4.

»Ich wurde erst am nächsten Morgen wieder wach«, schloss Mogens erschöpft seinen Bericht. Während der letzten Minuten war seine Stimme immer leiser geworden, und die letzten Worte hatte er fast nur noch geflüstert. Sein Hals schmerzte, und obwohl Tom ihm die nassen Kleider ausgezogen und ihn in gleich drei warme Wolldecken gewickelt hatte, zitterte er vor Kälte noch immer am ganzen Leib. »Das ist jetzt neun Jahre her, aber ich habe den Anblick dieser grässlichen Kreatur niemals vergessen. Und vergangene Nacht habe ich sie wiedergesehen.«

Tom goss einen weiteren Becher Kaffee ein - es war der dritte, wenn Mogens richtig gezählt hatte, möglicherweise aber auch schon der vierte - und reichte ihn Mogens, bevor er sich neben ihn auf die Bettkante setzte. Mogens nahm einen tiefen Schluck und schloss beide Hände um den emaillierten Kaffeebecher, aber weder die innere noch die äußere Wärme zeitigten die erhoffte Wirkung. Irgendetwas in ihm schien zu Eis erstarrt zu sein, endgültig und unwiderruflich.

»Aufm Friedhof«, vermutete Tom.

Mogens nickte. Er nahm einen weiteren Schluck. Der Kaffee war so heiß, dass er sich fast die Zunge verbrannte, aber das Gefühl, innerlich zu Eis zu erstarren, wurde eher noch schlimmer. »Ja«, sagte er. »Ich habe die ganzen Jahre versucht, mir einzureden, dass alles nur eine schreckliche Halluzination gewesen ist. Der Schock über Janices Tod, oder vielleicht auch ausgelöst von dem Schlag auf den Hinterkopf. So etwas kommt vor, weißt du? Menschen verlieren ihr Gedächtnis oder glauben sich an Dinge zu erinnern, die sie niemals erlebt haben.«

»Ich hab davon gehört«, sagte Tom.

»Aber gestern Nacht habe ich dieses Geschöpf gesehen.« Mogens' Stimme wurde schrill. »Ich habe ihm gegenübergestanden, Tom, Auge in Auge! Und ich schwöre dir, es war dieselbe Kreatur, die ich damals auf dem Friedhof gesehen und für Graves gehalten habe und die Janice...« Seine Stimme versagte, aber Tom verstand ihn trotzdem. Er sagte zwar nichts, aber in seinen Augen erschien ein Ausdruck ehrlichen Mitgefühls.

»Und was passierte dann?«, fragte er nach einer Weile. »Damals in Harvard. Ich meine: Hat man Ihre Freundin gefunden?«

»Nein«, antwortete Mogens. Er nippte - diesmal vorsichtiger - wieder an seinem Kaffee und schluckte schwer, ehe er weitersprach. »So wenig wie Marc und Ellen. Nachdem ich erwacht war, hat man mir erzählt, dass der Stollen eingestürzt ist, in den dieses... Ding Janice gezerrt hat. Ich selbst bin nie wieder in dieses Mausoleum gegangen, aber ich habe gehört, dass sie sogar ein paar Yards weit gegraben haben, bis sie wieder aufhören mussten, weil der Tunnel einzustürzen drohte und es einfach zu gefährlich wurde. Sie haben keine Spur von ihr gefunden. Weder von Janice noch von den beiden anderen.«

»Und Sie?«, fragte Tom mitfühlend.

»Was glaubst du?«, antwortete Mogens bitter. »Für die Polizei war der Fall ganz eindeutig. Sie hatten das aufgebrochene Schloss und den geöffneten Sarg. Zwei junge Leute, die sich nachts auf dem Friedhof treffen, und von denen einer eine allgemeine Vorliebe für alle möglichen obskuren Dinge hat...« Er hob mit einem angedeuteten Seufzen die Schultern. »Und dazu noch die Kautschukmaske, die sie in meiner Jackentasche fanden. Nein, Tom - für den ermittelnden Polizeibeamten war der Fall schon aufgeklärt, bevor ich das Bewusstsein zurückerlangte.«

»Und Sie haben niemandem von diesem... Geschöpf erzählt?«, fragte Tom.

