Während der nächsten zwei oder drei Tage sah er seine neuen Kollegen so gut wie gar nicht - was zu einem Gutteil daran lag, dass zumindest McClure und Hyams ihm aus dem Weg gingen und er auf Mercers Gesellschaft von sich aus keinen besonderen Wert legte. So sympathisch ihm der fettleibige Trunkenbold auch auf den ersten Blick vorgekommen sein mochte, war ihm seine jovialoberflächliche Art im Grunde doch zutiefst zuwider.
Es machte ihm nichts aus. Mogens war Zeit seines Lebens ein Einzelgänger gewesen, und in den zurückliegenden Jahren hatte er sich zudem an das Alleinsein gewöhnt. Dazu kam, dass ihn seine Arbeit bald so in Beschlag nahm, dass er jedwede Störung ohnehin nur als Belästigung empfunden hätte. Tom war an jenem Tag nicht mehr zurückgekehrt, um das Stromkabel zu verlegen und die Lampen anzuschließen, was Mogens aber nicht wirklich als Manko empfunden hatte. Ganz im Gegenteil war ihm tief in seinem Innern nicht wohl bei dem Gedanken, die unterirdische Katakombe mit von Menschen geschaffenem Kunstlicht zu fluten. Und es kam noch etwas hinzu: Je mehr der unheimlichen Symbole und Bildnisse er fand, desto weniger wollte er sie sehen. Es war fast absurd: Im gleichen Maße, in dem Mogens die Geheimnisse der alten Bilderschrift zu enträtseln begann, wuchs die Faszination, mit der ihn die Geschichte erfüllte, die sie zu erzählen hatte - aber auch seine Furcht. Bald begann er die Dunkelheit, die ihn bei seinem ersten Besuch hier unten mit solchem Unbehagen erfüllt hatte, fast als einen Freund zu betrachten, verbarg sie doch die unheimlichen Bilder und gemeißelten Götzenstatuen barmherzig vor seinem Blick. Wenn er allein in der Kammer war, reduzierte er die Beleuchtung meist auf ein Minimum und arbeitete oft genug nur im Schein einer Petroleumlampe.
Die meiste Zeit aber verbrachte er ohnehin allein in seiner Hütte und in der Gesellschaft der Bücher, die Graves herangeschafft hatte. Ihm war rasch klar geworden, wie wenig Sinn es machte, ziel- und wahllos herumzustochern. Er musste das Rätsel dieser uralten Bildersprache - denn um nichts anderes konnte es sich seiner Meinung nach handeln - lösen, wollten sie dem viel größeren, düsteren Geheimnis der Kammer auf die Spur kommen.
Was nichts anderes bedeutete, als dass sich Mogens der Aufgabe gegenübersah, eine vollkommen unbekannte Sprache zu entschlüsseln, deren Wurzeln nicht nur womöglich Tausende von Jahren in die Vergangenheit zurückreichten, sondern die auch mit nichts zu vergleichen war, was er jemals gesehen hatte. Jeder andere an Mogens' Stelle hätte vielleicht vor der schieren Größe dieser Aufgabe kapituliert, Mogens aber sah nur die Herausforderung, die er - ohne wirkliche Überzeugung, sie zu bewältigen, aber dennoch mit Begeisterung - annahm.
Zweifellos hätte er Hyams' Hilfe dabei gut gebrauchen können, denn auch wenn das alte Ägypten nie sein spezielles Fachgebiet gewesen war - um ehrlich zu sein, hatte es ihn nie sonderlich interessiert -, erkannte er doch praktisch auf den ersten Blick, dass es sich bei den Wandmalereien um ein schier unentwirrbares Konglomerat aus ägyptischen Hieroglyphen und einer anderen, viel älteren Schrift handelte. Sicher wäre es Hyams ein Leichtes gewesen, diese beiden vollkommen differenten Sprachen mit einem einzigen Blick zu unterscheiden; Mogens kostete es einen Tag, auch nur ein grobes Raster zu entwickeln, mittels dessen er dasselbe auch nur versuchen konnte. Dennoch erwog er nicht einmal den Gedanken, sie um ihren Rat zu fragen; davon abgesehen, dass sie sich vermutlich glattweg geweigert hätte, bei seinem »Hexenwerk« mitzuhelfen, würde Graves mit Sicherheit nicht zulassen, dass eine weitere Person das Geheimnis seines Allerheiligsten entdeckte.
Er kam jedoch auch so - wenn auch langsam - voran. Am Abend des zweiten Tages hatte er eine Art grobes Alphabet erarbeitet - um der Wahrheit die Ehre zu geben: zu einem nicht geringen Teil erraten - und begann nach Ähnlichkeiten zu suchen. Zu seiner Überraschung fand er sie.
Er brauchte einen weiteren Tag, doch schließlich stieß er in einem der Bücher auf ein Symbol, das ihm vage bekannt vorkam. Es war nicht identisch, nicht einmal wirklich ähnlich; jedem anderen wäre vielleicht nicht einmal eine Ähnlichkeit aufgefallen, aber irgendetwas daran... erinnerte Mogens an die unheimlichen Wandmalereien. Von dem Symbol, das er auf einer der uralten, handgeschriebenen Seiten entdeckte, ging die gleiche unheimliche Ausstrahlung aus, dasselbe Kratzen an den Pforten seiner Seele, das er auch unten in der Katakombe verspürt hatte.
Jenem ersten Symbol folgte ein weiteres, und noch eines und noch eines, und endlich war es, als hätte sich in seinem Geist eine Tür aufgetan, hinter der das Begreifen, das ihm bisher gefehlt hatte, säuberlich in langen Regalen aufgestapelt lag und nur darauf wartete, von ihm genutzt zu werden. Mehr als einmal wurde ihm selbst unheimlich, als er sich der Leichtigkeit bewusst wurde, mit der er in die Geheimnisse einer Sprache eindrang, die untergegangen war, bevor es Menschen auf dieser Welt gab. Aber genau so war es. Nachdem Mogens einmal durch jene geheimnisvolle Tür getreten war, fiel es ihm nicht nur zunehmend leichter, sich das Verständnis der verschlungenen Buchstaben und Bildsymbole zu eigen zu machen. Er entwickelte auch ein wachsendes Verständnis dafür, was diese Sprache war, nämlich viel mehr als eine Aneinanderreihung von Worten und Informationen, die das Vermächtnis derer weitergaben, die sie gesprochen hatten, sondern in gewissem Sinne ein Teil ihrer Schöpfer selbst. Es gab einen fundamentalen Unterschied zwischen dieser und jeder anderen Sprache, der Mogens jemals begegnet war: Diese Sprache hatte eine Seele.
Am Abend des dritten Tages, nachdem er mit seiner Arbeit begonnen hatte, ließ Graves ihn durch Tom in die Zeremonienkammer rufen, was ungewöhnlich genug war. Normalerweise verließen sie alle bei Einbruch der Dunkelheit die unterirdische Grabungsstätte, und Graves duldete es nicht, dass sich jemand allein »dort unten herumtrieb«, wie er es ausgedrückt hatte. Noch ungewöhnlicher erschien es Mogens, dass der Generator noch lief; während er Tom zum Zelt folgte, konnte er wieder das schwache Vibrieren des Bodens unter seinen Füßen spüren. Und obwohl er längst wusste, dass es nur das Arbeiten der großen Maschine war, das er wahrnahm, lief ihm ein Schauer über den Rücken; denn er hatte mehr denn je das unheimliche Empfinden, das Regen eines gewaltigen lebenden Wesens tief unter seinen Füßen zu spüren.
