47.

Mogens erwachte auf der Seite liegend, am ganzen Leib zitternd und in fötaler Haltung zusammengekrümmt. Sein Herz pochte, und das allererste, mit dem sich sein Körpergefühl zurückmeldete, war ein schrecklicher Durst. Sein Hals schmerzte, und als er versuchte, die Augen zu öffnen, gelang es ihm nicht auf Anhieb. Dann, mit der gleichen, nahezu explosiven Plötzlichkeit, mit der er die Kontrolle über seinen Körper und seine Sinne verloren hatte, kehrte beides zurück.

»Bleiben Sie liegen, Professor.«

Mindestens sein Erinnerungsvermögen schien noch nicht vollkommen zurückgekehrt zu sein, denn im allerersten Moment kam ihm die Stimme vollkommen fremd vor. Dann - und erst einen Sekundenbruchteil, nachdem er die Augen geöffnet und in ihr Gesicht geblickt hatte - erkannte er sie. »Alles wieder in Ordnung?«, fragte Miss Preussler. Mogens wollte antworten, aber seine Stimme versagte ihm den Dienst. Sein Hals schmerzte immer noch heftig. Alles, was er zustande brachte, war ein hilfloses Krächzen.

»Einen Moment.« Miss Preussler verschwand für einen Herzschlag aus seinem Gesichtsfeld, kam zurück und setzte eine flache Metallflasche an seine Lippen. Mogens schluckte ganz automatisch und rang im nächsten Moment hustend und fast verzweifelt japsend nach Luft. Was er für Wasser gehalten hatte, war keins.

»Nicht so hastig«, sagte Miss Preussler und zog die Flasche zurück. Mogens konnte sich täuschen, aber er meinte einen ganz leisen Unterton von Schadenfreude in ihrer Stimme zu hören. »Sie bekommen noch mehr, aber nicht so schnell.«

»Das... ist kein Wasser«, krächzte Mogens. Wenigstens seine Stimme gehorchte ihm wieder.

»Natürlich nicht«, antwortete Miss Preussler. »Allerbester Kentucky-Whiskey, garantiert zwölf Jahre alt - und damit fast so alt wie ich«, fügte sie augenzwinkernd hinzu. Aber das spöttische Lächeln verschwand fast ebenso so schnell wieder aus ihren Augen, wie es darin erschienen war. »Geht es wieder?«

Mogens versuchte zu antworten und brachte diesmal immerhin ein nicht mehr ganz so qualvolles Husten an Stelle eines halb erstickten Krächzens zustande. Von einem gelegentlichen Gläschen Portwein einmal abgesehen - und selbst das nur ganz selten und zu ausgesuchten Gelegenheiten - trank er niemals Alkohol, ja, verabscheute ihn geradezu. Aber er musste eingestehen, dass das warme Gefühl, das sich rasch in seinem Magen ausbreitete, durchaus angenehm war. Und obwohl seine Kehle brannte, als hätte er versehentlich mit verdünnter Säure gegurgelt, schien der Schmerz zugleich aber den Kampf gelöst zu haben, der seine Stimmbänder befallen hatte. »Ja«, brachte er mühsam hervor. Miss Preussler sah ihn noch einen weiteren Moment lang unübersehbar zweifelnd an, dann aber zuckte sie mit den Schultern, setzte die Reiseflasche selbst an die Lippen und nahm einen Schluck, der deutlich größer war als der, den Mogens gerade getrunken hatte.

»Was ist passiert?«, murmelte er. »Ich... es tut mir wirklich Leid. Ich weiß auch nicht... ich meine... bitte entschuldigen Sie, dass...«

»Sie sollten sich vielleicht einmal entscheiden, ob Sie sich nicht erinnern können oder ob das, woran Sie sich nicht erinnern können, Ihnen nun peinlich ist«, sagte Miss Preussler mit sanftem Spott, während sie die Flasche sorgsam wieder zuschraubte und in einer Falte ihres Kleides verschwinden ließ, wo anscheinend eine Tasche verborgen war. So spöttisch ihrer Stimme klang, so ernst war der Blick, mit dem sie ihn währenddessen maß.

Statt irgendetwas darauf zu erwidern, setzte sich Mogens weiter auf und drehte den Kopf. Sie waren nicht allein. Nur ein paar Schritte entfernt kauerte eine zitternde Gestalt vor der Wand. Sie hatte die Knie an den Leib gezogen und saß beinahe in der gleichen Haltung da, in der er gerade noch auf dem Boden gelegen hatte, hatte aber die Arme gehoben und die Hände schützend über dem Kopf zusammengefaltet. Was er von ihrem Gesicht erkennen konnte, war hinter einem Vorhang aus strähnigem, schmutzstarrendem schwarzem Haar verborgen, aber er konnte die Furcht in ihrem Blick fast körperlich fühlen, obwohl er ihre Augen nicht einmal wirklich erkennen konnte.

Langsam, um sie nicht durch eine hastige Bewegung noch mehr zu ängstigen, stand er auf, ging zu der jungen Frau hinüber und ließ sich einen halben Schritt vor ihr wieder in die Hocke sinken. Unendlich behutsam streckte er die Hand aus, ergriff ihren Arm und drückte ihn mit sanfter Gewalt nach unten. Die junge Frau versuchte erschrocken, noch weiter vor ihm zurückzuweichen, was aber nicht möglich war, weil sie sich bereits mit aller Kraft gegen die raue Felswand presste, und zog stattdessen die Knie noch weiter an den Leib. Sie zitterte heftig. Ihre Augen waren schwarz vor Angst.

Es waren nicht Janices Augen. So wenig, wie ihr Gesicht das von Janice war. Sie hatte nicht einmal Ähnlichkeit mit ihr. Sie war viel zu jung - nicht einmal ganz in dem Alter, in dem Janice gewesen war, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten, dabei aber so abgemagert und ausgezehrt, dass sie fast wie eine Greisin wirkte -, und soweit er ihr Gesicht unter all dem Schmutz, Schorf und Grind überhaupt erkennen konnte, schienen ihre Züge leicht asiatischen Einschlag zu haben. Ihre Lippen waren aufgeplatzt und entzündet, und Mogens sah, dass ihr nahezu alle Zähne im Unterkiefer fehlten. Da das Kleid, das sie trug, praktisch nur noch aus Fetzen bestand, konnte er sehen, dass sich auch der Rest ihres Körpers in einem ebenso bemitleidenswerten Zustand befand. Die junge Frau war nicht nur halb verhungert, sondern ganz offensichtlich auch schwer misshandelt worden, und das über längere Zeit.

»Verstehen Sie mich?«, fragte er. Er hatte nicht wirklich mit einer Antwort gerechnet, doch er bekam eine Reaktion, auch wenn sie ihm schier den Atem abschnürte. Die junge Frau begann noch heftiger zu zittern. Abermals versuchte sie, vor ihm zurückzuweichen, und die Angst in ihrem Blick wurde zu etwas, das sich wie ein glühender Dolch in seine Brust bohrte. Er fand plötzlich keine Worte mehr und fuhr sich hilflos mit der Zunge über die Lippen.

»Sie... Sie brauchen keine Angst zu haben«, murmelte er. »Ich tue Ihnen nichts.«

Auch damit schien er es nur noch schlimmer zu machen. Die junge Frau begann leise zu wimmern und verbarg abermals das Gesicht hinter den Armen.

»Das hat keinen Sinn«, sagte Miss Preussler leise hinter ihm. »Ich fürchte, das arme Ding versteht gar nicht, dass Sie ihm etwas sagen wollen. Ich habe es auch schon versucht. Vielleicht spricht sie unsere Sprache nicht.«

Mogens fragte sich beiläufig, wie lange er eigentlich bewusstlos gewesen war, hielt seinem Blick dabei aber fest auf das Gesicht der jungen Frau gerichtet. Er sagte nichts - Miss Preusslers Theorie erschien ihm aus irgendeinem Grund nicht besonders überzeugend, aber er hatte das Gefühl, dass es schon allein der Klang seiner Stimme war, der sie nahezu zu Tode erschreckte -, hob aber, noch sehr viel langsamer als beim ersten Mal, den Arm, streckte behutsam die Hand in ihre Richtung aus und drehte sie ein paar Mal hin und her, um ihr zu zeigen, dass sie leer und nicht etwa zur Faust geballt war, um sie zu schlagen. Das Wimmern der jungen Frau wurde nur noch lauter, und sie zitterte plötzlich am ganzen Leib. Mit einem Male wurde Mogens klar, dass er ihr Todesangst einjagte.

