18.

Das Unwetter tobte noch gute anderthalb Stunden mit wachsender Wut, bevor seine Kraft allmählich nachließ und aus dem heulenden Orkan ein normaler Wind und aus dem hämmernden Trommelfeuer wieder normaler Regen wurde. Mogens öffnete ein paar Mal die Tür, um nach draußen zu sehen, und der Regen war jedes Mal schwächer geworden. Auf geradezu unheimliche Weise pünktlich, um ihnen keinen Vorwand zu liefern, Graves' Einladung auszusitzen, hörte der Regen ganz auf. Der Wind flaute zu einer sachten Brise ab, deren Kraft kaum noch ausreichte, um die Wolken am Himmel auseinander zu treiben.

Dennoch wurde es nicht hell. Im gleichen Maße, in dem die Regenwolken über ihnen ihre Farbe verloren und sich schließlich ganz auflösten, senkte sich die Dämmerung über das Land. Es blieb dunkel, auch als sie das Haus verließen und sich auf den kurzen Weg zu Graves' Unterkunft machten.

Sie erlebten noch eine weitere, diesmal aber angenehme Überraschung: Obwohl der stundenlange Regen den Platz endgültig in einen Morast verwandelt hatte, erreichten sie die Hütte trockenen Fußes, denn jemand - vermutlich Tom - hatte sich die Mühe gemacht, einen Weg aus Planken dorthin zu legen, sodass sie zwar vorsichtig balancieren mussten, aber zumindest nicht Gefahr liefen, bis an die Knöchel in Schlamm zu versinken. Miss Preussler zeigte sich äußerst angetan von dieser Zuvorkommenheit, in Mogens weckte sie jedoch nur eine Mischung aus Ärger und kindischem Trotz. Auch wenn er sich wenig um solcherlei Dinge gekümmert hatte, war ihm doch klar, dass Tom praktisch alle im Lager anfallenden Arbeiten allein verrichtete. Dutzende der schweren Bohlen herbeizuschleppen und auszulegen musste eine ziemliche Plackerei gewesen sein - und eine überflüssige dazu. Bei Miss Preussler hatte Graves von Anfang an keine Chance gehabt, und was ihn anging, hätte er den Weg zu seiner Hütte mit massiven Goldbarren pflastern können, ohne dadurch irgendetwas an Mogens' Entschluss zu ändern, so bald wie möglich abzureisen.

Graves' Hütte war vom warmen Schein zahlreicher Kerzen erhellt, als sie eintraten, und das war nicht alles, was sich verändert hatte. Die Veränderung war beinahe so radikal wie die, die in Mogens' Quartier stattgefunden hatte, nur dass Graves keine Miss Preussler zur Verfügung gehabt hatte: Der Raum war bis in den hintersten Winkel pedantisch aufgeräumt, und der große Tisch, der sich Mogens noch vor wenigen Stunden als ein einziges Chaos dargeboten hatte, war zu einer festlichen Tafel für drei Personen gedeckt worden, das jedem Nobelrestaurant Ehre gemacht hätte: Es gab kostbares Porzellan, Gläser aus geschliffenem Kristallglas und schweres Silberbesteck mit Einlagen aus Gold. In der Luft lag ein Wohlgeruch, der Mogens das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. Die allergrößte Überraschung aber stellte Jonathan Graves selbst dar: Er hatte sich umgezogen und trug Frack, ein blütenweißes Hemd und Fliege, dazu Gamaschen und hochglanzpolierte Schuhe. Mogens, der sich für die geplante Reise eher nach Kriterien wie Zweckmäßigkeit und Robustheit umgezogen hatte, kam sich plötzlich schäbig, ja, fast ein wenig schmuddelig vor, was seinen Ärger auf Graves noch mehr anstachelte. Vermutlich hieße es, Graves trotz allem zu viel Bosheit zu unterstellen, indem er annahm, dass irgendeine Absicht dahinter steckte, aber Mogens gefiel diese Vorstellung. Es war, als suche er nun, wo er sich einmal von Graves' Einfluss freigemacht hatte, fast krampfhaft nach allem, was er seinem ehemaligen Kommilitonen anlasten konnte.

Graves erhob sich bei ihrem Eintreten, eilte Miss Preussler entgegen und verbeugte sich zu einem perfekten Handkuss. Miss Preussler war viel zu perplex, um irgendetwas anderes zu tun, als einfach dazustehen und Graves anzustarren. Ihre Überraschung, erkannte Mogens besorgt, war jedoch eher angenehmer Art.