Allein um diesen bizarren Gedanken zu vertreiben, schritt er schneller aus, sodass er Tom einholte, noch bevor sie das Zelt und die nach unten führende Leiter erreichten. »Hat Doktor Graves gesagt, was er von mir will?«, fragte er.
Tom hob die Schultern und griff mit beiden Händen nach der Leiter. »Nein. Er hat mir nur gesagt, ich soll Sie holen.« Nachdem er zwei Sprossen weit hinabgeklettert war, fügte er hinzu: »Er war ziemlich ungeduldig.«
Das ist nichts Besonderes, dachte Mogens. Ganz im Gegenteil hatte er Graves niemals anders als ungeduldig und unwirsch erlebt. Aber da war etwas in Toms Stimme, das ihn aufhorchen ließ, ein ganz sachtes Zittern, als spräche er über etwas, worüber er eigentlich nicht reden wollte - und das Mogens außerdem verriet, dass da noch mehr war. Etwas war zwischen Tom und Graves vorgefallen, aber Mogens verbot sich, eine entsprechende Frage zu stellen.
Seit jener Nacht auf dem Friedhof war die Distanz zwischen Tom und ihm deutlich größer geworden, was Mogens nicht verstand, aber zutiefst bedauerte. Er hatte sich jedoch vorgenommen, nicht in Tom zu dringen, um den Jungen nicht noch zusätzlich zu verschrecken. Früher oder später, so hoffte er wenigstens, würde Tom schon von sich aus wieder Vertrauen zu ihm fassen. So folgte er ihm schweigend nach unten in den Tempel und durch die offen stehende Geheimtür. Tom ging mit so schnellen Schritten voraus, dass Mogens ihn nicht noch einmal ansprechen musste, um zu begreifen, dass er nicht reden wollte.
Tom hatte den Schutthaufen am Ende des Ganges während der letzten Tages weit genug abgetragen, dass es keines halsbrecherischen Kletterkunststücks mehr bedurfte, um in die dahinter liegende Kammer zu gelangen, aber er blieb zwei Schritte davor stehen und deutete mit einer unbehaglichen Kopfbewegung nach vorne. »Doktor Graves erwartet Sie dort.«
»Du kommst nicht mit?«
»Ich... geh nicht gerne dort hinein«, antwortete Tom. »Es ist ein unheimlicher Ort. Ich würd lieber hier draußen warten, wenn's Ihnen nichts ausmacht.«
Mogens nickte nur. Er konnte Tom besser verstehen, als dieser wahrscheinlich ahnte. Obwohl ihn der Inhalt der Kammer in zunehmendem Maße faszinierte, wuchs doch auch gleichzeitig die Furcht, die er vor dem empfand, was hinter ihren Geheimnissen lauern mochte. Die Tür, durch die er gegangen war, war nicht die letzte. Hinter ihr, noch weit entfernt, aber bereits in Reichweite, wartete eine weitere Tür, hinter der ein viel dunkleres, vielleicht tödliches Rätsel verborgen lag.
»Du brauchst nicht auf mich zu warten«, sagte er. »Ich finde den Rückweg schon allein. Es ist spät.«
»Das macht nichts«, antwortete Tom. »Außerdem muss ich sowieso noch nach dem Generator sehen. Der Treibstoff muss nachgefüllt werden.«
Mogens widersprach nicht mehr, obwohl der Teil von ihm, der ganz eindeutig nicht in diese Kammer gehen wollte, es liebend gern getan hätte. Stattdessen kletterte er einigermaßen geschickt über den kleiner gewordenen Schutthaufen hinweg und richtete sich auf der anderen Seite wieder auf.
Zu seiner Überraschung war der Raum nahezu dunkel. Graves hatte nur eine einzige der zahlreichen Glühlampen eingeschaltet, die Tom auf seine Anweisung hin installiert hatte, sodass es nur eine einsame verlorene Insel aus gelblicher Helligkeit irgendwo am jenseitigen Ende des großen, asymmetrischen Raumes gab. Von Graves selbst war keine Spur zu sehen, obwohl Tom gesagt hatte, dass er hier auf ihn wartete.
»Jonathan?«, rief er. Er bekam keine Antwort, abgesehen allerhöchstens von einem vagen Rascheln irgendwo in der Dunkelheit, das aber ebenso gut seiner eigenen überreizten Fantasie entsprungen sein konnte. Schließlich zuckte er mit den Schultern und tastete sich mit ausgestreckten Händen dorthin vor, wo Tom den Lichtschalter an der Wand befestigt hatte.
»Nein, tu das nicht - bitte.«
Mogens fuhr erschrocken zusammen und in der gleichen Bewegung herum. Obwohl er Graves' Stimme zweifelsfrei erkannt hatte, begann sein Herz für einen Moment wie wild zu klopfen, während er aus aufgerissenen Augen in die Dunkelheit starrte. Er hatte sich die Bewegung nicht nur eingebildet. Das Rascheln wiederholte sich, dann bewegte sich ein Schatten am Rande des beleuchteten Bereichs.
»Ich habe ein wenig Kopfschmerzen«, fuhr Graves fort. »Das Licht tut meinen Augen weh.«
Mogens hob die Schultern. Ihm war nicht wohl bei der Vorstellung, in fast völliger Dunkelheit durch den mit Trümmern und zerborstenen Statuen übersäten Raum zu gehen, aber aus irgendeinem Grund war es ihm unmöglich, Graves zu widersprechen. Statt seine Handbewegung zum Lichtschalter fortzusetzen, ging er zu der Wandnische, in der Graves die Sturmlaternen abgestellt hatte, und entzündete eine davon. Dagegen schien Graves keine Einwände zu haben, also machte er sich auf den Weg und ging mit vorsichtigen Schritten zwischen den wirr durcheinander liegenden Trümmerstücken hindurch.
»Was gibt es denn so Dringendes, dass du mich zu dieser späten Stunde hast rufen lassen?«, fragte er.
»Ich wollte sichergehen, dass wir auch wirklich allein sind«, antwortete Graves. »Jemand hat sich an dem Vorhängeschloss zu schaffen gemacht. Die anderen werden allmählich misstrauisch.«
»Hyams?«
»Vielleicht«, antwortete Graves. »Obwohl ich auch Mercer nicht traue. Er trinkt.«
»Das ist nichts Neues.« Mogens versuchte vergeblich, Graves' Gestalt genauer zu erkennen, während er sich ihm näherte. Irgendetwas daran irritierte ihn, aber er konnte nicht sagen, was. Und als hätte Graves seine Gedanken gelesen, wich er ein kleines Stück weiter in die Dunkelheit zurück, sodass er ein Schemen mit vage zerfließenden Rändern blieb, auch als Mogens näher kam.
»Was er in seiner Freizeit treibt, geht mich nichts an«, antwortete Graves. »Aber als ich ihn heute Mittag gesprochen habe, hatte er eine Alkoholfahne. Es würde mich nicht wundern, wenn er herumschnüffelt.« Auch mit seiner Stimme stimmte etwas nicht, dachte Mogens. Es war ganz eindeutig Jonathan Graves' Stimme, aber sie wurde von einem unheimlichen, rasselnden Geräusch begleitet, als bereite es ihm Mühe, zu sprechen, vielleicht sogar zu atmen. Er fragte sich, ob Graves vielleicht krank war.
