28.

Auf dem ganzen Weg nach unten fragte sich Mogens vergeblich, warum er das eigentlich tat. Ob Graves vor Zorn schäumen würde oder nicht, war ihm gleich. Wenn es nach ihm ging, konnte Jonathan Graves getrost der Schlag treffen. Er war ihm keinerlei Loyalität schuldig, nicht nach allem, was er getan hatte und ganz offensichtlich noch zu tun beabsichtigte, aber er kam sich trotzdem vor wie ein Verräter.

Mogens tröstete sich damit, dass er Graves letzten Endes einen Gefallen tat. Er konnte nicht beurteilen, ob es Steffens angebliche Erdstöße wirklich gegeben hatte oder ob sie nur ein Vorwand waren, um dem Geologen Zutritt zur Ausgrabungsstelle zu verschaffen, aber er pflichtete Wilson bei, was seine Einschätzung Steffens anging. Graves unterschätzte ihn. Der Geologe würde nicht aufgeben, bevor er nicht gesehen hatte, was sie dort unten taten. Und er würde ganz bestimmt mehr sehen als Wilson.

Wie sich zeigte, litt Sheriff Wilson zwar nicht unter Klaustrophobie, stellte sich aber auf dem Weg nach unten weit ungeschickter an als selbst Mogens. Er brauchte gut doppelt so lange wie er, um die Leiter hinabzusteigen, und sein Fuß rutschte allein auf dem kurzen Stück zweimal von den Sprossen ab, sodass es Mogens im Nachhinein fast wie ein kleines Wunder vorkam, dass er den Grund des Schachtes erreichte, ohne abzustürzen und sich den Hals zu brechen - eine Vorstellung, die Graves vermutlich gefallen hätte.

»Ich fühle mich nicht wohl auf Leitern«, gestand Wilson mit einem nervösen Lächeln, als er endlich neben ihm angelangt war; mit ganz leicht zitternden Händen und schweißbedeckter Stirn. »Um ehrlich zu sein, ist mir am wohlsten, wenn ich mit beiden Füßen sicher auf der Erde stehe. Das war schon immer so, schon als ich ein Kind war.«

»Dann sollten Sie Gott jeden Abend in Ihrem Nachtgebet dafür danken, dass Sie nicht dreißig Jahre früher geboren worden sind«, sagte Mogens. Wilson zog fragend die linke Augenbraue hoch und Mogens fügte hinzu: »Dann hätten Sie Ihren Beruf im Sattel eines Pferdes ausüben müssen.«

Wilson lachte pflichtschuldig, aber Mogens sah ihm an, dass er diese Bemerkung nicht besonders lustig fand. Rasch deutete er mit einer Kopfbewegung hinter sich. »Kommen Sie. Ab jetzt bleiben wir auf festem Grund.«

Wilson murmelte etwas, das sich wie sehr witzig anhörte und fuhr sich mit dem Unterarm über die Stirn, um den Schweiß wegzuwischen, schloss sich ihm aber gehorsam an, als er sich umdrehte und gebückt in den niedrigen Tunnel eindrang.

»Sie haben elektrisches Licht«, sagte Wilson anerkennend. »Doktor Graves hat wirklich an nichts gespart.«

Mogens nickte nur und beschleunigte seine Schritte ein wenig. Er versuchte sich auf die Geräusche vor ihnen zu konzentrieren - die Frage, wie er reagieren sollte, wenn sie in die Höhle hineintraten und sich unversehens Graves gegenübersahen, stellte er sich vorsichtshalber erst gar nicht -, aber alles, was er hörte, war das gleichmäßige Tuckern des Generators. Jener sonderbare Unterton war noch darin, und Mogens schien es auch so, als wäre er lauter geworden.