»Meine liebe Miss Preussler!«, begrüßte sie Graves. »Mogens! Willkommen in meiner bescheidenen Behausung!«

Er richtete sich auf, trat einen Schritt zurück und machte eine einladende Geste auf den gedeckten Tisch. »Bitte nehmen Sie doch Platz. Tom wird Ihnen sofort einen Aperitif bringen.«

Noch immer reichlich perplex, folgte Miss Preussler seiner Einladung augenblicklich, während es in Mogens' Fall einer Wiederholung seiner wedelnden Geste bedurfte. Mogens war kaum weniger überrascht als Miss Preussler - vermutlich sogar mehr, denn anders als sie hatte er diesen Raum noch vor wenigen Stunden in einem gänzlich anderem Zustand gesehen. Es war ihm vollkommen unverständlich, wie Tom dieses Wunder in so kurzer Zeit vollbracht und dabei auch noch dieses zumindest himmlisch riechende Mahl zubereitet hatte - ganz davon zu schweigen, dass Graves behauptete, er habe auch noch den einsturzgefährdeten Tunnel gesichert und die schlimmsten Trümmer beseitigt.

Graves nahm ebenfalls Platz und wandte sich mit einem um Vergebung heischenden Lächeln an Miss Preussler. »Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, meine Liebe. Mir ist natürlich klar, dass das hier nicht dem Standard entspricht, den eine Frau wie Sie gewohnt ist, aber wir waren leider gezwungen, ein wenig zu improvisieren. Wir haben hier nicht sehr oft Besuch.«

»Aber ich bitte Sie, Doktor Graves!«, antwortete Miss Preussler. »Das ist... das ist geradezu fantastisch! Ich weiß gar nicht genau, was ich sagen soll!«

»Darf ich das als Kompliment auffassen?«

»Und ob Sie das dürfen!«, antwortete Miss Preussler.

»Danke sehr«, antwortete Graves. »Aber das Kompliment gebührt wohl eher Tom. Ich muss gestehen, dass er zum Großteil für dieses Wunder verantwortlich zeichnet.«

»Ah ja, Tom.« Miss Preussler nickte. »Der Professor hat mir von ihm erzählt. Ich würde diesen bemerkenswerten jungen Mann gerne einmal kennen lernen.«

»Ihr Wunsch ist mir Befehl, Gnädigste«, sagte Graves. Und es war ganz gewiss kein Zufall, dass genau in diesem Moment die Tür aufging und Tom hereinkam, beladen mit einem Silbertablett, auf dem eine Kristallkaraffe und drei dazu passende Gläser standen. Ein schwarzer Schemen mit orangerot glühenden Augen flitzte zwischen seinen Beinen hindurch, sprang mit einem Satz auf Miss Preusslers Schoß und rollte sich schnurrend zu einem Ball zusammen.

»Cleopatra, da bist du ja wieder!«, rief Miss Preussler erfreut. »Wo warst du nur die ganze Zeit, du kleine Rumtreiberin?« Sie begann die Katze zwischen den Ohren zu kraulen. Cleopatras Schnurren wurde noch lauter, aber nur für einen Moment - dann setzte sie sich auf, machte einen Buckel und drehte den Kopf in Graves' Richtung. Ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen und sie ließ ein Fauchen hören, bei dem sie anscheinend ein Dutzend winziger, aber nadelspitzer Zähnchen bleckte.

»Aber Cleopatra, was soll denn das?«, schimpfte Miss Preussler. »Wirst du dich wohl unserem Gastgeber gegenüber anständig benehmen?«

Als hätte Cleopatra die Worte verstanden, rollte sie sich wieder zusammen. Sie fauchte nicht mehr, aber sie begann auch nicht wieder zu schnurren, und sie ließ Graves keine Sekunde aus den Augen.

»Tja, mir scheint, bei dieser schwarzen Schönheit habe ich keine Chance«, sagte Graves lächelnd.

