Natasha Rhodes Blade: Trinity

Prolog

Im Südosten des Irak, Provinz Dhi Qar, Sechs Monate zuvor

Über der Wüste war der Tag angebrochen.

Die Schatten der Nacht vergingen in den ersten Strahlen der Morgenröte, die so gleißend hell war wie die Flamme eines Schweißbrenners. Während sich die Sonne langsam über dem Horizont erhob, eilten die Geschöpfe der Nacht zurück in ihre Bauten, um sich vor der Hitze und dem Licht zu schützen, die der neue Tag für endlose Stunden mit sich bringen würde.

Kaum etwas konnte hier allzu lange überleben. Die steinige Wüste erstreckte sich in alle Richtungen, aber nicht nur bis zum Horizont, sondern noch weiter, als das Augen sehen konnte, und viel weiter, als man gehen konnte. Nur die Härtesten konnten hier überleben – hier, wo es keinen Schatten gab, kein Wasser, nichts, das der Einöde ein Ende hätte setzen können.

Die einzige Ausnahme war… der Stufenturm.

Die gewaltige, stufenförmige Pyramide erhob sich mehr als dreißig Meter über den kargen Grund und beherrschte die Landschaft, die im Umkreis von vielen Kilometern nichts aufwies, das den Blick auf sich hätte lenken können. Allein die Größe des Stufenturms war fast schon mehr, als der Verstand zu erfassen vermochte. Die kolossalen schrägen Seiten ragten so weit auf, als wollten sie sich durch die Stratosphäre bohren und den Himmel für sich beanspruchen. Das vierschichtige Bauwerk wurde in regelmäßigen Abständen von steinernen Plattformen unterbrochen, auf denen früher einmal Opfer dargebracht worden waren, um die Verbindung zwischen den Menschen und den Göttern zu erneuern, von denen man glaubte, sie würden eines Tages zurückkehren.

Die Pyramide mochte vor langer Zeit Respekt, vielleicht sogar Ehrfurcht eingeflößt haben, doch die Jahrtausende hatten ihr viel von ihrem Glanz genommen. Damals waren die Mauern aus Lehmziegeln mit einer farbenfrohen Vielfalt aus lasierten Pigmenten geschmückt, doch die Wüstenwinde und die gnadenlose Hitze der Sonne hatten sie kahlgescheuert. Das Monument, einst der krönende Glanz der antiken sumerischen Stadt Ur, stand nun ganz allein und zerfiel unter der Last der Jahrhunderte.

Und doch war der Stufenturm nicht völlig in Vergessenheit geraten. An seinem Fuß kniete ein hagerer Hirte mit gebeugtem Kopf. Aus einem ramponierten Radio neben ihm drang blechern eine religiöse Sendung, die den Hirten beim ersten seiner täglichen Gebete anleitete. Ganz in seiner Nähe suchte eine Herde Ziegen zwischen dem wenigen Gestrüpp, das die Wüste zu bieten hatte, nach Nahrung. Ihr Meckern und das dumpfe Scheppern der Glocken an ihren Halsbändern hatten auf den Hirten eine beruhigende und einschläfernde Wirkung. Mit einem Ohr achtete er stets darauf, was seine Tiere gerade machten. Er wusste, über kurz oder lang würde sich eines von ihnen von der Herde entfernen und irgendeine Dummheit anstellen, die seine sofortige Aufmerksamkeit erforderte.

Ein ironisches Lächeln umspielte die Mundwinkel des Hirten. Das war das Problem bei Ziegen. Sie wurden dumm geboren, sie führten ein Leben im Dummheit, und das einzig Aufregende während ihrer kurzen Existenz bestand darin, neue und interessante Todesarten zu entdecken.

Manchmal war er sicher, dass sie das absichtlich machten, nur um ihn zu ärgern.

Ein tiefes Summen ließ den Hirten aufhorchen und holte ihn aus seiner besinnlichen Tagträumerei. Er leckte seine trockenen Lippen und sah in den Morgenhimmel, während er mit einer ledrigen Hand seine Augen vor der Sonne abschirmte.

