23.

Eines wurde Mogens recht schnell klar: Zumindest im Augenblick hatte es Tom eindeutig nötiger als die Welt, gerettet zu werden. Obwohl der Generator lief und mit seinem gleichmäßigen Tuckern jedes andere Geräusch zu übertönen versuchte, hörten sie Miss Preusslers Stimme schon, als sie die Leiter hinabstiegen und in die unterirdische Anlage eindrangen. Graves sagte nichts, aber Mogens entging weder sein unwilliges Stirnrunzeln noch die Tatsache, dass er schneller ausschritt, je mehr sie sich der Tempelkammer näherten.

»Davon war nicht die Rede, verdammt«, knurrte er. »Er sollte ihr lediglich den Gang zeigen!«

»Jetzt bist du zu hart mit Tom.« Mogens hatte Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken. »Ich habe dir schon mal gesagt: Wenn sich Miss Preussler einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, dann erreicht sie es im Allgemeinen auch.«

Graves' Stirnrunzeln wurde noch tiefer, aber er sagte nichts mehr, sondern schritt nur noch schneller aus, sodass sie kaum eine Minute später in die große, von elektrischen Glühbirnen fast taghell erleuchtete Tempelkammer traten. Miss Preussler war im ersten Moment zwar nicht zu sehen, aber ganz und gar unüberhörbar. Ihre Stimme drang hinter der schwarzen Totenbarke hervor, und nun erschien auch auf Mogens' Gesicht ein besorgter Ausdruck. »Die Geheimtür ist doch hoffentlich...«

»... sicher verschlossen, mach dir keine Sorgen«, fiel ihm Graves ins Wort. Aber für Mogens' Geschmack klang es fast ein bisschen zu überzeugt, so als erlaube Graves sich nicht, irgendeine andere Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen. Und er ging auch eindeutig zu schnell weiter, um seine plötzliche Besorgnis zu verhehlen. Mogens fiel ein kleines Stück zurück. Um wirklich mit ihm Schritt zu halten, hätte er schon rennen müssen.

Ihrer beider Sorge erwies sich jedoch als unbegründet - zumindest, soweit sie die Geheimtür betraf. Die kleine Horusfigur stand so unverändert wie seit vermutlich Jahrtausenden in ihrer Nische, und die verborgene Tür dahinter war verschlossen. Nicht einmal Mogens, der wusste, wonach er zu suchen hatte, vermochte mehr zu erkennen als scheinbar massiven Stein.

Tom hingegen machte einen durch und durch unglücklichen Eindruck. So wie Miss Preussler auch wandte er ihnen den Rücken zu, als sie sich unter dem ausladenden Heck der Barke hindurchbückten, aber er musste ihre Schritte wohl gehört haben, denn er drehte sich praktisch im gleichen Moment um, und auf seinem Gesicht erschien eine Mischung aus Schuldbewusstsein und Erleichterung, wobei die Erleichterung zumindest im ersten Moment eindeutig überwog. Dann erblickte er die Polizeiuniform, die Mogens trug, und ein fragender Ausdruck machte sich auf seinen Zügen breit.

»Also wirklich, Thomas - du musst dir schon etwas Besseres ausdenken, wenn du eine arme alte Frau wie mich auf den Arm nehmen willst«, sagte Miss Preussler gerade. »Auch wenn ich...« Sie brach mitten im Wort ab, denn sie hatte sich im Reden umgedreht und just in diesem Moment Mogens und Graves entdeckt. »Professor! Doktor Graves!«, rief sie erfreut. »Sie sind zurück! Wie wunderbar!« Dann brach sie abermals ab und runzelte tief die Stirn. »Professor VanAndt! Haben Sie eine neue Anstellung gefunden?«

Im allerersten Moment verstand Mogens die Frage nicht, aber dann gewahrte er das amüsierte Funkeln in Miss Preusslers Augen, und er musste nicht an sich hinabsehen, um dessen Grund zu erraten. In der verwaschenen Polizistenkluft, die Wilson ihm gegeben hatte, musste er absolut lächerlich aussehen. Sowohl Hosenbeine als auch Hemdsärmel waren ein gehöriges Stück zu kurz, doch wie zum Ausgleich waren ihm beide Kleidungsstücke um gleich mehrere Nummern zu weit.