Mogens seufzte noch tiefer. »Das war mein schwerster Fehler, Tom. Ich habe davon erzählt, aber das hat alles nur noch viel schlimmer gemacht. Niemand hat mir geglaubt. Weder die Polizei, noch meine Kollegen und Professoren, oder die, die ich für meine... Freunde gehalten habe.« Er machte ein leises, bitteres Geräusch, von dem er selbst nicht genau wusste, ob es ein Lachen oder das genaue Gegenteil war. »Die meisten hielten es für eine dumme Ausrede. Einige hielten mich schlichtweg für verrückt. Niemand hat mir geglaubt. Ich glaube, ich hätte es auch nicht, wäre es anders herum gewesen.«

»Aber Graves!«, entfuhr es Tom. »Ich... ich meine: der Doktor! Er muss das Monster doch auch gesehen haben?«

»Das dachte ich auch«, sagte Mogens leise. »Aber da habe ich mich wohl geirrt.«

Tom sah ihn zweifelnd an. Er sagte nichts, aber Mogens spürte, dass es ihm schwer fiel, dieser letzten Bemerkung zu glauben. Und warum sollte er auch? Sie war gelogen. Die Wahrheit war, dass Graves abgestritten hatte, in dieser Nacht auch nur auf dem Friedhof gewesen zu sein. Die Wahrheit war, dass es Graves gewesen war, der den untersuchenden Polizeibeamten von seiner Obsession für alles Okkulte und Übersinnliche erzählt hatte, und die Wahrheit war, dass er, Mogens, vier Monate in einer Gefängniszelle verbracht hatte, und nur der Tatsache, dass die Universität einen Skandal gescheut und interveniert hatte, hatte er es zu verdanken, dass er sich nicht, aller seiner akademischen Grade entkleidet, anschließend auf der Anklagebank eines Gerichts wiedergefunden hatte. Graves war es gewesen, der eine Woche später im Zug nach New Orleans gesessen hatte, um die Stelle anzutreten, die eigentlich für ihn vorgesehen gewesen war, und in die Wohnung einzuziehen, die auf Janice und ihn gewartet hatte. Und Mogens hatte in der Folge feststellen müssen, dass es schwarze Listen nicht nur gab, sondern dass sie offensichtlich zu den meistgelesenen Schriften des Landes gehörten.

Nichts von alledem sprach er aus. Er hatte Tom schon deutlich mehr verraten als irgendeinem anderen Menschen auf der Welt vor ihm - tatsächlich hatte er mit niemandem über die Ereignisse jener schrecklichen Nacht gesprochen, seit er Harvard verlassen hatte -, aber er wollte ihn nicht auch noch mit seinen persönlichen Problemen belasten.

Toms Blick machte ihm jedoch klar, dass er das meiste von dem, was Mogens gerade nicht ausgesprochen hatte, wohl ohnehin erraten haben musste; wenn schon nicht im Detail, so doch zumindest dem Sinn nach. Mogens hatte ja auch von Anfang an keinen Hehl daraus gemacht, dass Graves und er keine Freunde waren. Tom schien auch etwas dazu sagen zu wollen, doch in diesem Moment wurden draußen Stimmen laut, und der Junge stand stirnrunzelnd auf, ging zur Tür und öffnete sie, um hinauszusehen. Auch Mogens versuchte einen Blick nach draußen zu erhaschen, aber Tom hatte die Tür nur einen Spaltbreit geöffnet und verstellte ihm zusätzlich den Blick.

»Bin gleich zurück, Professor«, sagte er, trat mit einem raschen Schritt vollends hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Mogens sah nur ein rasches Flackern der grau heraufziehenden Dämmerung, bevor sich die Tür wieder schloss, aber immerhin hörte er die Stimmen für diesen Moment deutlicher, sodass er nicht nur eine davon als die von Jonathan Graves identifizieren konnte, sondern auch ihren erregten Tonfall hörte. Anscheinend war dort draußen ein heftiger Streit im Gange. Mogens überraschte dies jedoch ebenso wenig, wie es ihn im Grunde interessierte. Er konnte sich niemanden vorstellen, mit dem Jonathan Graves nicht über kurz oder lang in Streit geriet.

