5.

Was Mercer ihm gestern bereits prophezeit hatte, schien sich überraschend schnell zu bewahrheiten: Mogens fühlte sich noch immer nicht besonders wohl dabei, die schmale Leiter hinunterzuklettern, die unter seinem und Graves' gemeinsamem Gewicht hörbar ächzte, aber es machte ihm schon nicht mehr ganz so viel aus wie am vergangenen Tag. Natürlich lag es daran, dass er seine Nervosität niemals in Graves' Nähe zugegeben hätte, aber anscheinend gewöhnte er sich tatsächlich an seine neue Umgebung.

Und dazu kam natürlich seine Neugier. Nach allem, was zwischen ihnen vorgefallen war, schämte sich Mogens seiner eigenen Gefühle beinahe, aber er kam dennoch nicht umhin zuzugeben, dass es Graves gelungen war, seine Neugier zu wecken. Die Entdeckung dieses unterirdisch gelegenen ägyptischen Tempels - nur wenige Meilen von San Francisco entfernt - war an sich schon sensationell genug. Mit welchem noch größeren Wunder wollte Graves denn noch aufwarten?

Auf dem Weg nach unten und durch den Gang mit den Wandmalereien und Reliefarbeiten versuchte er mehrmals, Graves wenigstens eine Andeutung zu entlocken, bekam aber stets nur ein geheimnisvolles Lächeln zur Antwort. So sehr sich Mogens in diesem Moment auch darüber ärgerte, konnte er Graves zugleich auch verstehen. Möglicherweise hätte er an dessen Stelle nicht anders reagiert. Aber was konnte Graves entdeckt haben, das das hier noch in den Schatten stellte?

Mogens fasste sich notgedrungen in Geduld, während er durch den nur schwach erhellten Stollen tappte. Gestern war er von dem Gesehenen viel zu erschlagen gewesen, um auf Einzelheiten zu achten, nun aber musterte er die Malereien und Reliefs, an denen sie vorbeikamen, umso genauer, und ihm fielen doch gewisse Unterschiede zu der ägyptischen Kunst auf, die er kannte. Er war kein Spezialist, was diese Epoche anging, aber er war im Laufe seines Studiums natürlich nicht umhin gekommen, sich auch mit der Kunst und Kultur des alten Ägypten zu beschäftigen. Was er gestern schon gemutmaßt hatte, schien sich nun zu bestätigen: Es gelang ihm nicht, die Bildnisse und Steinmetzarbeiten einer bestimmten Epoche zuzuordnen. Aber das musste nichts bedeuten, wie ihm der Wissenschaftler in ihm erklärte. Schließlich waren sie hier zweifellos in einem ägyptischen Tempel, aber nicht in Ägypten. Das Reich der Pharaonen war vor mehr als zwei Jahrtausenden untergegangen, aber diese Anlage konnte ebenso gut viel älter sein - oder auch viel jünger. Es war so, wie Graves gestern gesagt hatte: Das alte Pharaonenreich hatte mehrere tausend Jahre lang existiert; eine für einen Menschen unvorstellbar lange Zeit, in der buchstäblich alles vorstellbar war.

Mogens schwindelte, als er versuchte, sich das Erdbeben vorzustellen, das diese Entdeckung in der Fachwelt - und nicht nur dort - hervorrufen musste. Und auch sein schlechtes Gewissen meldete sich wieder. Gleich wie entrüstet er war und egal was Graves ihm in der Vergangenheit angetan hatte, seine Neugier war geweckt, und Mogens war auch gegen die Verlockung nicht gefeit, als einer von den Wissenschaftlern in die Geschichtsbücher einzugehen, denen dieser Fund zugeschrieben wurde.

»Wie hast du das alles hier überhaupt entdeckt?«, fragte er, nur um überhaupt etwas zu sagen. Er hätte es nicht ertragen, weiter schweigend hinter Graves herzugehen.

»Genau genommen war es Tom«, antwortete Graves; allerdings erst, nachdem sie den Stollen verlassen und wieder in die Grabkammer hineingetreten waren. Die roten Rubinaugen der beiden Horusstatuen rechts und links des Eingangs schienen missbilligend auf sie herabzublicken, und Mogens ertappte sich bei dem vollkommen absurden Gedanken, dass es nicht gut war, an einem heiligen Ort wie diesem über solche Banalitäten zu reden. »Ihm haben wir das alles zu verdanken.«

»Tom?«

»Nicht genau diesen Raum, und er wusste auch gewiss nicht, worauf er da überhaupt gestoßen ist«, erklärte Graves. Er machte eine Kopfbewegung zur Decke hinauf. »Wir sind hier ziemlich genau unter dem Südrand des alten Friedhofs. Tom hat eines der alten Gräber geöffnet und ist dabei auf einen Hohlraum gestoßen. Da er ihm sonderbar vorkam, ist er zu mir gekommen und hat mich um Rat gefragt.«

»Warum?«, fragte Mogens beinahe erschrocken.

