53.

Diesmal war es keine Einbildung: Die Hand, die auf seiner Stirn lag, war ebenso real wie die Stimme, die in monotonem, aber ungemein beruhigendem Tonfall auf ihn einredete. Er fror noch immer erbärmlich, denn er lag fast bis zu den Hüften im eisigen Wasser, das mit sanftem Wellengang an seinen Beinen zerrte und jedes Mal ein winziges bisschen Wärme mehr mitnahm. Er wartete darauf, dass sich auch die Schmerzen zurückmeldeten - die letzte klare Erinnerung, die er hatte -, aber alles, was er spürte, war etwas wie ein furchtbarer Muskelkater am ganzen Körper.

Mühsam öffnete er die Augen und blinzelte so direkt in die Sonne, dass er sofort und mit einem zischenden Laut die Augen wieder schloss. Es hätte früher Morgen sein müssen, aber die Sonne stand fast genau über ihm, und ihr Licht war unerträglich grell. Mogens ertappte sich bei der durch und durch albernen, aber in diesem Moment durchaus ernsthaft gestellten Frage, ob es überhaupt noch die Sonne war, die er kannte, oder nicht vielmehr der Hundsstern.

Aber das war albern. Es ist voller Wasser, hatte Graves gesagt; aber er konnte atmen.

Vorsichtig drehte er den Kopf, bis er die Berührung des Sonnenlichts nicht mehr fühlte, und öffnete dann zum zweiten Mal die Augen. Das Licht war nach wie vor unangenehm hell, zumal es vom fast weißen Sand des Strandes reflektiert wurde, auf dem er lag, aber nicht mehr unerträglich. Ein verschwommener Schatten zeichnete sich auf dem Sand neben ihm ab, und in einiger Entfernung gewahrte er einen ebenfalls verschwommenen, formlosen Umriss in beruhigendem Grün. Mogens blinzelte, und sein Blick klärte sich.

»Jetzt stellen Sie sich nicht so zimperlich an, Professor«, sagte eine Stimme neben ihm. »Sie sind noch am Leben, und soweit ich es erkennen kann, auch noch in einem Stück.«

Womit er auch noch die Möglichkeit ausschließen konnte, gestorben und im Paradies zu sein, dachte Mogens mit einem lautlosen Seufzen, während er den Kopf auf die andere Seite drehte und in Miss Preussler Gesicht hinaufblinzelte. Seine Augen funktionierten immer noch nicht richtig, aber er erkannte trotzdem, dass der Ausdruck auf ihren Zügen nicht wirklich zu dem spöttischen Klang ihrer Stimme passte. Wenn er jemals in das Gesicht eines Menschen geblickt hatte, der fast krank vor Sorge war, dann jetzt in das ihre.

»Wenigstens bin ich nicht in der Hölle«, murmelte er.

»Wenn Sie das aus dem Umstand schließen, dass ich auch hier bin, sind Sie vielleicht etwas voreilig, Professor«, antwortete Miss Preussler. »Nach allem, was ich in den vergangenen Stunden mit angesehen habe, ohne etwas dagegen zu tun, werde ich zumindest für etliche Jahrhunderte im Fegefeuer schmoren müssen.« Sie machte ein todernstes Gesicht bei diesen Worten, aber in ihren Augen funkelte es spöttisch, und als Mogens die Ellbogen in den Sand stemmte, um sich aufzusetzen, schüttelte sie rasch den Kopf und machte eine abwehrende Handbewegung. »Nicht so hastig, Professor. Sie waren immerhin mehr als zehn Minuten ohnmächtig. Damit ist nicht zu spaßen.«

»Bewusstlos«, verbesserte sie Mogens, während er sich behutsam in eine halb sitzende Position hochstemmte. Miss Preussler hatte Recht: Ihm wurde fast sofort schwindelig.

»Bewusstlos?« Miss Preussler blinzelte. »Und wo ist der Unterschied?«

»Frauen fallen in Ohnmacht, Miss Preussler«, antwortete er und zog die Beine aus dem eisigen Wasser. »Männer verlieren das Bewusstsein.«

»Aha«, sagte Miss Preussler. Sie stand auf. »Offensichtlich geht es Ihnen ja schon wieder ganz gut.«

Mogens verzog die Lippen zu einem gequälten Grinsen und versuchte ebenfalls aufzustehen, glitt aber im feuchten Sand augenblicklich aus und fiel ungeschickt nach hinten.