Obwohl er sich mehrere Schritte von der jungen Frau entfernt hatte und nicht einmal in ihre Richtung sah, während er mit Miss Preussler redete, hockte sie noch immer zusammengekauert an der Wand und hatte die Arme über den Kopf gehoben wie ein Kind, das bestraft worden war und nun Angst hatte, noch weiter geschlagen zu werden. »Ich glaube nicht...«, begann er vorsichtig, wurde aber sofort von Miss Preussler wieder unterbrochen.

»Lassen Sie es mich noch einmal versuchen. Vielleicht hat sie sich inzwischen ja ein wenig beruhigt.«

Mogens musste sich nicht einmal umsehen, um zu wissen, dass das bestimmt nicht der Fall war. Aber was hätte er sagen sollen? Dass sie dieses arme Wesen auf keinen Fall mitnehmen konnten, weil sie sie nur belasten, ja, möglicherweise sogar in Gefahr bringen würde? Zweifellos entsprach das den Tatsachen, und ebenso zweifellos wusste Miss Preussler dies genau so wie er - aber es auch nur auszusprechen hätte ihn auf die gleiche Stufe wie Graves gestellt, sowohl in Miss Preusslers Augen als auch in seinen eigenen. So hob er nur die Schultern, wandte sich demonstrativ - allerdings noch immer sehr langsam, um das Mädchen nicht durch eine unbedachte, schnelle Bewegung noch mehr zu verschrecken - ab und ging zum jenseitigen Ausgang der Höhle. Auch dahinter schimmerte das wohlbekannte, geisterhaft grüne Licht, doch Mogens nahm unterwegs trotzdem seine Lampe auf und kramte schon einmal in der Jackentasche, um die Schachtel mit den Schwefelhölzern im Bedarfsfall gleich zur Hand zu haben.

Er brauchte sie nicht. Der nicht einmal anderthalb Meter hohe Durchgang führte in einen schmalen Stollen, der höher und breiter wurde, je mehr er sich seinem Ende näherte, das vielleicht fünfzehn oder zwanzig Schritte entfernt lag, und dabei immer mehr von seinen natürlichen Unebenheiten verlor, bis er schließlich in präzise errichtetes Mauerwerk überging. Auf dem letzten Stück waren die leuchtenden grünen Flechten sorgsam entfernt worden, aber Mogens konnte die Wandmalereien, die die monströsen Steinplatten verzierten, dennoch deutlich erkennen; denn hinter der sorgsam gemauerten Tür, in der der Korridor endete, brannte rotes und gelbes Licht. Als er näher kam, mischte sich der typische Geruch von brennendem Holz in den immer noch allgegenwärtigen Gestank, der die Luft verpestete.

Mit klopfendem Herzen und geduckt, obwohl die Tür mindestens zwei Meter hoch war, trat Mogens in den angrenzenden Raum und hob vollkommen sinnloserweise die Laterne, als er sich aufrichtete und sich dabei rasch einmal um seine eigene Achse drehte.

Der Raum war ebenso leer wie die große Halle, durch die sie oben gekommen waren, befand sich aber in einem viel weiter fortgeschrittenen Stadium des Verfalls. Ein Teil der Decke war eingestürzt und gab den Blick auf einen unregelmäßig geformten, schmalen Schacht frei, der offensichtlich bis zur Oberfläche hinaufführte, und auch die gegenüberliegende Wand zeigte deutliche Spuren gewaltsamer Zerstörung. Ein fast handbreiter Riss spaltete sie vom Boden bis zur Decke, und in dem flackernden rötlichen Licht, das den Raum erfüllte, konnte Mogens Schwaden von tanzendem Staub erkennen. Als er sich dem Riss näherte, sah er, dass noch immer ein Strom aus Staub und feinen Schmutzpartikeln daraus zu Boden rieselte. Was immer hier geschehen war - es lag noch nicht sehr lange zurück. Mogens musste wieder an das schwache Erdbeben denken, das sie am Abend verspürt hatten. Er hatte mittlerweile nicht mehr die geringste Vorstellung davon, wie tief sie sich unter der Erde befinden mochten, doch was sie dort oben nur als sachtes Zittern verspürt hatten, das konnte hier unten durchaus ein gewaltiger Erdstoß gewesen sein.

Mogens sah nachdenklich in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Ganz leise drang Miss Preusslers Stimme an sein Ohr. Er konnte nicht verstehen, was sie sagte, wohl aber den beruhigenden, sanften Klang ihrer Worte. Vielleicht hatte sie ja tatsächlich Erfolg, und es gelang ihr, das Vertrauen der jungen Frau zu erringen. Selbst dann würde sie noch eine enorme Belastung für sie darstellen, aber längst nicht mehr in dem Maße, wie sie es wäre, wenn man sie mit Gewalt zwingen müsste mitzukommen.

Plötzlich erschrak er vor seinen eigenen Gedanken. Sie waren hergekommen, um Menschen wie sie und andere, die ihr schreckliches Schicksal teilten, zu finden. Wieso suchte ein Teil von ihm jetzt angestrengt nach Gründen, sie hierlassen zu können? Hastig schüttelte er den Gedanken ab und zwang sich, seine Inspektion des Raumes fortzusetzen - auch wenn es nicht mehr allzu viel zu sehen gab. Was von den Wandmalereien und Fresken die gewaltsame Zerstörung überstanden hatte, war ihm genauso unverständlich und rätselhaft wie alles andere, was er im oberen Teil der Stadt gesehen hatte.

Mogens war nicht wohl bei der Vorstellung, seine Erkundung auf eigene Faust fortzusetzen und sich noch weiter von Miss Preussler und dem Mädchen zu entfernen, aber er musste ihr wohl oder übel noch ein wenig Zeit geben, und zumindest bis jetzt bestand kaum die Gefahr, sich zu verirren. Die Kammer hatte nur einen einzigen weiteren Ausgang, und Mogens nahm sich fest vor, spätestens dann kehrtzumachen, wenn er eine Abzweigung oder Kreuzung erreichte, an der er sich entscheiden musste, in welche Richtung er weitergehen sollte.

Die Entscheidung wurde ihm abgenommen. Gerade, als er sich in Bewegung setzen wollte, hörte er einen scharrenden Laut hinter sich, doch als er erschrocken herumfuhr, waren es nur Miss Preussler und das dunkelhaarige Mädchen, die hinter ihm die Kammer betraten. Mogens zog überrascht die Augenbrauen hoch. Miss Preussler hatte das Mädchen an der Hand ergriffen, aber nicht etwa, um es mit sanfter Gewalt hinter sich her zu ziehen, sondern einzig, um es zu führen. Ganz im Gegenteil klammerte sich das Mädchen mit der anderen Hand fest an ihren Oberarm, und seine ganze Haltung machte klar, dass es zwar immer noch sehr verängstigt war, aber ein gewisses Zutrauen gefasst hatte.

»Das ging ja schnell«, sagte er überrascht.

»Ich habe selbst nicht damit gerechnet«, gestand Miss Preussler, was sie aber nicht daran hinderte, ihn voller unübersehbarem Stolz anzublicken. Im nächsten Moment änderte sich etwas an ihrem Gesichtsausdruck. Sie wirkte eher nachdenklich, ein ganz kleines bisschen aber auch spöttisch, als sie fortfuhr: »Eigentlich hat sie sich fast sofort beruhigt, nachdem Sie fort waren, Professor.«

»So?«, fragte Mogens.