Von Westen kamen zwei Helikopter geflogen, die sich rasch näherten.

Das Gebet war vergessen. Der Hirte stand auf und beobachtete aufmerksam, wie die beiden Maschinen langsamer wurden und wie Libellen auf der Jagd über dem Stufenturm kreisten, ehe sie zur Landung am Fuß der Pyramide ansetzten. Ihre Rotoren wirbelten den Wüstensand auf. Der elegant geschwungene Rumpf der Hubschrauber reflektierte die Sonnenstrahlen, die sich wie Lichtspeere durch die aufwallende Wolke aus Sand und Staub bohrten. Lautes Knirschen war zu hören, als das Gewicht der enorm großen Maschinen vollends auf dem Wüstenboden am Fuß des Stufenturms lastete. Das Dröhnen der Motoren verstummte, und nach und nach drehten sich die Rotoren langsamer, bis sie endlich ganz anhielten.

Eine erwartungsvolle Stille legte sich über die Wüste.

Der Hirte hustete und blinzelte, um die Sandkörner aus seinen Augen zu bekommen, während er nur schwach ein aufgeregtes Meckern vernahm, als auch die letzte seiner Ziegen über die Dünen davonrannte.

Er zögerte. Er sollte seinen Tieren nachgehen, ehe sie sich zu weit von ihm entfernt hatten.

Doch das hier war viel interessanter…

Der Hirte sah fasziniert zu, wie vier bewaffnete Gestalten aus dem Cockpit des ersten Helikopters sprangen und zielstrebig auf den Stufenturm zugingen. Sie trugen dicke Wüstentarnkleidung, die sie von Kopf bis Fuß schützte, und bewegten sich mit sicheren Schritten über den nachgebenden Sand. Sie trugen große silberne Kisten, die voller Ausrüstung stecken mussten, von ihnen aber mit solcher Leichtigkeit festgehalten wurden, als würden sie gar nichts wiegen.

Was den Hirten anging, hätten diese Leute ebenso gut Außerirdische sein können.

Während er das Treiben beobachtete, blieb eine der Gestalten stehen, drehte sich nach Osten, nahm die Schultern nach hinten und blickte in den Himmel. Dann hob sie ihre behandschuhte Hand und streckte einen Finger aus, um den neuen Tag zu begrüßen, dessen aufgehende Sonne vom verspiegelten Visier ihres Helms reflektiert wurde.

Die zweite Gestalt – die Kurven, um die sich der Tarnanzug gelegt hatte, ließen erkennen, dass es sich um eine Frau handeln musste – winkte ein wenig gereizt, um den anderen zur Eile anzutreiben. Gemeinsam gingen sie die Stufen der Rampe hinauf, die zum Eingang des Stufenturms führten, und verschwanden in der dunklen Öffnung des Schreins. Wieder hielt Stille Einzug über der Wüste, lediglich das leise Prasseln der Sandkörner war zu hören, die von den Rotoren aufgewirbelt worden waren und nun wie trockener Regen zu Boden fielen.

Der Hirte konnte seine Neugier nicht bändigen. Er schlug sein Gewand um sich und machte sich daran, der Gruppe zu folgen und die Stufen der Rampe hinaufzugehen. Die Fremden hatten ihn beeindruckt. Entweder waren sie sehr mutig oder aber sehr dumm. Bei seinem Volk war weithin bekannt, dass von denen, die in die große Pyramide hineingingen, nur wenige jemals wieder zurückkehrten.

Ein fernes Meckern ließ den Hirten aufseufzen. Er blinzelte in die Schatten des Stufenturms. Er wünschte sich von Herzen, er könnte länger bleiben, um zu sehen, ob die Gestalten wieder zum Vorschein kamen. Was könnte er am Abend seiner Familie für eine Geschichte erzählen! Doch jetzt musste er gehen und seine Herde zusammentreiben, ehe sie zu weit verstreut war. Wenn er sie zu lange sich selbst überließ, würden die Tiere wohl schon bald vor Schreck oder Aufregung oder womöglich durch eine Kombination aus beidem umkommen.