»Wir haben nicht einmal in der Stadt überall elektrischen Strom«, fuhr Wilson hinter ihm fort. »In meinem Büro haben wir noch Gaslaternen - aber offen gesagt vermisse ich es auch nicht. Manchmal erschrecken mich all diese modernen Dinge richtiggehend. Sie machen das Leben nicht wirklich einfacher, finde ich. Es mag bequem sein, nur einen Schalter umlegen zu müssen, damit es hell wird, aber ich frage mich immer, ob wir uns letzten Endes damit wirklich einen Gefallen tun. Ich meine: Was, wenn all dieses neumodische Zeugs irgendwann einmal nicht mehr funktioniert? Eine Petroleumlampe kann jedes Kind reparieren. Früher haben wir sie uns selbst gebaut, aus einer alten Konservendose und einem Docht. Aber einen Generator?«

Mogens hütete sich, zu antworten. Wilson plapperte, nicht weil er etwas zu sagen hatte - oder gar wusste, worüber er sprach -, sondern um seine Nervosität zu überspielen. Anscheinend flößte ihm diese Umgebung mehr Unbehagen ein, als er zugeben wollte.

»Doktor Graves scheint ein sehr wohlhabender Mann zu sein«, fuhr Wilson im gleichen, nervösplappernden Ton fort. »Das alles hier muss ein Vermögen gekostet haben. Sie kennen sich schon lange?«

»Wir haben zusammen studiert«, antwortete Mogens. »Aber seit damals haben wir uns ein wenig aus den Augen verloren.«

Wilsons Frage irritierte ihn. Der Sheriff hatte vollkommen Recht. Graves hatte ihm erzählt, dass er dieses ganze Gelände gekauft hatte - und auch wenn es vermutlich nicht besonders teuer gewesen war, umsonst war es sicher nicht gewesen. Dazu kamen die Automobile, der Generator, die wissenschaftliche Ausstattung und die exorbitanten Saläre, die Graves seinen Kollegen mit Sicherheit ebenso gezahlt hatte wie ihm, um sie hierher zu locken... all das hatte ein Vermögen gekostet, und vermutlich nicht einmal ein kleines.

Mogens fragte sich, woher es kam. Graves hatte weder vermögende Eltern, noch hatte er während ihrer gemeinsamen Zeit in Harvard über nennenswerte Geldmittel verfügt. Ganz im Gegenteil war es meistens Mogens gewesen, der ihm das eine oder andere kurzfristige Darlehen gegeben hatte, obwohl er selbst alles andere als gut betucht gewesen war.

Sie erreichten das Ende des Tunnels und damit die große Höhle, die anders als am Morgen jetzt hell erleuchtet war; Tom hatte sämtliche elektrische Lampen eingeschaltet. Nur ein Stück jenseits der Stelle, an der sie am Morgen die Kiste abgestellt hatten, standen nun drei der großen sargähnlichen Behältnisse, gerade weit genug zur Seite gerückt, dass man aus dem Tunnel heraustreten konnte, ohne darüber zu stolpern. Wilson schenkte ihnen jedoch kaum Beachtung, sondern sah sich aus staunend aufgerissenen Augen um. Mogens registrierte voller Unbehagen, dass die Lattentür zu dem mit Hieroglyphen verzierten Gang weit offen stand, und auch dahinter Licht brannte. So schnell, wie er es wagte, ohne Wilsons Misstrauen durch zu große Hast noch weiter zu schüren, drehte er sich herum und deutete in die entgegengesetzte Richtung, wobei er Wilson wie durch Zufall den direkten Blick auf den Gang vertrat.

»Was Sie interessieren dürfte, ist dort hinten«, sagte er.

Wilson sah ihn beinahe lauernd an. »Woher wissen Sie, was mich interessiert, Professor?«, wollte er wissen.

»Sie wollten wissen, was wir hier gefunden haben«, antwortete Mogens achselzuckend. »Sie können sich gern auf eigene Faust umsehen. Allerdings bezweifle ich, dass Sie die wirklich interessanten Dinge auch nur erkennen würden.«

»Weil ich nur ein dummer kleiner Sheriff aus einem hinterwäldlerischen Kaff bin«, vermutete Wilson.

»Weil das, was wir entdeckt haben, auf den ersten Blick ziemlich unspektakulär ist«, antwortete Mogens in ganz bewusst leicht verärgertem Ton. »Aber wie gesagt: Es steht Ihnen frei, sich allein umzusehen. Wir haben keine Geheimnisse.« Es gelang ihm jetzt, einigermaßen beiläufig zu klingen, aber er wusste selbst nicht zu sagen, wie lange noch. Innerhalb der letzten zwanzig Minuten hatte er Wilson einen gehörigen Vertrauensvorschuss gegeben, aber der Sheriff strengte sich nicht unbedingt an, ihn einzulösen.