Miss Preusslers Lächeln wurde noch breiter und war jetzt eher ein schadenfrohes Grinsen, und Mogens verzichtete vorsichtshalber darauf, das Thema noch weiter zu vertiefen. Stattdessen zwang er ein beruhigendes Lächeln auf sein Gesicht und machte einen Schritt auf das Mädchen zu. »Du brauchst keine Angst mehr zu haben«, begann er. »Wir sind...«

Weiter kam er nicht. Das Mädchen keuchte erschrocken, ließ Miss Preusslers Arm los und war mit einem einzigen, raschen Schritt hinter ihr; abermals wie ein Kind, das sich erschrocken hinter dem Rücken eines Erwachsenen versteckt. Mogens blieb überrascht mitten im Schritt stehen, und auch Miss Preussler wirkte für einen Moment beinahe hilflos. Dann bedeutete sie ihm mit einem hastigen Blick, nicht näher zu kommen und drehte sich herum. Jedenfalls versuchte sie es. Das Mädchen klammerte sich jedoch plötzlich und mit solcher Kraft an ihr fest, dass sie fast Mühe hatte, nicht von den Füßen gerissen zu werden.

»Aber was ist denn nur los mit dir?«, rief sie. »Du musst keine Angst haben. Niemand tut dir etwas!«

Die Gegenwehr des Mädchens wurde eher noch heftiger; sie krallte sich jetzt mit beiden Händen in Miss Preusslers Kleid und versuchte gleichzeitig, sich hinter ihr zusammen zu kauern, mit dem Ergebnis, dass Miss Preussler nun tatsächlich um ihre eigene Balance ringen musste und zu stürzen drohte. Ganz automatisch trat Mogens auf sie zu und streckte die Arme aus, und das Mädchen stieß einen spitzen Schrei aus und krallte sich noch heftiger an sie.

»Professor, gehen Sie weg!«, keuchte Miss Preussler. »Rasch!«

Mogens war viel zu perplex, als dass er irgendetwas anderes hätte tun können. Verwirrt wich er zwei oder drei Schritte rücklings vor ihnen zurück, und das Mädchen beruhigte sich tatsächlich. Zwar klammerte es sich noch immer mit solcher Kraft an Miss Preussler fest, dass es ihr fast den Atem nahm, hörte aber zumindest auf zu schreien.

Dennoch wich er vorsichtshalber noch einen weiteren Schritt zurück und ließ die Arme sinken. Und tatsächlich beruhigte sich das Mädchen zusehends; vor allem, als Miss Preussler sich endlich irgendwie frei gemacht und sie ihrerseits in die Arme geschlossen hatte.

»Bleiben Sie zurück, Professor«, sagte Miss Preussler, ohne sich zu ihm herumzudrehen. Stattdessen begann sie dem Mädchen beruhigend mit der Hand über das Haar zu streichen, während sie sie mit dem anderen Arm fest an sich drückte. Das Mädchen erwiderte ihre Umarmung kaum weniger heftig als zuvor, aber sie ließ Mogens dennoch keine Sekunde lang aus den Augen. Möglicherweise, dachte er beunruhigt, war Miss Preusslers Bemerkung ja nicht ganz so scherzhaft gemeint gewesen, wie er sich eingebildet hatte.

»Ich glaube, wir bekommen ein Problem«, sagte er vorsichtig.

Miss Preussler reagierte genau so, wie er befürchtet hatte: Sie verzichtete zwar darauf, etwas zu sagen, aber der Zorn sprühende Blick, den sie ihm über die Schulter hinweg zuwarf, war beredt genug.

Mogens geduldete sich - oder versuchte es wenigstens. Und wahrscheinlich tat er Miss Preussler sogar Unrecht, denn die Schnelligkeit, mit der es ihr gelang, das vollkommen verängstigte Mädchen wieder zu beruhigen, war schon fast unheimlich. Vermutlich vergingen wenig mehr als zwei oder drei Minuten, bevor sie sich wieder zu ihm herumdrehte und ihm mit einem Nicken zu verstehen gab, dass sie weitergehen konnten, aber ihm kam es vor wie Stunden.

»Sagte ich schon, dass wir ein Problem bekommen?«, fragte Mogens.

»Ja«, antwortete Miss Preussler kühl. Mogens wartete einen Moment lang vergebens darauf, dass sie noch etwas hinzufügte, und drehte sich schließlich mit einem leicht trotzig wirkenden Schulterzucken herum.

»Sagen Sie ruhig Bescheid, wenn ich zu dicht vor Ihnen her gehe«, knurrte er. Das war albern, und er wusste es auch selbst, aber er hatte es einfach sagen müssen. Miss Preussler war auch klug genug, nicht direkt darauf zu antworten, doch Mogens entging keineswegs, dass sie erst losging, als er sich gute vier oder fünf Schritte von ihr und dem Mädchen entfernt hatte. Ihm lag eine weitere spitze Bemerkung auf der Zunge, aber er schluckte sie herunter.

Sie verließen die Kammer durch den einzigen anderen Ausgang, den es gab, und waren noch keine zehn Schritte weitergegangen, als sie an die erste Abzweigung gelangten. Spätestens hier, dachte Mogens, hätte er ohnehin Halt gemacht, um auf Miss Preussler zu warten, oder wäre umgekehrt. Unschlüssig blieb er stehen und blickte zuerst nach rechts, dann nach links. In beiden Richtungen setzte sich der bemalte Korridor ungefähr gleich weit fort, bevor er von einem weiteren Durchgang voller schwebendem grünem Licht verschlungen wurde.

»Und jetzt?«, fragte er, während er sich zu Miss Preussler und dem Mädchen herumdrehte. »Werfen wir eine Münze, oder haben Sie eine Lieblingsrichtung?«

Auch Miss Preussler war stehen geblieben. Sie führte das Mädchen jetzt wieder neben sich, hatte ihm aber schützend die Arme um die Schultern gelegt, und Mogens wusste im allerersten Moment nicht, was er von diesem Anblick halten sollte. Es war schwer zu sagen, was intensiver war, die Furcht, die wieder stärker in den dunklen Augen der Frau aufflammte, als sie sah, dass er stehen geblieben war und sich zu ihnen herumgedreht hatte, oder der Ausdruck von grimmiger Entschlossenheit auf Miss Preusslers Gesicht, ihre neue Adoptivtochter gegen jedwede Gefahr zu verteidigen - und auch gegen ihn. Vielleicht sogar insbesondere gegen ihn.

Er wusste auch nicht, was ihn mehr erschreckte.

Da er keine Antwort bekam, zuckte er nach einigen Sekunden abermals mit den Achseln, wandte sich wieder um und drehte sich wahllos nach links, um loszugehen. Wie erwartet, vergingen auch jetzt wieder ein paar Sekunden, bevor er Schritte hinter sich hörte, doch sie brachen schon nach wenigen Augenblicken wieder ab. Als er hinter sich blickte, stellte er fest, dass Miss Preussler angehalten hatte. Das Mädchen hatte sich aus ihrer Umarmung gelöst und zerrte heftig an ihrer Hand. Sie gab nicht den mindesten Laut von sich, schüttelte aber immer hektischer den Kopf und gestikulierte dabei mit der freien Hand in die entgegengesetzte Richtung.

»Anscheinend hat sie Angst vor dem, was dort vorne ist«, sagte Miss Preussler. »Vielleicht sollten wir besser auf sie hören.«

Mogens blickte unentschlossen einen Moment in das grüne Licht am Ende des Korridors. Ihm persönlich machte hier unten so ziemlich alles Angst, aber er konnte in dem sonderbar fließenden Schimmer nichts Außergewöhnliches wahrnehmen. Was nichts bedeuten musste. Dieses unheimliche Licht zeigte einem alles, wenn man nur lange genug hinein sah. Und wer immer diese junge Frau auch war, sie kannte sich ganz bestimmt besser hier aus als sie. Dennoch sträubte sich alles in Mogens gegen die Vorstellung, ihrer beider Leben in die Hand einer jungen Frau zu legen, die ihnen nicht nur vollkommen unbekannt, sondern möglicherweise auch nicht mehr Herrin ihres Verstandes war.