Miss Preussler erstarrte. Ihre Hand, die immer noch Cleopatras Kopf streichelte, erstarrte ebenfalls, und aus dem Lächeln auf ihren Lippen wurde etwas anderes. In ihren Augen flackerte eine Verlegenheit, die beinahe an Panik grenzte. Sie brauchte eine Weile, um sich weit genug wieder zu fangen, um wenigstens antworten zu können. »Doktor Graves«, begann sie stockend, »wegen Cleopatras schrecklicher Entgleisung damals... es... es tut mir aufrichtig Leid.«

Graves blinzelte. »Ich fürchte, ich weiß nicht genau, wovon Sie reden.«

»Nun, Sie erinnern sich doch gewiss an... an Cleopatras...« Miss Preussler verstummte endgültig. Sie war sichtlich nicht mehr in der Lage, zu reden. Die Verlegenheit hatte hektische rote Flecke auf ihre Wangen gezaubert.

»Was immer es gewesen sein mag, Miss Preussler«, fuhr Graves fort, »ich bin sicher, Cleopatra hatte ihre Gründe dafür. Ich konnte noch nie gut mit Katzen umgehen. Wenn überhaupt, dann bin ich wohl eher ein Hundetyp. So weit mir mein Beruf Zeit für Haustiere lässt.«

Miss Preussler tauschte einen ungläubigen Blick mit Mogens, aber auch der konnte nur verwirrt die Schultern heben. Wenn Graves schauspielerte, dann tat er es perfekt. Aber war es denn möglich, dass sich Graves nicht mehr an den bizarren Zwischenfall erinnerte, der kaum mehr als eine Woche zurücklag?

Wohl hauptsächlich, um das unbehagliche Schweigen zu beenden, das plötzlich im Raum lag, wandte sich Graves mit einer knappen Geste an Tom. Tom öffnete die Karaffe und schenkte Miss Preussler und ihm von der goldbraunen Flüssigkeit ein, die sie enthielt, aber als er auch Mogens eingießen wollte, schüttelte dieser rasch den Kopf.

»Der gute Professor trinkt niemals Alkohol, Tom«, sagte Graves mit einem leicht belustigten Unterton. Er selbst griff unverzüglich nach seinem Glas, leerte es mit einem einzigen Zug und bedeutete Tom, ihm nachzuschenken.

»Nun, was ich übrig lasse, dafür scheinst du ja reichlich Verwendung zu finden.« Mogens funkelte ihn an, aber Graves lächelte nur und prostete ihm mit dem nachgefüllten Glas zu, allerdings ohne zu trinken.

»Meine Herren«, sagte Miss Preussler. »Wir wollen doch nicht streiten.«

»Oh, wir streiten nie, Miss Preussler«, antwortete Graves lächelnd. »Hat Ihnen Mogens nicht verraten, dass wir alte Studienkollegen sind? Unser Umgangston ist manchmal etwas rau. Bitte verzeihen Sie.«

»Sie waren Kommilitonen?«, wunderte sich Miss Preussler.

»Viele Jahre lang«, antwortete Graves. »Wir haben uns sogar ein Zimmer geteilt.« Er seufzte. »Umso bedauerlicher ist es, dass der gute Professor sich nun entschlossen hat, seine Arbeit hier nicht fortzusetzen. Und das, obwohl wir so kurz vor dem Ziel sind.« Er hob rasch die Hand, als er sah, dass Mogens dazu ansetzte, etwas zu sagen. »Aber verzeihen Sie. Wir wollen jetzt nicht über unerfreuliche Dinge reden. Tom, wärst du so nett, das Essen aufzutragen? Ich bin sicher, unsere Gäste sind hungrig.«

Tom entfernte sich rasch, und Graves griff erneut nach seinem Glas und nippte daran. Wieder begann sich ein unangenehmes Schweigen zwischen ihnen breit zu machen.

»Darf ich Ihnen eine vielleicht etwas indiskrete Frage stellen, Doktor Graves?«, fragte Miss Preussler plötzlich.

»Nur zu«, antwortete Graves lächelnd. »Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass eine Dame wie Sie überhaupt weiß, was das Wort indiskret bedeutet.«

Miss Preussler reagierte nicht auf seine plumpe Schmeichelei, sondern deutete mit einer Kopfbewegung auf Graves' Hände. »Warum tragen Sie immerzu diese schrecklichen Handschuhe - sogar beim Essen?«

»Das ist Ihnen aufgefallen? Sie sind eine ausgezeichnete Beobachterin, Miss Preussler. Mein Kompliment.« Er seufzte. »Aber um Ihre Frage zu beantworten: Ich tue es aus Rücksicht auf alle, die in meiner Nähe sind. Meine Hände bieten keinen sehr schönen Anblick, müssen Sie wissen.«