»Wir kennen uns schon seit vielen Jahren«, antwortete Graves. »Wenn ich in San Francisco bin, besuche ich ihn regelmäßig, und bei meinem letzten Besuch...«

»Das meine ich nicht«, unterbrach ihn Mogens. Seine Stimme wurde eine Spur schriller. »Was hast du vorher gesagt? Tom hat ein altes Grab geöffnet? Warum?«

John setzte zu einer Antwort an, beließ es aber dann bei einem leicht irritierten Blick und einem angedeuteten Schulterzucken. »Ehrlich gesagt, habe ich ihn das nie gefragt«, gestand er. »Ich war viel zu aufgeregt, als mir klar wurde, was sein Fund wirklich bedeutete.« Er schüttelte ein paar Mal den Kopf. »Das muss man sich einmal vorstellen: Da suchen Tausende von Forschern seit hundert Jahren mit unglaublichem Aufwand alle Länder dieses Erdballs ab, um die Rätsel unserer Vergangenheit zu lösen, und ein einfacher Junge vom Lande, der nicht einmal richtig lesen und schreiben kann, stößt auf die gewaltigste Sensation aller Zeiten.«

Mogens hatte Mühe, seinen Worten zu folgen. Das konnte kein Zufall sein! Tom hatte ein Grab geöffnet? Warum? Und warum auf einem Friedhof, der seit einer Generation nicht mehr benutzt wurde. Mit einem Mal erfüllte ihn der Gedanke mit Besorgnis, dass es noch keine Stunde her war, dass er Tom - ausgerechnet Tom - seine Geschichte erzählt hatte!

»Hörst du mir überhaupt zu?« Es war nicht die Frage an sich, sehr wohl aber der scharfe, fast schon ärgerliche Ton, in dem sie gestellt wurde, der Mogens aus seinen Gedanken riss und ihn irritiert - und auch ein wenig verlegen - aufblicken ließ. Er rettete sich in ein nichts sagendes Lächeln, aber ihm wurde auch klar, dass Graves' verärgerter Ton nicht von ungefähr kam: Er konnte sich tatsächlich nicht erinnern, was er zuletzt gesagt hatte.

»Entschuldige«, sagte er. »Ich war... in Gedanken.«

»Ja, das scheint mir auch so.« Graves schüttelte seufzend den Kopf. »Großer Gott, Mann, da halte ich dir den wichtigsten wissenschaftlichen Vortrag dieses Jahrhunderts, und du hörst mir nicht einmal zu!«

Mogens war verwirrt, und umso mehr, als er das spöttische Glitzern in Graves' Augen bemerkte und ihm klar wurde, dass diese Worte wohl das sein mussten, was Graves für eine scherzhafte Bemerkung hielt. »Entschuldige«, sagte er noch einmal. »Wir sind hier genau unter dem Friedhof, sagst du?«

»Nicht direkt«, antwortete Graves. Er sah Mogens noch immer leicht vorwurfsvoll an, ging aber zu seiner Erleichterung nicht mehr auf dieses Thema ein. »Tom hat damals nur den Beginn eines halb verschütteten Tunnels gefunden. Den Schacht, durch den wir gerade heruntergestiegen sind, haben wir erst später angelegt.« Er machte eine Kopfbewegung. »Komm. Wir haben noch ein gutes Stück zu gehen. Wir können unterwegs weiter reden.«

Noch ein gutes Stück?, dachte Mogens verwundert. Sie befanden sich doch bereits im Herzen der unterirdischen Anlage. Er hatte sich heute so wenig wie gestern die Mühe gemacht, seine Schritte zu zählen, aber sie mussten mehr als hundert Meter unter der Erde zurückgelegt haben, seit sie die Leiter herabgestiegen waren. Er sah Graves fragend an, folgte ihm aber widerspruchslos, als dieser sich in Bewegung setzte und in geringem Abstand an der gewaltigen Totenbarke vorbeiging. Mogens selbst machte einen größeren Bogen um das Ding, als notwendig gewesen wäre. Dennoch hatte er das unheimliche Gefühl, dass die geschnitzten Augen der mannsgroßen Anubis-Statuen an Bug und Heck des Schiffes jeden seiner Schritte beobachteten.

Er schüttelte auch diesen Gedanken ab, aber es fiel ihm jetzt deutlich schwerer. Je tiefer sie in diese unterirdische Tempelanlage eindrangen, desto schwerer fiel es ihm, seine Gedanken in jenen ordentlichen, streng logischen Bahnen ablaufen zu lassen, die einem Wissenschaftler wie ihm anstanden.

Graves tauchte unter den ausgestreckten Armen einer überlebensgroßen, stierköpfigen Götterstatue hindurch, deren Bedeutung Mogens nicht sofort geläufig war, richtete sich wieder auf und bedeutete ihm ungeduldig gestikulierend, sich zu beeilen. Mogens gehorchte, aber das ungute Gefühl in ihm nahm zu, ebenso wie seine irrationale Furcht. Als er sich, Graves' Beispiel folgend, unter den ausgestreckten Armen der gewaltigen Granitstatue hindurchduckte, musste er sich der absurden Vorstellung erwehren, von der gewaltigen steinernen Gottheit in einer tödlichen Umarmung umschlossen zu werden. Es kostete ihn große Willenskraft, nicht hörbar erleichtert aufzuatmen, als er neben Graves ankam und sich aufrichtete.

Wieder sah Graves ihn fragend an, und wieder wich Mogens seinem Blick aus und versuchte sich zu einem Lächeln zu zwingen. »Und?«

Graves war an eine schmale, aber mehr als mannshohe Nische herangetreten, in der eine weiße Marmorstatue stand, die eine Katze in der typischen stolzen Haltung ihrer Art zeigte. Statt Mogens' Frage zu beantworten, griff er mit beiden Händen nach dem Kopf der Katzenstatue und spannte die Muskeln an, als versuche er allen Ernstes, ihn abzubrechen. Anstelle dessen jedoch ertönte nach einem kurzen Moment ein schweres Klacken, und dann ein anhaltendes Schaben und Schleifen, wie von zwei gewaltigen Mühlsteinen, die aneinander rieben. Graves trat mit einem Lächeln zurück, das man nicht mehr anders als triumphierend bezeichnen konnte, und hob in einer theatralischen Geste die Hände. Mogens sah ihm einige Augenblicke lange gleichermaßen verstört wie ärgerlich zu und setzte gerade zu einer entsprechenden Bemerkung an, als das Scharren lauter wurde und sich ein sachtes Zittern des Bodens unter seinen Füßen hinzugesellte. An der Wand direkt vor ihnen entstand ein zwei Finger breiter Spalt, der sich rasch zu einem Durchgang erweiterte, nicht besonders breit, aber ausreichend, um sich mit einiger Anstrengung hindurchzuzwängen.