Wilson maß ihn auch jetzt noch gute fünf Sekunden lang - eine Ewigkeit - mit durchbohrenden Blicken, aber dann entspannte er sich sichtbar und sagte, nachdem er seinen Hut abgenommen hatte: »Bitte, Professor. Gehen Sie voraus.«

Zumindest innerlich atmete Mogens vorsichtig auf. Es gefiel ihm nicht, Wilson auf eine so überhebliche Art zu behandeln - schon, weil er sich mit einem derartigen Betragen mehr in Graves' Nähe rückte, statt sich von ihm abzugrenzen -, aber Wilson schien es geradezu darauf angelegt zu haben. Mogens ging betont langsam weiter und trat an den langen Arbeitstisch heran. Ohne Wilson, der die daraufliegenden Werkzeuge, Artefakte, Papiere und Bücher ebenso neugierig wie verständnislos musterte, auch nur eines Blickes zu würdigen, nahm er eine der Petroleumlampen, von denen sich mehr als ein halbes Dutzend in dem Durcheinander fanden, wenn man sich nur die Mühe machte, genau hinzusehen. Er entzündete den Docht, reichte die Lampe an Wilson weiter und entzündete eine zweite Sturmlaterne für sich. Wilson warf noch einen fast sehnsüchtigen Blick zu der offen stehenden Tür, schloss sich Mogens dann aber zu seiner insgeheimen Erleichterung an.

Jetzt, wo die Höhle fast taghell erleuchtet war, kam sie ihm größer vor als am Morgen, als er Graves auf die gleiche Weise gefolgt war wie Wilson nun ihm. Einen kurzen Moment lang war er nicht einmal sicher, ob er den richtigen Durchgang auf Anhieb finden würde, denn es gab davon deutlich mehr, als er bisher angenommen hatte. Die Höhle schien nur der Ausgangspunkt zu einem wahren Labyrinth unterirdischer Stollen und Gänge zu sein. Sie hatten nicht alle Zeit der Welt. Dass Graves sie bisher noch nicht entdeckt hatte, kam ihm schon fast wie ein kleines Wunder vor, aber gerade weil es so unwahrscheinlich war, begann er zu hoffen, dass sie diesen Besuch möglicherweise sogar unbehelligt zu Ende bringen würden. Was Graves hinterher sagte oder auch tat, war ihm vollkommen gleichgültig. Mogens hatte sich - wieder einmal - entschlossen, das Lager endgültig zu verlassen, und das noch heute. Er hoffte sogar, Wilson dazu überreden zu können, Miss Preussler und ihn mit zurück in die Stadt zu nehmen.

Diesmal war nicht er es, der über die Kabel und Schläuche stolperte, die sich aus der Generatorhöhle herausringelten.

Wilson übernahm das für ihn.

Der Lichtschein seiner Laterne flackerte, und Mogens hörte einen gedämpften Fluch und drehte sich gerade rechtzeitig um, um zu sehen, wie Wilson mit einem schon fast komisch anmutenden Ausfallschritt sein Gleichgewicht wieder fand, wobei ihm der Stetson vom Kopf fiel und davonrollte.

»Geben Sie Acht, wo Sie hintreten, Sheriff«, sagte Mogens. »Hier liegt eine Menge Zeug rum.«

»Ja, das ist mir aufgefallen«, antwortete Wilson verdrießlich. »Aber das hier sieht nicht aus, als wäre es dreitausend Jahre alt.« Sein Blick folgte dem handgelenksdicken schwarzen Kabel, über das er gestolpert war, bis zum Eingang der Nebenhöhle, aus der es sich herausringelte, und er bückte sich nach seinem Hut. Er setzte ihn zwar auf, machte aber in unverändert vorgebeugter Haltung zwei weitere Schritte und hob seine Laterne, um den Raum jenseits des Durchgangs auszuleuchten. Im nächsten Moment stieß er einen anerkennenden Pfiff aus.