»Was ist passiert?«

Graves' Blick verdüsterte sich, als hätte ihre Frage die Erinnerung an etwas in ihm geweckt, woran er sich lieber nie erinnert hätte. »Es ist keine sehr schöne Geschichte«, begann er. »Auch wenn sie schnell erzählt ist. Es war auf einer meiner Expeditionen in den südamerikanischen Dschungel. Ich bin mit einer... Substanz in Berührung gekommen, die ich besser nicht berührt hätte.«

»Sie haben sich eine Vergiftung zugezogen?«

»So könnte man es nennen«, antwortete Graves. »Die Folgen waren jedenfalls äußerst fatal. Eine davon war ein sehr unangenehmer Hautausschlag, den ich seither nicht wieder losgeworden bin. Gottlob beschränkt er sich nur auf meine Hände. Aber es sieht wirklich schrecklich aus.«

»Haben Sie einen Arzt konsultiert?«, fragte Miss Preussler.

»Die besten«, antwortete Graves. »Aber noch einmal: Lassen Sie uns über angenehmere Dinge reden. Wie war Ihre Reise hierher?«

Miss Preusslers Gesichtsausdruck nach zu urteilen, gehörte dieses Thema nicht unbedingt zu den angenehmeren Dingen, über die Graves eigentlich reden wollte. »Ganz entsetzlich«, antwortete sie. »Diese Eisenbahnen sind so laut und unbequem. Eine durch und durch unzivilisierte Art zu reisen, wenn Sie mich fragen.«

»Da mögen Sie Recht haben«, antwortete Graves. »Dennoch eine sehr effektive. Es gibt viele, die behaupten, dass dieses Land erst durch die Eisenbahn wirklich groß geworden ist.«

»Das mag sein«, sagte Miss Preussler ungerührt. »Aber bedeutet groß auch immer automatisch besser?«

»Touche«, sagte Graves lächelnd. »Vor Ihnen muss man sich in Acht nehmen, scheint mir. Sie sind die lebende Antwort auf die Frage, warum Frauen keinen Zutritt in Debattierclubs haben.«

Tom kam zurück, um das Essen zu servieren, und das, was er ihnen auftischte, übertraf sogar noch die Erwartungen, die der festlich gedeckte Tisch und der verlockende Duft geweckt hatten. Allein beim Anblick der auf dem Tablett gestapelten Speisen lief Mogens abermals das Wasser im Mund zusammen, und sein Magen knurrte hörbar. Er konnte es kaum abwarten, bis Tom zuerst ihm und dann Miss Preussler aufgetan hatte.

Tom machte jedoch keinerlei Anstalten, auch Graves' Teller zu füllen, sondern wünschte ihnen nur einen guten Appetit und ging wieder, und Miss Preussler wandte sich verwirrt an Graves. »Essen Sie nichts?«

»Ich fürchte, nein«, antwortete Graves. »Auch das gehört zu den Folgen jener unangenehmen Krankheit, die ich mir damals zugezogen habe.« Er hob demonstrativ die Hände. »Ich reagiere allergisch auf die allermeisten Lebensmittel und kann nur ganz bestimmte Dinge zu mir nehmen. Diese zweifellos köstliche Mahlzeit, die Tom für Sie zubereitet hat, würde mich vermutlich umbringen.«

»Aber das ist ja entsetzlich!«, sagte Miss Preussler.

»Es ist nicht so schlimm, wie es sich anhört«, antwortete Graves. »Man findet andere Befriedigungen, wenn einem der Genuss der gewohnten kleinen Freuden im Leben plötzlich verwehrt wird.«

»Zum Beispiel?«, fragte Mogens.

»Nun, zum Beispiel die Arbeit.« Obwohl Mogens die Frage gestellt hatte, wandte sich Graves weiterhin an Miss Preussler. »Oder auch eine gute Zigarette, dann und wann.« Er machte eine wedelnde Geste. »Aber lassen Sie sich davon bitte nicht aufhalten. Es wäre eine Schande um das wundervolle Essen. Und würde Tom, nebenbei bemerkt, wahrscheinlich das Herz brechen.«

Miss Preussler zögerte noch einen kurzen Moment, aber dann griff sie nach ihrem Besteck und begann zu essen, und nur einen Augenblick später folgte Mogens ihrem Beispiel.

