einem Mal die Kraft, sie wegzuwaschen. Trotz des heißen Duschwassers lief ihr eine Gänsehaut über den Rücken, und sie begann heftig zu zittern, als sie zu verstehen begann, was geschehen war.

Sie hatte Dracula gefunden, den Schlüssel für die Pläne der Vampire und für ihre eigenen Pläne. Nur ein paar Tropfen seines Blutes genügten, um dem allem ein Ende zu setzen und Tausende von Leben überall auf der Welt zu retten sowie andere vor dem Schmerz zu bewahren, den der Tod eines geliebten Menschen mit sich brachte.

Und sie hatten ihn entwischen lassen.

Doch es hatte sich nicht einmal zu ihrem Vorteil ausgewirkt, dass sie den König der Vampire überrascht hatten. Er hatte sie so gründlich besiegt, als hätte er längst mit ihrem Besuch gerechnet.

Schlimmer noch: Er hatte ihre Gesichter zu sehen bekommen.

Abigail strich fahrig durch ihr nasses Haar und versuchte, das Zittern in den Griff zu bekommen. Dann drehte sie den Wasserhahn zu, holte tief Luft und ließ den heißen Dampf aus der Kabine strömen. Sie griff nach einem Handtuch und wickelte es eng um sich, um die raue Baumwolle auf ihrer Haut zu spüren.

Fast jeder Abend endete so, indem sie unter der Dusche stand und das Blut abwusch. Doch heute abend war alles wirklich anders.

Jetzt lief die Zeit.

Nebenan in der Krankenstation betrachtete Blade King, der im Bett lag und döste. Hin und wieder erwachte er kurz, war aber sofort wieder weg. Er trug kein T-Shirt, statt dessen bedeckte ein Verband seinen halben Oberkörper. Seine Haut war fahl und mit Schweißperlen überzogen. Dex hatte ihm eine Mischung aus verschiedenen Schmerzmitteln verabreicht, und ließ ihn alles ausschwitzen, was gut zu funktionieren schien.

Ein Muskel zuckte in Blades Kiefer, während er den halb bei Bewusstsein befindlichen King ansah. Jeder seiner Instinkte drängte ihn dazu, von hier zu verschwinden, solange die Nightstalker damit beschäftigt waren, sich auf die neue Situation einzustellen. Er brauchte Zeit, um ganz für sich allein über die Dinge nachzudenken und sich zu überlegen, wie er vorgehen wollte.

Drake musste ausgeschaltet werden, soviel stand fest. Wenn es stimmte, was der König der Vampire sagte, dann waren sie in diesem Moment womöglich schon damit beschäftigt, einen Impfstoff zu entwickeln, der sie gegen das Sonnenlicht immun machen konnte. Ein einzelner Vampir, der sich am Tag auf die Straße wagen konnte, war bereits zu viel, und wenn dieser eine Vampir in der Lage sein sollte, das entscheidende Gen an seine Opfer weiterzugeben… nun, dann konnte er auch gleich sein Schwert abgeben und sich ein Haus auf dem Mond kaufen, weil dies der einzige Ort war, an dem die Menschen noch sicher sein konnten, sobald die Vampire ihr Vorhaben verwirklichten.

Blade sah sich um und studierte die glänzenden Regale mit der auf Hochglanz polierten Ausrüstung der Krankenstation. Er rümpfte die Nase. Okay, letztlich musste er schon zugeben, dass diese Leute keine schlechte Arbeit leisteten.

Entschlossenheit und Mut waren in diesem Job wichtige Faktoren, und dass die Nightstalker es so weit geschafft hatten, sprach für sie.

Er setzte sich am Fußende auf das Bett und betrachtete King nachdenklich. Blut war durch den frischen Verband gedrungen. Trotz allen Trainings und ihrer Ausrüstung waren die Nightstalker nicht so wie er. Bei weitem nicht so wie er. Sie waren nur Menschen, was bedeutete, dass sie fehlbar waren und dass sie verwundet werden konnten.