Er hob sein Aufziehradio auf, wandte sich ab und eilte der entlaufenen Herde nach, während er immer wieder einen Blick über die Schulter warf.

Von der Öffnung des Stufenturms aus sah eine der Gestalten dem Hirten nach, wie er sich entfernte, und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

Im Inneren der Pyramide war es kühl und schattig, was einen willkommenen Gegensatz zur Hitze der Wüste darstellte.

Schnell fand das vierköpfige Team das Grab und schwärmte aus. Obwohl jeder von ihnen ein Profi war, verspürten sie eine gewisse Aufregung, als sie das Areal sicherten, die schwere Ausrüstung abstellten und ihre Waffen überprüften.

Danica Talos kniete sich hin und aktivierte den kleinen Laptop, den sie auf einen der staubigen Felsblöcke stellte, mit denen der Höhlenboden übersät war. Der Laptop erwachte zum Leben und gab eine Folge hoher Pfeiftöne von sich, während er sich automatisch in das drahtlose Netzwerk einloggte. Ein ganzer Schwall digitaler Farben huschte über Danicas Visier, während sie den Grandriss des Stufenturms aufrief. Ihre Miene zeigte keine Regung. Doch ihre Bewegungen verrieten eine große Spannung, als sie ihre momentane Position erfasste und sich eine dreidimensionale Darstellung des Raums anzeigen ließ.

Danica betrachtete einen Moment lang den Monitor, ihre Lippen bewegten sich, doch kein Laut war zu hören. Dann drehte sie sich um und fuhr mit den Fingern an der Wand entlang, bis sie den achten Mauerstein erreicht hatte. Sie legte ihre Hand, die nach wie vor in einem Handschuh steckte, auf den kalten Stein und drückte. Ein gedämpftes Rasseln war von der anderen Seite der Mauer zu hören, als sich verborgene Gegengewichte in Bewegung setzten. Im nächsten Moment entstand – von einem lauten Ächzen begleitet – vor Danica im Boden eine Öffnung.

Der Blick auf eine steinerne Treppe wurde freigegeben, die hinunter in die Dunkelheit führte.

Hinter ihrem Visier kniff Danica die Augen zusammen, während sie einen Schritt nach vorn trat. Sie konnte ihr Glück kaum fassen, sie hatte den geheimen Eingang gefunden! Die monatelange Planung begann sich endlich auszuzahlen.

Sie warf einen verstohlenen Blick zu den anderen, die ein Stück hinter ihr standen und wie gebannt auf die freigelegte Treppe starrten. In den Monaten, die dieser kleinen Expedition vorausgegangen waren, war der Rest des Teams allmählich skeptisch geworden, ob sie überhaupt irgend etwas finden würden. Zwar hatten sie sich nicht gegen Danicas Vorhaben ausgesprochen, allerdings blieb ihnen ohnehin keine andere Wahl.

Doch Danica wusste, dass sie hinter ihrem Rücken tuschelten, an ihr zweifelten und sich vielleicht sogar darüber amüsierten, weil sie an das glaubte, was sie tat. Sie konnte ihnen ihre Skepsis nicht verübeln. Anfangs war es ihr selbst nicht anders ergangen. Die gesamte Mission fußte nur auf Indizien, auf Klatsch und Tratsch, auf Vermutungen und guten alten Gerüchten, die aus allen Ecken der Erde zusammengetragen worden waren.

Doch Danicas Glaube war stark genug gewesen, um die Mission durchzuziehen, und nun standen sie da, vielleicht noch zehn Minuten von ihrem Ziel entfernt – einem Ziel, das Danica fast drei Jahre lang zielstrebig verfolgt hatte.

Erlösung.

Sie nahm ihren Laptop und ging los, wobei sie den anderen bedeutete, ihr zu folgen. Vorsichtig befolgte das Team ihre Anweisung, als sie sich nach unten in die Finsternis begab.