»Na, das nenne ich einen modernen Generator!«

Mogens war mit einem einzigen Schritt neben ihm und musste nur einen Blick in die niedrige Höhle werfen, um Wilsons erstaunte Reaktion nachempfinden zu können.

Was sich vor ihnen im Licht der beiden Sturmlaternen erhob, das musste zweifellos der Generator sein, den Tom und Graves so mühsam hier heruntergeschafft hatten - aber er ähnelte nichts, was Mogens jemals gesehen hatte.

Das Gebilde - eine andere Bezeichnung dafür wollte Mogens beim besten Willen nicht einfallen - war gut vier Fuß hoch und sicher zweimal so lang, und es gab weder Räder noch Riemen oder Kolben, die sich drehten, um die erzeugte Kraft zu übertragen. Dafür bot ihr Äußeres einen um so bizarreren Anblick. Nicht nur, dass Mogens keinerlei bewegliche Teile oder auch nur irgendeinen vertrauten Mechanismus entdecken konnte, er sah nicht eine einzige gerade Kante, nicht einen rechten Winkel oder auch nur eine einzige glatte Fläche - und im Übrigen auch nicht eine einzige Schweißnaht oder Schraube. Das Gebilde, das schnaubend und ächzend vor ihnen stand, war von so tiefschwarzer Farbe, dass seine Flanken das Licht ihrer Sturmlaternen nicht reflektierten, sondern regelrecht aufzusaugen schien. Hätte Mogens dieses beunruhigend aussehende Gebilde in Worte fassen sollen, so hätte er wohl eher etwas Lebendiges beschrieben, ein schwarzes gekrümmtes Ding wie eine Schnecke, das eindeutig gewachsen aussah und nicht gemacht und das einem beim bloßen Hinsehen Unbehagen bereitete, wenn man es zu lange betrachtete.

»So etwas Verrücktes habe ich noch nie gesehen«, murmelte Wilson. Er sah Mogens fragend an. »Ist das überhaupt ein Generator?«

»Ich bin kein Ingenieur«, antwortete Mogens ausweichend. »Aber was soll es sonst sein?«

»Jedenfalls ist das nicht in einer amerikanischen Fabrik gebaut worden«, sagte Wilson, in einem Ton, als hätte für ihn schon allein die Vorstellung, Menschen aus dem Land der Freien und Tapferen hätten dieses Ding konstruiert, etwas Obszönes. »Wahrscheinlich stammt es aus Europa«, schloss er kopfschüttelnd. »Die bauen ja da die verrücktesten Sachen.«

Mogens war erleichtert, als Wilson endlich zurücktrat und sich aufrichtete. Die Höhle versank wieder im Dunkel, doch während Mogens sich umdrehte und weiterging, musste er das unheimliche Empfinden niederkämpfen, von unsichtbaren gierigen Augen angestarrt zu werden. Er hatte das Gefühl, einen Frevel begangen zu haben, einfach nur, indem er dieses bizarre Gebilde angesehen hatte.

Er schüttelte den Gedanken ab und ging so schnell weiter, dass Wilson alle Mühe hatte, mitzuhalten. Es verging nur noch ein Augenblick, bis sie den Durchgang erreichten und Mogens sich bückte, um hindurchzutreten. Er reduzierte sein Tempo gerade weit genug, um halbwegs sicher durch den niedrigen Stollen zu gehen und schloss dabei - ohne es selbst wirklich zu merken - ganz instinktiv die Augen, um die furchteinflößenden Schatten nicht sehen zu müssen, die am Ende dieses Tunnels lauerten. Hinter ihm begann Wilson lauthals zu fluchen, als sein Hinterkopf auf die gleiche unsanfte Weise Bekanntschaft mit dem harten Fels machte wie der Mogens' vor wenigen Stunden, und das - wie es sich anhörte - gleich mehrmals. Er trug den Hut, den er vor kaum einer Minute erst aufgesetzt hatte, wieder in den Händen, als er hinter Mogens aus dem Stollen trat.