Das bedeutete zwar nicht, dass sie nicht kämpfen sollten, doch Blade empfand ihre Schwäche als frustrierend. Selbst der unbedeutendste Vampir war so stark wie sie alle zusammen.

Blade nahm die Sonnenbrille ab und rieb sich die Augen. Er hatte immer gewusst, dass andere Vampirjäger existierten. Aber aus irgendeinem Grund hatte er sie sich immer als kleine Gruppe zerlumpt aussehender Männer vorgestellt, die sich im Untergrund versteckten. Er sah sie mit Holzpflöcken und Küchenmessern in der Hand, Bilder, die aus den Comics seiner Jugend stammten. Er wusste, dass diese Bilder unrealistisch waren, doch wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, kümmerte es ihn nicht.

Es war nicht so, dass ihn diese Leute nicht interessierten. Er hatte nur so viel Zeit und Kraft investiert, damit er und Whistler am Leben blieben, dass ihm schlicht die Zeit fehlte, sich mit ihnen abzugeben – ganz zu schweigen davon, nach ihnen zu suchen.

Sein Blick kehrte zurück zu King und er fragte sich, seit wann die Nightstalker von Draculas Existenz wussten und warum sie Whistler nichts davon gesagt hatten. Blade empfand Wut bei diesem Gedanken. Hatten sie absichtlich verschwiegen, was sie wussten? Oder waren sie nur der Meinung gewesen, es sei nicht erwähnenswert? Hatten sie geglaubt, sie würden mit dem Problem Dracula schon allein zurechtkommen? Hielten sie seine und Whistlers Arbeit für zu unbedeutend?

Blade nahm wahr, wie klinisch sauber das medizinische Labor war, wie über die Vorräte an Wandtafeln Buch geführt wurde und wie die Vorratsschränke mit farbkodierten Schildern beschriftet worden waren. Er seufzte.

Was er und Whistler geleistet hatten, war nicht minderwertig, sie waren vielmehr verdammt noch mal die besten Kämpfer im Land. Aber mit so etwas wie dem hier konnten sie nicht mithalten. Er war der Daywalker – na und? Wusste er deshalb, wie man einen Dolch galvanisierte oder wie man einen Cofragulator säuberte… oder wie auch immer dieses silberne Ding in der Ecke dort drüben heißen mochte.

Nein, er wusste es nicht. Er hatte sich und Whistler für die High-Tech-Meister gehalten, doch im Vergleich zu diesen Leuten hier waren sie Amateure, die mehr auf Handarbeit als auf Hirnmasse setzten. Verbrachte King jeden Tag vier Stunden damit, gestohlenen Silberschmuck einzuschmelzen, um von Hand Silberkugeln zu gießen, die dann eine nach der anderen aus der rostigen Gussform geschlagen werden mussten?

Was King ihm gesagt hatte, war für Blade durchaus Grund zu großer Sorge. Die erhöhten Vampiraktivitäten rings um Pharmafabriken hatten ihn zu der Ansicht gelangen lassen, die Blutsauger würden womöglich einen chemischen Angriff auf die Menschen in der Stadt planen. Jetzt dagegen sah es so aus, als würden sie nach einem viel höheren Ziel streben. Sie versuchten, die Vampirrasse dadurch zu verjüngen, dass sie quasi ganz von vorn anfingen und mit Drakes reiner DNS den verunreinigten Genmüll beseitigten.

Bei diesem Gedanken schlug Blades Herz schneller. Wenn alle Vampire so wie er auch am Tag existieren konnten, wer würde sie dann noch davon abhalten können, in der Stadt Machtpositionen einzunehmen? Sie konnten sich inmitten der Menschen bewegen und die Dinge nach ihrem Wunsch manipulieren, ohne dafür aus dem Untergrund agieren zu müssen.

So weit durfte er es nicht kommen lassen.