In dem Raum unter ihnen war es erheblich dunkler. Das diffuse Sonnenlicht, das von oben in die Pyramide fiel, drang kaum noch bis dort unten vor. Es schien sogar so, als würde es vor dem tausend Jahre alten Staub und dem schwachen Geruch von Zerfall zurückschrecken, der einem den Atem nahm und alles zu durchdringen schien.

Grimwood, das größte und imposanteste Mitglied des Teams, holte eine Taschenlampe hervor und schaltete sie ein. Der gelbliche Lichtkegel erhellte einen kleinen Raum aus Sandstein, dessen Boden aus nackter Erde bestand und der für die Gruppe mitsamt ihrer Ausrüstung nur mit Mühe Platz bot. Langsam leuchtete Grimwood einmal in jeden Winkel der Kammer, ehe er die Lampe auf die Wände des Grabgewölbes richtete. Die waren von der Decke bis zum Boden mit einer alten Schrift bedeckt, die mit großer Präzision in den nackten Stein gehauen worden war.

Davon abgesehen war das Grab leer.

„Na wunderbar. Es ist überhaupt nichts da.“ Grimwood drehte sich zu den anderen um und sagte verächtlich: „Gibt es irgendeinen vernünftigen Grund, warum wir diesen Scheißausflug am Tag machen mussten?“

Danica nahm schwungvoll ihren Helm ab und blickte um sich, um die Situation zu beurteilen. Selbst in dem trüben Lichtschein war ihre ungewöhnliche Schönheit offensichtlich, was auch für die Ehrerbietung galt, mit der die anderen ihr begegneten. Ihr ruhiges Auftreten und die königliche Aura, die sie umgab, ließen sofort erkennen, dass sie die Anführerin der Gruppe war. Sie sprach, ohne aufzublicken, und konzentrierte sich vielmehr um die Details des Raums, um sie mit dem abzustimmen, was ihr Laptop zeigte. „Nachts ist es zu gefährlich, Grimwood. Das weißt du.“

Auch die anderen nahmen nun ihre Helme ab und sahen sich um. Ihre Gesichter waren zwar attraktiv, dennoch wirkten sie wie das Werk eines Künstlers, dem man ein menschliches Antlitz sehr detailliert beschrieben hatte, dem aber noch nie eines in natura unter die Augen gekommen war. Die Gesichtszüge waren eine Spur zu langgezogen, die Wangenknochen traten etwas zu stark hervor und ihre Kiefer waren ein wenig zu kantig geraten. Drei Augenpaare blitzten in der Dunkelheit auf, als würden sie von innen heraus in einem gelblichen Schein leuchten. Die Fingernägel waren zu spitz, und die Zähne waren zu scharf, als dass es sich bei der Gruppe um normale Menschen handeln konnte.

Tatsächlich handelte es sich überhaupt nicht um Menschen, sondern um Vampire. Und hier, mitten in der glutheißen Wüste, waren sie äußerst nervös.

Grimwood wandte sich von den anderen ab und betrachtete die kantige Schrift, die in die Wände geritzt worden war. Mit einem fleischigen Finger berührte er sie. „Was ist das? Haben da Hühner rumgekratzt?“

Danica sah von ihrem Computer auf. „Keilschrift. Rund viertausend Jahre alt.“

Trotz der Ungeduld des großen Mannes ließ ihn diese Antwort einen Moment lang innehalten. Mit der Zunge fuhr er an seinen Zähnen entlang, über die Stahlkappen gestülpt waren. Dann machte er eine ausholende Geste und sprach die Frage aus, die ihnen allen auf der Zunge lag. „Und warum hier?“

„Weil dies hier die Wiege der Zivilisation war“, antwortete Danica mit sanfter Stimme. Ihre Finger spielten mit dem kleinen stählernen Kruzifix, das um ihren Hals hing. Ihre Miene hatte einen sehnsüchtigen Ausdruck. „Er hätte sich hier wohlgefühlt.“