Der Boden unter seinen Füßen zitterte; ganz sacht nur, eigentlich war es eher ein rasches Erschauern und kein wirklicher Erdstoß. Dennoch drang in der nächsten Sekunde ein tiefes, mahlendes Knirschen aus der Erde herauf, ein Geräusch, das Bilder von kontinentalgroßen Gesteinsplatten vor Mogens' innerem Auge entstehen ließ, die sich mit Urgewalt aneinander rieben, bis sie sich gegenseitig zermalmt hatten, von zusammenstürzenden Gebirgen und unterirdischen Feuerströmen, aus denen rot glühende Lava emporschoss. Mit einer enormen Willensanstrengung gelang es ihm, die Schreckensvisionen fast so schnell wieder abzuschütteln, wie sie entstanden waren, und möglicherweise hätte er es sogar geschafft, das ganze Beben als bloße Einbildung abzutun, doch unwirklicherweise war die Wirklichkeit gegen ihn. Hinter ihm sog auch Miss Preussler erschrocken die Luft ein, und von der Decke rieselten plötzlich kleine Staubfahnen. Irgendwo, sehr weit entfernt, stürzte etwas polternd um.

»Also gut«, sagte er. »Nehmen wir den anderen Gang.« Er wollte unverzüglich loseilen, blieb aber schon nach dem ersten Schritt wieder stehen, als das Mädchen abermals erschrocken die Augen aufriss und sich schützend hinter Miss Preussler verbarg. Erst als die beiden Frauen wieder in den anderen Gang zurückgewichen waren und den Abstand zwischen sich und ihm auf ein gutes halbes Dutzend Schritte vergrößert hatten, beruhigte sie sich wieder.

»Vielleicht sollten wir besser vorausgehen«, sagte Miss Preussler. »Aus irgendeinem Grund scheint sie Angst vor Ihnen zu haben, Professor.«

»Kommt nicht in Frage«, entschied Mogens. Noch bevor Miss Preussler Gelegenheit fand, zu widersprechen - oder einfach zu tun, wonach ihr der Sinn stand, was ohnehin auf dasselbe hinauslief -, eilte er an ihr vorbei und in die jenseitige Fortsetzung des Korridors. Auch das war nicht besonders klug, wie er sich eingestehen musste. Miss Preusslers Vorschlag war durchaus vernünftig. Sie konnten schwerlich an jeder Abzweigung oder Kreuzung dieses komplizierte Manöver wiederholen, nur weil das Mädchen jedes Mal in Panik zu geraten drohte, wenn er ihm zu nahe kam. Mogens eilte trotzdem weiter. Es war ihm mittlerweile gleich, ob er sich klug verhielt oder nicht. Es war auch alles andere als klug gewesen, überhaupt hierher zu kommen.

Erst als er das Ende des Ganges erreicht hatte, wurde er wieder langsamer und hob zugleich die linke Hand, damit Miss Preussler und ihre Begleiterin ebenfalls ihre Schritte verlangsamten. Hinter der Tür war schemenhaft zu erkennen, dass sich dort keine weitere Kammer erstreckte, sondern ein offensichtlich enorm großer, ausschließlich von dem lebendigen grünen Licht erhellter Raum. Der üble Geruch, der sie auf Schritt und Tritt begleitete, war ihm mittlerweile schon fast nicht mehr aufgefallen, nun aber schlug er ihm verstärkt so ekelhaft entgegen, dass sein Magen zu revoltieren begann. Mogens verhielt für einen Moment im Schritt, atmete gezwungen tief ein und aus - was sich als keine wirklich gute Idee erwies, denn der Strom an bitterer Galle, die sich unter seiner Zunge sammelte, nahm eher noch zu - und bedeutete Miss Preussler zugleich mit einer entsprechenden Handbewegung, ganz stehen zu bleiben. Er drehte sich nicht zu ihr herum, ging aber erst weiter, als das Geräusch ihrer Schritte tatsächlich verstummt war.

Er hatte sich nicht getäuscht. Zwar befand sich hinter der Tür keine weitere Höhle, sondern wieder eine Kammer mit sorgsam behauenen und bemalten Wänden, doch war der Raum von gewaltigen Dimensionen. So weit Mogens dies überhaupt erkennen konnte, musste er mindestens dreißig oder vierzig Meter breit und um ein Mehrfaches länger sein.

Allerdings war dies eine bloße Schätzung, denn der unterirdische Saal war nahezu vollkommen eingestürzt.

Die Wände waren überall geborsten, wo der Stein unter dem unvorstellbaren Druck nachgegeben hatte, der auf ihn ausgeübt worden war. Die Decke, einst prachtvoll bemalt und von einem wahren Wald meterdicker Steinsäulen gestützt, hing an zahlreichen Stellen durch wie eine viel zu dünne Zeltplane, auf der sich das Regenwasser gesammelt hatte, und schien weiter hinten in der Halle gänzlich niedergebrochen zu sein; genau sagen konnte Mogens das nicht, denn das grüne Licht nahm im gleichen Maße ab, in denen die Spuren gewaltsamer Zerstörung mehr wurden, als hätten die sonderbaren Pflanzen ihre natürliche Leuchtkraft im gleichen Moment eingebüßt, in dem sie gewaltsam von ihrem Untergrund losgerissen worden waren.

Darüber hinaus wurde seine Aufmerksamkeit fast gänzlich von etwas gefesselt, das ihn zumindest im allerersten Moment noch weitaus mehr erschreckte als die Spuren, die das Erdbeben hinterlassen hatte. Es gab in dieser Halle nicht nur Trümmer...

Schon in dem kleinen Bereich unmittelbar hinter der Tür, den Mogens genau überblicken konnte, befand sich nahezu ein halbes Dutzend Ghoule. Keines der unheimlichen Geschöpfe regte sich. Die meisten kauerten in derselben, nahezu absurd anmutenden Gebetshaltung am Boden wie das erste der unheimlichen Geschöpfe, auf das sie hier unten gestoßen waren, mindestens zwei jedoch lagen auch in seltsam verrenkter Haltung da.

»Professor?«, fragte Miss Preussler. Ihre Stimme klang beunruhigt.

»Bleiben Sie da«, antwortete Mogens. »Wenigstens einen Moment.«

Mit heftig klopfendem Herzen bewegte er sich weiter in den Raum hinein. Er bedauerte jetzt, seine Lampe nicht angezündet zu haben, aber er wagte es zugleich auch nicht, dieses Versäumnis nachzuholen, denn obwohl er die Zündholzschachtel griffbereit in der linken Hand hielt, hätte das bedeutet, den Blick - und sei es nur für eine Sekunde - von den reglos da hockenden Ghoulen zu wenden. Und das wagte er nicht, denn er war aller Logik zum Trotz vollkommen sicher, dass sich die Ungeheuer im gleichen Sekundenbruchteil auf ihn stürzen müssten, in dem er nicht mehr in ihre Richtung sah. Im Grunde war das, was er tat, vollkommener Wahnsinn. Er konnte allein in seiner direkten Nähe sechs, acht, schließlich zehn der unheimlichen Geschöpfe ausmachen, und noch mehr in dem schwächer erhellten Teil des Raumes. Seine Knie zitterten mittlerweile so heftig, dass er Mühe hatte, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Dennoch ging er weiter. Keines der unheimlichen Geschöpfe nahm auch nur Notiz von ihm, obwohl Mogens auch diesmal dieselbe, beunruhigende Beobachtung machte wie vorhin: Die Ghoule schienen nicht zu schlafen oder bewusstlos zu sein. Die Augen der grässlichen Geschöpfe standen offen, und er hörte ihre rasselnden, schweren Atemzüge, manchmal auch etwas wie ein Keuchen.

»Professor?«, drang Miss Preusslers Stimme aus dem Gang hinter ihm. »Ist alles in Ordnung?«

»Nur einen Moment noch«, antwortete Mogens. Ihm wäre lieber gewesen, sie hätte ihn nicht gezwungen, zu reden.

Sein Verstand sagte ihm, dass es keinen Unterschied machte, aber das änderte nichts daran, dass er immer fester davon überzeugt war, dass die Ghoule bei der geringsten Unvorsichtigkeit seinerseits aus ihrer sonderbaren Starre erwachen und sich auf ihn stürzen würden. Er zwang sich, seine Furcht zu ignorieren und weiter zu gehen. Sein Interesse galt weniger der unerklärlichen Starre, in die die Kreaturen verfallen waren, sondern den beiden anderen Ghoulen.