Das Essen war köstlich. Mogens hatte ja schon zuvor Gelegenheit gehabt, Toms Kochkünste kennen zu lernen, aber mit dieser Mahlzeit hatte er sich selbst übertroffen. Sie aßen lange und mehr als ausgiebig, und Mogens erlebte schon wieder eine Überraschung, indem sich Jonathan Graves nicht nur als ein vorbildlicher Gastgeber herausstellte, sondern auch als ein überaus eloquenter Gesprächspartner und ein Mann von unerwartetem Witz und Esprit. Je weiter der Abend fortschritt, desto verwirrter fühlte sich Mogens. Der Jonathan Graves, der mit ihnen am Tisch saß, schien kaum noch Ähnlichkeit mit dem Mann zu haben, den er von früher her kannte, oder dem, mit dem er die letzten Tage verbracht hatte - und schon gar nicht mit dem unflätigen, barbarischen... Etwas, das ihn in Thompson besucht hatte. Dieser Jonathan Graves war intelligent, wohlerzogen und charmant, und das in einem Ausmaß, dass es selbst Mogens zunehmend schwerer wurde, ihm weiter mit Ablehnung zu begegnen. Graves trank drei Gläser Cognac, während sie aßen, aber er wartete artig, bis Mogens und Miss Preussler ihre Mahlzeit beendet hatten, bevor er sein silbernes Etui aufklappte und sich eine Zigarette anzündete.

»Eines der wenigen kleinen Laster, die mir noch geblieben sind«, sagte er, als er Miss Preusslers vorwurfsvollen Blick bemerkte. Er nahm einen tiefen Zug und wandte sich gleichzeitig an Tom. »Würdest du uns bitte Kaffee holen, Tom?«

Tom ging, und Graves blickte kurz seine Zigarette an, dann Miss Preussler und schließlich wieder die brennende Zigarette mit der affektierten Schildpattspitze, so als wäre ihm bei ihrem Anblick etwas eingefallen. »Da ist noch etwas, was mir die ganze Zeit schon auf der Seele liegt, Miss Preussler«, begann er zögernd.

»Ja?«

»Nun, es geht um... um unser erstes Zusammentreffen in Thompson«, antwortete Graves. »Es stand unter keinem sehr guten Stern, fürchte ich. Ich möchte mich dafür in aller Form bei Ihnen entschuldigen, Miss Preussler. Und bei dir natürlich auch, Mogens.«

Er schwieg einen Moment. Als er weitersprach, sah man ihm an, wie schwer es ihm fiel. »Ich fürchte, ich habe mich unmöglich benommen.«

»Nun, der Professor und ich waren... ein wenig befremdet«, räumte Miss Preussler ein.

»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Graves. »Bitte halten Sie es jetzt nicht für eine billige Ausrede, die mir gerade zupass kommt, aber auch das hat mit jenem unglückseligen Missgeschick zu tun, das mir damals zustieß.«

»Dass du dich wie ein Tier benimmst?«, fragte Mogens gerade heraus. Miss Preussler warf ihm einen erschrockenen Blick zu, aber Graves sog nur an seiner Zigarette und nickte.

»Ich fürchte«, sagte er, »es war meine Schuld. Seit damals... bin ich unter gewissen Bedingungen nicht mehr sehr leistungsfähig. Manchmal verliere ich geradezu die Kontrolle über mich selbst. Ich war müde und erschöpft von der langen Fahrt, und ich war hungrig und darüber hinaus nervös, weil ich nicht wusste, wie du reagieren würdest, Mogens. Wie gesagt, es war mein Fehler. Aber mir brannte die Zeit unter den Nägeln, wie man so schön sagt.« Er atmete hörbar aus. »So, es war mir wichtig, diesen Punkt zu klären.«

»Dennoch werde ich diesen Ort morgen früh verlassen, Jonathan«, sagte Mogens. Graves' Erklärung machte ihn zornig, und das umso mehr, weil sie verlockend überzeugend schien. »Gib dir keine Mühe.«

»Schon gut«, antwortete Graves. »Ich weiß, wann ich verloren habe.«

»Aber was ist das denn für eine ominöse Arbeit, dass Sie sich darüber so entzweit haben?«, fragte Miss Preussler.