»Geben Sie Acht, Professor«, sagte Miss Preussler spöttisch. »Nicht dass Sie am Ende wieder das Bewusstsein verlieren.«

»Ich werde mich bemühen«, ächzte Mogens. Umständlich stemmte er sich erneut und sehr viel vorsichtiger hoch und lauschte einen Moment mit geschlossenen Augen in sich hinein. Anscheinend hatte er sich tatsächlich weder etwas gebrochen noch irgendwelche anderen schweren Verletzungen zugezogen, aber das Muskelkater-Gefühl war noch immer da und ließ jede noch so kleine Bewegung zu einer fühlbaren Anstrengung werden. Mogens biss die Zähne zusammen. Aber er ertappte sich absurderweise auch dabei, dieses Gefühl zugleich in vollen Zügen zu genießen, bewies es ihm doch, dass er noch am Leben war.

Ein Schatten huschte durch sein Gesichtsfeld, als er sich herumdrehte, und Mogens hielt für einen Moment in der Bewegung inne und blinzelte gegen das grelle Sonnenlicht nach Süden. Irgendwo, weit hinter der zerbröckelnden Linie der Steilküste, stiegen graue und schwarze Rauchwolken in den Himmel. Dort hinten brannte es, und der Anblick löste ein ebenso sonderbares Gefühl in ihm aus wie der dumpfe Beinahe-Schmerz, der noch immer jede seiner Bewegungen begleitete. Der schwarze Rauch bedeutete zweifellos irgendein Unglück und möglicherweise auch Leid oder Tod, die über Menschen gekommen waren, aber er war auch ein Teil des Lebens, so wie ihm der Schmerz in seinen Gliedern letzten Endes bewies, dass auch er noch am Leben war.

»Da hinten brennt es«, sagte er.

Miss Preussler nickte. Sie sagte nichts, aber irgendetwas war an ihrem Schweigen, was Mogens beunruhigte.

»Ich möchte wissen, was passiert ist«, fuhr er fort. Er dachte einen Moment angestrengt nach, kam aber zu keinem Ergebnis. Er hatte sich den Weg, den Tom und er genommen hatten, nicht gemerkt. Wozu auch? »Ist das... unser Lager?«, fragte er zögernd.

Statt zu antworten, sah ihn Miss Preussler auf eine Weise an, die ihm einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ, und das eindeutig länger, als ihm angemessen schien, dann hob sie die Hand und deutete auf einen schmalen Pfad, der in einiger Entfernung an der Steilküste hinaufführte. »Ich war oben.« Ihre Stimme klang... sonderbar, dachte Mogens.

»Also ist es unser Lager«, murmelte er. Natürlich. Das Beben war zweifellos stark genug gewesen, um auch an der Oberfläche spürbar zu sein und nicht nur das Lager zu zerstören, sondern möglicherweise auch...

Mogens erschrak. »O Gott«, flüsterte er. »Nicht die Stadt!« Fast entsetzt starrte er Miss Preussler an. »Dort müssen... mein Gott, dort leben Hunderte von Menschen. Sagen Sie mir, dass es nicht die Stadt ist!«

»Nein«, antwortete Miss Preussler; aber sie tat es auf eine Art, die rein gar nichts Beruhigendes hatte, sondern seine Angst eher noch schürte. »Nicht die Stadt. Es ist San Francisco. Es brennt.«

Mogens starrte sie an.

»Man kann nicht viel sehen«, antwortete Miss Preussler leise. »Wir sind mindestens dreißig Meilen entfernt. Aber es sieht aus, als stünde der ganze Horizont in Flammen. Das Feuer muss gewaltig sein, wenn man den Rauch bis hierher sieht.«

»San Francisco?«, wiederholte Mogens ungläubig. »Aber das... das ist doch nicht möglich. Wir sind doch viel zu weit...« San Francisco? Das konnte nicht sein. Die Explosion war gewaltig gewesen, aber nicht so gewaltig. Dreißig Meilen! Unmöglich! Das konnte nicht sein!