Seine Gedanken waren im Moment jedoch weit mehr mit Tom beschäftigt - und dem zurückliegenden Abend, natürlich. Er erinnerte sich nicht, was weiter auf dem Friedhof passiert war, und ebenso wenig konnte er sagen, wie er wieder hierher in seine Blockhütte gekommen war. Tom hatte ihm erzählt, dass er ihn gefunden und hierher zurückgetragen hatte, und wie die Dinge lagen, hatte Mogens keinen Grund, am Wahrheitsgehalt dieser Behauptung zu zweifeln - auch wenn es ihm zugegebenermaßen schwer fiel, sich vorzustellen, dass dieser schmächtige Junge ihn ganz allein über die fünf Fuß hohe Friedhofsmauer gehoben und dann bis hierher getragen haben sollte. Auf der anderen Seite: Warum sollte Tom ihn belügen? Er hatte keinen Grund dazu, und davon abgesehen weigerte sich Mogens einfach, sich Tom als Lügner vorzustellen. Er hatte selten einen Menschen getroffen, zu dem er rascher und vorbehaltloser Vertrauen gefasst hatte als zu diesem sanften, fast femininen Jungen. Auch dass er sich ihm so ganz selbstverständlich anvertraut hatte, machte ihm erstaunlich wenig aus. Als gebildetem Mann war ihm natürlich klar, dass er sich in einer Ausnahmesituation befunden hatte; einer Lage, in der er einfach mit jemandem reden musste, um nicht an dem Entsetzen zu zerbrechen, das die Erinnerungen heraufbeschworen hatten. Wahrscheinlich hätte er sich jedem anvertraut, der bei seinem Erwachen neben seinem Bett gesessen hätte; selbst wenn es Miss Preussler gewesen wäre.

Das Besondere war, dass es ihm bei Tom nichts ausmachte. Nachdem er damals mit Schimpf und Schande aus Harvard davongejagt worden war, hatte er die Geschichte niemandem erzählt, und noch vor Tagesfrist hätte er geschworen, dieses Geheimnis eines Tages mit ins Grab zu nehmen. Dennoch hatte es ihm nichts ausgemacht, Tom von den Ereignissen jener schicksalhaften Nacht erzählt zu haben. Bei jedem anderen wäre ihm diese Entgleisung so peinlich gewesen, dass er unverzüglich abgereist wäre, um nie wieder zurückzukommen. Bei Tom aber war sein Geheimnis in guten Händen, das spürte er einfach. Immerhin hatte ihm der Junge gestern Nacht möglicherweise das Leben gerettet. Wenn er nicht rechtzeitig genug aufgetaucht wäre... Mogens schauderte bei dem bloßen Gedanken, allein und schutzlos der Gnade dieser hundeköpfigen Bestie ausgeliefert zu sein.

Könnte er sich doch wenigstens erinnern, was geschehen war, nachdem er sich herumgedreht und so unversehens dem Schrecken aus seiner Vergangenheit gegenübergestanden hatte! Aber da war nichts. Seine Erinnerungen endeten mit dem Anblick jenes grässlichen, wolfsschnäuzigen Gesichts, und das Nächste, was er gesehen hatte, war Tom, der auf einem Schemel neben seinem Bett saß und geduldig darauf wartete, dass er erwachte.

Die Tür ging auf, und Tom kam zurück. Mogens erinnerte sich an den lautstarken Streit, dessen Ohrenzeuge er zumindest zum Teil geworden war, und versuchte in Toms Gesicht zu lesen, aber es gelang ihm nicht. »Was war los?«, fragte er gerade heraus. Als Tom auch darauf nur mit einem ausweichenden Schulterzucken antwortete, fügte er hinzu: »Du bekommst doch meinetwegen hoffentlich keinen Ärger mit Graves?«

»Nein«, antwortete Tom. »Es ist einer von den Maulwürfen.«

Im ersten Moment sah Mogens ihn nur verständnislos an, aber dann erinnerte er sich an das Gespräch, das Tom und er gestern im Wagen geführt hatten.

»Einer der Geologen?«

»Sie schleichen ständig um das Lager und auf dem Friedhof herum«, bestätigte Tom. »Doktor Graves ist sehr wütend darüber. Einmal hat er sogar damit gedroht, den nächsten von ihnen zu erschießen, den er auf dem Grabungsfeld erwischt.« Er hob die Schultern. »Ich glaube zwar nicht, dass er das wirklich tun würde, aber es klang ziemlich überzeugend.«

Zumindest in einem Punkt stimmte Mogens mit Tom überein: Auch er glaubte nicht, dass Graves' Drohung, auf die Geologen zu schießen, ernst gemeint gewesen war. Jonathan Graves verfügte über weit subtilere Mittel, seine Ziele zu erreichen.