»Aber deshalb habe ich Tom nicht gebeten, dich zu holen«, fuhr Graves fort. »Wie weit bist du mit deiner Arbeit, Mogens?«
»Ich habe gerade erst angefangen«, sagte Mogens. »Das weißt du doch.«
»Dennoch muss ich dich ein wenig um Eile bitten. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Heute ist bereits der Dreißigste.«
»Und?«
»In wenigen Tagen ist Vollmond«, erinnerte Graves. Er löste sich von seinem Platz und ging mit sonderbar mühevoll anmutenden Schritten auf die Metalltür zu. Mogens fiel auf, wie sorgsam er darauf zu achten schien, dem Licht nicht zu nahe zu kommen, weder dem der elektrischen Glühlampe noch dem seiner Sturmlaterne. »Wenn wir das Tor bis dahin nicht geöffnet haben, müssen wir einen weiteren Monat warten.«
»Aber das ist doch nur eine Theorie«, sagte Mogens. »Und selbst wenn: Du wartest jetzt seit einem Jahr darauf, dieses Tor zu öffnen. Welchen Unterschied macht da ein weiterer Monat?«
»Vielleicht keinen«, antwortete Graves. »Vielleicht auch den zwischen Sieg oder Niederlage, Mogens. Zwischen Erfolg und Untergang.«
»Seit wann dieser Hang fürs Melodramatische?«, fragte Mogens.
»Oh, ich meine das durchaus ernst«, antwortete Graves. »Ich bin nicht sicher, wie lange das alles hier noch existiert - zumindest in einer Form, die uns allen zugänglich ist.«
»Wie meinst du das?«, fragte Mogens verwirrt.
»So bitter ernst, wie es sich anhört«, antwortete Graves. Er trat einen Schritt von der gewaltigen grauen Metallplatte zurück, drehte sich dann zu Mogens herum und seufzte, ein tiefer, rasselnder Laut, der Mogens einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ. »Erinnerst du dich daran, was Tom dir über den Sumpf erzählt hat, Mogens, und über den Friedhof, der allmählich darin versinkt?«
Mogens nickte.
»Der Friedhof ist nicht das Einzige, was versinkt«, sagte Graves.
Es dauerte einen Moment, bis Mogens begriff, was Graves damit sagen wollte. »Du meinst...«
»Dies alles hier versinkt allmählich in der Erde«, sagte Graves leise. »Hast du dich nie gefragt, warum sich die Schöpfer dieses Tempels die Mühe gemacht haben, ihn so tief in den Boden zu legen? Ich glaube, das war gar nicht der Fall. Diese ganze Anlage war einst oberirdisch, Mogens, vielleicht in einen Fels gemeißelt, vielleicht auch eine Pyramide wie die der Azteken und Inkas. Im Laufe der Millennien ist sie versunken, langsam, aber unerbittlich. Es muss Jahrtausende gedauert haben, doch irgendwann war sie gänzlich versunken, und nicht lange danach haben die Menschen sie vergessen.« Er lachte leise. »Als unsere Vorfahren dann dieses Land besiedelten und den Friedhof anlegten, da ahnten sie nichts von alledem hier. Und wie sollten sie auch?«
»Selbst wenn es so wäre...«, begann Mogens, wurde aber sofort wieder von Graves unterbrochen.
»Es geht schneller, Mogens«, sagte er. »Ich weiß nicht, warum, aber der Prozess beschleunigt sich. Der Sumpf hat Jahrtausende gebraucht, um diesen Tempel zu verschlingen, und kaum ein Jahrhundert, um sich auch des Friedhofs zu bemächtigen. Als ich das erste Mal hier war, da hatte die Leiter, die hier herunterführte, zwei Sprossen weniger.«
»Aber wie kann das sein?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Graves. »Alles, was ich weiß ist, dass uns nicht mehr allzu viel Zeit bleibt. Ich bin nicht sicher, dass wir noch bis zum nächsten Vollmond warten können.«
»Du weißt nicht, was du da von mir verlangst«, sagte Mogens. »Das hier ist etwas vollkommen Unbekanntes. Vielleicht sind wir beide tatsächlich die ersten Menschen seit Jahrtausenden, die diese Schriftzeichen hier zu sehen bekommen, vielleicht seit noch viel längerer Zeit. Welche Kultur auch immer das hier erschaffen hat: Sie ist seit unendlich langer Zeit verschwunden.«
»Das weiß ich«, antwortete Graves.
»Aber du weißt anscheinend nicht, was es bedeutet«, antwortete Mogens gereizt. »Niemand hat so etwas je gesehen: Es gibt keine Literatur, keinerlei Anhaltspunkte, niemanden, den ich um Rat fragen könnte.«
»Und dennoch ist es dir gelungen, die Bedeutung dieser Schrift zu enträtseln«, sagte Graves.
Mogens starrte ihn an. »Woher weißt du das?«
»Ist es etwa nicht wahr?«
»Ich habe ein paar Worte und Symbole entziffert, das ist wahr«, gestand Mogens. Er war ebenso überrascht wie verwirrt, aber er spürte auch einen wachsenden Zorn in sich. Er hatte mit niemandem über die Fortschritte bei seiner Arbeit gesprochen, auch nicht mit Graves, und das bedeutete nichts anderes, als dass Graves ihn bespitzeln ließ. Es war nicht sonderlich schwer zu erraten, von wem.
»Reiß dem armen Tom nicht den Kopf ab, Mogens«, sagte Graves. Anscheinend war es im Moment nicht besonders schwer, seine Gedanken zu erraten. »Ich musste ziemlich massiv werden, um etwas von ihm zu erfahren. Der Junge scheint einen Narren an dir gefressen zu haben. Du hattest also Erfolg?«
»Versprich dir nicht zu viel davon«, grollte Mogens. »Wie gesagt: Ich glaube die Bedeutung einiger weniger Symbole entziffert zu haben, aber das bedeutet nicht, dass ich diese Sprache lesen könnte - falls es sich überhaupt um eine Sprache handelt. Und selbst wenn ich es könnte«, fügte er rasch und mit leicht erhobener Stimme hinzu, als Graves dazu ansetzte, etwas zu sagen, »hieße das erst einmal gar nichts.«
»Wieso?«, schnappte Graves.
»Nimm nur die alten Römer und Griechen zum Vergleich«, antwortete Mogens. »Ihre Sprachen sind längst bekannt; man lernt sie heute in der Schule. Und trotzdem sind noch lange nicht alle Geheimnisse dieser beiden großen Kulturen enträtselt, und es gibt Schriftzeugnisse aus ihrer Frühzeit, die wir bis heute nicht lesen können. Das hier... das hier ist etwas vollkommen Anderes. Hunderte von Wissenschaftlern würden ein Jahrzehnt benötigen, um auch nur die Bedeutung dieses einen Raumes zu entschlüsseln. Und du erwartest von mir, dergleichen in vier oder fünf Tagen zu bewerkstelligen?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, Jonathan - was du verlangst, ist unmöglich.«
»Unsinn!« Graves' Stimme war plötzlich wie ein Bellen, und Mogens konnte den brodelnden Zorn spüren, der die Gestalt, die wenige Schritte vor ihm in den Schatten stand, erfüllte. Graves schwieg eine oder zwei Sekunden, doch als er weitersprach, hatte er sich wieder halbwegs in der Gewalt.