Die Geschöpfe waren ohne jeden Zweifel tot. Eines von ihnen lag in so verdrehter und unnatürlich verrenkter Haltung da, dass nicht einmal ein so zäher Organismus wie der seine noch am Leben sein konnte. Mogens vermochte nicht zu sagen, was ihn umgebracht hatte, dafür bestand am Schicksal des zweiten umso weniger Zweifel. Er lag in weniger verdrehter Haltung da, sondern war auf die Seite gerollt, und man hätte ihn für schlafend halten können, hätte er nicht in einer gewaltigen, schon halb eingetrockneten Blutlache gelegen, und hätte er noch einen Schädel gehabt. Wo sein Kopf sein sollte, lag ein fast halbmetergroßer Steinquader.

Unsicher ließ sich Mogens neben der erschlagenen Kreatur auf die Knie senken, um sie genauer zu untersuchen, aber er wagte es nicht, sie zu berühren. Obwohl von dem Ghoul ganz gewiss keine Gefahr mehr ausging, flößte er ihm beinahe mehr Angst ein als seine lebenden Brüder ringsum.

Mogens stand wieder auf und legte den Kopf in den Nacken, um zur Decke hinauf zu sehen, aus der hier nur einige wenige Steinquader herausgebrochen waren, gerade einmal eine Hand voll, die zum Teil in Stücke zerborsten auf dem Boden verstreut waren. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese wenigen Trümmerstücke gleich zwei der reglos dahockenden Ghoule tödlich getroffen hatten, war nicht einmal besonders groß. Das Schicksal hatte es nicht besonders gut mit den Schakalköpfigen gemeint.

Vielleicht sogar noch weniger gut, als er bisher angenommen hatte...

Mogens fuhr wie elektrisiert herum, als er ein halblautes, rasselndes Keuchen hinter sich hörte.

Hätte sich der Ghoul tatsächlich auf ihn stürzen wollen, so wäre seine Reaktion hoffnungslos zu spät gekommen. Das Geschöpf plante jedoch nichts dergleichen. Es hatte sich mühsam auf beide Knie und die rechte Hand hochgestemmt und verharrte jetzt zitternd einen Moment lang in dieser Position. Dann kippte es langsam und mit einem abermaligen, dumpfen Stöhnen auf die Seite und erstarrte wieder zur Reglosigkeit.

Mogens' Herz hämmerte zum Zerspringen. Er hatte panische Angst. Aber nichts geschah. Die Bestie blieb einfach reglos in der gleichen Haltung auf der Seite liegen, in der sie gestürzt war. Manchmal drang ein tiefes, qualvolles Stöhnen aus ihrer muskulösen Brust, und ihre Glieder zitterten ganz leicht, aber sie unternahm keinen Versuch, sich zu bewegen oder gar aufzustehen.

In diesem Moment tat Mogens etwas sehr Mutiges, ja, für seine Verhältnisse geradezu Tollkühnes: Statt sich in Sicherheit zu bringen, so lange er es noch konnte, ging er zu dem Ghoul hinüber und beugte sich behutsam vor, um ihn genauer zu betrachten.

Die Kreatur war ganz eindeutig bei Bewusstsein, und Mogens' Herz machte einen jähen Satz in seiner Brust, als er dem Blick ihrer unheimlichen Augen begegnete und eindeutiges Erkennen darin las. Der Ghoul war nicht nur bei klarem Bewusstsein, er sah ihn an, und er wusste ganz genau, was er sah!

Dennoch beugte er sich mit klopfendem Herzen noch weiter vor, und ein neuerlicher, noch eisigerer Schauer lief ihm über den Rücken, als er die schreckliche Wunde sah, die in der Seite der Kreatur klaffte. Auch sie musste von einem der fallenden Steine herrühren und nahezu tödlich sein. Und dennoch, trotz der entsetzlichen Schmerzen, die er litt, und der Gewissheit seines sicheren Todes, bot der Ghoul sichtlich all seine Kraft auf, um jeden Laut zu unterdrücken und möglichst ruhig zu liegen.

»Professor, was....?« Miss Preusslers Schritte näherten sich rasch und brachen dann ebenso plötzlich wieder ab. »Großer Gott, was ist denn das?«

Es kostete Mogens einige Mühe, seinen Blick von dem sterbenden Ghoul loszureißen und zu ihr aufzusehen. Miss Preussler stand kaum einen Schritt hinter ihm und starrte aus weit aufgerissenen Augen auf die zitternde Kreatur hinab. Sie hatte die Hand vor den Mund geschlagen, wie um einen Schrei zu unterdrücken, und in dem alle Farben auslöschenden grünen Schein, der die Halle erfüllte, wirkte ihr Gesicht noch bleicher und verschreckter.

»Ich glaube fast, Graves hatte Recht«, murmelte Mogens. »Sie scheinen in eine Art... Starre verfallen zu sein. Ich weiß nicht, warum. Aber wir...«

Der Boden erzitterte. Diesmal war es mehr als nur ein kurzes Rütteln, sondern ein harter, dröhnender Schlag, der sie beide um ein Haar von den Füßen gerissen hätte und nicht nur ein lang anhaltendes, stöhnendes Echo in den Wänden ringsum hervorrief, sondern auch einen Hagel - gottlob ausnahmslos kleinerer - Steine und Trümmer von der Decke regnen ließ. Wie durch ein Wunder wurden weder er noch Miss Preussler getroffen. Die Luft war plötzlich so voller Staub, dass er kaum noch atmen konnte.

»Wir müssen... raus hier«, sagte er hustend. »Der ganze Laden bricht zusammen!«

Miss Preussler riss sich mit sichtlicher Mühe vom Anblick des sterbenden Ghoul los und starrte ihn an. Sie schien etwas sagen zu wollen, aber ihre Lippen bewegten sich nur stumm, und vielleicht zum allerersten Mal überhaupt sah Mogens in ihren Augen nicht nur eine vage Furcht, sondern blanke Todesangst. Mit einer sonderbar kühlen Sachlichkeit fragte er sich, was er tun sollte, wenn sie tatsächlich in Panik geriet und möglicherweise etwas Dummes tat. Miss Preussler wog gut doppelt so viel wie er, und wie sie gerade erst an diesem Morgen unter Beweis gestellt hatte, befand sie sich trotz ihres fortgeschrittenen Alters in ausgezeichneter körperlicher Verfassung. Mogens glaubte nicht, dass er ihrer Herr werden konnte, wenn sie die Kontrolle über sich verlor.

Der gefährliche Moment ging jedoch ebenso schnell vorbei, wie er gekommen war. Das bedrohliche Flackern in ihren Augen erlosch, und für einen - noch kürzeren - Moment sah sie fast peinlich berührt aus, um ein Haar die Kontrolle über sich verloren zu haben. Dann war auch das vorbei, und sie trat einen Schritt zurück und straffte demonstrativ die Schultern, nur um sogleich wieder näher zu kommen und ihm wortlos die Zündholzschachtel aus der Hand zu nehmen. Mit einem unerwarteten Geschick riss sie eines der Schwefelhölzchen an und hielt es an den Docht ihrer Grubenlampe. Mogens schloss geblendet die Augen. »Sie haben mir lang und breit erklärt, dass diese Stadt seit fünftausend Jahren existiert, Professor«, sagte sie ruhig. »Da wird sie wohl auch noch einige wenige weitere Stunden stehen bleiben.«

Mogens sparte es sich, ihr zu erklären, dass die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe nicht nur proportional zum Alter dieser Ruinen stieg, sondern mit jedem weiteren Erdstoß regelrecht explodierte. Stattdessen blinzelte er vorsichtig in die Runde, damit sich seine Augen wieder an das grellweiße Licht gewöhnten. So sehr er sich auch gegen den Gedanken sträubte, Miss Preussler hatte vermutlich sogar Recht, wenn auch aus vollkommen anderen Gründen. Selbst wenn sie den Rückweg auf Anhieb fanden - was Mogens bezweifelte -, würden sie mindestens eine Stunde brauchen, um die Oberfläche wieder zu erreichen. Sie hatten gar keine andere Wahl, als dieses schreckliche Risiko einzugehen.