Graves sah ihn Beifall heischend an.

»Beeindruckend«, sagte Mogens - was der Wahrheit entsprach. Er war beeindruckt, wenn auch gewiss nicht von Graves' laienspielerischer Darstellung. »Wie hast du das herausgefunden?«

»Mit Hilfe des ältesten und treuesten Verbündeten der Wissenschaft«, antwortete Graves fröhlich. Mogens tat ihm den Gefallen, fragend zu blicken, und Graves fügte hinzu: »Des Zufalls.«

Das muss das sein, was Tom als Graves' »Allerheiligstes« bezeichnet hat, dachte Mogens. Er konnte sich gerade noch beherrschen, eine entsprechende Bemerkung zu machen, kam über diesen Gedanken aber auf eine andere Frage, die ihn unbewusst schon die ganze Zeit über beschäftigt hatte, seit sie die Leiter heruntergekommen waren. »Wo sind Mercer und die anderen?«

»Sie haben ihren freien Tag«, antwortete Graves. »Heute ist Sonntag. Sie sind schon vor Sonnenaufgang losgefahren, um den Tag in Frisco zu verbringen. Aber ich dachte mir, dass du weder besonderen Wert auf die Gesellschaft deiner neuen Kollegen noch auf die profanen Vergnügungen legst, denen sie sich hingeben.«

Mogens verzichtete vorsichtshalber darauf, zu antworten, sondern machte eine auffordernde Geste, die Graves aber ignorierte. Mogens war nicht wohl bei dem Gedanken, sich durch den schmalen Spalt zu zwängen und in den finsteren Gang dahinter zu treten, und auch seine wissenschaftliche Neugier, die er jetzt immer heftiger fühlte, änderte daran nichts. Er war Forscher - Archäologe -, und er sollte keine Angst davor haben, in einen unbekannten Raum einzudringen. Aber er hatte Angst.

Mogens überwand seine Furcht, atmete noch einmal tief und hörbar ein und trat durch die Tür. Graves folgte ihm in so geringem Abstand, dass er seinen Atem im Nacken spüren konnte, und quetschte sich - vollkommen widersinnig - an ihm vorbei, kaum dass sie den angrenzenden Gang betreten hatten. »Warte einen Moment.«

Mogens blieb gehorsam stehen und versuchte mehr Einzelheiten seiner neuen Umgebung zu erkennen, während Graves sich ein paar Schritte entfernte und lautstark herumzuhantieren begann. Einen Moment später konnte er hören, wie ein Streichholz angerissen wurde, dann flammte das unangenehm grelle Licht einer Karbidlampe auf.

In ihrem Schein erkannte Mogens eine Wand aus metergroßen, fast ohne Fugen aufeinander gesetzten Steinquadern. Anders als in der Grabkammer gab es hier keine Wandmalereien oder Reliefs. Der Gang war gute sechs Fuß hoch und so schmal, dass Mogens sich unwillkürlich fragte, wie Mercer seine gewaltige Leibesfülle hindurchgequetscht haben mochte, von der schmalen Geheimtür gar nicht zu reden. Er stellte die Frage laut.

»Du bist der Erste, der diese Gänge sieht, Mogens«, antwortete Graves, während er seine Lampe herumschwenkte und den schmalen Tunnel entlangzugehen begann. Es war eine sehr starke Lampe, deren Strahl bestimmt fünfundzwanzig oder dreißig Schritte weit reichte, bevor er allmählich zu verblassen begann. Zumindest auf diesem Stück sah er nichts als gleichförmige Wände aus graubraunen Steinquadern.

»Du hast es Mercer und den anderen nicht gezeigt?«, wunderte sich Mogens. »Warum?«

»Gedulde dich nur noch einen kleinen Moment«, sagte Graves. »Dann wirst du mich verstehen.«

Mogens verzog das Gesicht, aber er ersparte sich jede weitere Frage. Graves war offensichtlich entschlossen, dieses alberne Spiel bis zum Ende zu führen. Dennoch hatte Graves ihm eine Frage beantwortet, die Mogens beschäftigte, seit er Mercer, Hyams und McClure getroffen hatte. Er begriff vor allem Hyams' unübersehbare Ablehnung jetzt ein wenig besser. Sie war Archäologin, und nach Mercers und Graves' Aussage eine der besten dieses Landes, doch Graves hatte nicht sie zu Rate gezogen, um das allergrößte Geheimnis dieses Tempels zu lüften, sondern einen Fremden geholt, und noch dazu jemanden, der zwar auf einem verwandten Gebiet arbeitete, aber definitiv kein Ägyptologe war. Jeder an ihrer Stelle wäre verletzt gewesen; und Wissenschaftler waren ein ganz besonderes Völkchen, was Empfindlichkeiten und Eitelkeit anging.

»Pass auf.« Graves wedelte mit seiner Lampe. »Dort vorne wird es ein wenig holperig.«

Vor ihnen war ein Teil der Tunneldecke eingestürzt, und heruntergefallene und zerbrochene Steinquader bildeten ein Gewirr aus Steintrümmern, Schutt und scharfkantigen Spitzen, das Mogens auf den ersten Blick schier undurchdringlich erschien. Graves marschierte jedoch in scharfem Tempo darauf zu, bückte sich mit einer Bewegung, die allein schon verriet, wie oft er diesen Weg schon gegangen war, unter einem schräg aus der Decke ragenden Felsquader hindurch, und war im nächsten Augenblick einfach verschwunden. Mit ihm erlosch das Licht.