»Nun, nachdem du mir ausführlich erklärt hast, was du nicht kannst, Mogens, warum zeigst du mir nicht einfach, was du kannst?« Er machte eine ausladende Geste. »Nur keine Scheu. Ich habe großes Vertrauen in deine Fähigkeiten. Wie mir scheint, größeres als du selbst.«
Mogens war nahe daran, einfach auf dem Absatz kehrtzumachen und zu gehen. Stattdessen jedoch wandte er sich mit einem Ruck um und trat an den schmalen Ausschnitt der Wand heran, der von der einzigen brennenden Lampe erhellt wurde.
Und etwas sehr Sonderbares geschah: Mogens hatte die verschlungenen Bildsymbole kaum angesehen, da begann er ihre Bedeutung zu verstehen.
Es war nicht so wie in den vergangenen beiden Tagen, als er an seinem Pult gestanden und die Notizen, die er sich hier unten gemacht hatte, mit den Zeichnungen in Graves' Büchern verglichen hatte. Das Gefühl, das ihn jetzt überkam, war ungleich intensiver, und es ging tiefer als alles, was er jemals zuvor erlebt hätte. Es war nicht so, dass er die Worte verstand, für die diese düsteren Symbole standen. Das war unmöglich. Kein menschliches Wesen hätte die Worte jener uralten Sprache verstehen oder gar aussprechen können, ohne dass sein Geist daran zerbrochen wäre wie ein dünnes Kristallglas unter einem Hieb von Thors Hammer.
Aber er verstand die Geschichte, die diese unaussprechlichen Worte erzählten...
»Es waren nicht die Ägypter«, murmelte er. »Dieser Ort ist viel älter, Graves. Kannst du es fühlen?«
Er sah nicht zu Graves zurück, aber er konnte dessen Nicken spüren.
»Sie waren hier, lange bevor es Menschen gab«, fuhr Mogens fort. »Und sie werden noch hier sein, wenn die letzte Erinnerung an die Menschen längst verblasst ist. Sie sind die, die waren, die sind und die immer sein werden. Sie sind tot, und dennoch am Leben; lebendig, und dennoch unbelebt. Sie schlafen in ihren Kerkern tief im Schoß der Erde und auf dem Grund der Ozeane, und sie warten auf den Tag, an dem sie ihre Fesseln sprengen und ihren angestammten Platz als Herrscher über diese Welt wieder einnehmen werden.«
Ohne dass er selbst sich dessen bewusst gewesen wäre, war seine Stimme zu einem monotonen, an- und abschwellenden Singsang geworden, als erzähle er nicht wirklich die Geschichte dieser Bilder, sondern rezitiere eine uralte Litanei, einem Muster von Tönen und Lauten folgend, das älter war als die Sonne und nicht für menschliche Kehlen gedacht. Sein Hals begann bald zu schmerzen von den fremdartigen, gutturalen Lauten, die dem wahren Klang der Worte, für die sie standen, nicht einmal nahe kamen, und der menschliche Teil seiner Seele krümmte sich unter jedem Wort, jedem krächzenden Laut und jeder hervorgewürgten Silbe dieser uralten verbotenen Sprache wie ein getretenes Tier.
Trotzdem war er nicht fähig, aufzuhören. Nachdem die Worte einmal angefangen hatten, aus ihm herauszubrechen, war es ihm unmöglich, sie aufzuhalten. Wie ein insektoider Parasit, der sich in ihm eingenistet hatte und unbemerkt vom Ei zur Larve herangereift war, um sich mit Zangen und Klauen einen Weg ins Freie zu fressen, sprudelten sie weiter und weiter aus ihm hervor, brachen über seine blutigen Lippen und seinen bald von den grässlichen Lauten und blasphemischen Silben wund gescheuerten Hals und erzählten die Geschichte derer, die von den Sternen gekommen waren, als diese Welt noch jung und von anderen, den Menschen ebenso fremd erscheinenden Kreaturen bewohnt gewesen war, und die auf den Tag warteten, an dem ihr finsterer Gott, der schlafend in seinem Palast auf dem Meeresgrund lag, die Fesseln des Todes abstreifen und seine Herrschaft über sein angestammtes Reich erneut antreten würde. Er erzählte von anderen, gewaltigen Wesen, die von den Sternen gekommen waren und den älteren Göttern ihren Platz streitig machten, und gewaltigen Kriegen, die das Antlitz des Planeten wieder und wieder verwüstet hatten, bis er sich in eine rot glühende Kugel aus geschmolzener Schlacke und brennender Lava verwandelte, auf der irgendwann der immer währende Zyklus des Lebens neu begann, und von Geschöpfen, die so unvorstellbar fremd und bösartig waren, dass ihr bloßer Anblick den Tod brachte.
Und irgendwann war es vorbei. Die Worte versiegten, und Mogens fühlte bittere Galle und nach Kupfer schmeckendes Blut seine Kehle herabrinnen. Er wankte vor Schwäche, und er fühlte sich auf eine Weise ausgelaugt, die weit über das körperliche Maß hinausging.
Aber es war nicht vorbei. Nachdem die Worte versiegt waren, begann sich eine unheimliche, erstickende Stille in der Zeremonienkammer breit zu machen, eine Stille, die so gewaltig und allumfassend war, dass sie in seinen Ohren zu dröhnen schien, und unter der etwas herankroch, etwas Uraltes und unvorstellbar Böses, das seine Worte geweckt hatten und das sich nun weigerte, wieder in das Grab des Vergessens zurückzukehren.
Es war Graves, der das atemabschnürende Schweigen brach, nicht er. »Du hast also nur einige wenige Worte entziffert, wie?«, fragte er spöttisch. »Vielleicht sollte ich froh sein. Hättest du noch mehr übersetzt, hätte die Zeit bis zum nächsten Vollmond vielleicht nicht mehr gereicht.«
Mogens versuchte noch immer vergeblich, wirklich zu begreifen, was er gerade erlebt hatte. Er kam sich unwirklich vor, wie in einem Albtraum gefangen, in dem er zur Rolle eines bloßen Zuschauers verdammt war. Graves' unzulänglicher Versuch, spöttisch zu klingen, brach die Spannung nicht, sondern schien alles im Gegenteil eher noch schlimmer zu machen. Aber ihm fehlte die Kraft, den Freund von einst zurechtzuweisen.
»Ich habe das nicht übersetzt«, sagte er mühsam. Er versuchte den Kopf zu schütteln, aber selbst für diese winzige Bewegung fehlte ihm beinahe die Kraft, sodass es bei einer bloßen Andeutung blieb.
»Es klang auch nicht wirklich nach dir, Mogens«, pflichtete ihm Graves bei. Es gelang ihm irgendwie, zwar weiter spöttisch zu klingen, aber zugleich auch so etwas wie ein Schaudern in seine Stimme zu legen. »Großer Gott, Mogens - was war das? So etwas habe ich nie zuvor gehört.«
Mogens antwortete nicht sofort, aber sein Zögern lag nicht nur daran, dass seine Kehle wundgescheuert war und schmerzte. Was auch immer er mit seinen Worten geweckt hatte, es war noch immer da. »Ich weiß es nicht«, murmelte er. »Ich bin nicht einmal sicher, dass ich das war, Jonathan. Es war...« Seine Stimme versagte, und er spürte, wie er am ganzen Leib zu zittern begann. Vergeblich versuchte er, dem Beben seiner Hände und Knie Einhalt zu gebieten. Etwas hatte ihn berührt, und unter dieser Berührung schien ein Teil von ihm gleichsam zu Eis erstarrt zu sein.