»Meine eigenen Kleider waren ein wenig mitgenommen«, sagte er mit einem verlegenen Lächeln. »Sheriff Wilson war so großzügig, mir diese Uniform zu borgen. Das erschien mir doch etwas schicklicher, als nur in eine Wolldecke gehüllt zurückzukommen.«

Die Worte hatten unverfänglich klingen sollen, aber sie schienen ihre Absicht wohl zu verfehlen, denn das Lächeln wich schlagartig sowohl aus ihrem Gesicht als auch aus ihren Augen. »Es ist doch alles in Ordnung?«, fragte sie besorgt.

Graves kam Mogens' Antwort zuvor. »Selbstverständlich«, sagte er rasch. »Der gute Professor war einfach nur ein wenig tollpatschig. Offensichtlich hat er vergessen, dass wir hier nicht an der Universität von Thompson sind oder in Ihrem wunderschönen Haus, sondern mitten in der Wildnis. Aber keine Sorge - er selbst hat dieses Erlebnis weitaus besser überstanden als seine Kleider.« Er grinste breit in Mogens' Richtung, aber in diesem scheinbar schadenfrohen Grienen verbarg sich zugleich ein fast beschwörender Blick, ja bei dieser Version zu bleiben.

»Ich bin ja so froh, dass Ihnen nichts zugestoßen ist«, sagte Miss Preussler. »Ich habe mir solche Vorwürfe gemacht, Sie mitten in der Nacht in den Wald hinausgejagt zu haben, und das nur wegen einer Katze!«

Nur wegen einer Katze?, wiederholte Mogens überrascht in Gedanken. Cleopatra war für Miss Preussler weitaus mehr als nur eine Katze!

»Es ist ja nichts passiert«, antwortete er unsicher. »Nur Cleopatra...«

»Sie wird ganz gewiss wieder auftauchen, machen Sie sich keine Sorgen, Miss Preussler«, mischte sich Graves ein. »Tom wird nachher nach ihr suchen. Ich hoffe doch, Sie waren zufrieden mit dem, was er Ihnen bisher gezeigt hat?«

Für die Dauer eines Atemzuges blitzte erneut ein schwaches Misstrauen in Miss Preusslers Augen auf, und Mogens war nahezu sicher, dass sie Graves' Absicht durchschaut hatte, sie von diesem Thema abzubringen; noch dazu auf so plumpe Art. Dann aber nickte sie nur umso heftiger. »Oh, sicher«, sagte sie. »Ihr junger Assistent ist ein ganz ausgezeichneter Fremdenführer. Aber er ist auch ein Schalk, das muss ich Ihnen einmal sagen.«

»So?«, fragte Graves. Er lächelte, aber der Blick, den er Tom dabei aus den Augenwinkeln zuwarf, war eisig. Möglicherweise drohend.

Miss Preussler nickte eifrig. »Ja, stellen Sie sich vor, er wollte mir doch tatsächlich weismachen, dass dieser heidnische Tempel mehr als fünftausend Jahre alt ist. Er war sehr überzeugend, das muss ich ihm lassen, aber am Schluss habe ich dann doch gemerkt, dass er sich nur einen Scherz mit mir erlauben wollte.« Sie drohte Tom spielerisch mit dem Zeigefinger. »Fünftausend Jahre! Wo doch jedermann weiß, dass die Welt gerade einmal viertausend Jahre alt ist!«

Graves tauschte einen verblüfften Blick mit Mogens, der seinerseits versuchte, ihm mit den Augen eine Warnung zukommen zu lassen, aber Graves konnte oder wollte ihn nicht verstehen. »Viertausend Jahre, Miss Preussler?« Er schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, Sie tun dem armen Tom Unrecht. Er wollte Sie keineswegs auf den Arm nehmen. Im Gegenteil. Wir sind noch nicht ganz fertig mit unserer Arbeit, aber es könnte durchaus sein, dass das alles hier noch deutlich älter ist als fünftausend Jahre. Möglicherweise doppelt so alt.«

»Humbug!« Miss Preussler funkelte Graves ärgerlich an. »Es ist eine Tatsache, dass die Welt keinen Tag älter ist als viertausend Jahre! Sie mögen ein guter Wissenschaftler sein, Doktor Graves, doch mir scheint, Sie sollten vielleicht etwas mehr Zeit auf das Studium der Schrift verwenden.«

»Der... Schrift?«, wiederholte Graves.