»Sie hätten mich warnen können, Professor«, grummelte er. »Das ist ja lebensgefährlich.«

»Man gewöhnt sich daran«, antwortete Mogens. »Ihnen ist doch nichts passiert, hoffe ich?«

Wilson schenkte ihm einen giftigen Blick und setzte umständlich seinen Hut wieder auf, bevor er antwortete. »Ich hoffe, diese halsbrecherische Kletterei lohnt sich auch«, knurrte er.

»Ganz bestimmt«, versicherte Mogens. »Kommen Sie!« Er hob seine Lampe, drehte sich um und ging mit raschen Schritten zu derselben Stelle, die ihm Graves am Morgen gezeigt hatte. Wilson folgte ihm, wenn auch langsamer, und er blieb eine ganze Weile schweigend und mit angestrengt gerunzelter Stirn neben ihm stehen und starrte auf die Wand.

»Ich fürchte, Sie müssen mir ein wenig helfen, Professor«, sagte er nach einer Weile.

»Sie sehen es nicht?« Mogens schwenkte seine Lampe langsam hin und her, sodass der Lichtschein die Jahrtausende alten Felszeichnungen aus der ewigen Dunkelheit rissen. Vielleicht war das keine gute Idee, denn die flackernde Aufeinanderfolge von Licht und Schatten offenbarte die uralten Malereien nicht nur den Blicken der Beobachter, sondern schien sie gleichsam auch zu unheimlichem Leben zu erwecken.

»Ich sehe es schon«, antwortete Wilson. Er hob die Schultern. »Nur ist mir nicht ganz klar, was daran so außergewöhnlich sein soll.«

»Das sind Felsmalereien«, erklärte Mogens. »Sie sind wahrscheinlich mehrere tausend Jahre alt.«

»Ich weiß, was Felszeichnungen sind«, antwortete Wilson scharf. »Wie gesagt, ich bin vielleicht nur ein dummer kleiner Sheriff vom Lande, aber sogar ich habe schon einmal von Höhlenmalereien gehört. Stellen Sie sich vor, ich habe sogar schon einmal welche gesehen. Vor ein paar Jahren, in Utah.«

Die Feindseligkeit in seiner Stimme amüsierte Mogens, aber er verzog keine Miene. »Solche ganz bestimmt noch nicht, Sheriff. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Selbst die meisten meiner Kollegen würden den Unterschied nicht bemerken - wenigstens nicht auf den ersten Blick.«

»Ich sehe ihn nicht einmal auf den dritten«, sagte Wilson.

»Aber er ist da, glauben Sie mir. Diese Malereien sind etwas ganz Besonderes. Wenn wir erst einmal so weit sind, unsere Entdeckung der Öffentlichkeit präsentieren zu können, dann müssen eine Menge Lehrbücher über die Frühgeschichte unseres Landes neu geschrieben werden.«

Wilson sah ihn zweifelnd an. »Deswegen?«

»Sie dürften gar nicht da sein«, antwortete Mogens. »Nach allem, was wir bisher über dieses Land zu wissen geglaubt haben, hat es hier noch gar keine Menschen gegeben, als diese Wandmalereien entstanden sind.« Er legte eine ganz genau bemessene Pause ein. »Verstehen Sie nun, warum Doktor Graves so sehr darauf bedacht ist, dass niemand frühzeitig von unserer Entdeckung erfährt? Das hier ist vielleicht der sensationellste archäologische Fund des Jahrhunderts!«

»Wenn Sie es sagen, Professor.« Wilson wirkte jetzt eindeutig hilflos, und Mogens musste sich beherrschen, um nicht triumphierend zu grinsen. Er hatte Wilson richtig eingeschätzt. So wenig, wie der Sheriff irgendetwas anderes als Überheblichkeit von einem Wissenschaftler wie ihm erwartete, so sehr war er nur zu bereit, jede Erklärung zu glauben, die Mogens ihm anbieten würde, so lange sie sich nur akademisch genug anhörte.