»Ich weiß nicht, was es war«, murmelte er. »Irgendetwas...« Er suchte nach Worten, aber er fand keine. Vielleicht weil Worte gleich welcher menschlichen Sprache nicht ausreichten, um das grenzenlose Entsetzen zu beschreiben, das er empfunden hatte. Das er noch empfand.
»... hat Besitz von dir ergriffen?«, schlug Graves vor, als Mogens nicht weitersprach.
»Warum... warum sagst du das?«, fragte Mogens stockend.
»Ist es etwa nicht wahr?«, gab Graves zurück. Er legte den Kopf schräg. Mogens konnte sein Gesicht noch immer nicht erkennen, da Graves aus irgendeinem Grund sorgsam darauf bedacht schien, außerhalb des Lichtscheines zu bleiben, aber seine Stimme klang auf fast obszöne Weise erregt.
»Unsinn«, widersprach Mogens. Es klang lahm. Wen wollte er damit überzeugen?
Graves jedenfalls nicht, denn der begann plötzlich mit beiden Händen zu gestikulieren, und seine Stimme wurde noch einmal eine Spur schriller. »Ja, begreifst du denn nicht, Mogens? Du hast es selbst gesagt: Niemand kann eine vollkommen unbekannte Sprache erlernen, in nur drei Tagen! Dir ist das gelungen! Meinst du nicht auch, dass hier irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugeht?«
»Und?« Er wusste längst, worauf Graves hinauswollte. Er hatte es gewusst, noch bevor Graves auch nur das erste Wort ausgesprochen hatte, aber er hatte sich geweigert, diesem Gedanken auch nur das Recht auf Existenz zuzubilligen - von Glaubwürdigkeit ganz zu schweigen -, und er tat es noch immer.
»Mogens, verstehst du denn nicht? Das ist der Beweis: Das, wonach du zeit deines Lebens gesucht hast! Was gerade geschehen ist, das ist nicht mit unserer Wissenschaft und Logik zu erklären! Du bist im Recht, Mogens! Du hattest die ganze Zeit über Recht, und die anderen waren die Narren, nicht du! Da ist etwas außerhalb unseres Verständnisses. Wenn das, was wir gerade erlebt haben, keine Magie war, dann weiß ich nicht, was man als solche bezeichnen soll!«
»Ich will davon nichts hören«, antwortete Mogens.
Graves lachte, aber auch dieser Laut klang eher wie ein Bellen in Mogens' Ohren. »Ich verstehe dich nicht, Mogens«, sagte er. »Du kommst mir vor wie ein Mann, der sein gesamtes Leben damit zugebracht hat, Stöcke aneinander zu reiben, um damit Feuer zu machen. Und als es ihm endlich gelungen ist, starrt er nur die Flammen an und weigert sich zu glauben, was er sieht. Gib Acht, dass du dich nicht verbrennst!«
»Ja, vielleicht hast du Recht, Jonathan«, murmelte Mogens. Und vielleicht hatte er sich schon verbrannt.
Graves sog mit einem scharfen Laut die Luft zwischen den Zähnen ein. Als er weitersprach, klang seine Stimme wie die eines Mannes, der vergeblich versucht, einem störrischen Kind etwas zu erklären und allmählich zu begreifen begann, wie hoffnungslos zum Scheitern verurteilt dieser Versuch war.
»So begreife doch! Du hast gewonnen! Wir beide haben gewonnen! Wir stehen ganz kurz vor dem Ziel!«
Aber vielleicht sollten wir dieses Ziel nicht erreichen, dachte Mogens schaudernd. Vielleicht durften sie es nicht. Er schwieg.
»Wir können es schaffen, Mogens!«, fuhr Graves fort. »Ich spüre es. Komm! Komm!« Er machte eine Bewegung, wie um nach Mogens zu greifen und ihn mit sich zu zerren, brach die Geste dann aber im allerletzten Moment ab, als wäre ihm gerade noch rechtzeitig eingefallen, dass er sich in das Licht hineinbewegen musste, um ihm nahe genug zu kommen, um sein Vorhaben auszuführen. Stattdessen drehte er sich auf dem Absatz um und ging wieder zum Tor. Mogens erschauerte, als sein Blick eine der beiden gewaltigen Wächterstatuen streifte. Es konnte nur an dem unsteten Licht liegen, und dem Zustand seiner eigenen Nerven, aber für einen Moment schienen sich die armlangen Tentakel, die seinen Schädel säumten, zu bewegen, als wollten sie nach dem frechen Eindringling greifen.
»Der Schlüssel ist hier«, sagte Graves erregt. »Ich weiß es! Er ist hier, direkt vor unseren Augen, Mogens! Wir brauchen nur danach zu greifen.«
Mogens wünschte sich, er würde das nicht tun. Wieder glaubte er eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahrzunehmen, ein zitterndes Wogen und Greifen, als versuche etwas aus dem Bereich jenseits des Wirklichen sich an die Realität heranzutasten. Etwas kratzte wie mit harten Insektenklauen an seiner Seele. Aber er war einfach zu müde, um auch nur irgendetwas zu sagen. Der Kontakt mit jener schrecklichen uralten Macht hatte ihn nicht nur bis an den Grund seiner Seele erschreckt, sondern ihn auch ausgelaugt.
»Es muss hier irgendwo sein!« Graves' Stimme begann zu zittern, drohte vor Erregung gar zu brechen. »Ich kann es spüren, und du auch, Mogens! Ich weiß es! Sag es mir!«
Es kostete Mogens fast seine ganze Kraft, zu antworten. »Jonathan, bitte! Wir sollten jetzt nichts Übereiltes tun. Lass uns zurückgehen und über das nachdenken, was wir gerade erlebt haben.«
»Nein!«, schrie Graves. »Du weißt es! Du weißt, wie man dieses Tor öffnet! Aber du willst es mir nicht sagen!«
Mogens sah alarmiert auf. In Graves' Stimme war ein neuer, gefährlicher Unterton, der selbst durch den Schleier aus Müdigkeit und Furcht drang, der sich über Mogens' Gedanken gelegt hatte.
»Wo ist es?«, keuchte Graves. »Welches Wort öffnet diese Tür?«
»Abrakadabra«, antwortete Mogens kopfschüttelnd. »Du bist ja verrückt.«
Graves stieß einen zischenden Laut aus, bewegte sich drohend auf ihn zu und prallte erneut im letzten Moment zurück, bevor er aus den Schatten heraustreten konnte.
Aber vielleicht doch nicht rechtzeitig genug.
Es war vielleicht nur ein einzelnes Bild, nur die winzige Zeitspanne zwischen dem Heben und Senken eines Lidschlag, und doch war es so entsetzlich, dass Mogens nur deshalb nicht aufschrie, weil er selbst dazu zu erschrocken war. Und dabei war es nicht einmal Graves' Gesicht, das er sah. Es war seine Hand, die für eine halbe Sekunde oder weniger in den Bereich des verräterischen Lichts geriet, sodass Mogens sie erkennen konnte. Aber war es wirklich noch die Hand von Jonathan Graves? War es überhaupt die Hand eines Menschen?