Blade stand auf. Allein war er beweglicher und nicht so verwundbar. Doch jetzt, da er diese Leute besser kennen lernte, stellte er fest, dass etwas Schreckliches mit ihm geschehen war.

Er hatte sich in ihre Sache hineinziehen lassen.

Schlimmer noch: Er fühlte sich für diese Leute verantwortlich.

Blade sah wieder den schlafenden King an, und unwillkürlich zuckte sein Mundwinkel. Der Kerl war eine Nervensäge, doch er setzte sich gegen die Kreaturen zur Wehr, die ihm fünf Jahre seines Lebens genommen hatten. Man musste ihm zugute halten, dass er es zumindest versuchte.

Vielleicht sollte er bei ihnen bleiben, um festzustellen, ob sie dieses „Anti-Vampir“-Virus wirklich besaßen. Wer weiß? Vielleicht konnten sie diese Sache ja tatsächlich durchziehen.

Er nahm ein höfliches Husten wahr. Blade blinzelte und konzentrierte sich wieder auf King, der wieder aufgewacht war und Blade eindringlich ansah.

Der räusperte sich rasch und wollte sich abwenden, in der Hoffnung, dass King seinen Gesichtsausdruck nicht richtig gedeutet hatte, doch King legte bereits eine schwache Hand auf den Arm des Daywalkers, um ihn zurückzuhalten. Während Blade angestrengt überlegte, welcher andere Small Talk ihm neben einer Bemerkung über das Wetter noch zur Verfügung stand, wurde er von Abigail gerettet, die gerade zur Tür hereinkam. Sie hatte eben erst geduscht und trug ein T-Shirt und eine Tarnhose.

King winkte ihr schwach zu, dann räusperte er sich und schien Blades Gedanken zu lesen. „Sag mal, Blade, hast du schon mal überlegt, dass wir Erfolg haben und die Vampire auslöschen könnten? Was passiert danach? Hast du dich das schon mal gefragt?“

Blade überlegte und stellte fest, dass er keine Antwort wusste. Achselzuckend erwiderte er Kings Blick, der zu husten begann. „Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass du dann auf der Veranda sitzt und Puzzles legst.“

Blade hob eine Augenbraue und ging aus dem Raum.

King sah zu Abigail und nestelte an seinem Bettlaken. „Er hasst mich, stimmt’s?“

Abigail lächelte ihn nur an, während er wieder das Bewusstsein verlor.

Hoch oben in den Phoenix Towers warf der Mond sein fahles Licht auf zwei bleiche, nackte Gestalten, die sich langsam zusammen bewegten und in den verspiegelten Fenstern der Penthouse-Wohnung ein geisterhaftes Spiegelbild warfen.

Danica umklammerte Drakes Hand, als er tiefer in sie eindrang und zu einem urtümlichen Rhythmus fand, der zu ihrem unnatürlichen Herzschlag passte. Sie blickte Drake an, der sich über ihr im Mondschein bewegte, das Gesicht nach oben gerichtet und mit einem dünnen Schweißfilm überzogen. Sie dachte, sie hätte schon zuvor Verlangen empfunden, doch das war nur ein schwaches Echo im Vergleich zu dem, was sie jetzt verspürte. Ihre Augen wurden glasig, als sie Drakes Orgasmus spürte, dem ihr eigener nur Momente später folgte.

Kurz darauf hatte Drake sich zur Seite weggerollt und betrachtete Danica durch halb geschlossene Lider. Sie war völlig nackt, wenn man von der dünnen Kette um ihren Hals absah. Ein winziges Kruzifix hing daran und war im Augenblick in ihrer Halsbeuge verborgen.