Mogens verspürte ein kurzes, aber heftiges Aufwallen von Panik, als die Dunkelheit wie eine Woge aus klebriger Schwärze über ihm zusammenschlug, aber das Licht kehrte zurück, bevor die Furcht endgültig Gewalt über ihn erlangen konnte.

»Komm schon, Mogens!« Graves' Stimme klang plötzlich gedämpft. »Aber pass auf, wohin du trittst.«

Mogens duckte sich unter dem Steinquader hindurch und blinzelte in das grelle Licht, das durch einen unregelmäßigen Spalt in dem Schutthaufen fiel, der den Tunnel blockierte.

Spätestens hier wäre der Weg für Mercer ohnehin zu Ende gewesen. Der Spalt war so schmal, dass sich Mogens fast wunderte, wie Graves, der ein gutes Stück größer war als er selbst und auch deutlich breitschultriger, es fertig gebracht hatte, hindurchzukriechen.

Auch Mogens war nicht besonders wohl beim Anblick des schmalen Felsspalts. Wäre er allein gewesen, so hätte er in diesem Moment vermutlich kehrtgemacht. Vor Graves jedoch konnte er sich diese Blöße unmöglich geben, also ließ er sich auf Hände und Knie sinken und folgte ihm.

Der Spalt war noch enger, als er befürchtet hatte, und Graves hielt zu allem Überfluss das Licht die ganze Zeit über auf sein Gesicht gerichtet, sodass er nahezu blind war und sich jeden Zentimeter mühsam ertasten musste. Harter Fels schrammte über seinen Hinterkopf und seine Schultern, und Graves' Warnung erwies sich im Nachhinein als gut gemeinter Rat: Der Durchgang war zwar kaum einen Meter tief, sodass sich Mogens schon nach einem Moment wieder aufrichten konnte, doch als er es tat, waren nicht nur seine Hände zerschunden, sondern auch sein Hemd hing in Fetzen und er hatte sich das rechte Knie seiner Hose durchgescheuert.

»Mach dir nichts draus«, sagte Graves fröhlich. »Wenn das hier vorbei ist, kannst du dir den besten Schneider des Landes leisten.« Er nahm endlich die Lampe herunter, sodass Mogens nicht mehr ununterbrochen blinzeln und gegen die Tränen ankämpfen musste, und gestikulierte tiefer in den Gang hinein. »Komm. Es ist nicht mehr weit. Aber eine weitere kleine Kletterpartie kann ich dir leider nicht ersparen.«

Beides waren höchst subjektive Einschätzungen, wie Mogens bald herausfinden sollte, und beides war nicht wahr - zumindest seiner Einschätzung nach. Der Tunnel wurde immer unwegsamer. Schutthalden und gewaltige Steinquader, teils zerbrochen, teils noch in einem Stück, blockierten den Weg, und überall lagen Steine oder gähnten Fallgruben, manche metertief, manche nur flache Mulden, dennoch aber heimtückisch genug, um zu stürzen oder sich einen Fuß zu verstauchen, was hier unten durchaus fatale Folgen haben konnte. Sie mussten sich nicht mehr durch atemabschnürende Spalten quetschen, aber mehr als einmal auf Händen und Knien kriechen oder waghalsige Kletterpartien in Kauf nehmen. Es war Mogens in dieser unheimlichen Umgebung unmöglich, die Entfernung zu schätzen, die sie wirklich zurücklegten. Vermutlich waren es kaum mehr als fünfzig oder sechzig Yards, aber er hatte das Gefühl, Meilen zurückgelegt zu haben, als sie endlich wieder stehen blieben.

»Jetzt haben wir es gleich geschafft.« Sie waren vor einer Schutthalde angekommen, die den Gang nahezu vollkommen ausfüllte, und Graves fuchtelte mit seiner Lampe aufgeregt zu ihrem oberen Ende hin. Das Licht huschte so hektisch hin und her, dass Mogens den schmalen Spalt zwischen der Halde und der Tunneldecke erst beim zweiten oder dritten Hinsehen erkannte. »Halte mal!«

Mogens griff ganz automatisch zu und nahm die Karbidlampe. Graves wandte sich um und begann mit schnellen, fast spinnenhaft anmutenden Bewegungen die Trümmerhalde hinaufzuklettern, während Mogens versuchte, ihm mit dem Kreis aus zitterndem Licht zu folgen. Kleine Steinchen kollerten zu ihm herab, und ihr Echo hallte sonderbar lang und verzerrt in der Leere des Ganges hinter ihm wider. Verborgen unter diesem Geräusch glaubte Mogens jedoch plötzlich noch einen anderen, viel unheimlicheren Laut zu vernehmen; etwas wie das Scharren großer, horniger Füße, die über harten Fels schleiften.

Erschrocken fuhr er herum und richtete den Strahl des Karbidlichts in den mit Steinquadern und Trümmern übersäten Tunnel. Sein Herz begann zu pochen. War da nicht etwas gewesen, eine verstohlene, huschende Bewegung, wie von einer großen haarigen Kreatur, die vor dem Licht des Scheinwerfers floh?