»Die Bibel, Doktor Graves«, erklärte Miss Preussler. »Hätten Sie es getan, wüssten Sie, was für einen Unsinn Sie reden. Reverend Fredericks hat es mir genau erklärt.«

»Reverend Fredericks?«

Mogens fing einen verwirrten Blick von Tom auf, aber er reagierte nicht darauf, sondern drehte sich fast hastig weg, damit weder Tom noch Graves das schadenfrohe Grinsen sahen, das sich auf seinen Zügen breit machen wollte. Er hatte Graves warnen wollen, aber dieser hatte ja nicht gehört. Mogens wusste, was nun geschehen würde.

»Reverend Fredericks!«, bestätigte Miss Preussler kampflustig. »Es steht alles geschrieben, Doktor Graves. Sie brauchen nur die Stammbäume derer zurückverfolgen, die zur Zeit unseres Heilands gelebt haben, und Sie erhalten genau diese Zahl. Das ist eine ganz einfache Rechenaufgabe. Man muss nur genau hinsehen.« Sowohl ihr Blick als auch ihre Tonlage wurden ganz eindeutig triumphierend. »Das ist wohl selbst nach Ihrer Definition eine rein wissenschaftliche Methode, will ich meinen.«

Graves wirkte jetzt eindeutig mehr als nur ein wenig verstört, aber er war klug genug, Miss Preussler nicht mehr zu widersprechen. »Nun ja, das ist... eine interessante Theorie«, sagte er zögernd. »Vielleicht sollten wir sie zu gegebener Zeit in unsere Arbeit mit einbeziehen.«

»Wann ist denn die gegebene Zeit, das Wort unseres Herrn in die Arbeit mit einzubeziehen?«, fragte Miss Preussler spitz.

»Sicherlich bald«, antwortete Mogens an Graves' Stelle. »Aber im Moment haben wir ein paar andere Dinge zu besprechen.« Er war sich durchaus der Gefahr bewusst, sich durch diese Äußerung seinerseits Miss Preusslers heiligen Zorn zuzuziehen, aber wenn er das Thema nicht gewaltsam abwürgte, konnte es gut sein, dass sie Graves in eine theologische Grundsatzdiskussion verstrickte, die Stunden dauerte. So lange es um ihn, Mogens, ging, hatte sie ihre religiösen Grundsätze ihrem Jagdinstinkt geopfert, doch dafür legte sie bei anderen einen nur um so größeren missionarischen Eifer an den Tag; vielleicht um vor sich selbst Buße für diese Verfehlung zu tun.

»Andere Dinge?«, fragte Miss Preussler auch prompt.

»Wie es hier weitergeht«, sprang Graves ein. Er deutete auf Mogens. »Nachdem die unglückselige Miss Hyams und die beiden anderen uns verlassen haben, müssen wir die ganze Arbeit allein erledigen. Das muss gut überlegt werden und vor allem sorgsam geplant und organisiert. Das verstehen Sie doch sicher.«

Miss Preussler blinzelte. »Sie haben es ihm noch nicht gesagt, Professor?«

»Ich... habe mich anders entschieden, Miss Preussler«, antwortete Mogens zögernd. »Ich bleibe hier. Wenigstens noch für einige Tage.«

»Das freut mich«, antwortete Miss Preussler. »Um ehrlich zu sein, hatte ich schon ein ganz schlechtes Gewissen Doktor Graves gegenüber. Ich hatte Angst, Sie würden nur meinetwegen abreisen wollen.«

»Das hat mit Ihnen nicht das Geringste zu tun«, versicherte Mogens. »Ich hatte private Gründe. Aber ich habe mich mit Doktor Graves ausgesprochen, und er hat mich überzeugt. Ich kann ihn nicht auch noch im Stich lassen, nun, wo die anderen fort sind.«

»Hat man die arme Miss Hyams gefunden?«, fragte Miss Preussler.

»Bisher nicht«, antwortete Mogens.

»Aber Sheriff Wilson ist ein fähiger Mann«, fügte Graves hinzu. »Wenn sie noch am Leben ist, dann wird er sie finden.«

»Ich dachte, Sie mögen ihn nicht.«

»Sheriff Wilson und ich sind keine Freunde, das ist richtig«, antwortete Graves. »Doch das bedeutet nicht, dass ich prinzipiell an seinen Fähigkeiten zweifle. Wilson wird alles in seiner Macht Stehende tun.« Er atmete hörbar ein. »Aber nun müssen wir gehen. Tom kann Sie zu einem späteren Zeitpunkt gern weiter herumführen, aber im Augenblick ist unsere Zeit ein wenig knapp, fürchte ich.«

Miss Preussler war ein bisschen beleidigt, aber sie gab sich Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. »Sicher«, sagte sie verschnupft.