»Möchten Sie noch 'nen Kaffee, Professor?«, fragte Tom.

Mogens reichte ihm zwar den leeren Becher, schüttelte aber zugleich auch den Kopf und bedeutete ihm mit einer Geste, ihn auf den Tisch zu stellen. »Ich glaube, ich habe mich noch gar nicht bei dir bedankt, Tom«, sagte er. »Ohne dich wäre ich jetzt nicht mehr am Leben.«

»Unsinn«, widersprach Tom impulsiv, machte für eine Sekunde ein erschrockenes Gesicht und verbesserte sich dann hastig und mit einem verlegenen Lächeln: »Ich meine: Wie kommen Sie denn darauf?«

»Nun, wenn mich dieses Ungeheuer...«

»Aber da war kein Ungeheuer, Professor«, fiel ihm Tom ins Wort.

»Was soll das heißen, kein Ungeheuer!«, sagte Mogens. »Ich habe es doch genau gesehen!«

Tom antwortete nicht gleich, und als er es tat, sprach er mit leiserer, veränderter Stimme und ohne Mogens dabei ins Gesicht zu sehen. »Ich fürchte, ich bin es, der sich bei Ihnen entschuldigen muss, Professor«, sagte er. »Sie haben gestern Abend kein Ungeheuer gesehen, sondern mich.«

»Dich?« Mogens schüttelte heftig den Kopf. »Ganz bestimmt nicht, Tom. Ich weiß, was ich gesehen habe. Ich wollte das Licht einschalten, aber es funktionierte nicht, und da habe ich mich daran erinnert, dass du gesagt hast, ich brauchte nur nach dir zu rufen, wenn ich etwas wollte. Also bin ich nach draußen gegangen, um nach dir zu suchen. Dabei habe ich Schritte gehört, und einen Schatten gesehen. Jemand ist durch das Lager geschlichen.«

»Wir schalten den Generator aus, sobald der Letzte den Tempel verlassen hat«, sagte Tom. »Er benötigt 'ne Menge Treibstoff, der eigens aus Frisco hergeschafft werden muss.« Er hob die Schultern. »Ich hätt Ihnen das sagen sollen. Verzeihen Sie.«

Als ob das jetzt eine Rolle spielte! »Ich habe jemanden gesehen«, beharrte Mogens. »Und ich bin ihm nachgegangen. Er ist durchs Lager geschlichen und hinaus zum alten Friedhof!«

»Das war ich«, sagte Tom.

Mogens starrte ihn an. »Du?«

»Ich mach jeden Abend eine Runde durch das Lager«, bestätigte Tom. »Manchmal sogar zusätzlich noch mal in der Nacht. Manchmal schleichen Neugierige hier rum. Kinder aus der Stadt oder auch Indianer, die alles stehlen, was nicht niet- und nagelfest ist, um es gegen Schnaps einzutauschen. Und auch Leute mit... weniger harmlosen Absichten. Manchmal geh ich auch hinaus zum alten Friedhof, um dort nach dem Rechten zu sehen. Gestern Abend war ich auch dort. Ich hatte die ganze Zeit über das Gefühl, dass mir jemand folgt, also hab ich mich hinter einem alten Grabstein versteckt und gewartet. Und als Sie dann näher gekommen sind...« Er machte ein schuldbewusstes Gesicht und sah Mogens mit sichtlicher Kraftanstrengung nun doch in die Augen. »Es tut mir wirklich Leid, Professor. Wenn ich geahnt hätte, dass ich Sie so erschrecke, dann hätt ich mich früher bemerkbar gemacht.«

»Das ist lächerlich!«, sagte Mogens. Seine Stimme zitterte. »Warum tust du das, Tom? Um mich zu beruhigen? Das brauchst du nicht. Ich weiß, was ich gesehen habe!«

Aber wusste er das wirklich? Was, wenn Tom Recht hatte und tatsächlich er es gewesen war, den er gesehen hatte, und nicht die Bestie aus seiner Vergangenheit? Dann müsste er zugeben, dass er sich wie eine hysterische alte Jungfer vor einem Schatten erschreckt hatte und in Ohnmacht gefallen war.