Mogens schüttelte den Gedanken mit Gewalt ab und führte seine begonnene Bewegung mit einiger Verspätung zu Ende. Weniger als ein Dutzend Schritte hinter ihnen war die gesamte Steilküste zusammengebrochen. Der schmale Streifen aus weißem Sand, der die fünfzehn Meter hohe Felswand vom Wasser trennte, war unter einem Wirrwarr aus zerborstenem Stein und zyklopischen Felstrümmern verschwunden, das sich wie eine roh aufgeschüttete Mole dreißig, vierzig Meter weit ins Meer erstreckte, bevor es allmählich flacher wurde und schließlich ganz verschwand. Noch immer hing Staub wie feiner Nebel in der Luft, und obwohl der Wind seewärts wehte, glaubte Mogens einen schwachen Geruch wie nach zermahlenem Stein und faulem Seetang zu verspüren. Weit draußen im Meer, gerade an der Grenze des überhaupt noch Sichtbaren, schien etwas im Wasser zu treiben, das wehende Haar einer Meerjungfrau, die sich langsam wieder in die lichtlosen Tiefen zurückzog, aus der sie gekommen war. Aber das lautlose Wogen und Gleiten dicht unter der Wasseroberfläche nahm bereits ab, so wie auch der Staub allmählich auseinander trieb. Nur noch kurze Zeit, und das gewaltige Trümmerfeld würde sich in nichts mehr von zahllosen anderen Stellen unterscheiden, die es an diesem Teil der Küste gab.

»Ist es vorbei?«, fragte Miss Preussler leise. Er hatte sogar gehört, dass sie neben ihn getreten war; trotzdem fuhr er so erschrocken zusammen, dass sie ihn fast schuldbewusst ansah und wieder einen Schritt weit vor ihm zurückwich.

»Ich wollte, ich wüsste es«, murmelte er, zwang sich aber schon im nächsten Augenblick zu einem aufmunternden Lächeln. »Doch«, behauptete er. »Ich denke, es ist vorbei!«

»Und woher nehmen Sie diese Überzeugung, Professor?«, fragte sie. Mogens fiel erst jetzt auf, wie schlecht sie aussah. Das Sonnenlicht, das er das letzte Mal vor tausend Jahren auf ihrem Gesicht gesehen hatte, verlieh ihren Zügen eine Lebendigkeit, die ihn im allerersten Moment darüber hinweggetäuscht hatte, wie müde und unglaublich erschöpft sie aussah. Sie war, ebenso wie er, bis auf die Haut durchnässt. Haare und Kleider klebten nass und schwer an ihr, und unter der Sonnenbräune war ihre Haut so fahl wie die einer Toten. Ihr bisher so glattes Gesicht hatte nun dunkle, tief eingegrabene Linien bekommen, und als Mogens in ihre Augen blickte, wusste er, was man darunter verstand, wenn man sagte, dass ein Mensch seine Unschuld verloren hatte. Miss Preussler hatte ihre Unschuld verloren. Sie alle hatten das, in dieser Nacht. Und einige von ihnen auch noch mehr.

»Nun, ganz einfach, Miss Preussler«, antwortete er in gezwungen lockerem Ton. »Ich glaube nicht, dass irgendein Mensch so etwas zweimal im Leben überstehen kann. Und da ich nicht vorhabe, so bald zu sterben, muss es wohl vorbei sein.«

Miss Preussler blieb ernst. »Ich bin so erleichtert, dass Sie noch am Leben sind, Professor«, sagte sie. »Als ich gesehen habe, wie der Berg zusammenbrach, da war ich sicher, es wäre um Sie geschehen. Wie, um Himmels willen, sind Sie dort herausgekommen? Die Engel müssen ihre schützende Hand über Sie gehalten haben.«

»Vermutlich«, antwortete Mogens lächelnd. »Auch wenn ich glaube, dass es nur einer war.« Ihr Blick wurde fragend - fast ein bisschen misstrauisch -, aber Mogens kam ihr zuvor, indem er selbst eine Frage stellte: »Wie sind Sie herausgekommen? Als die Barke umgeschlagen ist...«

»... dachte ich, es wäre um mich geschehen«, fiel ihm Miss Preussler ins Wort. »Ich hatte wohl einfach Glück. Ich...« Sie suchte einen Moment sichtbar nach Worten, und als sie endlich weitersprach, sah sie Mogens nicht mehr direkt in die Augen, so als wären ihr ihre eigenen Worte überaus peinlich. »Nun, um offen zu sein, ich... kann nicht schwimmen.«

»Sie können nicht schwimmen?«, vergewisserte sich Mogens.