Asher, ein anderer aus dem Team, stellte sich zu Danica. Die Ähnlichkeit ihrer Gesichtszüge verriet, dass er mit ihr verwandt war. Er legte ihr die Hand auf die Schulter und schüttelte zweifelnd den Kopf. „Ich weiß nicht, Dan. Mir kommt es vor wie eine weitere Sackgasse.“

Das vierte Mitglied der Gruppe meldete sich zu Wort. „Ich bin mir nicht so sicher…“

Wolfe sprach zwar mit leiser Stimme, zog aber sofort die Aufmerksamkeit aller auf sich. In der eintretenden Stille widmete er sich dem tragbaren Radar, der nahe dem Mittelpunkt der Kammer auf dem Boden stand. Wolfe sah mit aufgeregter Miene auf. „Unter uns ist etwas.“

Die anderen scharten sich um das flackernde Display, während Wolfe den Monitor einstellte, indem er die Knöpfe mal in die eine, mal in die andere Richtung drehte. Allmählich zeichnete sich im statischen Rauschen ein Bild ab. Ein Querschnitt der Topographie unter dem Boden wurde erkennbar, der zeigte, dass irgend etwas Großes nur einen oder zwei Meter unter ihnen im Sand vergraben lag.

Irgend etwas.

„Ist das ein Leichnam?“

Ashers Stimme klang nervöser, als es ihm Recht war. Grimwood verzog den Mund und sah ihn spöttisch an, woraufhin Asher frustriert die Kiefer zusammenpresste. Er wollte absolut nicht hier sein, und es war ihm egal, wer dies mitbekam. Zum Teufel mit der Mission! Er wollte nur hier raus, und das so schnell wie möglich. Als Vampir machte es ihm nichts aus, sich im Untergrund zu bewegen, doch diese unterirdische Todesgruft löste bei ihm Klaustrophobie aus. Angst lag in der Luft, sehr große Angst, und ein Kribbeln im Nacken verriet ihm, dass hier schlimme Dinge geschehen waren – und dass er besser verschwinden sollte, solange es noch ging.

Asher verkniff sich seine Bedenken und trat nach vorn, wobei er wachsam zusah, wie Wolfe noch eine Einstellung am Radar vornahm. Dann wurde das Bild allmählich scharf.

Es war eindeutig ein Leichnam.

Das Team war von diesem Anblick so sehr gefesselt, dass sie alle das Geräusch von sich bewegenden Gegengewichten erst bemerkten, als es bereits zu spät war. Mit einem Sirren spannten sich ganze Reihen von Seilen, die an der steinernen Decke entlang verliefen. Ein gewaltiger Block fiel auf der anderen Seite der Wand mit einem lauten Knirschen zu Boden und ließ eine Steinplatte auf die Treppe niedergehen. Der Ausgang war versperrt.

„Was zum Teufel soll das?“

Grimwood war mit einem Satz an der Steinplatte, hämmerte mit der Faust darauf herum und versuchte dann mit roher Gewalt, sie mit der Schulter wegzudrücken. Es half nichts. Der Stein war massiv und wog sicher eine halbe Tonne.

Sie saßen in der Falle.

Asher beendete zuerst das entsetzte Schweigen. „Fordere Verstärkung an. Sie sollen versuchen, den Zugang von außen freizu…“

„He, Leute…“, unterbrach ihn Wolfe und zeigte mit zitternder Hand auf den Boden. Dort hatte sich eine kleine Vertiefung gebildet. Sand verschwand dort so gleichmäßig, als ob Wasser aus einer Badewanne lief. Wolfe stellte den Radar ab und kniete sich vorsichtig neben dem Loch hin. Er versuchte zu erkennen, wohin der Sand verschwand. Öffnete sich dort womöglich ein Fluchttunnel?

Der Sand rutschte umso schneller nach, je größer das Loch wurde, bis es schließlich so aussah, als habe sich im Boden ein kleiner Strudel gebildet. Inzwischen hatte das Loch bereits einen Durchmesser von gut dreißig Zentimetern erreicht.

Wie hypnotisiert beugte sich Wolfe weiter vor…

Plötzlich schien der Boden zu explodieren.