»Ich weiß, was ich gesehen habe«, beharrte er. Selbst in seinen eigenen Ohren klang es trotzig, nicht mehr wirklich überzeugt.

»Das bezweifle ich nicht«, antwortete Tom. »Aber könnte es nicht auch so gewesen sein: Sie haben diese schreckliche Geschichte erlebt, vor fast zehn Jahren. Doktor Graves ist nicht Ihr Freund, und allein ihn wiedergesehen zu haben muss all die schlimmen Erinnerungen wieder in Ihnen geweckt haben - und dazu noch die ganzen unheimlichen Sachen, die da unten im Tempel sind und von denen ein normaler Mensch alleine schon Albträume bekommt.«

»Wofür hältst du dich eigentlich?«, fragte Mogens böse. »Für einen Psychiater?«

»Und dann haben Sie Schritte gehört und sind mir nachgeschlichen. Noch dazu auf einem Friedhof«, fuhr Tom ungerührt fort. »Und plötzlich waren all die Erinnerungen wieder da. Ihr Zorn auf den Doktor, dem Sie nie verziehen haben, dass er Sie so im Stich gelassen hat. Der Schmerz über den Verlust Ihrer Freundin, und die Erinnerung an diese furchtbare Nacht - und dann noch dieser Friedhof, der sogar mir manchmal unheimlich ist.« Er schüttelte seufzend den Kopf. »Als ich so dumm war, wie aus dem Nichts vor Ihnen aufzutauchen, da mussten Sie ja dieses... Ding sehen. Mir war es jedenfalls so ergangen. Und ich glaube, jedem anderen auch.«

Mogens starrte den jungen Mann aus aufgerissenen Augen an. Er konnte nicht sagen, was ihn mehr schockierte: die zwingende Logik, die aus Toms Worten sprach, oder die Leichtigkeit, mit der der Junge seine Situation erkannt und analysiert hatte. Ein ungebildeter Waisenjunge vom Lande, der nicht einmal wusste, wie alt er war? Lächerlich! Wer zum Teufel war dieser Junge?

Mogens stellte die Frage laut.

»Sie schmeicheln mir, Professor«, antwortete Tom. »Aber diesmal irren Sie sich. Ich bin nicht sehr klug. Aber ich bin ein guter Beobachter, und ich hab 'ne Menge Zeit, um nachzudenken.«

»Und du liebst es, Spielchen zu spielen«, fügte Mogens finster hinzu. Aber es war sonderbar: Es gelang ihm einfach nicht, wirklich zornig auf Tom zu werden. Nicht einmal jetzt. So zwingend Toms Argumentation sich im ersten Moment auch anhörte, wusste er doch, dass sie nicht stimmte. Aber etwas in ihm wollte, dass sie wahr war.

»Nein«, erwiderte Tom lachend. Mogens hätte den Finger nicht auf den Unterschied legen können, aber von einem Moment auf den anderen war er wieder der schüchterne blasse Junge, den noch deutlich mehr Jahre vom Mannsein als von der Kindheit trennten und der aus großen neugierigen Augen in eine Welt blickte, die er nicht verstand, und dem er deutlich mehr Vertrauen entgegenbrachte, als vielleicht gut war. »Ich mach mir nur Sorgen um Sie, Professor. Ich weiß, es steht mir nicht zu, aber...« Er suchte einen Moment vergeblich nach Worten und rettete sich schließlich in ein Schulterzucken. »Sie sind anders als Doktor Graves und die anderen.«

»Anders?«

Die Tür wurde aufgerissen, und Graves stürmte herein. Sein Gesicht war dunkel vor Zorn, und er warf die Tür mit solcher Wucht hinter sich zu, dass Tom auf seinem Stuhl erschrocken zusammenfuhr und aufsprang.

»Verdammte Schlammwühler!«, polterte er. »Nicht einmal...« Er stockte, sowohl mitten im Satz als auch in der Bewegung. Sein Kopf bewegte sich rasch von rechts nach links und wieder zurück, und Mogens war klar, dass er mit einem einzigen Blick nicht nur den gesamten Raum, sondern auch die Situation erfasste. Am Ende der Bewegung blieb sein Blick auf Mogens' schlammverkrusteten Schuhen und den verdreckten Kleidern hängen, die in einem unordentlichen Haufen neben seinem Bett auf dem Boden lagen.