Sein überraschter Ton galt eher dem Umstand, dass sie lebend vor ihm stand und überhaupt zu diesem Eingeständnis in der Lage war, aber Miss Preussler schien ihn wohl gründlich misszuverstehen, denn sie sah sich ganz offensichtlich zu einer Verteidigung genötigt. »Ich habe diese Fertigkeit eben nie erlernt«, sagte sie patzig. »Und? Die Gelegenheit hat sich nie ergeben. Und ich war bisher auch der Meinung, sie nicht zu benötigen.«

Mogens versuchte, sich Miss Preussler in einem Badeanzug vorzustellen und hatte plötzlich eine ziemlich konkrete Ahnung, warum sich ihr niemals die Gelegenheit geboten hatte, diese Fertigkeit zu erlernen. Natürlich hütete er sich, sich auch nur irgendetwas davon anmerken zu lassen, aber Miss Preussler schoss einen so zornigen Blick in sein Gesicht ab, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Als sie fortfuhr, war ihre Stimme um mehrere Grade abgekühlt.

»In diesem Moment jedenfalls dachte ich, es wäre aus. Es war keine angenehme Erfahrung.«

»In diesem Höllenstrudel hätte es Ihnen auch nichts genutzt, schwimmen zu können«, sagte er hastig. Es klang unbeholfen, sogar in seinen eigenen Ohren, aber plötzlich hatte er das Gefühl, sich verteidigen zu müssen - vielleicht, weil eine Verletzung nicht wirklich weniger schlimm war, nur weil man sie nicht laut aussprach.

»Vermutlich nicht«, antwortete sie, schon wieder halbwegs versöhnt, aber dennoch kurz angebunden. »Ich weiß nicht, was danach passiert ist. Als ich wieder aufgewacht bin, haben wir hier am Strand gelegen.«

»Wir?«

»Dieses arme Mädchen und ich«, bestätigte Miss Preussler. »Ich glaube, sie hat mich aus dem...«

»Sie lebt?«, unterbrach sie Mogens aufgeregt. Er musste sich beherrschen, um nicht zu schreien. »Wo? Wo ist sie?«

»In einer Höhle, nur ein paar Schritte von hier«, antwortete Miss Preussler. »Das arme Kind war vollkommen verstört. Ich glaube, sie hat noch niemals den Himmel gesehen. Er scheint ihr furchtbare Angst zu machen, und...«

»Wo?«, unterbrach sie Mogens. Diesmal schrie er wirklich.

Miss Preusslers Blick kühlte noch einmal um mehrere Grade ab, und ihre Stimme wurde spröde wie Glas. »Kein Grund, unhöflich zu werden, Professor, oder gar Ihre guten Manieren zu vergessen.«

Sie ließ noch einen angemessen tadelnden Blick folgen, aber dann drehte sie sich gehorsam herum und ging mit unerwartet schnellen Schritten und trotzig in den Nacken geworfenem Kopf über den Strand davon. Mogens musste sich plötzlich sputen, um nicht den Anschluss zu verlieren.

Die wenigen Schritte, von denen sie gesprochen hatte, erwiesen sich als eine Strecke von gut hundert Metern oder mehr. Mogens versuchte Miss Preussler unterwegs noch zweimal anzusprechen, und sei es nur, um sich für sein rüdes Verhalten von gerade zu entschuldigen, aber sie hüllte sich in beleidigtes Schweigen, und schließlich gab er es auf und fasste sich in Geduld, bis sie die Höhle erreichten.

Streng genommen war es keine Höhle, sondern nur ein Felsüberhang, unter dem die geduldige Kraft des Wassers über Jahrhunderte hinweg einen Teil der weicheren Felsschicht ausgespült hatte. Die junge Frau saß in ängstlicher Haltung zusammengekauert im hintersten Winkel der Höhle, so weit vom Sonnenlicht und der schrecklichen Weite jenseits des Eingangs entfernt, wie es nur ging, und Graves saß mit leerem Gesicht neben ihr.

Mogens prallte abrupt zurück und stieß ein überraschtes Keuchen aus. »Jonathan!« Aber wieso lebte er noch? Er hatte gesehen, wie - ihn das Ungeheuer tötete! Nein, dachte Mogens. Genau genommen hatte er es nicht gesehen. Er hatte gesehen, was ihm die Kreatur angetan hatte, und danach war er über Bord gestürzt und im Wasser versunken. Aber kein Mensch konnte eine so grauenvolle Verletzung überleben, wie sie Graves erlitten hatte.