»Fünftausend Jahre!«, fügte Miss Preussler in tadelndem Ton hinzu. »Wo doch jedermann weiß, dass Gott der HERR die Welt erst vor viertausend Jahren erschaffen hat! Wenn wir hier heraus sind, Professor, dann werden wir ein langes und sehr ernsthaftes Gespräch führen müssen.«

Mogens fragte sich flüchtig, ob er sich unter diesen Umständen überhaupt wünschen sollte, hier heraus zu kommen, verscheuchte diesen Gedanken aber als so albern, wie er war, und nahm ihr stattdessen die Streichholzschachtel wieder ab, um auch seine Lampe zu entzünden.

»Wo ist das Mädchen?«, fragte er.

Miss Preussler starrte ihn eine halbe Sekunde lang betroffen an, machte »Oh!« und war dann wie der Blitz verschwunden.

Mogens wartete darauf, dass sich zumindest ein leises Gefühl von Schadenfreude bei ihm einstellte, was aber nicht der Fall war, und schüttelte auch diesen Gedanken ab. Auch seine Lampe brannte mittlerweile und stach einen grellweißen Lichtkegel in die Halle. Im Bereich dieses Lichtes konnte er nun weit besser sehen als zuvor - es war schon erstaunlich, dachte er, wie schnell sich die menschlichen Sinne mit dem beschieden, was sie bekommen konnten, und einem das Gefühl gaben, ausreichend versorgt zu werden. Doch das weiße Licht löschte die mattgrüne Helligkeit dahinter umso gründlicher aus. Träge Staubschwaden bewegten sich lautlos durch den Lichtkegel und gaukelten ihm Bewegung vor, wo keine sein sollte.

Mogens schwenkte den zitternden Lichtfinger langsam weiter und versuchte, mehr Einzelheiten im hinteren Teil der Halle zu erkennen, aber es gelang ihm nicht. Das wandernde Licht vermittelte ihm nur einen allgemeinen Eindruck von Zerstörung, die noch weitaus schlimmer zu sein schien, als er bisher geglaubt hatte. Der gesamte hintere Teil der Decke schien heruntergebrochen zu sein. Meterdicke steinerne Pfeiler waren geknickt wie Schilfrohre, einfach in Stücke zerborsten, oder ragten wie die Masten versunkener Schiffe aus den versteinerten Wellen eines Schuttozeans. Hunderte, wenn nicht tausende Tonnen von Fels und Steinquadern waren kaum dreißig oder vierzig Schritte von ihm entfernt niedergestürzt. Wenn sich auch in diesem Teil der Kammer Ghoule aufgehalten hatten, als sich die Katastrophe ereignete, so hatten sie nicht die mindeste Überlebenschance gehabt.

Etwas Helles blitzte im vorbeihuschenden Schein der Lampe auf; eine Bewegung, die anders war als der träge Tanz der Staubschleier. Mogens schwenkte den Strahl wieder zurück, und tatsächlich: Unmittelbar am Fuße einer gewaltigen Schutthalde bewegte sich etwas. Hatte doch eines der unheimlichen Geschöpfe die Katastrophe überstanden?

Zögernd trat Mogens näher. Obschon ihm sein logischer Verstand sagte, dass von einem verletzten Ghoul mit großer Wahrscheinlichkeit keine Gefahr ausging, bewegte er sich mit äußerster Vorsicht; schließlich waren waidwunde Raubtiere bekanntermaßen die gefährlichsten.

Es handelte sich jedoch nicht um einen der Schakalköpfigen. Was sich im Licht der starken Karbidlampe träge wand, das war etwas, was Mogens im allerersten Moment an eines der ekelerregenden Schneckenwesen erinnerte, auf die sie oben im Lager gestoßen waren; nur dass es deutlich größer und noch um Einiges unappetitlicher anzusehen war. Niederstürzende Felsbrocken hatten es teilweise zerquetscht, sodass Mogens seine ursprüngliche Größe nur schätzen konnte, doch allein der übrig gebliebene Teil war deutlich größer als eine Männerhand, und der Körper war auch deutlich gegliedert; vielleicht, dass das Geschöpf sogar so etwas wie einen Kopf gehabt hatte. Die Verwandtschaft zu den Schneckenwesen war jedoch unübersehbar. Auch sein Fleisch war durchsichtig, sodass man das hektische Pulsieren sonderbar fremdartig anmutender Organe darunter erkennen konnte.

Mogens hob den Fuß, um die ekelhafte Kreatur vollends zu zerquetschen, überlegte es sich aber dann anders und schwenkte seine Lampe in einem langsamen Halbkreis. Er entdeckte noch mehr der widerwärtigen Geschöpfe, nahezu alle mehr oder weniger schlimm verletzt, dann blieb der tastende Lichtstrahl an einer Hand hängen, die aus den Trümmern ragte.

Einer menschlichen Hand.

Erneut lieferten sich sein Verstand und seine archaischen Instinkte ein ebenso stummes wie verbissenes Duell, während er sich bereits auf die Knie fallen ließ und mit beiden Händen zu graben begann. Wer immer unter dieser Schutthalde lag, hatte keine größere Überlebenschance gehabt wie die viel zäheren und robusteren Ghoule, aber das änderte nichts daran, dass unmittelbar vor ihm ein verschütteter Mensch lag.

Mogens begann immer hektischer und rascher zu graben, zerrte Steine und Schutt beiseite und wuchtete Trümmerbrocken weg, die er unter normalen Umständen nicht um einen Millimeter hätte bewegen können. Mit bloßen Händen grub und wühlte er sich tiefer in den Schuttberg hinein, bis er Unter- und Oberarm, Schulter und schließlich einen Teil eines Gesichtes freigelegt hatte. Dann, ebenso plötzlich, wie er zu graben begonnen hatte, ließ er die Arme wieder sinken.

Es gab nichts mehr, was er noch tun konnte. Abgesehen von einer Anzahl eher oberflächlicher Schrammen und Kratzer konnte er keinerlei nennenswerte Verletzungen entdecken, aber die weit offen stehenden Augen der dunkelhaarigen Frau waren leer.

»Da sind wir wieder, Professor«, erklang Miss Preusslers Stimme hinter ihm. »Stellen Sie sich nur vor, dieses arme Kind war doch tatsächlich...«

Sie brach mit einem erschrockenen Laut ab, als sie nahe genug herangekommen war, um zu sehen, was Mogens da gerade ausgegraben hatte, und auch Mogens fuhr beunruhigt zusammen, als er aufblickte und erkennen musste, dass Miss Preussler nicht allein gekommen war. Auch jetzt hatte sich das Mädchen mit beiden Händen an Miss Preusslers Schulter geklammert, und Mogens befürchtete schon das Schlimmste, als auch sie die Tote unter den Trümmern entdeckte. Ihre Augen, und auch ihr Gesicht, blieben jedoch vollkommen teilnahmslos. Wenn sie die Fremde kannte, so bedeutete sie ihr nichts.

Dennoch sagte Mogens rasch: »Vielleicht wäre es besser, wenn...«

Miss Preussler verstand, was er ihr sagen wollte, obwohl er den Satz nicht einmal ganz zu Ende sprach. Mit einer Art sanfter, aber trotzdem nachdrücklicher Gewalt löste sie die Hände des Mädchens von ihrem Oberarm, legte ihr zugleich den Arm um die Schultern und versuchte, sie ein kleines Stück zur Seite zu bugsieren, gerade weit genug, damit sie den schrecklichen Anblick nicht mehr in aller Deutlichkeit sehen konnte. Das Mädchen wich auch gehorsam einen Schritt zur Seite, dann jedoch blieb es stehen, versuchte mit der linken Hand nach Miss Preusslers Scheinwerfer zu greifen und gestikulierte mit der anderen in die Dunkelheit am oberen Ende der Trümmerhalde hinauf. Miss Preussler versuchte, sie noch weiter zurück zu delegieren, erreichte damit aber nicht mehr, als dass ihr Widerstand noch zunahm und ihr Gestikulieren hektischer wurde.

»Anscheinend will sie dorthin«, sagte Miss Preussler, wobei sie Mogens über die Schulter hinweg einen fast flehenden Blick zuwarf.

Mogens schüttelte entschieden mit dem Kopf. »Das ist viel zu gefährlich«, sagte er bestimmt. »Dort liegt alles in Schutt und Asche.« Allein schon bei dem Gedanken, noch tiefer in dieses Labyrinth aus Trümmern, gefährlichen Fallgruben und rasiermesserscharfen steinernen Klingen und Spitzen einzudringen, wurde ihm beinahe körperlich übel.