»Hast du das Lager verlassen, Mogens?«, fragte er. Ohne seine Antwort abzuwarten, fuhr er zu Tom herum. Der Zorn in seinen Augen wurde nicht wirklich stärker, nahm aber eine andere Qualität an.

»Tom!«, schnappte er. »Ich hatte dich angewiesen, Professor VanAndt dahingehend zu unterrichten, dass niemand ohne mein ausdrückliches Einverständnis das Gelände zu verlassen hat!«

»Das hat er«, sagte Mogens rasch, und noch bevor Tom auch nur dazu ansetzen konnte, sich zu verteidigen. Graves zog nachdenklich die Brauen zusammen, und auch Tom hatte sich für eine halbe Sekunde nicht wirklich in der Gewalt, denn er sah ihn regelrecht fassungslos an, was Graves natürlich keineswegs entging.

»Es ist nicht seine Schuld«, fuhr Mogens in bestimmterem, lauterem Ton fort. »Tom hat mich schon auf der Autofahrt hierher von deinem Wunsch in Kenntnis gesetzt.« Er setzte sich gerade auf und widerstand der Versuchung, die Decke enger um die Schultern zu ziehen, als ihm ein weiterer kalter Schauer über den Rücken lief. Mit Graves schien ein Schwall eisiger Luft hereingekommen zu sein, aber Mogens war nicht einmal sicher, ob sein Frösteln daran lag oder an den eisigen Blicken, mit denen Graves ihn maß.

»Aber anscheinend nicht deutlich genug«, sagte er schließlich - in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, wie wenig Glauben er Mogens' Worten schenkte.

»Oh, Tom war schon deutlich genug«, antwortete Mogens kühl. »Mir ist nur noch nicht ganz klar, in welcher Eigenschaft ich eigentlich hier bin, Jonathan. Als Mitarbeiter oder als Gefangener.«

Graves runzelte noch heftiger die Stirn. Er sagte nichts.

»Nun?« Mogens stand auf und sah Graves herausfordernd in die Augen. »Was genau bin ich?«

Graves' Lippen wurden zu einem schmalen, fast blutleeren Strich. Doch statt auf seine Frage zu antworten, machte er eine abgehackte Kopfbewegung auf den Haufen schmutziger Kleider zu seinen Füßen, während derer er Mogens aber keinen Sekundenbruchteil aus den Augen ließ. »Was ist passiert?«

»Ich war ungeschickt«, antwortete Mogens. »Ohne Tom hätte die Sache vielleicht ein böses Ende genommen. Du solltest ihm dankbar sein, statt ihm Vorhaltungen zu machen.«

»Was dir klar machen sollte, dass meine Anweisung einen Sinn hat, Mogens«, versetzte Graves. »Die Umgebung hier ist nicht ohne Gefahr - vor allem für jemanden, der sich nicht auskennt. In diese Sümpfe ist schon so mancher hineingegangen, der nie wieder herausgekommen ist.« Er hob die Schultern, als wäre damit alles gesagt, und wandte sich direkt an Tom. »Hast du nichts zu tun?«

Tom verschwand so schnell, als hätte er sich buchstäblich in Nichts aufgelöst - allerdings erst, nachdem er Mogens noch einen raschen, dankbaren Blick zugeworfen hatte, der Graves ebenso wenig entging wie sein Erstaunen zuvor.

»Warum schützt du ihn?«, fragte er, kaum dass sie allein waren. Da Mogens nicht antwortete, fuhr er mit einem neuerlichen Achselzucken und mit einem angedeuteten Seufzen fort: »Du magst den Jungen, was ich verstehen kann. Jeder mag ihn. Er ist ein kluger Bursche, und ausgesprochen nett. Aber er braucht eine starke Hand. Und ich schätze es nicht, wenn einer mit den Angestellten fraternisiert.« Er hob die behandschuhte Rechte, als Mogens auffahren wollte. »In einer Stunde spätestens wirst du verstehen, warum ich auf diesen Sicherheitsvorkehrungen bestehe.« Er sah sich suchend um.