»Wie...?«, murmelte er hilflos.

»Er lag am Strand, als ich zu mir gekommen bin«, antwortete Miss Preussler leise. »Ich dachte mir, es ist einfacher, wenn ich es Ihnen zeige, Professor.« Sie versuchte - vergeblich - zu lächeln und hob schließlich hilflos die Schultern. »Ich weiß nicht, wo er hergekommen ist, oder wieso er noch lebt. Die Einzige, die uns diese Frage vielleicht beantworten könnte, ist diese arme junge Frau, und sie kann nicht sprechen.«

Mogens sah nur flüchtig zu dem Mädchen hin, konzentrierte sich aber sofort wieder auf Graves. Er war nicht nur am Leben, sondern offensichtlich auch bei Bewusstsein - falls man seinen Zustand so nennen konnte. Er hatte die Unterarme in den Schoß gebettet, und jemand - vermutlich Miss Preussler -, hatte ein Stück nasses Tuch über die Stelle gelegt, an der seine Hände sein sollten. Rücken und Hinterkopf hatte er gegen den Fels gelehnt, und seine Augen waren geöffnet und blinzelten, wenn auch sehr langsam; es war mehr ein gleichmäßiges, bewusstes Senken und Heben der Lider als ein wirkliches Blinzeln. Sein Blick war auf einen Punkt irgendwo im Nichts gerichtet, aber Mogens glaubte nicht, dass er wissen wollte, was Graves sah.

»Jonathan?«, fragte er.

Er bekam keine Antwort.

»Doktor Graves?«

Diesmal reagierte Graves, wenn auch nicht sofort. Sein Blick verharrte noch einen Moment auf jenem schrecklichen Punkt in der Unendlichkeit und kehrte auch dann nur ganz allmählich in die Realität zurück.

»Das hat aber verdammt lange gedauert«, sagte er. Seine Stimme war ein heiseres, dünnes Fisteln, das kaum noch Ähnlichkeit mit der Stimme hatte, die Mogens kannte.

»Was?«

»Bis du es endlich über dich gebracht hast, mich mit meinem Titel anzureden.« Graves gluckste leise. »Sind wir jetzt richtig gute Freunde?«

»Wieso, zum Teufel, lebst du immer noch?«, fragte Mogens. »Wie hast du es geschafft, zu entkommen?«

»Das immer nehme ich dir übel«, sagte Graves. Er hustete; ein trockener, qualvoller Laut, unter dem sich sein ganzer Körper schüttelte. Er brauchte fast eine halbe Minute, um wieder zu Atem zu kommen.

»Wieso ich noch lebe?« Graves hob die Arme, sodass das Tuch herunterrutschte. Mogens spannte sich instinktiv, um sich gegen den schrecklichen Anblick zu wappnen - aber er war ganz anders, als er erwartet hatte. Er war schrecklich, doch statt der blutigen Stümpfe, die er erwartet hatte, sah er nur zwei glatte, weißliche Flächen, unter denen sich etwas zu bewegen schien; eine Bewegung wie von wimmelnden Maden oder Würmern, die ein Gefühl plötzlicher Übelkeit aus seinem Magen emporsteigen ließ. Hastig sah er weg.

»Sagte ich dir nicht, dass ich nicht so leicht umzubringen bin?«, fragte Graves. Er lachte, diesmal ohne zu husten, drehte seine Armstümpfe vor dem Gesicht und betrachtete sie einen Moment lang mit nachdenklichem Gesicht. Miss Preussler gab ein würgendes Geräusch von sich und ließ sich rasch neben dem Mädchen in die Hocke sinken, und gewiss nicht durch Zufall so, dass sie Graves dabei nicht nur den Rücken zudrehte, sondern der jungen Frau auch zugleich den Blick auf Graves' Armstümpfe verstellte.

»Wir sind schon ein tolles Team, nicht wahr?«, kicherte Graves. »Hat Miss Preussler dir von San Francisco erzählt?«

»Wir können nicht wissen, ob es wirklich San Francisco ist«, sagte Mogens.