Drake berührte den Anhänger mit einem kühlen Finger. „Warum trägst du dieses… dieses Symbol?“

Danica hob den Arm und legte abwehrend ihre Hand um das Kruzifix. „Eine alte Angewohnheit.“ Sie stellte überrascht fest, dass ihr schauderte, und setzte sich auf, um ein Laken um sich zu legen. Als sie Drake ansah, wirkten ihre braunen Augen im Mondlicht, als seien sie schwarz und flüssig. „Ich habe früher einmal eine katholische Mädchenschule besucht.“

Drake nickte verstehend, doch in Gedanken schien er woanders zu sein. Als sie seinen Gesichtsausdruck erkannte, legte sie den Kopf zurück auf das Kissen und wartete, bis er von sich aus wieder etwas sagte. Es kam hin und wieder vor, dass Drake sich so weit in sich zurückzog, dass eine Berührung sofort den Bann brechen würde. Dieser Mann war Tausende von Jahren alt, und bei ihm schien es einfach etwas länger zu dauern, um Erinnerungen hervorzuholen.

Während sie wartete, betrachtete sie Drakes wohlgeformten, muskulösen Körper und bemerkte dabei interessiert eine Reihe von alten Narben auf seiner Brust. Ein primitives Vampirschriftzeichen war mit einem offenbar sehr stumpfen Instrument in sein Fleisch geschnitten worden. Danica hob verwundert eine Augenbraue, sagte aber nichts.

Als Drake wieder sprach, hatte seine Stimme etwas Wohlüberlegtes und Dunkles. Er zeigte auf Danicas Kreuz. „Ich war dabei, als sie ihn kreuzigten. Er starb für ihre Sünden, nicht für meine.“

Danica sah scheu zu ihm auf, nicht ganz sicher, ob sie ihm glauben sollte oder nicht. Sie malte mit ihrem Finger ein kryptisches Muster auf seine Kehle. „Welches sind deine Sünden? Möchtest du sie beichten?“

Drake machte eine abweisende Geste und schob gereizt ihre Hand weg. „Es sind zu viele, um sie zu beichten.“ Dann war der Bann gebrochen, und er deutete mit einem Kopfnicken auf das Kruzifix. „Nimm es ab.“

„Warum?“

Drake zog sie zärtlich an sich. „Du bekommst von mir ein besseres.“

Er strich ihr eine schweißnasse Strähne von der Kehle und beugte sich vor, strich mit seiner Nase über ihre Haut und fand eine Ader. Dann drehte er sanft ihr Kinn weg und ließ seine Reißzähne durch ihre nackte Haut gleiten. Augenblicke später hob er den Kopf wieder, und sie konnten beide zusehen, wie zwei dunkle Rinnsale aus Blut aus den frischen Wunden liefen.

Drake fasste nach dem Bettlaken und zog es aus Danicas Griff, die es einfach geschehen ließ. Er drückte seine Fingerspitzen in das Blut und malte einen langen roten Strich zwischen ihre Brüste, dann einen zweiten in horizontaler Richtung, der den ersten kreuzte. Sanft strich er über Danicas Wange und sah ihr tief in die Augen. „Es gibt ein altes Sprichwort: Töte einen Menschen, und du bist ein Mörder.

Töte eine Million, und du bist ein König.“ Verträumt lächelnd leckte er seine Fingerspitzen ab. „Töte sie alle – und du bist ein Gott.“

Als der Mond aufging, war Drake eingeschlafen.

In seinem von der Zeit entstellten Unterbewusstsein schmolzen die Jahrhunderte einmal mehr dahin, und wieder stand er auf einer vom Sturm umtosten Klippe irgendwo in der Nähe der Adria. Es war ein immer wiederkehrender Traum, der oft seine Nächte beseelt hatte, kurz bevor er sich in den Untergrund zurückgezogen hatte. Drakes Kampf mit dem Daywalker hatte eine ganze Flut lange vergessener Erinnerungen losgebrochen, und die stürmten nun auf den schlafenden Vampir ein.

Der Vampirjäger stand Drake auf einem sandigen Hügel gegenüber und beobachtete ihn so aufmerksam, wie Blade es auf dem Dach getan hatte. Sie starrten sich gegenseitig an, Drake in seiner prachtvollen schwarzglänzenden Rüstung, der Jäger zitternd, da der nächtliche Wind an seiner zerrissenen Kleidung zerrte und eine Reihe blutiger Wunden an seinem Oberkörper freilegte.