Für einen winzigen Moment glaubte Mogens, ein triumphierendes Aufblitzen in Graves' Augen zu sehen, aber es ging zu schnell, als dass er sicher sein konnte, und im nächsten Moment schon hatte Graves sich wieder unter Kontrolle. »Unsere Arbeit hier interessiert Sie?«, fragte er.

»Nur wenn es Ihnen nichts ausmacht«, antwortete Miss Preussler. »Professor VanAndt hat mir erklärt, dass Sie ungern über Ihre Arbeit reden.«

Diesmal war Mogens sicher, dass ihm Graves einen raschen, aber eindeutig triumphierenden Blick zuwarf, nicht etwa, weil er sich nie perfekt unter Kontrolle gehabt hätte, sondern weil er wollte, dass Mogens diesen Blick sah. »Das stimmt«, sagte er. »Ich wollte bis jetzt nicht, dass jemand erfährt, was wir hier gefunden haben. Und das war ein Fehler.«

»Wie?«, entfuhr es Mogens.

»Du hast Recht, Mogens«, sagte Graves. »Ich war so sehr von dem Gedanken besessen, der ganzen Welt in einem triumphalen Moment unsere Entdeckung zu präsentieren, dass ich wohl den Blick für die Realität verloren habe. Es tut mir Leid.« Er drehte sich zu Miss Preussler um. »Falls es Sie interessiert, Miss Preussler, wäre es mir eine Freude, Ihnen unsere Entdeckung zu zeigen.«

Nicht nur Miss Preussler war überrascht. Mogens starrte Graves regelrecht schockiert an, und für einen Moment verschlug es ihm - wortwörtlich - den Atem. Das triumphierende Funkeln war noch immer in Graves' Blick, tief verborgen am Grunde seiner Augen und unsichtbar für Miss Preussler, aber nicht für ihn. Ganz und gar nicht für ihn. Er war Graves in die Falle getappt. Und er wusste noch nicht einmal jetzt, als er sie fast zuschnappen zu hören meinte, wie sie wirklich aussah.

»Meinen Sie... das ernst?«, fragte Miss Preussler ungläubig. Sie warf einen hilflosen Blick in Mogens' Gesicht, doch Mogens ging nicht darauf ein.

Graves dafür umso mehr. »Selbstverständlich«, antwortete er. »Professor VanAndt hat mich überzeugt, auch wenn ich ihm ansehe, dass es ihm selbst noch schwer fällt, das zu glauben. Was nutzt es schon, den kostbarsten Schatz der Welt sein Eigen zu nennen, wenn niemand da ist, mit dem man ihn teilen könnte?«

»Du willst Miss Preussler... zeigen, was wir gefunden haben?«, vergewisserte sich Mogens.

»Ja«, antwortete Graves. »Wenn sie möchte, gleich jetzt.«

»Jetzt!«, wiederholte Mogens ungläubig.

»Warum nicht?«, wollte Graves wissen. »Tom hat die Trümmer beiseite geräumt. Das Licht funktioniert einwandfrei, und die Schäden waren nicht so schlimm, wie es im ersten Moment den Anschein gehabt hat.« Er machte eine auffordernde Geste zur Tür. »Wenn Sie es wünschen, können wir gleich gehen, Miss Preussler. Es ist noch nicht so spät, und Sie sind sicher begierig darauf zu erfahren, was wir entdeckt haben.«

»Vielleicht... hat das ja noch Zeit bis morgen«, sagte Miss Preussler stockend. Sie sah verwirrt aus und auf eine Weise hilflos, dass sie Mogens nicht nur aufrichtig Leid tat, sondern sein Zorn auf Graves auch schlagartig wuchs.

»Ganz wie Sie wünschen, Miss Preussler«, sagte Graves. Er machte keinen Hehl aus seiner Enttäuschung. »Es ist nur so, dass...«

Die Tür flog auf und Tom stürmte herein, aber nicht, um den Kaffee zu bringen, um den Graves ihn gebeten hatte. Ohne Mogens oder Miss Preussler auch nur eines Blickes zu würdigen, ging er zu Graves und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Mogens konnte nicht verstehen, was er sagte, aber Graves runzelte - unangenehm! - überrascht die Stirn und stand auf, noch bevor Tom ganz zu Ende gesprochen hatte.