Mogens glaubte es nicht. Was er sah, das war eine schwielige Pfote, größer als jedwede menschliche Hand, die er je gesehen hatte, und mit schrecklichen Klauen bewehrt. Borstiges dickes Haar, das auf dem Handrücken begann, hüllte das Gelenk ein und verschmolz mit den Schatten dahinter.
Mogens blinzelte, und als er die Augenlider wieder hob, hatte Graves - Graves? - den Arm zurückgezogen, und die grässliche Klaue war wieder in barmherzigen Schatten verborgen. Mogens' Herz jagte.
»Sag es mir!«, kreischte Graves. »Du bist es mir schuldig!«
Er schrie nicht wirklich. Er... blubberte. Seine Stimme hatte kaum noch etwas Menschliches, sondern war zu einem nassen, schaumigen Sabbern geworden, dem Kreischen einer tollwütigen Bestie mit haarigen Pfoten und Klauen. Wieder kam er näher, und wieder prallte er zurück, aber diesmal schien es Mogens, als pralle er tatsächlich von dem Licht zurück, ein mythisches Ungeheuer, das sich mit rasender Wut gegen die Barriere aus schützender Helligkeit warf, ohne sie durchdringen zu können. Aber wie lange noch?
Fast ohne sein Zutun machte Mogens rasch zwei, drei Schritte zurück und starrte die unheimliche Gestalt in den Schatten an. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Er versuchte sich mit aller Macht einzureden, dass es nur seine Nerven waren, die ihm einen Streich spielten, zusammen mit der Erschöpfung und dem verwirrenden Spiel von Licht und Dunkelheit hier unten, und ein Teil von ihm wollte diese Erklärung auch glauben, ja, klammerte sich mit fast verzweifelter Kraft daran, weil alles andere bedeutet hätte, seinen letzten Halt in der Realität loszulassen und endgültig in den Wahnsinn abzugleiten. Aber ein anderer Teil von ihm wusste, dass es nicht so war. Das... Ding da vor ihm war nicht mehr Graves.
Mogens begriff die Gefahr, die in diesem Gedanken lauerte, und tat das Einzige, wozu er überhaupt noch fähig war: Er fuhr auf dem Absatz herum und rannte los, so schnell er nur konnte.
»VanAndt!«, kreischte die schrille, gurgelnde Stimme hinter ihm. »Komm zurück! Ich befehle es dir! Du bist es mir schuldig!«
Mogens rannte nur noch schneller. Die Petroleumlampe behinderte ihn, also schleuderte er sie in seiner Panik beiseite. Sie flog drei oder vier Meter weit und zerbarst dann in einer Wolke aus Glassplittern und auseinander spritzendem brennendem Petroleum. Rotgelber Feuerschein trieb die dräuende Dunkelheit für einen Moment zurück, und Mogens tat etwas, was er schon im allernächsten Moment bitter bereuen sollte: Er lief noch schneller, drehte aber im Rennen den Kopf und sah zu Graves zurück.
Graves hatte aufgehört, wüste Drohungen hinter ihm herzukreischen, und sich wieder dem Tor und den beiden gewaltigen steinernen Götzenbildern zugewandt und die Arme in die Höhe gerissen, sodass er Mogens an den Priester eines uralten heidnischen Kultes erinnerte, der seine bizarren Götter anbetete. Im hektisch flackernden Licht des brennenden Petroleums sah es mehr denn je aus, als bewegten sich die Tentakel der beiden gewaltigen Götzenbilder, ja, als versuchten sie gar zur Gänze aus ihrer Erstarrung zu erwachen und sich von ihren gemeißelten Sockeln zu erheben, und auch mit Graves selbst schien eine neuerliche, noch viel schrecklichere Veränderung vonstatten gegangen zu sein, denn er...
Mogens' Fuß verfing sich an einem Hindernis. Ein scharfer Schmerz schoss durch seinen Knöchel, und noch während er von seinem eigenen Schwung herum - und zugleich weiter nach vorne gerissen wurde, wusste er, dass er stürzen würde. Verzweifelt und mit wild rudernden Armen versuchte er seinen Fall noch irgendwie abzufangen, aber es war vergeblich.
Der Aufprall auf den steinernen Boden war hundertmal schlimmer, als er erwartet hatte. Mogens hatte das Gefühl, einen Hammerschlag mitten ins Gesicht bekommen zu haben. Irgendetwas in seinem Mund zerbrach, und er schmeckte Blut. Zugleich wurde sein Bein mit grausamer Wucht herumgerissen und im Gelenk verdreht, denn sein rechter Fuß steckte noch immer unbarmherzig in der Spalte fest, in der er sich verfangen und so seinen Sturz ausgelöst hatte. Der Schmerz war entsetzlich, zugleich aber seltsam irreal, als beträfe er ihn schon gar nicht mehr selbst.
Er verlor nicht das Bewusstsein, aber alles wurde plötzlich leicht und gleichsam unwirklich, und selbst das kalte Entsetzen, das ihn gepackt hatte, verebbte allmählich zu einem blassen Echo irgendwo am Rande seines schwächer werdenden Bewusstseins. Blut lief seine Kehle hinab und drohte ihn zu ersticken. Der Boden, auf dem er lag, schien sich zu winden wie ein verwundetes Tier, und das Pochen seines eigenen Herzens nahm in seinen Ohren die Lautstärke dröhnender, unrhythmischer Hammerschläge an.
Unter Aufbietung jedes bisschen Willens, das er noch in sich fand, drängte er die drohende Ohnmacht zurück, presste die Handflächen gegen den Boden und stemmte sich in die Höhe. Sein Fuß reagierte mit einer wütenden Schmerzattacke, und Mogens biss die Zähne zusammen, ließ sich wieder ein Stück zurücksinken und versuchte den Fuß aus der steinernen Falle zu ziehen. Es ging, aber diesmal war der Schmerz alles andere irreal, sondern so grausam, dass ihm übel wurde. Sein Knöchel musste gebrochen sein. Er war gefangen, hilflos eingesperrt in einem steinernen Grab tief unter der Erde - und dies zusammen mit Graves, der sich mit jeder Sekunde mehr in ein Ungeheuer verwandelte.
Mogens drängte die Panik zurück, die seine Gedanken endgültig in einen schwarzen, sich immer schneller und schneller drehenden Strudel zu reißen drohte, und wälzte sich stöhnend auf den Rücken. Ein gut halbmetergroßer Steinquader stürzte von der Decke und zerbrach unmittelbar neben ihm in Stücke. Ein Hagel winziger, rasiermesserscharfer Steinsplitter überschüttete sein Gesicht und biss wie mit rot glühenden Rattenzähnchen in seine Haut. Mogens brüllte vor Schmerz und riss instinktiv die Hände vor das Gesicht, um sich vor weiteren Attacken zu schützen, war aber zugleich vor Entsetzen auch wie gelähmt. Das dumpfe, trommelnde Dröhnen hielt an, aber Mogens begriff auch endlich, dass es nicht das Geräusch seines außer Kontrolle geratenen Herzschlages war, das er hörte. Rings um ihn herum regneten Steine von der Decke. Der ganze Raum schien sich zu schütteln wie ein Schiff in stürmischer See. Ein unheimliches Grollen und Rumoren drang aus der Erde herauf, und die Luft war plötzlich so voller Staub, dass jeder Atemzug zur Qual wurde.