Der Jäger hatte Drake viele Monate lang verfolgt und ihn nun endlich in einer Stadt ausfindig gemacht, die weit von zu Hause entfernt war. Er hatte seine Leute zu sich gerufen und Drake aus der Taverne gejagt, in der er sich erholt hatte. Sie beide hatten sich einen langwierigen Straßenkampf geliefert, der damit endete, dass sie auf dieser Klippe angekommen waren, nur wenige Meter von einem Sturz auf die zerklüfteten Felsen unter ihnen entfernt.

Drake sah, wie die Augen des Jägers funkelten, als er sein Schwert zog und den Sieg erwartete, obwohl doch offensichtlich war, dass er selbst längst besiegt war. Blut tropfte aus zahllosen Wunden in das morastige Gras zu seinen Füßen, während Drake nicht einen einzigen Kratzer davongetragen hatte.

Es war das uralte Spiel. Katz und Maus.

Ein Spiel mit einer Milliarde Variablen, und doch nahm es stets das gleiche Ende.

Der Mann hob sein Schwert, in seinen Augen leuchtete Entschlossenheit und eine Art religiöser Eifer auf, als er diesem Ungeheuer in menschlicher Gestalt gegenüberstand und von dessen Tod er schon so lange besessen war.

Drake beobachtete den Mann neugierig und wunderte sich über dessen Beharrlichkeit. Er hatte ihm recht wenig angetan, und doch war der Jäger ihm über einen halben Kontinent mit einer Hartnäckigkeit gefolgt, mit der nicht einmal die Armeen aus früheren Zeiten hätten mithalten können. Drake sah, dass die Kraft des Mannes bald aufgebraucht war, dass sie ihm aus jeder seiner Wunde strömte. Und doch weigerte er sich, seine Niederlage einzugestehen, sogar sich selbst gegenüber.

Drake dachte einige Augenblicke lang über das unergründliche Mysterium nach, das der menschliche Geist darstellte.

Dann aber zuckte er mit den Schultern, zog sein eigenes Schwert und stürmte vor.

Allen Verletzungen zum Trotz war der Jäger kräftig, da ihn das innere Feuer der Rache antrieb. Es war beeindruckend, wie lange er Drake abwehren konnte. Ihre Ausrufe und das Klirren ihrer Klingen hallte in der wilden Landschaft ringsum nach und übertönte sogar das Tosen der See unter ihnen.

Doch der Jäger war nur ein Mensch, und Drake genoss es, den Mann bis zur Erschöpfung zu treiben. Drake sah es jedes Mal in seinen Augen, wenn ihre Schwerter aufeinander trafen. Er sah es, auch wenn nur mit Mühe wahrzunehmen war, dass es eintrat – dass die Gedanken des Mannes vom Angreifen zum Verteidigen schwenkten, vom Jäger zum Gejagten, vom Mörder zum Opfer.

Und dann machte der Jäger einen einzigen, winzigen Fehler.

Er hielt kurz inne, um durchzuatmen.

Nur einmal.

Drake nutzte diese Pause, die nur einen Sekundenbruchteil währte, um sich dem Jäger so weit zu nähern, dass er mit seinem Metallhandschuh nach der Spitze des Schwerts greifen konnte, um dann mit der anderen Hand blitzschnell von unten gegen das Handgelenk des Mannes zu schlagen. Im gleichen Moment wurde das Schwert des Jägers in die Luft gewirbelt.

Das Schwert beschrieb eine komplette Drehung, und Drake bekam den Knauf zu fassen, als es in seine Richtung flog. Er packte das Schwert, machte einen Satz nach vorn und jagte die Klinge bis zum Heft in die Brust ihres Eigentümers.