»Komm rauf, Mogens!« Graves hatte die Schutthalde erklommen und war schon halb in dem schmalen Spalt zwischen ihrem Grat und der Decke verschwunden. »Das ist das letzte Hindernis. Und es lohnt sich, das verspreche ich dir!«

Noch eine Sekunde lang starrte der Professor mit klopfendem Herzen in den Tunnel hinter sich, dann riss er sich von dem unheimlichen Anblick los und schalt sich in Gedanken einen Narren. Hinter ihm war nichts. Wenn es dort überhaupt eine Bewegung gab, die ihren Ursprung nicht in seiner überreizten Fantasie hatte, dann war es allenfalls eine Ratte. Er packte den Scheinwerfer fester, drehte sich mit einer schon fast übertrieben schwungvollen Bewegung um und machte sich an die gar nicht so leichte Aufgabe, Graves zu folgen, ohne die Lampe fallen zu lassen oder von einer selbst ausgelösten Steinlawine in die Tiefe gerissen zu werden.

Graves hatte nicht auf ihn gewartet, sondern war bereits weitergekrochen. Mogens konnte ihn irgendwo in der Dunkelheit vor sich rumoren hören, aber selbst als er den Scheinwerfer hob und den starken Strahl in die entsprechende Richtung lenkte, war nichts zu erkennen. Auf der anderen Seite der Halde musste sich ein weit größerer Hohlraum erstrecken, denn das weiße Karbidlicht verlor sich einfach, ohne auf Widerstand zu treffen.

»Bleib oben«, drang Graves' Stimme aus der Dunkelheit an sein Ohr. »Ich mache Licht.«

Mogens hörte ihn einen Moment in der Schwärze unter sich hantieren, dann vernahm er einen Laut, der ein flüchtiges, aber schadenfrohes Lächeln auf seinen Lippen erscheinen ließ: das unverkennbare Geräusch, mit dem ein Kopf gegen Stein prallte, direkt gefolgt von einem nur unzulänglich unterdrückten Fluch. Im nächsten Moment wurde ein Streichholz angerissen und Graves' Gestalt tauchte im warmen Licht einer Petroleumlampe auf, deren Docht allmählich höher gedreht wurde. Mogens erkannte Wände aus großen behauenen Felsquadern, ähnlich denen draußen im Gang, nur das diese hier mit Malereien und Reliefarbeiten bedeckt waren. Als Graves sich zu ihm umdrehte, hatte er den flüchtigen Eindruck, eine zweite, massige Gestalt zu sehen, die unweit von Graves in der Dunkelheit stand.

»Lass den Scheinwerfer oben«, sagte Graves. »Aber lösch das Licht. Die Kartusche hält nicht sehr lange, und wir brauchen sie für den Rückweg.«

Während Mogens gehorchte, entzündete Graves eine weitere Laterne. Der Kreis von Helligkeit, in dem er stand, war nun deutlicher zu sehen, ohne allerdings nennenswert größer zu werden. Eine der Lampen reichte er an Mogens weiter, als dieser bei ihm angelangt war, die zweite nahm er selbst. Dann wandte er sich ohne ein weiteres Wort um und ging los.

Mogens folgte ihm mit einem Gefühl wachsenden Staunens, das sich aber mehr und mehr mit Unglauben, ja fast einem Empfinden von Unwirklichkeit vermischte, je tiefer sie in den Raum eindrangen und je mehr sich seine Augen an das veränderte Licht gewöhnten.

Sein allererster Eindruck war, sich in einer weiteren Grabkammer oder vielleicht auch einem Tempel zu befinden, ähnlich der oberen Kammer, aber dieser Eindruck hielt nur wenige Momente an. Die Kammer war ungleich größer als die oben, dafür aber nicht einmal annähernd in so gutem Zustand. Etliche der fast mannsdicken Säulen, die die Decke trugen, waren umgefallen und zerborsten, und an mindestens einer Stelle war auch die Decke selbst heruntergebrochen, sodass Steinquader und nachgesacktes Erdreich und Steine einen gewaltigen Schuttberg bildeten. Auch die Wandmalereien und Reliefs befanden sich in keinem gutem Zustand. Die Farben waren so verblasst, dass die Bedeutung der meisten Bilder nur noch zu erahnen war, und selbst die in den Stein gemeißelten Linien waren überall ausgebrochen. Es gab auch hier zahlreich kleine und große Statuen, die menschliche Gestalten, aber auch ägyptische Gottheiten darstellten, doch die meisten davon waren von ihren Sockeln gestürzt oder auf andere Weise zerbrochen. Dennoch kam ihm irgendetwas daran... falsch vor, ohne dass er imstande gewesen wäre, das Gefühl in Worte zu kleiden.

Das Sonderbarste überhaupt aber war die Form des gesamten Raumes. Das Licht der beiden Sturmlaternen reichte nicht annähernd, um ihn vollends zu erhellen, aber Mogens erkannte dennoch nach einer Weile, dass die Kammer einen achteckigen Grundriss hatte - was für einen altägyptischen Sakralraum absolut untypisch war.

Sie hatten den Raum mehr als zur Hälfte durchquert, als Mogens stehen blieb. Graves ging noch zwei oder drei Schritte weiter, bevor auch er innehielt und sich wieder zu ihm umdrehte.

»Nun?«, fragte er. »Habe ich zu viel versprochen?«

»Das ist unglaublich«, murmelte Mogens. »Aber wieso hast du es für dich behalten? Großer Gott, Jonathan - Doktor Hyams würde ihre Seele verkaufen, um nur einen einzigen Blick auf das hier zu werfen!«

»Ich kann Suzan hier unten nicht gebrauchen«, antwortete Graves. »So wenig wie einen der anderen.«

»Aber mich?«, wunderte sich Mogens. »Wieso?«

Statt direkt zu antworten, sah ihn Graves auf eine Art an, die Mogens ein Frösteln den Rücken hinablaufen ließ, dann ging er mit schnellen Schritten weiter und steuerte die nächstgelegene Wand an. Er sagte immer noch nichts, wartete aber mit nun sichtbarer Ungeduld, bis Mogens zu ihm aufgeschlossen hatte, und hob dann seine Laterne höher. Mogens setzte zu einer weiteren Frage an.