Ein Erdbeben! Vielleicht hatte Graves ja Recht gehabt, und die gesamte Tempelanlage versank im Boden, nicht irgendwann, nicht in einem Monat oder einer Woche, und schon gar nicht langsam, sondern jetzt, in diesem Augenblick!
Die schiere Todesangst verlieh ihm die Kraft, trotz der pochenden Schmerzen in seinem Fuß aufzuspringen und loszuhumpeln. Der Boden zitterte so heftig, dass er fast sofort wieder gestürzt wäre. Er wagte es nicht, sich zu Graves umzudrehen, schrie aber aus Leibeskräften: »Jonathan! Ein Erdbeben! Lauf!«
Er bezweifelte, dass Graves ihn hörte. Das Rumpeln und Dröhnen hatte sich mittlerweile zu einem infernalischen Getöse gesteigert, das jeden anderen Laut übertönte. Der Boden zitterte immer noch heftiger, und in die dumpfen, in immer rascherer Abfolge ertönenden Hammerschläge mischte sich jetzt ein neuer, noch viel unheimlicherer Laut: ein schweres Knirschen und Mahlen, das direkt aus dem Boden zu dringen schien, als baue sich tief im Leib der Erde eine gewaltige Spannung auf, unter der irgendetwas zerbrechen musste.
»Jonathan!«, brüllte er verzweifelt. »Lauf!«
Wieder stürzte etwas in seiner unmittelbaren Nähe zu Boden und zerbarst; diesmal verletzten ihn die Splitter nicht, aber der Hagel kleiner gefährlicher Geschosse machte ihm endgültig klar, in welcher Gefahr er sich befand. Aus den Augenwinkeln glaubte er zu sehen, wie sich einer der gewaltigen Stützpfeiler, die die Decke trugen, zu neigen begann, und das Knirschen und Mahlen wurde lauter. Etwas traf seine Schulter, und nur einen Sekundenbruchteil darauf schrammte eine unsichtbare Kralle über seinen Rücken und hinterließ eine Spur aus loderndem Schmerz. Der Boden, über den er stolperte, zitterte mittlerweile nicht mehr, sondern hob und senkte sich wie der Rücken eines wütenden Bullen, der seinen Reiter abzuwerfen versuchte.
Mogens fiel mehrmals auf die Knie, und mehr als einmal entging er nur um Haaresbreite einem stürzenden Quader, der sich aus der Decke löste. Dennoch taumelte er mit zusammengebissenen Zähnen weiter. Der Ausgang lag jetzt unmittelbar vor ihm. Das Beben und der Regen aus zerbrochenem Stein hatten die Flammen des brennenden Petroleums ebenso verschlungen wie Graves' Sturmlaterne, sodass der Raum in vollkommene Dunkelheit gehüllt war, aber die elektrischen Lampen, die Tom draußen im Gang installiert hatte, brannten wie durch ein Wunder immer noch. Mogens stolperte hustend und halb blind vor Schmerz und Furcht weiter, tief in sich davon überzeugt, dass es nur die Absicht eines grausamen Schicksals sein konnte, ihm bis zum allerletzten Moment die Hoffnung zu lassen, dass er den rettenden Ausgang vielleicht doch noch erreichte, nur um ihn dann im Augenblick des vermeintlichen Triumphs zu zerschmettern.
Aber das Schicksal hatte ein Einsehen. Hinter ihm nahm das Grollen und Dröhnen immer noch mehr zu, als bräche der gesamte Raum zusammen, und er wurde noch zweimal von fallenden Steinen getroffen. Doch er erreichte den rettenden Ausgang, ohne zerschmettert oder von einem jäh aufklaffenden Abgrund im Boden verschlungen zu werden. Schlitternd und kriechend überwand er den meterhohen Schuttberg und bedankte sich in Gedanken bei Tom dafür, dass dieser das Hindernis in den letzten beiden Tagen abgetragen hatte. Hätte die Barriere noch bis unter die Decke gereicht, hätte er kaum den Mut gehabt, sich durch den schmalen Spalt zu quetschen.
Erst, als er sich unmittelbar unter der brennenden Glühlampe befand, blieb er schwer atmend stehen und wandte sich um. Er konnte den Trümmerhaufen überblicken, den er gerade überwunden hatte, doch alles, was auch nur einen halben Schritt dahinter lag, schien einfach aufgehört zu haben zu existieren. Mogens sah nichts außer einem brodelnden Chaos aus reiner Bewegung, das Staub und kleine Steinsplitter ausspie. Es erschien ihm selbst fast absurd, dass er aus dieser Hölle entkommen sein sollte. Graves war verloren, daran bestand kein Zweifel.
Und vielleicht war er es auch, und die verzweifelte Hoffnung, an die er sich klammerte, war nur eine weitere Grausamkeit des Schicksals.
Noch war er keineswegs in Sicherheit. Auch hier zitterten und bebten die Wände. Zwar hielt die Decke bislang den gewaltigen Erschütterungen stand, aber Mogens glaubte nun auch hier draußen jenes furchtbare Mahlen und Ächzen zu hören, das den endgültigen Untergang der Tempelkammer angekündigt hatte. Die Glühlampe schwankte wild an ihrem Kabel hin und her und tauchte den Gang in hektisch flackerndes Licht und flüchtende Schatten, und überall rieselte Staub; hier und da hörte er auch schon das Poltern erster, fallender Steine. Auch dieser Tunnel würde zusammenbrechen, und wenn das geschah, dann war er verloren. In dem schmalen Gang hatte er keine Chance, den fallenden Steinen auszuweichen.
Für Graves konnte er nichts mehr tun, und er rettete ihn auch nicht, wenn er hier blieb und wartete, bis er ebenfalls zermalmt wurde. Mogens stürmte weiter. Für einen Moment blieb das Zittern und Vibrieren des Bodens hinter ihm zurück, doch dann konnte er spüren, wie das Beben mit einem gewaltigen Satz in seine Richtung sprang, einem wütenden Beutejäger gleich, der sein Opfer entkommen sieht und zur Verfolgung ansetzte. Die Lampen unter der Decke schaukelten stärker. Irgendwo, nicht sehr weit hinter ihm, krachte etwas mit einem ungeheuren Schlag zu Boden, dann explodierten gleich drei der Glühlampen, die den Gang vor ihm erhellten, in einem grellen Funkenschauer, und Mogens fand sich erneut in fast vollkommener Dunkelheit wieder. Er stürmte trotzdem weiter, blind vor Angst, aber auch in dem absoluten Wissen, keine andere Wahl zu haben, als das Risiko dieses irrsinnigen Spurts durch die Finsternis.
Natürlich schaffte er es nicht.
Dieses Mal war das Schicksal tatsächlich grausam genug, ihn sein Ziel nahezu erreichen zu lassen: Vor ihm lag die offen stehende Tür des Geheimganges. Die Tempelkammer dahinter war unversehrt - zumindest war sie noch hell erleuchtet -, und Mogens mobilisierte noch einmal alle Kräfte zu einem verzweifelten Endspurt.