Er sah das entsetzte Gesicht des Jägers, fühlte, wie erst die Luft aus seinem Körper entwich, gefolgt von einem schwachen Platschen seines eigenen Blutes, das in der plötzlich eintretenden Stille auf den felsigen Untergrund tropfte. Erwartungsvoll sah er in das Gesicht des Mannes. So viel er in seinem unnatürlich langen Leben auch gesehen und getan hatte, war das Sterben die eine Erfahrung, die Drake niemals machen konnte. Tief in seinem Inneren flüsterte ihm eine leise Stimme zu, mit jedem Leichnam, den er zurückließ, komme er dem Wissen um das Sterben ein winziges Stück näher.

Und vielleicht würde er es ja eines Tages doch selbst erleben können.

Drake trat vor und bewegte das Schwert hin und her, darauf erpicht, den Mann sterben zu sehen. Er fühlte, wie sich das gehärtete Eisen durch Muskeln und Sehnen schnitt und Knochen zerteilte, als seien sie morsches Holz. Gierig sah er in die Augen des Mannes und beobachtete, wie das Leben aus ihnen wich, wie das helle Funkeln der Rechtschaffenheit verging und Platz machte für einen in die Ferne gerichteten Blick. Die Pupillen des Mannes weiteten sich im Sterben und blieben weit geöffnet, als wollten sie das Bild des Mörders in die Netzhaut einbrennen.

Jeder stirbt irgendwann einmal, wunderte sich Drake. Warum also so überrascht tun, wenn der Moment gekommen ist?

Im Zimmer, das vom Mondschein durchflutet wurde, lag Danica immer noch wach. Sie drehte sich zur Seite und beobachtete den schlafenden Drake. Dass er schlafen konnte, fand sie beneidenswert. Als Rasse waren die Vampire genetisch dazu gezwungen, am Tag zu schlafen, auch wenn es mehr eine Art leichter Winterschlaf war, kein echter Schlaf. Danica konnte sich nicht daran erinnern, dass sie jemals nachts geschlafen hatte.

Während sie Drake ansah, zuckten seine Hände ein wenig, so als würde er träumen. Ihr Blick wanderte zu seinen Augenlidern, und sie fragte sich, was er hinter ihnen wohl in diesem Moment sah. Auch wenn er Tausende von Jahren alt war, wirkte er fast wie ein schlafendes Kind, zumal sein Gesicht sogar frei war von den schwachen Falten, die sich selbst auf den Mienen der jüngsten Vampire bildete.

Danica strich mit ihrer Hand sanft über die blassen Narben auf Drakes Brust. Sie konnte es nicht fassen, dass er endlich hier war. Sein Fleisch fühlte sich warm an, und es schien zu summen, als sei es von schwacher Elektrizität erfüllt, als ob seine Haut lebte. Sie roch das Blut, das durch seine Adern strömte und dessen Geruch den einzigartigen Duft seiner Haut durchdrang, moschusartig und kühl wie der kränklichsüße Duft toter Rosen.

Wie mochte es wohl sein, siebentausend Jahre lang zu leben? Danica versuchte, sich das vorzustellen. Sie selbst war etwas mehr als hundert Jahre alt, doch selbst das machte ihr schon zu schaffen. Jeder Gedanke, jede Erinnerung, jeder dumme Fehler – als war in ihrem Kopf gespeichert. Und mit jedem verstreichenden Jahr wurde der Druck stärker, so dass sie manchmal glaubte, nicht in der Lage zu sein, auch nur noch einen Tag länger zu überstehen.

Der menschliche Geist war nie dafür vorgesehen gewesen, die Ewigkeit zu ertragen, und Danica bezahlte jetzt schon teuer dafür. An manchen Tagen wünschte sie, sie könnte einfach eine Taste drücken und alles löschen, um wieder ganz von vorn anzufangen. Doch sie wusste, dass es niemals dazu kommen würde.

Ihr Blick wanderte über den schlafenden Drake, während sie sich vorzustellen versuchte, sie könne ihm jedes Jahrhundert ansehen, das er durchgemacht hatte und das als eine schwere Last auf ihm lag. Danica konnte sich nicht einmal ini Ansatz vorstellen, was Drake in seinem Leben alles gesehen hatte, so dass sie sich fragte, wie es ihm gelang, dabei nicht den Verstand zu verlieren.