»Ich gehe ein ziemliches Risiko ein, indem ich Ihnen das hier zeige, Sheriff«, fuhr Mogens fort, »aber ich denke, ich kann Ihnen vertrauen. Wir brauchen nur noch wenige Tage, um unsere Arbeit hier abzuschließen. Schauen Sie sich ruhig um. Sehen Sie hier irgendetwas, das nach einem Erdbeben aussieht? Die größte Maschine, die wir einsetzen, ist der Generator, der unseren Strom erzeugt.«

»Doktor Steffen war der Meinung, dass Sie möglicherweise Sprengladungen benutzen, um Ihre Ausgrabungen voranzutreiben.«

»Sprengladungen?« Mogens lachte. »Kaum. Doktor Steffens Fähigkeiten als Wissenschaftler in Ehren, aber er ist Geologe, kein Archäologe. Sprengstoff ist sein Metier. Wir arbeiten hier eher mit Zahnbürste und Pinsel als mit Dynamit.«

Hinter Wilson ertönte ein leises, rhythmisches Klatschen. Mogens fuhr erschrocken herum und hob seine Lampe, und Graves klatschte noch zweimal in die Hände und trat dann vollends in den Lichtschein der Sturmlaterne.

»Bravo«, sagte er kalt. »Das war ja eine flammende Rede. Hast du jemals daran gedacht, Prediger zu werden, Mogens? Das Talent dazu hast du auf jeden Fall.«

Er klatschte noch einmal in die Hände und kam einen Schritt näher, und selbst das kalte falsche Lächeln in seinen Augen erlosch und machte blanker, kaum noch verhaltener Wut Platz. »Darf ich fragen, was du hier tust?«

»Professor VanAndt hat mich auf meinen ausdrücklichen Wunsch hierher geführt«, mischte sich Wilson ein.

Graves ignorierte ihn. »Ich habe dich gefragt, Mogens«, wiederholte er. »Ich dachte, ich hätte mich klar genug ausgedrückt, was die Anwesenheit von Fremden hier unten angeht.«

Mogens öffnete den Mund, um sich zu verteidigen, aber Wilson kam ihm zuvor, indem er mit einem schnellen Schritt zwischen Graves und ihn trat. »Es ist ganz allein meine Entscheidung gewesen, hierher zu kommen, Doktor Graves«, sagte er kalt.

Graves' Blick löste sich fast widerwillig von Mogens' Gesicht und wandte sich dem Sheriff zu. Der brodelnde Zorn in seinen Augen machte einem Ausdruck fast ebenso großer Verachtung Platz. »Ich fürchte, Sie haben hier nichts zu entscheiden, Sheriff«, sagte er. »Sie befinden sich hier auf Privatbesitz. Ich dachte, ich hätte das schon erwähnt.«

Wilson zog ein eng zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Hemdtasche, das er Graves hinhielt. Graves griff jedoch nicht danach, sondern starrte es nur an, als wäre es irgendetwas Ekelhaftes.

»Ich fürchte, Sie sind es, der sich im Irrtum befindet, Doktor Graves«, sagte er. »Das hier ist ein richterlicher Beschluss, der mich ermächtigt, Ihren Privatbesitz zu betreten und mich darauf umzusehen.«

Mogens war überrascht. Wenn Wilson einen Gerichtsbeschluss hatte, warum hatte er dann nichts davon gesagt?

»Ein Gerichtsbeschluss?«, vergewisserte sich Graves. Er klang überrascht; überrascht und ungläubig und auch ein wenig erschrocken zugleich, aber er rührte noch immer keinen Finger, um nach dem Blatt zu greifen, das Wilson ihm auffordernd hinhielt.

Schließlich seufzte der Sheriff und steckte es wieder ein. »Ich habe ihn noch in der vergangenen Nacht beantragt. Stellen Sie sich vor, selbst bei uns auf dem Lande gehen die Dinge manchmal schnell.«

»Vergangene Nacht?« Graves nickte anerkennend. »Steffen verliert keine Zeit. Wie viel bezahlt er Ihnen, Sheriff? Ich frage nur, weil ich unter Umständen bereit sein könnte, sein Angebot zu überbieten.«

Mogens stand noch immer halb hinter Wilson, sodass er sein Gesicht nicht erkennen konnte, aber er sah, wie Wilson heftig zusammenzuckte. »Das hat mit Doktor Steffen nicht das Geringste zu tun«, schnappte er. »Ich habe mit dem Friedensrichter gesprochen, gleich nachdem ich letzte Nacht draußen bei der Unfallstelle war und die Spuren gesehen habe.«

»Spuren?«

»Jemand hat die Leichen verschwinden lassen«, erinnerte Wilson.