Aber er sagte nichts. Sein Blick tastete immer hektischer und ungläubiger über die Wand, und er spürte, wie sein Herz zu rasen begann. Auch diese Wand war übersät mit Malereien und zum Teil ebenfalls ausgemalten Reliefarbeiten. Da waren die üblichen Gestalten aus der ägyptischen Götterwelt, Pharaonen und Schlachtenszenen, Kartuschen mit Hieroglyphen und vage vertraut anmutende Symbole - aber da war noch mehr. Zwischen den vertrauten Abbildern von Horus, Seth und Anubis waren andere, düsterere Umrisse: bizarr verformte Gestalten, die nichts ähnelten, was Mogens jemals gesehen hatte, ihn aber trotzdem mit einer kreatürlichen Furcht erfüllten, die es ihm fast unmöglich machte, die Bilder länger anzusehen. Dazwischen waren Schriftzeichen, sinnlos einander überschneidende Linien, die keinem erkennbaren Muster folgten, in Mogens aber das unheimliche Gefühl wachriefen, sich in einer nicht wirklich sichtbaren, aber dennoch vorhandenen Bewegung zu befinden.

»Was... ist das?«, murmelte er. Lag es wirklich nur an seiner eigenen Furcht, dass er das Gefühl hatte, irgendetwas aus den Gestalten, die sie umgaben, reagiere mit einem unwilligen Regen auf seine Frage?

»Ich hatte gehofft, du könntest es mir sagen«, antwortete Graves. Er klang nicht wirklich enttäuscht. Vielmehr so, als wäre auch das die sorgsam zurechtgelegte Antwort auf eine Frage, die er vorausgesehen hatte. Nicht zum ersten Mal begriff Mogens, dass Graves noch immer mit ihm spielte. Der Gedanke machte ihn wütend.

Graves gab ihm jedoch keine Gelegenheit, seinem Unmut Ausdruck zu verleihen, denn er trat von der Wand zurück und ging weiter. Während Mogens ihm folgte, vermied er es bewusst, die unheimlichen Bildnisse auf den Wänden genauer anzusehen. Aber es nutzte nichts. Es war, als hätte er sich besudelt, indem er die grässlichen Malereien nur mit seinen Blicken berührt hatte. Irgendetwas war in ihm zurückgeblieben, das er nicht los wurde, einem schlechten Geschmack auf der Zunge gleich, nachdem man in ein verdorbenes Lebensmittel gebissen hatte, und der sich einfach nicht fortspülen ließ. Dasselbe galt für etliche der zerbrochenen Statuen, an denen sie vorüber kamen. Viele hatten gewohnte Formen, aber nicht alle, und manche waren dergestalt, dass Mogens es vorzog, sie nicht genauer in Augenschein zu nehmen.

Eher um sich abzulenken, sah er in die andere Richtung und versuchte, sich über die sonderbare Symmetrie der unterirdischen Zeremonienkammer klar zu werden, aber auch dieser Versuch schlug fehl. Er war mittlerweile nicht einmal mehr sicher, ob seine erste Einschätzung richtig gewesen war. Vielmehr schien sich die Kammer auf fast unheimliche Weise jedem Versuch zu entziehen, ihre genaue Form zu erfassen; als wäre sie nach den Regeln einer Geometrie erbaut, die nicht die der Menschen war.

Graves steuerte eine breite, aus einem knappen halben Dutzend Stufen bestehende Treppe an - alle nicht nur unterschiedlich hoch, sondern auch auf eine mit Worten kaum zu beschreibende Weise in sich gedreht und verzerrt, die es nahezu unmöglich machte, sie auch nur anzusehen -, die zu einem fast deckenhohen Tor aus grauem Metall hinaufführte. Etwas in Mogens' Seele schien sich zusammenzuziehen, als er den Fehler beging, die düsteren Linien und Symbole anzusehen, die in das uralte Metall graviert waren.

Ohne dass es ihm selbst bewusst war, wurden seine Schritte immer langsamer, und ein leises Schwindelgefühl ergriff von ihm Besitz, als er hinter Graves die Treppe hinaufging. Der schwarze Stein unter ihm fühlte sich richtig an, aber er sah einfach nicht so aus, als wäre er für menschliche Füße gemacht - oder für die Füße auch nur irgendeines Wesens, das er sich vorstellen konnte.

Graves ließ sich seine Ungeduld nicht anmerken, auch wenn Mogens sie deutlich spürte, sondern wartete schweigend, bis er neben ihm angelangt war, bevor er die Laterne hob, um eine der beiden monströsen Statuen zu beleuchten, die das zweigeteilte Tor flankierten.

Um ein Haar hätte Mogens aufgeschrien.

Die Statue war an die sieben Fuß hoch und bestand aus schwarzem Gestein, das trotz seines sichtbaren Alters glänzte wie sorgsam polierter Marmor. Sie zeigte eine massige, zweibeinige Gestalt, die auf einem ungleichen, mit bedrohlichen Bildern und Symbolen übersätem Würfel hockte; ein missgestalter, aufgeblähter Balg wie der einer Kröte, plumpe, in breiten Schwimmfüßen endende Beine und muskulöse Arme, die zu ebenfalls fischartigen, dennoch aber mit grauenhaften Krallen bewehrten Händen mündeten, die wie zur Verhöhnung eines Gebets im Schoß der grotesken Kreatur gefaltet waren. Ein Kranz aus Dutzenden schlängelnder Tentakeln säumte den massigen Schädel, aus dem Mogens zwei fast handtellergroße, glotzende Augen über einem schrecklichen Papageienschnabel entgegenstarrten.