Auf einmal erinnerte sie sich an die Geschichtsbücher ihrer Kindheit und erkannte, dass es ihm gar nicht gelungen war.

In gewisser Weise hatte sie ihm einen Gefallen getan, als sie ihn zurückholte, auch wenn er darüber nicht erfreut gewesen war. Dies kam einem Neustart in seinem Leben am nächsten, einen Neuanfang für seine Rasse und einem prachtvollen neuen Leben hier im einundzwanzigsten Jahrhundert. Mit ihr an seiner Seite gab es nichts, was sie nicht gemeinsam erreichen konnten.

Drake drehte sich im Schlaf plötzlich herum und Danica rückte erschrocken ein Stück von ihm fort. Sie starrte ihn an, während ihr unerwartet eine Gänsehaut über den Rücken lief, obwohl es eine warme Nacht war. Ein Bild kehrte vor ihr geistiges Auge zurück, das Drake zeigte, wie sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte.

Sie erinnerte sich wieder daran, was sie bei seinem Anblick empfunden hatte. Entsetzen war nicht das richtige Wort dafür gewesen. Selbst jetzt war die Erinnerung so, als würde man ihr eisige Nadeln ins Gehirn treiben. Nun sah Drake wie ein Mann aus, doch in der Dunkelheit des Grabes war er noch etwas ganz anderes gewesen.

Wieder schauderte ihr bei dem bloßen Gedanken daran. Sie dachte daran, wie hart sie mit sich ins Gericht gegangen war, als sie den langen Weg aus dem Irak nach Hause gereist waren. Sie hatte versucht zu verstehen, was sie getan hatte. Es war ein Verart an den Alten gewesen, ein Verstoß gegen jede Regel im Vampirbuch. Und wofür? Um den Schrecken vom Amazonas aus der Erde zu holen?

Der König der Vampire hatte keineswegs ihren Erwartungen entsprochen. Die Bibel der Vampire hatte von seiner Größe und seiner Weisheit gesprochen. Doch selbst nach einem Dutzend Betäubungsschüssen, von denen jeder Einzelne einen Elefanten schlafen schicken konnte, hatte die Kreatur geknurrt und um sich geschnappt und versucht, sich durch das massive Metall seiner Transportkiste zu fressen. Danica war angewidert gewesen. Sie hatte nach einem strahlenden Prinzen gesucht, stattdessen aber ein Monster mitgebracht.

Doch nun sah alles viel positiver aus. Das Monster war gar nicht so übel, wenn man es erst einmal kennen gelernt hatte. Und inzwischen begann Danica, ihn immer besser kennen zu lernen.

Sie strich vorsichtig über die beiden Bisse an ihrem Hals und stellte besorgt fest, dass die Wunden sich noch nicht geschlossen hatten. Sie würde sie am Morgen nachsehen lassen, vorzugsweise von einem Arzt, der erübrigt werden konnte. Es war nicht ratsam, dass irgendwelche Gerüchte aufkamen. Erst recht nicht jetzt, da Asher sie wie ein feindlicher Falke beobachtete.

Danica legte das Seidenbettlaken um ihren Körper und stand auf. Sie ignorierte, dass ihr schwindlig war und dass ihre Beine zitterten. Bald würde die Sonne aufgehen und dieses große Zimmer in ihr todbringendes Licht tauchen. Der Mond stand hell am Himmel, und sie fühlte sein schwaches Kribbeln, als der Schein ihre Haut berührte. Für Vampire konnte das wie ein Sonnenbrand bei den Menschen enden.

Sie ließ Drake schnarchend im Bett liegen und tappte so schnell wie möglich zur Tür, dann verschwand sie in der Finsternis des Korridors. Dabei hinterließ sie auf dem Boden blutige Fußabdrücke.

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