Etwas traf seine Brust mit der Gewalt eines Hammerschlages, trieb ihm die Luft aus den Lungen und ließ ihn mit solcher Wucht zurücktaumeln, dass er gegen die gegenüberliegende Wand prallte und zusammenbrach.
Diesmal war der Schlag so heftig, dass er ihm wirklich für einen Moment das Bewusstsein raubte. Aber es konnte wortwörtlich nur ein Augenblick gewesen sein, denn als er die Augen wieder öffnete, war er noch im Begriff, an der Wand zu Boden zu gleiten. Die Welt rings um ihn herum brüllte und verbog sich, und das unheimliche Knirschen und Mahlen hatte ihn endgültig eingeholt; nur, dass er es viel mehr spüren konnte als hören. Der Korridor brach zusammen.
Jetzt.
Mogens stemmte sich keuchend in die Höhe, aber irgendetwas schien mit der Zeit nicht mehr zu stimmen, so als hätte das Beben auch ihr Gefüge beschädigt. Mogens stemmte sich mit der Kraft purer Todesangst in die Höhe, und er war schnell, und dennoch schien alles, was er tat, grotesk langsam zu gehen, als eilten die Geschehnisse ihm so unerbittlich voraus wie ein Schatten. Die Wand, an der er lehnte, begann sich plötzlich zu verbiegen und zu zucken, als wäre sie nur ein kunstvolles dreidimensionales Bild auf dünnem Papier, und Mogens begriff, dass der Stollen unwiderruflich zusammenbrach, eine grausame Falle aus hunderten und aberhunderten Tonnen Fels und Erdreich, die über ihm zusammenschnappte. Es waren vielleicht drei Schritte, die ihn von der rettenden Tür trennten, nur den Bruchteil eines Augenblicks, wäre er nur in der Lage gewesen, sich normal zu bewegen. Aber es war, als wate er durch halb erstarrten Teer.
Plötzlich erschien eine Gestalt vor ihm. Sie war zu weit entfernt, um ihn retten zu können, und nicht stark genug, die unzähligen Tonnen Felsgestein aufzuhalten, die sich erbarmungslos auf ihn herabsenkten, aber ihr bloßer Anblick gab Mogens noch einmal neuen Mut: eine widersinnige Hoffnung, die allein durch den Umstand genährt wurde, nicht mehr allein zu sein, sondern ein anderes menschliches Wesen in seiner Nähe zu wissen.
Nur, dass es kein menschliches Wesen war.
Mogens erstarrte mitten in der Bewegung und verschenkte die vielleicht unwiderruflich allerletzte Sekunde, die ihm das Schicksal doch noch einmal gewährt hatte, indem er die groteske, verkrüppelthaarige Kreatur anstarrte, die vor ihm aufgetaucht war. Es war das Ungeheuer, die Bestie aus seinen Albträumen, die Janice geholt hatte und nun gekommen war, um auch seinem Sterben zuzusehen. Sie war deutlich größer, als er sie in Erinnerung hatte, mit grässlichen Klauen und einem Schakalskopf: einer langen Hundeschnauze voller mörderischer Fänge, die Augen glühende Kohlen, die von uralter Bosheit und einer tückischen, funkelnden Intelligenz erfüllt waren. Geifer troff aus ihrem Maul, während sie Mogens anstarrte, und ihre schrecklichen Klauen öffneten und schlossen sich ununterbrochen, als könne sie es nicht mehr erwarten, ihre Fänge in Mogens' Fleisch zu schlagen und ihn zu zerreißen.
Statt den letzten, rettenden Schritt zu tun, trat Mogens zurück, eine Entscheidung, die trotz der kreischenden Panik, die seine Gedanken verheerte, ganz bewusst war: Lieber würde er den Tod unter den zusammenbrechenden Felsmassen erleiden, ehe er sich in die Gewalt dieses Ungeheuers begab.
Eine neuerliche, noch heftigere Erschütterung riss ihn von den Füßen. Er prallte erneut gegen den Quader, den das Beben halb aus der Wand gedrückt hatte, um seine verzweifelte Flucht zu stoppen, und beobachtete aus vor Entsetzen geweiteten Augen, wie sich die Decke über seinem Kopf bog und verschob und erste, noch kleinere Steine und Erdreich in seine Richtung spie, nicht groß genug, um ihn zu töten, aber allemal ausreichend, ihn zu verletzen und die letzten Sekunden seines Lebens in Momente grässlicher Qual zu verwandeln.
Es war nicht die Angst vor dem Tod, die Mogens noch einmal die Kraft gab, sich herumzuwerfen und unter demselben Steinquader Schutz zu suchen, der ihm gerade zum Verhängnis geworden war, sondern die Angst vor der Pein, die ihm vorausgehen mochte. Während er sich unter der halbmetergroßen künstlichen Felsnase zusammenkrümmte, beobachtete ein Teil von ihm mit kaltem, fast wissenschaftlichem Interesse, wie sich die Decke weiter durchbog wie eine nasse Zeltplane unter dem Gewicht des Regens und sich größere, tödlichere Steine daraus lösten, tonnenschwere Brocken, vor denen ihn auch der Quader nicht mehr schützen würde.
Plötzlich griff eine Hand nach ihm. Es war keine menschliche Hand, sondern eine haarige, klauenbewehrte Pranke, die sich mit unmenschlicher Kraft um sein Handgelenk schloss und ihn mit solcher Gewalt herumriss, dass Mogens vor Pein aufbrüllte und das Gefühl hatte, das Gelenk würde ihm aus der Schulter gerissen. Als er aufsah, bot sich ihm durch einen Nebel aus Schmerz und Furcht hindurch ein schier unglaublicher Anblick: Die Kreatur hatte ihn mit der linken Hand gepackt und zerrte ihn so mühelos hinter sich her, wie ein Riese ein widerspenstiges Kind mitgeschleift hätte.
Mit der anderen Hand stützte sie die Decke ab. So unglaublich es Mogens selbst in diesem Moment noch erschien: Die Kräfte der bizarren Kreatur schienen auszureichen, die tonnenschweren Steinquader wenn schon nicht an ihrem Fall zu hindern, so doch den Einsturz zumindest hinlänglich genug zu verlangsamen, um Zeit zu gewinnen, in Sicherheit zu gelangen.
Sicherheit?
Mogens bäumte sich auf und versuchte mit verzweifelter Kraft, den Griff der Bestie zu sprengen und sich loszureißen. Das Ungeheuer fuhr herum und versetzte ihm einen Hieb mit dem Handrücken. Seine Krallen zerfetzten Mogens' Hemd, hinterließen vier dünne, brennende Risse auf seiner Haut und ließen ihn halb benommen zurücksinken. Fast wie in Trance registrierte er, wie das Monstrum ihn brutal aus dem Gang herauszerrte, der unmittelbar hinter ihnen mit gewaltigem Getöse zusammenbrach. Halb besinnungslos, wie er war, versuchte er nach der Kreatur zu treten und traf sogar, aber das Ding schien es nicht einmal zu spüren. Vornüber gebeugt und humpelnd zerrte es ihn über den rauen Boden, bis sie die Mitte der Tempelkammer und die riesige geschnitzte Barke erreicht hatten, wo es ihn ablud und sich knurrend zu ihm umwandte. Gnadenlose, kalt glühende Augen starrten Mogens an, und das blasphemisch hündische Gesicht kam näher und beugte sich schnüffelnd über ihn.