Ehe einer aus dem Team reagieren konnte, schoß eine gepanzerte Klauenhand aus dem Sand und packte Wolfe an der Kehle. Einen Moment lang hielt sie ihn einfach nur fest, dann drückte sie zu. Das Knirschen von Knorpel wurde von den Wänden der Kammer zurückgeworfen, als die Hand sich plötzlich wieder nach unten bewegte und Wolfe so heftig tief in den Sand gerissen wurde, dass nichts ihn hätte zurückhalten können. Eines seiner Beine zuckte, als Wolfe im Boden verschwand, traf die batteriebetriebene Laterne, die umkippte und erlosch.

Das Grab war in völlige Dunkelheit gehüllt.

Brüllend eilten Asher und Grimwood zu Wolfe und tasteten blindlings umher, bis sie seine Knöchel zu fassen bekamen. Sie zogen mit vereinten Kräften, um ihren Kameraden zu befreien, doch sie schafften es nicht, Wolfe auch nur ein Stück weit zurückzuzerren. Es war, als würden sie versuchen, ein Schwert aus einem massiven Fels zu ziehen.

Die Lampe ging wieder an, flackerte aber unablässig, da immer wieder Sandkörner die Kontakte unterbrachen. Viel Zeit blieb ihnen nicht, bis die Lampe wieder ausgehen und diesmal endgültig dunkel bleiben würde.

Wolfe strampelte heftig, riss sich aus Ashers Griff los und trat ihm mit solcher Wucht gegen die Brust, dass er durch die Luft geschleudert wurde. Der junge Vampir krachte mit dem Kopf gegen die Decke und fiel bewusstlos zu Boden.

Danica nahm seinen Platz neben Wolfe ein, bekam sein Bein zu fassen und zog mit aller Kraft. Der Sand schien sich im Schein bläulicher Blitze der flackernden Lampe unter ihren Füßen zu winden. Dunkle Schemen zuckten über den Boden, die wie Haie im Meer oder wie etwas noch viel Schlimmeres wirkten…

Zu ihrer Überraschung gelang es ihnen auf einmal, Wolfe wieder hochzuziehen.

Bis auf seinen Kopf.

Während Danica Wolfes kopflosen Körper mit einem tonlosen Entsetzensschrei zu Boden fallen ließ, schoss eine hellrote Blutfontäne aus dem Boden, verfärbte den Sand und spritzte bis an die Wände, so dass die Inschriften wie kantige schwarze Insekten umherzukriechen schienen.

Etwas bewegte sich durch den Sand nach oben, etwas Großes und Bestialisches, das aber eindeutig humanoide Form besaß. Es bäumte sich auf und zuckte, während es sich aus dem Boden erhob. Kraftvolle Muskeln spannten sich an, als sich das Ding nach oben durchkämpfte. Das flackernde Licht der Lampe beleuchtete die Bewegungen wie einen Alptraum, der in einzelnen Sequenzen ablief.

Ehe einer aus der Gruppe irgend etwas tun konnte, schoss eine abscheuliche, mit Panzerplatten bedeckte Kreatur aus dem blutigen Sand empor, warf den Kopf in den Nacken und stieß ein triumphierendes Gebrüll aus, als habe es sich soeben aus den Eingeweiden der Hölle befreit. Die untere Gesichtshälfte der Kreatur war mit einer blutroten Stammesmaske bedeckt, über den muskulösen Körper zogen sich wellenförmig lange, spitze Auswüchse, die wie lebende Dornen aus der gepanzerten Haut schossen.

Das Geschöpf schüttelte den restlichen Sand ab, warf mit der Schnelligkeit einer Klapperschlange den Kopf herum und starrte die Gruppe mit einem hasserfüllten Blick an. Es öffnete sein ebenfalls gepanzertes Maul und schrie ihnen ein furchtbares Heulen entgegen, während lange, gekrümmte Reißzähne sichtbar wurden, an denen frisches blutiges Fleisch klebte.

Dann erlosch die Laterne endgültig.

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