»Großer Gott«, flüsterte Mogens.

Graves hob seine Laterne ein wenig höher, sodass auch die Statue auf der anderen Seite des Tores für einen Moment aus den Schatten auftauchte. Die Haltung war eine andere, aber es war die gleiche, absurd-bizarre Kreatur. »Gott?« Graves schüttelte den Kopf. »Vielleicht. Die Frage ist nur, welcher.«

Seine Worte ließen Mogens einen neuerlichen, noch kälteren Schauer über den Rücken laufen. Vermutlich waren sie nur als Bonmot gedacht, vielleicht war es auch seine Art, die Spannung abzubauen, doch sie bewirkte bei Mogens das genaue Gegenteil. Hatte ihm der Anblick der beiden steinernen Kolosse bisher nur Unbehagen bereitet, so erfüllte er ihn nun plötzlich mit Furcht, die mit jedem Atemzug stärker wurde. Es fiel ihm immer schwerer, sich der absurden Vorstellung zu erwehren, von den beiden steinernen Dämonen schweigend und bedrohlich angestarrt zu werden. Trotz der Kunstfertigkeit, mit der sie geschaffen worden waren, bestand nicht der geringste Zweifel daran, dass sie aus nichts anderem als unbelebtem schwarzem Stein bestanden - und trotzdem wusste irgendetwas in Mogens mit unerschütterlicher Gewissheit, dass sie nur auf einen Anlass warteten, den allergeringsten Fehler, den er begehen mochte, um aus ihrem äonenalten Schlaf zu erwachen und sich auf ihn zu stürzen.

Es gelang ihm mit einiger Mühe, sich dieser durch und durch kindischen Vorstellung zu erwehren, nicht aber, sie ganz zu verscheuchen; der Gedanke blieb, irgendwo tief in ihm, verborgen im verschwiegensten Winkel seiner Gedanken, aber lauernd wie eine Spinne, die geduldig in ihrem Netz saß und auf ihre Gelegenheit wartete, sich auf eine ahnungslose Beute zu stürzen.

»Du hast mich gefragt, warum ich es den anderen nicht gezeigt habe«, fuhr Graves nach einer geraumen Weile fort, und mit leiserer, fast ehrfürchtig gesenkter Stimme. Er sprach auch nicht weiter, doch das wäre auch gar nicht notwendig gewesen. Mogens kannte die Antwort auch so. Dies hier war nicht das, wonach es auf den ersten Blick ausgesehen hatte. Die Kammer trug unzweifelhaft die Handschrift des alten Ägypten, doch hier wurden nicht nur Ra und Bastet verehrt, und die Gebete derer, die einst hier gekniet haben mochten, hatten längst nicht nur Isis und Osiris gegolten. Und es waren auch nicht nur die unheimlichen Malereien und Reliefs; nicht einmal allein der Anblick der monströsen Torwächter. Hier waren ältere, ungleich blasphemischere Götter verehrt worden, und die widernatürlichen Riten und Zeremonien hatten ihre Spuren hinterlassen, wie ein unheimliches Echo, das die Zeiten überdauert hatte und noch immer unhörbar in der Luft hing.

»Und warum... bin ich hier?«, fragte er mit belegter Stimme.

»Ich dachte, das wüsstest du bereits«, antwortete Graves leise. Er sah ihn einen Herzschlag lang durchdringend an, dann wandte er sich um und trat an das gewaltige Tor heran. Das flackernde Licht seiner Petroleumlampe erweckte die beiden monströsen Wächterstatuen zu scheinbarem Leben, sodass Mogens den unheimlichen Eindruck hatte, die gemeißelten Tentakel sich wie ein Nest wimmelnder Schlangen und Würmer bewegen zu sehen.

Graves hob langsam die Hand, zögerte noch einmal und berührte das mattgraue Metall der Tür dann beinahe ehrfürchtig. Das Licht seiner Sturmlaterne flackerte stärker, und ein Wasserfall kleiner huschender Schatten ergoss sich über die Tür, gefolgt von etwas Anderem, Schlimmeren, das noch nicht ganz erwacht, aber eindeutig im Erwachen begriffen war.

»Es ist dort«, sagte Graves. Seine Stimme war nur ein Flüstern, kaum mehr als ein wispernder Hauch, der sich mit dem Echo längst verklungener widernatürlicher Gebete und Beschwörungsformeln zu etwas Neuem und zugleich Uraltem verband, das Mogens' Furcht neue Nahrung gab. »Hinter dieser Tür. Fühlst du es nicht? Ich kann es fühlen. Es ist dort und wartet auf uns.«

Mogens konnte nicht antworten, denn die Furcht schnürte ihm die Kehle zu. Aber er spürte, dass Graves Recht hatte. Etwas war hinter dieser Tür, etwas Uraltes und unvorstellbar Mächtiges, das seit Äonen eingesperrt und gebunden war, aber nicht machtlos. Schon der bloße Gedanke, dieses Tor zu öffnen und freizulassen, was immer dahinter lauerte, war beinahe mehr, als er ertragen konnte.

»Du... du willst dieses Tor... aufmachen?«, flüsterte er ungläubig.

»Ich habe es versucht«, antwortete Graves. Der entsetzte Unterton in Mogens' Stimme schien ihm entgangen zu sein; oder er interessierte ihn nicht. Seine schwarz behandschuhten Finger glitten weiter über die sinisteren Bilder und Glyphen, die in die Oberfläche des grauen Metalls graviert waren wie Tore in eine andere, verbotene Welt, in der der Wahnsinn und der Tod zu Hause waren. Das Licht flackerte stärker, und Mogens hatte den unheimlichen Eindruck, dass etwas unter dem schwarzen Leder darauf reagierte. »Mit allen Mitteln habe ich es versucht, aber es ist mir nicht gelungen.« Er ließ - endlich - die Hand sinken, trat einen Schritt zurück und wandte sich mit einem tiefen Seufzen wieder zu Mogens um.