»O doch, das ist es«, antwortete Graves. »Wir haben ganze Arbeit geleistet. Aber mach dir nichts draus, Mogens. Dich trifft keine Schuld. Früher oder später musste das passieren. Wusstest du, dass die Stadt auf einem Erdbebengebiet erbaut wurde? Die Stadtverwaltung weiß das, aber man zieht es vor, dieses Wissen für sich zu behalten, zumal die Grundstückspreise seit Jahren in astronomische Höhen schnellen. Selbst schuld, wenn ihnen jetzt der Himmel auf den Kopf gefallen ist.«

»Was sind Sie nur für ein Mensch!«, murmelte Miss Preussler.

Graves warf ihrem Rücken einen verächtlichen Blick zu, verbiss sich jedoch jede Antwort und ließ zu Mogens' Erleichterung endlich die Arme wieder sinken. Stattdessen wandte er sich wieder an Mogens. Der höhnische Ausdruck verschwand von seinem Gesicht und machte unendlicher Bitterkeit Platz. »Du willst wissen, wie ich entkommen bin, Mogens?« Er machte eine Kopfbewegung auf die beiden Frauen neben sich. »Wie wir alle entkommen sind? Sie wollten uns nicht, deshalb sind wir noch am Leben!«

Miss Preussler drehte nun doch den Kopf und sah ihn gleichermaßen ungläubig wie erschrocken an, und auch das dunkelhaarige Mädchen blickte in seine Richtung. Für einen Moment, den Bruchteil einer Sekunde nur, und doch sollte Mogens ihn nie im Leben wirklich vergessen, kreuzten sich ihre Blicke, und was er in diesem unendlich kurzen und doch endlosen Moment in diesen Augen las, das erschütterte ihn bis auf den Grund seiner Seele. Da waren Angst und Entsetzen und eine abgrundtiefe Furcht, dass er es kaum ertrug, und all das hatte er erwartet, aber da war auch noch mehr. Für den Bruchteil einer Sekunde erblickte er in ihren Augen etwas Vertrautes, etwas, das er kannte und wonach er sich verzehrte wie nach nichts anderem auf der Welt.

Dann war der Moment vorüber, der Blick des Mädchens wanderte weiter, und Graves fuhr mit leiser, bitterer Stimme fort: »Sie wollten uns nicht töten, Mogens, verstehst du?« Er lachte ganz leise, aber es konnte genau so gut auch ein Schluchzen sein. »Ich glaube, wir sind es nicht einmal wert, von ihnen getötet zu werden. Sie sind uns so überlegen, dass sie uns nicht einmal zur Kenntnis nehmen. Wir sind... weniger als Staub. Vielleicht existieren wir für sie nicht einmal!«

»Immerhin haben wir sie besiegt«, antwortete Mogens schleppend. Es fiel ihm schwer, sich auf Graves' Worte zu konzentrieren.

»Besiegt?« Graves lachte schrill. »O nein, Mogens. Wir haben sie nicht besiegt. Niemand kann sie besiegen. Vielleicht haben wir sie darauf aufmerksam gemacht, dass es uns gibt, und vielleicht wäre es besser gewesen, das nicht zu tun.« Seine Stimme wurde leiser. »Da draußen sind noch mehr von ihnen, Mogens. Noch so unendlich viel mehr.«

»Ja«, antwortete Mogens. »Vielleicht.« Aber für ihn war es vorbei. Er sah wieder das Mädchen an, und obwohl dessen Augen nun wieder so erschrocken und von Angst erfüllt waren wie die ganze Zeit über und obwohl das, was er gerade darin erblickt hatte, nicht mehr zu sehen war, wusste er doch, dass es da war. Es würde immer da sein, und selbst, wenn er es nie wieder zu Gesicht bekommen sollte, war doch allein das Wissen um seine Existenz Grund genug für all die Schrecknisse, die er ertragen und überstanden hatte.

»Es ist vorbei«, sagte er leise. Dann drehte er sich langsam um, und er war nicht überrascht, eine schattenhafte Gestalt draußen auf dem Strand vor der Höhle zu erkennen. Zum allerersten Mal erschrak er nicht, als er Janice erblickte, und es gab auch keinen Grund mehr dazu, denn als er in ihre Augen sah, begann sie zu lächeln, und da wusste er, dass er seine Aufgabe nicht nur erfüllt, sondern dass er es gut gemacht hatte.


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