Das Mädchen stellte sein Gestikulieren und Zerren jedoch keineswegs ein, sondern riss nur immer fester an Miss Preusslers Arm, woran auch deren vergebliche Versuche, beruhigend auf sie einzureden, nichts änderten. Schließlich riss es sich los und begann auf Händen und Knien, aber dennoch mit erstaunlicher Behändigkeit, den Trümmerberg hinaufzuklettern.

Miss Preussler sah ihm einen Herzschlag lang fast entsetzt nach, dann aber erschien ein Ausdruck grimmiger Entschlossenheit auf ihrem Gesicht. Mit der linken Hand hob sie ihre Lampe hoch über den Kopf, mit der anderen raffte sie ihre Röcke und folgte ihm. Mogens spürte eine Art dumpfes Entsetzen, was aber nur einen winzigen Moment vorhielt, bevor es Resignation wich. Er sparte sich den Atem, Miss Preussler zurückrufen oder auf irgendeine andere Art zur Vernunft bringen zu wollen, sondern kletterte ihr gleich hinterher.

Der Aufstieg erwies sich als noch schwieriger, als er befürchtet hatte. Der Berg aus Trümmern und zerborstenen, riesigen Steinquadern und -platten war nicht annähernd so massiv, wie er ausgesehen hatte. Immer wieder lösten sich unter seinen Händen und Füßen einzelne Trümmerstücke, manchmal auch ein ganzes Segment, um polternd hinter ihm herabzustürzen, und Mogens war nicht annähernd so sicher, wie er es gerne gewesen wäre, sich das bedrohliche Knistern und Knacken, das aus der unsichtbaren Decke über ihren Köpfen herabzudringen schien, tatsächlich nur einzubilden. Zweimal stürzte er und schlitterte ein ganzes Stück des Weges zurück, den er sich gerade mühsam herauf gequält hatte, und er wäre fast selbst überrascht gewesen, wäre er nicht als Letzter oben angekommen.

Miss Preussler streckte ihm hilfreich den Arm entgegen, und wären Mogens' Erschöpfung und Frustration noch ein ganz kleines bisschen größer gewesen, und sein Stolz nur eine Winzigkeit kleiner, hätte er dieses Angebot sicher auch angenommen. So warf er ihr nur einen trotzigverärgerten Blick zu, robbte die letzten anderthalb Meter aus eigener Kraft nach oben - wobei er sich nicht nur einen Fingernagel abbrach, was erstaunlich schmerzhaft war, sondern auch so hart den rechten Oberschenkel anschlug, dass die Wunde unter seinem Verband wieder zu bluten begann - und langte schließlich, keuchend vor Erschöpfung und mit zusammengebissenen Zähnen, aber mit halbwegs intaktem Stolz, neben ihr an. Miss Preussler maß ihn mit einem sonderbaren Blick, von dem er nicht zu sagen vermochte, ob er nun geringschätzig oder auf eine missbilligende Art amüsiert war, sagte aber nichts dazu.

Ihre Mühe schien umsonst gewesen zu sein. Die junge Fremde war verschwunden, auch wenn es noch nicht allzu weit entfernt sein konnte - Mogens konnte ihre hektisch keuchenden Atemzüge und das Geräusch ihrer Schritte nicht weit vor sich in der Dunkelheit ausmachen, begleitet von dem ununterbrochenen Kollern und Poltern von Steinen, die sich unter ihren Schritten lösten. Aber es dauerte einen Moment, bis es ihm gelang, sie mit seinem Scheinwerferstrahl zu erfassen.

Nur eine halbe Sekunde später gesellte sich auch das Licht von Miss Preusslers Lampe hinzu, und das Mädchen drehte erschrocken den Kopf und sah aus zusammengekniffenen Augen zu ihnen zurück. Das Licht schien ihm Schmerzen zu bereiten, ihm vielleicht auch Angst einzuflößen - was es aber nicht daran hinderte, mit erstaunlichem Geschick und Schnelligkeit weiter zu stürmen, als hätte es sein Lebtag lang nichts anderes getan, als über Ruinen zu klettern und unsichtbaren Hindernissen auszuweichen. Es entfernte sich geradezu unglaublich schnell von ihnen. Noch ein paar Augenblicke, dachte Mogens, und selbst das starke Licht der beiden Scheinwerfer würde es nicht mehr erreichen.

Miss Preusslers Überlegungen schienen wohl in eine ähnliche Richtung zu gehen, denn sie setzte dazu an, sich hochzustemmen und ihre Verfolgung fortzusetzen, aber diesmal ergriff Mogens sie am Arm und hielt sie fest. »Wollen Sie sich umbringen?«, fragte er.

»Aber...«

»Kein Aber!«, schnitt ihr Mogens das Wort ab. Miss Preussler, die einen solchen Ton noch niemals zuvor von ihm gehört hatte, riss ungläubig die Augen auf und starrte ihn verdattert an, und Mogens fuhr, vielleicht eine Spur leiser, doch keinen Deut weniger entschieden, fort: »Wir müssen hier weg! Die Höhle kann jeden Moment einstürzen, begreifen Sie das nicht?«

Mogens war fast erleichtert, nun endlich doch so etwas wie Schrecken in ihren Augen zu erkennen. Einen Atemzug lang starrte sie ihn noch zweifelnd und fragend an, dann warf sie mit einem Ruck den Kopf in den Nacken und richtete auch ihren Scheinwerferstrahl auf die Decke.

Mogens wünschte sich fast, sie hätte es nicht getan. Seine Einschätzung, was die Standfestigkeit dieses unterirdischen Saales anging, war wohl eher zu optimistisch gewesen. Die ehemals prachtvoll bemalte Decke über ihnen hing tatsächlich durch wie ein nasses Segeltuch, und an zahllosen Stellen rieselte Staub herab. Nur ein einzelner, sonderbar gestaucht wirkender Stützpfeiler in ihrer unmittelbaren Nähe schien sie noch davon abzuhalten, endgültig herunterzustürzen, und wie es um dessen Standfestigkeit bestellt war, darüber wagte Mogens nicht einmal nachzudenken. Er überlegte fast panisch, wie lange der letzte Erdstoß zurücklag. Sicherlich nicht mehr als fünf oder sechs Minuten. Zwischen ihm und dem vorhergehenden Beben war deutlich mehr Zeit verstrichen, und zwischen diesem und denen davor noch einmal sehr viel mehr. Natürlich gab es keinen Beweis dafür, dass es überhaupt noch zu einer weiteren Erschütterung kommen würde, aber wenn die Beben aufeinander folgten, taten sie es offensichtlich in kürzer werdenden Abständen. Wenn die Erde noch einmal bebte, dann konnte dies buchstäblich jeden Augenblick geschehen, und wenn das passierte, denn würde diese ganze Halle wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzen.

»Aber wir können sie doch nicht einfach...«, begann Miss Preussler.

»Was?«, fiel ihr Mogens ins Wort. Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Glauben Sie mir, Miss Preussler - ich will dieses arme Geschöpf genauso wenig im Stich lassen wie Sie. Aber wir müssen hier weg. Und wir holen es ja nicht einmal mehr ein.«

Tatsächlich war das Geräusch der Schritte mittlerweile fast vollkommen verstummt, und als Mogens seinen Scheinwerferstrahl wieder in die Richtung lenkte, in die sich das Mädchen entfernt hatte, riss er nichts anderes als ein Durcheinander aus Trümmerstücken und tanzendem Staub aus der Dunkelheit. »Wollen Sie wirklich dort hinein?«, fragte er.

Miss Preussler schwieg. In ihrem Gesicht arbeitete es, und Mogens kam sich auf eine absurde Art feige und fast wie ein Verräter vor; weniger an dieser unbekannten jungen Frau, für die sie aller Wahrscheinlichkeit nach so oder so nicht mehr viel tun konnten, sondern vielmehr an Miss Preussler, die auf seine Hilfe und Unterstützung vertraut hatte, und an sich selbst.