»Dieses Metall wurde nicht von Menschenhand erschaffen, Mogens«, sagte er. »Und kein von Menschen geschaffenes Werkzeug kann es zerstören.«

»Und was...« Mogens fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen und setzte neu an. Er wich Graves' Blick aus. »Und wie komme ich da ins Spiel?« Er kannte die Antwort. Er wusste längst, warum Graves ihn hier heruntergeführt hatte. Er hatte es im selben Moment gewusst, in dem er die Kammer betreten hatte.

»Es gibt andere Wege, ein Tor zu öffnen, als mit Meißel und Sprengstoff, Mogens«, sagte Graves beinahe sanft.

»Du weißt, dass ich... dass ich mich mit solchen Dingen nicht mehr befasse«, sagte Mogens stockend. Er wollte etwas ganz anderes sagen, schreien, weglaufen, sich die Fäuste ins Gesicht schlagen - aber er konnte nichts von alledem. Graves' Ansinnen war so ungeheuerlich, dass er zu keinerlei Reaktion wirklich fähig war; nicht einmal dazu, wirklich zu denken.

»Du hast deine Bücher seit jener schrecklichen Nacht nicht mehr angerührt, ich weiß«, sagte Graves. »Seit jenem Tag verleugnest du all das, was du vorher so vehement - und mit Recht - verteidigt hast.« Er schüttelte den Kopf. »Tief in dir weißt du, dass es ein Fehler ist.«

»Und was erwartest du jetzt von mir?« Mogens' Stimme war nicht mehr als ein heiseres, halb ersticktes Krächzen, und dennoch klang sie in seinen eigenen Ohren wie ein verzweifelter Schrei. »Dass ich diese Tür auf zaubere?«

»Wenn du so willst, ja«, bestätigte Graves unverblümt. »Obwohl du so gut weißt wie ich, dass das Unsinn ist.« Er hob die Hand, als Mogens widersprechen wollte, und fuhr mit leicht erhobener, schärferer Stimme fort: »Soll ich dir jetzt den gleichen Vortrag halten, den du selbst mir und vielen anderen unzählige Male gehalten hast?«

»Nein«, antwortete Mogens abweisend. »Ich will nichts mehr von diesem Unsinn hören. Nie wieder.«

»Unsinn?« Graves schüttelte den Kopf. Die Bewegung wirkte ungehalten, fast zornig. »Warum verleugnest du plötzlich alles, woran du jemals geglaubt hast? Es ist hier! Du spürst es, ebenso deutlich wie ich. Jeder, der diesen Raum beträte, würde es spüren. Leugne es nicht!«

»Ich will davon nichts mehr hören!« Mogens schrie jetzt wirklich. »Nie wieder! Ich habe genug Schaden angerichtet!«

»Deine Selbstvorwürfe machen Janice nicht wieder lebendig, Mogens«, sagte Graves leise. »Was damals geschehen ist, war nicht deine Schuld. Wenn jemanden die Schuld trifft, dann allerhöchstens mich.«

Mogens widersprach ihm nicht. Wenn Graves ihn hier heruntergebracht hatte, damit er ihm die Absolution erteilte, dann hatte er sich den Weg umsonst gemacht. »Und du glaubst, zum Dank würde ich dir helfen, mit dem hier berühmt zu werden?«, fragte er böse. »Erzähl mir nicht, dass es die hehre Wissenschaft ist, um deretwegen du hier bist, Jonathan. Du hast diese Entdeckung hier eifersüchtig bewacht wie einen Schatz! Du hast deinen Fund Hyams, Mercer und McClure nicht verschwiegen, weil das hier nicht ihr Fachgebiet ist, sondern weil du ihn mit niemandem teilen willst! Du willst ihn ganz für dich allein! Den Ruhm, die wissenschaftliche Unsterblichkeit - bei Gott, ich bin sicher, wenn das hier eine gewöhnliche Grabkammer irgendwo in der ägyptischen Wüste wäre, hättest du keine Skrupel, ihre Schätze zu plündern und zu verkaufen! Wann hast du dich entschlossen, mich um Hilfe zu bitten? Nachdem dir klar geworden ist, dass du dieses Tor allein niemals aufbekommen wirst?«

»Und wenn es so wäre?«, fragte Graves ungerührt.

»Was bringt dich dann auf die Idee, dass ich dir helfen würde - selbst wenn ich es könnte?«

»Weil das hier deine Chance ist, sich zu rehabilitieren, Mogens«, antwortete Graves. »Du wirst Janice nicht zurückbekommen, und auch die beiden anderen werden gewiss nicht wieder lebendig - aber du könntest deine Ehre wiederherstellen. Keiner dieser so genannten ernsthaften Wissenschaftler, die damals über dich gelacht haben, wird es noch wagen, dir zu widersprechen, nachdem er das hier gesehen hat. Alle, die dich damals einen Verrückten genannt haben, werden sich bei dir entschuldigen! Sie werden katzbuckeln und kriechen und dir die Stiefel lecken, nur um einen einzigen Blick hierauf werfen zu dürfen!« Seine Stimme wurde leiser, war nun wie das Flüstern des Verführers, und genau wie dieses erfüllte sie ihren Zweck, obwohl er die Absicht dahinter erkannte. »Du wirst der Erste sein, Mogens. Der erste Wissenschaftler der Welt, der beweist, dass es Magie wirklich gibt.«

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