»Und?«, fragte Graves. Er versuchte, gelassen zu klingen, aber ganz gelang es ihm nicht. Irgendetwas geschieht mit seinem Gesicht, dachte Mogens schaudernd. Der Ausdruck überheblicher Verachtung war nach wie vor in seinen Augen, aber darunter erwachte allmählich noch etwas anderes, düstereres, das sich lautlos und schnell in seinem gesamten Gesicht auszubreiten begann. Mogens musste sich beherrschen, um nicht erschrocken einen Schritt vor ihm zurückzuweichen. Er fragte sich, wieso Wilson es nicht sah.

»Die Leute hier reagieren empfindlich, wenn es um die Ruhe ihrer Toten geht, Doktor«, antwortete Wilson. »Seit Wochen geschehen sonderbare Dinge auf dem Friedhof. Die Leute sagen, man hört des Nachts unheimliche Geräusche, und manche meinen, seltsame Schatten gesehen zu haben. Und nun sind zwei Leichname verschwunden. Vielleicht drei.«

»Und?« Graves hob betont desinteressiert die Schultern. »Was geht mich das an? Hätten Sie die beiden Toten abtransportiert, wie es eigentlich Ihre Aufgabe gewesen wäre, statt sie wie Müll liegen zu lassen, wäre das sicherlich nicht passiert.«

Mogens hielt instinktiv den Atem an, aber zu seiner Überraschung nahm Wilson auch diese neuerliche Provokation hin, ohne darauf zu reagieren.

»Es waren keine Tiere, die sich an den Leichen zu schaffen gemacht haben«, sagte er ruhig.

»Keine Tiere?« Graves lachte gehässig. »Was denn sonst?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Wilson. »Es gibt Spuren, Doktor Graves. Spuren, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe. Aber es waren nicht die Spuren eines Tieres. Jedenfalls nicht die eines Tieres, das ich kenne.«

»Das ist lächerlich«, sagte Graves. »Worauf wollen Sie hinaus?«

»Auf nichts«, antwortete Wilson. »Ich sage nur, was geschehen ist. Die Leute reden. Was hier vorgeht, macht ihnen Angst. Und Leute, die Angst haben, tun manchmal Dinge, die sie besser nicht tun sollten.«

Die Düsternis schien nun schneller aus Graves' Augen hervorzubrechen, und etwas begann unter seinem Gesicht Gestalt anzunehmen. Wieso sah Wilson es nicht?

»Ich fasse das als Drohung auf, Sheriff«, sagte Graves kalt.

Wilson hob gleichmütig die Schultern. »Das Wort Warnung wäre mir lieber. Aber ganz wie Sie wollen.«

Er schien noch mehr sagen zu wollen, beließ es aber dann bei einer Mischung aus einem Kopfschütteln und einem Achselzucken und trat so weit zurück, dass er Graves und Mogens zugleich im Auge behalten konnte. Etliche Sekunden lang sah er sie abwechselnd und mit wechselndem Ausdruck in den Augen an, dann hob er die Hand und berührte damit die Brusttasche, in die er seinen Durchsuchungsbefehl gesteckt hatte.

»Das hier gibt mir das Recht, Ihren ganzen Laden sofort dicht zu machen«, sagte er kühl. »Bedanken Sie sich bei Professor VanAndt, dass ich es nicht tue.«

Graves warf Mogens einen raschen Blick zu. Er wirkte nicht dankbar, sondern im Gegenteil beinahe noch wütender. Aber er beherrschte sich. »Ganz wie Sie wünschen, Sheriff.«

Wilson wandte sich direkt an Mogens. »Würden Sie mich dann zurückbringen?«

»Selbstverständlich.« Mogens machte einen Schritt, aber Wilson hob noch einmal die Hand, und er blieb wieder stehen.

»Noch etwas«, sagte Wilson. »Bis die Angelegenheit endgültig aufgeklärt ist, muss ich Sie bitten, das Lager nicht zu verlassen.«

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