»Bitte entschuldigen Sie mich einen Moment«, sagte er. »Ich bin gleich zurück.«

Er ging, und zu Mogens' Enttäuschung schloss sich Tom an und verließ unmittelbar hinter ihm das Haus. Bevor sich die Tür schloss, konnte Mogens ein helles Scheinwerferpaar draußen vor dem Haus erkennen. Ein Wagen war vorgefahren.

»Was bedeutet das?«, fragte Miss Preussler.

Mogens hob nur die Schultern. Er wusste es nicht - und es interessierte ihn im Augenblick auch nicht. »Miss Preussler, ich bitte Sie!«, sagte er beschwörend. »Trauen Sie diesem Mann nicht! Sie wissen nicht, wer er wirklich ist!«

Miss Preussler wirkte ein wenig irritiert. Sie sah unsicher zu der Tür hin, durch die Graves und Tom verschwunden waren, und versuchte schließlich zu lächeln, aber es geriet eher zu einem Ausdruck der Hilflosigkeit. »Ich finde, dass er eigentlich ein ganz netter Mann ist«, sagte sie schleppend. »Man sollte ihm wenigstens eine Chance geben, meinen Sie nicht?«

»Das hat sich vor einer Woche in Thompson aber noch ganz anders angehört«, erinnerte sie Mogens.

»Nun, da hatte ich ja auch noch keine Ahnung von dem schrecklichen Schicksalsschlag, der ihn getroffen hat«, antwortete sie. Ihre Stimme wurde leiser. »Ich wusste ja gar nicht, dass Ihr Beruf so gefährlich ist, Professor.«

Mogens zog vielsagend die Augenbrauen zusammen. Er hatte sich jeden Kommentar zu der Geschichte gespart, die Graves ihnen aufgetischt hatte, aber das bedeutete nicht zwangsläufig, dass er sie auch glaubte. Er hatte nie von einer Krankheit gehört, die mit solchen Symptomen einherging, wie Graves sie beschrieben hatte. Und auch nicht von einem Gift, das eine derartige Wirkung zeigte. Außerdem beschränkte sich die unheimliche Verwandlung, die manchmal mit Graves vonstatten zu gehen schien, längst nicht auf seinen Körper. Ganz und gar nicht. Aber gleichwie - Graves' Geschichte hatte ihren Zweck eindeutig erfüllt: Er hatte Miss Preusslers Mitleid erregt, und jemand, den Betty Preussler einmal in ihr großes Herz geschlossen hatte, der hatte kaum eine Chance, jemals wieder daraus zu entkommen.

»Ich bitte Sie einfach, ihm nicht zu trauen«, sagte er. »Bitte glauben Sie mir, Miss Preussler. Ich kenne Jonathan Graves besser als Sie. Dieser Mann ist«, er suchte vergeblich nach einem passenden Wort und schloss schließlich mit einem Achselzucken, »... schlecht.«

Das traf es nicht einmal annähernd, aber es gab kein Wort um zu beschreiben, was er für Jonathan Graves empfand.

»Aber was ist denn nur so schrecklich an dem, was Sie dort unten entdeckt haben?«, fragte Miss Preussler.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen«, antwortete Mogens. »Warum glauben Sie mir nicht einfach?«

»Weil es nicht sonderlich fair ist, einen Mann anzugreifen und ihm nicht die Möglichkeit zu geben, sich zu verteidigen«, antwortete Miss Preussler.

Und so ging es weiter. Mogens war von Miss Preusslers plötzlichem Sinneswandel so überrascht, dass er sich regelrecht beherrschen musste, um nicht wütend zu werden. Er hatte keine Ahnung wie - was umso erstaunlicher war, da er ja schließlich die ganze Zeit dabei gesessen hatte -, aber irgendwie war es Graves gelungen, Miss Preussler nahezu auf seine Seite zu ziehen. Sie diskutierten gute fünf Minuten in mühsam beherrschter, aber angespannter Stimmung, und Mogens war - absurd genug - regelrecht erleichtert, als Graves schließlich zurückkam.

Er war sehr blass. Sein Blick wich dem Mogens' und Miss Preusslers aus, während er zu seinem Platz ging und sich setzte.

»Ist... etwas passiert?«, fragte Miss Preussler zögernd.

Graves schenkte sich ein Glas Cognac ein, bevor er antwortete. Seine Hände zitterten leicht, sodass der Flaschenverschluss aus geschliffenem Kristall hörbar klirrte. »Das war Sheriff Wilson«, sagte er.