Dennoch sagte er nach einigen weiteren Sekunden leise, diesmal fast sanft: »Miss Preussler... Betty... bitte. Wir müssen weg hier. Schnell.«

»Ja«, flüsterte sie. Täuschte sich Mogens, oder schimmerten ihre Augen plötzlich feucht? »Sie haben Recht, Professor.«

Mogens atmete erleichtert auf, und noch bevor er es ganz getan hatte, drang ein gellender, lang anhaltender Schrei aus der Dunkelheit vor ihnen.

Miss Preussler sprang so schnell auf, dass schon ihre eigene Bewegung sie wieder von den Füßen riss und sie hart auf die Knie fiel. Sofort war sie jedoch wieder auf den Füßen und stürmte, ihre Laterne hektisch hin und her schwenkend, wie um die bedrohliche Dunkelheit vor sich mit einer glühenden Schwertklinge aus Licht zu zerteilen, voran. Mogens war eine Sekunde lang so entsetzt, dass er nichts anderes tun konnte als dazuhocken und ihr nachzustarren. Dann aber sprang er hastig auf die Beine und rannte hinter ihr her.

Obwohl auch er jetzt keinerlei Rücksicht mehr nahm, fiel er immer rascher hinter Miss Preussler zurück. Mogens versuchte noch schneller auszugreifen, erreichte damit aber nicht mehr, als endgültig aus dem Takt zu kommen und beinahe zu stürzen. Als er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, war auch Miss Preussler nahezu aus dem Lichtkegel seines Scheinwerfers verschwunden, und vermutlich hätte er sie binnen weniger weiterer Momente endgültig aus den Augen verloren, wäre sie nicht plötzlich stehen geblieben. Ihr Lichtstrahl hörte auf, hektisch hin und her zu tanzen, und richtete sich auf einen Punkt, den Mogens nicht einsehen konnte. Er versuchte, noch schneller zu laufen, kam abermals ins Stolpern und hielt schließlich schwer atmend neben ihr an.

»Was zum Teufel haben Sie sich dabei ge...?« Der Rest seiner Frage blieb Mogens buchstäblich im Hals stecken, als er sah, wohin der Schein ihrer Grubenlampe fiel.

Unmittelbar vor Miss Preussler war die Hallendecke vollends zusammengebrochen, aber ein kleines Stück neben ihr ragte der mannshohe Rest einer zerborstenen Säule aus dem Schutt, die zumindest einen kleinen Teil davon wie durch ein Wunder noch gehalten hatte, sodass ein unregelmäßig geformter, vielleicht zwei Meter hoher Hohlraum darunter verblieben war.

Er war zur Todesfalle geworden. Mogens zählte auf Anhieb mindestens ein halbes Dutzend Gestalten, die mit zerschmetterten Gliedmaßen und Körpern in ihrem Blut dalagen. Mogens nahm an, dass sich die Frauen - es waren ausnahmslos Frauen, so weit er das auf den ersten Blick beurteilen konnte - hierher geflüchtet hatten, als der Saal rings um sie herum zusammenzustürzen begann. Der stehen gebliebene Pfeiler hatte sie davor bewahrt, von der Decke zermalmt zu werden, die sich überall rings um sie herum wie der Stempel einer überdimensionalen Presse herabgesenkt hatte, sie aber dennoch nicht retten können. Die Decke war nicht zur Gänze zusammengebrochen, trotzdem aber überall geborsten, sodass ein tödlicher Regen aus Steinquadern und Staub auf das halbe Dutzend unglückseliger Frauen heruntergestürzt war. Das Schicksal hatte ihnen noch zwei oder drei zusätzliche Sekunden geschenkt, aber nur, um sie dann umso grausamer zu treffen.

»Sind das... die Frauen, die Sie gesehen haben?«, fragte er stockend. Seine Stimme versagte fast.

»Ich... glaube«, antwortete Miss Preussler, ebenso leise und stockend wie er, und mit offensichtlich ebenso großer Mühe. Sie fuhr sich mit einer fahrigen Handbewegung über Kinn und Lippen. »Aber ich... bin nicht sicher, ob...« Ihre Stimme versagte endgültig. Mogens konnte ihre Verunsicherung verstehen. Der Tod war sicher schnell über das halbe Dutzend Frauen gekommen, aber nicht leicht. Sie waren buchstäblich gesteinigt worden und boten einen furchtbaren Anblick. Das einzig lebende Wesen in dem asymmetrisch geformten Hohlraum war das dunkelhaarige Mädchen, das zwei oder drei Schritte entfernt auf den Knien saß und sich leicht vor und zurück wiegte. Wenigstens hatte sie aufgehört zu schreien.

»Kümmern Sie sich um sie«, sagte Mogens. »Bitte.« Während Miss Preussler endlich ihre Starre überwand und auf das Mädchen zuging, raffte auch Mogens all seinen Mut zusammen und ließ sich neben dem ersten Leichnam in die Hocke sinken. Die Bewegung wurde von einem leisen, aber durchdringenden Knacken begleitet. Mogens redete sich zumindest ein, dass es seine Kniegelenke waren, und nicht die Decke über seinem Kopf.

Er hatte sich nicht getäuscht. Die Frau war tot, erschlagen von einem der zahllosen Trümmerstücke, die von der Decke gestürzt waren, und dem weit mehr überraschten als qualvollen Ausdruck auf ihrem Gesicht nach zu urteilen schien es zumindest schnell gegangen zu sein. Es fiel Mogens schwer, ihr Alter zu schätzen. Sie war nicht so jung wie das Mädchen, von Miss Preusslers Alter aber ungleich weiter entfernt als von dem seinen, wirkte aber dennoch zugleich auf eine Weise gebrechlich und ausgezehrt, als hätte das Leben mehr von ihr verlangt als von anderen selbst in einer mehrfachen Spanne der Jahre, die sie durchlitten hatte.

»Professor«, sagte Miss Preussler.

Mogens ignorierte sie und wandte sich der nächsten Toten zu. Und der nächsten. Und der nächsten.

Es war vielleicht das Entsetzlichste, was er jemals hatte tun müssen, aber Mogens zwang sich, jeden einzelnen Leichnam zumindest flüchtig zu untersuchen, schon, um auch sicher zu sein, dass auch tatsächlich kein Leben mehr in ihnen war - auch wenn er sich gleichzeitig dabei ertappte, beinahe schon panisch auf die Vorstellung zu reagieren, tatsächlich noch eine Überlebende zu finden, oder sogar mehr als eine.

»Professor!«, sagte Miss Preussler noch einmal. Ihre Stimme klang ein wenig schrill. Dennoch setzte Mogens seine Untersuchung fort, bis er sich davon überzeugt hatte, dass es tatsächlich keine Lebenden mehr gab, was ihn mit einem sonderbar zwiespältigen Gefühl erfüllte: einer Mischung aus dumpfer Trauer und einem seltsam ziellosen Zorn, aber auch einer spürbaren Erleichterung, für die er sich heftig schämte, die aber dennoch da war.

»Professor!«, sagte Miss Preussler zum dritten Mal, und diesmal glaubte Mogens auch in ihrer Stimme einen leisen Unterton von Panik wahrzunehmen. Alarmiert sah er auf - und seine Augen weiteten sich ungläubig.

Das Mädchen saß noch immer auf den Knien und wiegte sich langsam vor und zurück. Seine Augen waren geschlossen, und es presste ein schmales, in Lumpen gehülltes Bündel an die Brust. Mogens glaubte zu hören, dass sie ein leises, rhythmisches Summen von sich gab.

Von einem unguten Gefühl erfüllt, stand er auf und trat auf sie zu, und aus diesem unguten Gefühl wurde blankes Entsetzen, als er sah, was sich in dem Bündel befand, das sie mit so verzweifelter Kraft an sich presste.

Es war ein Kind.

Und zugleich auch nicht.

Ganz zweifellos handelte es sich um einen Säugling von allerhöchstens drei oder vier Monaten, aber ebenso zweifellos war es auch kein menschliches Baby. Seine Haut war von einem dichten, hellbraunen Flaum bedeckt, der später zu einem borstigen Fell werden würde. Seine Hände, so winzig sie auch noch sein mochten, ähnelten schon jetzt deutlich eher Raubtierklauen als menschlichen Fingern, und wo sein Gesicht sein sollte, starrte Mogens der dreieckige Schädel eines Schakals an.

Es war ein Ghoul.

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