»Tom wird Sie zurückbringen«, fuhr Graves fort. »Professor VanAndt und ich haben hier noch ein paar Dinge zu erledigen. Aber wir kommen nach, so schnell es uns möglich ist.«

»Sicher«, antwortete Miss Preussler kühl. »Thomas?«

Tom beeilte sich, Miss Preussler nach draußen zu führen, und Graves sah ihnen wortlos nach, bis sie verschwunden waren. Dann drehte er sich kopfschüttelnd wieder zu Mogens um. »Ich nehme alles zurück, was ich über dich gesagt habe, Mogens. Du hast dich nicht in ein Loch verkrochen. Du warst in der Hölle.«

»Miss Preussler hat ihre Qualitäten«, sagte Mogens.

»Man muss nur lange genug danach suchen, wie?«, fragte Graves höhnisch.

Mogens ignorierte ihn. »Wir müssen sie von hier fortschaffen«, sagte er. »Ich möchte nicht, dass ihr etwas geschieht.«

»Was liegt dir an dieser Frau?«, fragte Graves verwirrt. »Wie ich das sehe, bist du ihr nichts schuldig.«

»Das mag sein«, antwortete Mogens. »Trotzdem würde ich es mir nie verzeihen, wenn ihr etwas zustieße.«

Wieder schwieg Graves eine ganze Weile, während der er Mogens so nachdenklich ansah, dass sich dieser verwirrt fragte, was er eigentlich gerade gesagt hatte. Er schüttelte den Gedanken mit einer merklichen Anstrengung ab. »Ging es dir nun darum, Miss Preussler los zu werden, oder wolltest du tatsächlich etwas mit mir besprechen?«

Statt ihm zu antworten, trat Graves in die Wandnische und öffnete die Geheimtür, indem er den Kopf der Horusstatue umdrehte. Die Steinplatte bewegte sich knirschend zur Seite, und Mogens wartete darauf, dass sich aus dem Gang, der dahinter zum Vorschein kam, Schatten ergossen wie eine Flut klumpig geronnener Dunkelheit. Stattdessen drang aus dem schmalen Durchgang hellgelbes, warmes Licht.

»Ich habe Tom gebeten, noch ein paar zusätzliche Lampen zu installieren«, sagte Graves, als er Mogens' Erstaunen bemerkte.

»Wozu?«, fragte Mogens.

»Ich hatte den Eindruck, dass dir das Dunkel nicht behagt«, antwortete Graves. »Und es ist auch weniger gefährlich. Tom hat den Gang zuverlässig abgestützt, keine Sorge, aber es sind doch einige Trümmerstücke von der Decke gefallen. Ich möchte nicht, dass du zu Schaden kommst.«

»Diese Gefahr besteht wohl kaum«, antwortete Mogens. Er sah Graves ärgerlich an. »Ich werde nicht dort hineingehen.«

»Aber ich dachte, wir wären uns einig«, sagte Graves überrascht.

»Dass ich dir helfe, ja«, antwortete Mogens. Er machte eine trotzige Kopfbewegung in den Gang. »Aber nicht dabei.«

Die Verwirrung in Graves' Gesicht nahm noch zu. »Aber du...« Er unterbrach sich, schüttelte sacht den Kopf und nickte gleich darauf. »Oh, jetzt verstehe ich. Aber das eine geht nicht ohne das andere, fürchte ich. Anscheinend habe ich mich immer noch nicht klar genug ausgedrückt. Ich glaube, wir sind der Lösung ganz nahe. Wir brauchen Beweise, Mogens.« Er wies mit der Hand in den offen stehenden Geheimgang. »Und sie sind dort drinnen. Aber du bist der Einzige, der mir helfen kann, sie zu finden.«

»Nein«, sagte Mogens.

Graves' Gesicht verdüsterte sich vor Zorn. Aber er beherrschte sich, auch wenn es ihn sichtliche Anstrengung kostete. »Ich hoffe, du überdenkst diesen Entschluss noch einmal«, sagte er steif.

»Kaum«, antwortete Mogens. »Und jetzt wäre ich dir dankbar, wenn wir gehen könnten. Ich würde gerne diese albernen Kleider ablegen.«

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