»Was wollte er?« Mogens richtete sich kerzengerade auf. Ein ungutes Gefühl begann sich in ihm breit zu machen.

»Es hat einen Unfall gegeben«, antwortete Graves. Er stürzte den Inhalt seines Glases mit einem einzigen Zug herunter und machte eine Bewegung, wie um sich unverzüglich nachzuschenken, setzte das Glas dann aber wieder ab und zündete sich stattdessen eine weitere Zigarette an.

»Einen Unfall? Was für ein Unfall?« Mogens beugte sich erregt vor. »Jonathan, so lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!«

»Mercer«, sagte Graves leise. »Und McClure.« Er nahm einen tiefen, fast gierigen Zug aus seiner Zigarette. »Sie sind tot. Und Hyams wahrscheinlich auch.«

Mogens starrte ihn aus ungläubig aufgerissenen Augen an, und Miss Preussler hob erschrocken die Hand vor den Mund, wie um einen Schrei zu ersticken.

»Ihre Kollegen?«, hauchte sie. »Aber das ist ja entsetzlich!«

»Was ist geschehen?«, fragte Mogens noch einmal, und jetzt in scharfem, fast zornigem Ton.

Graves hob andeutungsweise die Schultern. »Wilson konnte mir noch keine Einzelheiten sagen«, antwortete er. »Nur so viel, dass sie wohl von der Straße abgekommen und eine Böschung hinabgestürzt sind, wobei der Wagen offensichtlich in Flammen aufgegangen ist. Nicht einmal weit von hier - sie haben es gerade bis zur anderen Seite des Friedhofs geschafft. Mercer und McClure sind im Wagen verbrannt.«

»Und Doktor Hyams?«, fragte Mogens.

»Sheriff Wilson vermutet, dass sie aus dem Wagen geschleudert wurde«, antwortete Graves. »Aber er sagt, dass sie wohl keine Überlebenschance gehabt hat, so, wie das Wrack des Automobils aussieht.«

»Dann hat man sie noch nicht gefunden?«, fragte Miss Preussler.

Allein der Blick, der Graves' Kopfschütteln begleitete, machte die schwache Hoffnung zunichte, die bei Miss Preusslers Frage in Mogens aufgeglommen war. »Nein«, sagte er. »Sie mussten die Suche abbrechen, wegen des Unwetters und der hereinbrechenden Dämmerung.«

»Und wenn die arme Frau vielleicht doch noch lebt und nun schwer verletzt dort draußen liegt?«, fragte Miss Preussler.

»Ich kenne die Stelle, wo es passiert ist«, antwortete Graves. »Glauben Sie mir, niemand, der mit dem Wagen dort hinunterstürzt, hat auch nur die kleinste Aussicht zu überleben. Es ist schon tagsüber gefährlich dort; deshalb hat Wilson seine Männer auch abgezogen, doch sobald es hell geworden ist, machen sie weiter.« Er schlug so plötzlich und warnungslos mit der flachen Hand auf den Tisch, dass Mogens erschrocken zusammenzuckte. »Mercer, dieser verdammte Idiot! Ich habe ihm hundertmal gesagt, er soll die Finger vom Schnaps lassen!«

»Du glaubst, er war betrunken?«, fragte Mogens.

»Mercer war immer betrunken«, schnappte Graves. »Wäre er nicht so ein hervorragender Wissenschaftler gewesen, hätte ich ihn schon längst rausgeworfen.«

»Mein Gott, wie furchtbar«, flüsterte Miss Preussler. Cleopatra hob den Kopf, sah Graves an und fauchte. Graves warf der Katze einen Blick zu, als wolle er sie damit aufspießen, goss sich nun doch einen weiteren Cognac ein und drehte das Glas in den Fingern, allerdings ohne zu trinken. Dann stand er mit einem Ruck auf.

»Ihr werdet eure Abreise ein wenig verschieben müssen, fürchte ich«, sagte er in verändertem Ton und direkt an Mogens gewandt. »Sheriff Wilson bittet uns, ihm morgen Vormittag zur Verfügung zu stehen. Er hat noch ein paar Fragen an uns.«

Mogens nickte. »Selbstverständlich.«

»Es tut mir aufrichtig Leid, dass dieser schöne Abend einen so unschönen Abschluss finden muss.« Er wandte sich an Miss Preussler. »Tom zeigt Ihnen Ihre Unterkunft.«

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