»Hast du noch einen Kaffee für einen ehemaligen Studienkollegen übrig?«

Mogens ignorierte den versöhnlichen Ton in Graves' Stimme ebenso geflissentlich wie seinen Versuch, ein Lächeln auf seine Züge zu zwingen. Es blieb bei dem Versuch. Jonathan Graves' Gesicht war nicht von der Art, die zu einem Lächeln war.

»Da steht welcher«, sagte er mit einer Kopfbewegung in Richtung Tisch. Gleichzeitig streifte er die Decke ab, bückte sich nach seinem Koffer und klappte ihn auf, um sich frische Kleider zu nehmen.

»Zieh nicht unbedingt deinen besten Sonntagsstaat an«, riet ihm Graves, der irgendwo hinter seinem Rücken lautstark mit Tassen und Geschirr klapperte. »Wir müssen durch etwas... unwegsames Gelände.«

Mogens registrierte das kurze Stocken in seinen Worten sehr wohl, ebenso, wie ihm klar war, dass es dem einzigen Zweck diente, ihn zu einer entsprechenden Frage zu provozieren. Er tat ihm nicht den Gefallen, sondern schwieg beharrlich, hörte aber dann doch auf seinen Rat und wählte die einfachsten Kleider, die er in seiner ohnehin bescheidenen Auswahl fand.

Während er sich ankleidete, konnte er hören, wie Graves sich einen Becher Kaffee einschenkte und Platz nahm. Etwas an seinem Schweigen machte Mogens klar, dass Graves auf eine ganz bestimmte Reaktion oder Frage seinerseits wartete, und vielleicht hätte er ihm den Gefallen sogar getan, hätte er nicht in der Bewegung einen kurzen, fast unabsichtlichen Blick aus den Augenwinkeln auf Graves' Gesicht aufgefangen. Es war nur ein vager Eindruck; eine rasche Vision aus jenem schmalen Grenzbereich, in dem das wirklich Gesehene nicht mehr ausreichte und von den gespeicherten Informationen aus dem Gedächtnis - oder der Fantasie - ergänzt werden musste; und in diesem Fall wohl ganz eindeutig aus seiner Fantasie. Denn was Mogens in jenem kurzen, irrealen Augenblick sah, das war nicht Graves' Gesicht, sondern eine albtraumhafte Larve, die nur oberflächliche Ähnlichkeit mit einem menschlichen Antlitz hatte. Durch Graves' Züge schimmerte etwas Raubtierhaftes, Wildes, das sich normalerweise unter seinen menschlichen Zügen verbarg, nun aber, aus diesem ganz bestimmten Blickwinkel und in diesem ganz bestimmten Moment, durch die Oberfläche des normalerweise Sichtbaren hindurchschimmerte. Vielleicht sah er Graves in diesem Moment zum allerersten Mal so, wie er wirklich war; nicht das, wonach er aussah, sondern das, was er war: Ein reptilienhaftes Ding, das lauerte und schlich und auf seine Gelegenheit wartete, zuzuschlagen.

Und selbstverständlich war es nicht wirklich Graves, den er sah. Es war das, was er sehen wollte, das Bild von Doktor Jonathan Graves, das er sich in dem zurückliegenden Jahrzehnt zurechtgelegt hatte, die Essenz von mehr als neun Jahren Hass, verletztem Stolz und Selbstzerfleischung. Mogens war sich dieses Umstandes vollkommen bewusst, wie er sich auch darüber im Klaren war, dass er es war, der sich damit ins Unrecht setzte. Dennoch führte diese blitzartige dunkle Vision dazu, dass er Graves nicht antwortete, sondern sich im Gegenteil weit mehr Zeit dabei ließ, sich anzukleiden, als notwendig gewesen wäre. Er kam sich selbst durch und durch albern dabei vor, seiner kindischen Furcht zu erliegen, aber sein Herz klopfte bis zum Hals, als er sich schließlich aufrichtete und umwandte.

Graves hatte einen Stuhl umgedreht, saß rittlings darauf und hatte die Handgelenke lässig auf der Stuhllehne aufgestützt. Dann und wann nippte er an dem Kaffee, den er sich eingeschenkt hatte, während er Mogens aus seinen kalten, fast ausdruckslosen Augen musterte.

»Einen Penny für deine Gedanken, Mogens«, sagte er.

»Lieber nicht«, antwortete Mogens. »Du wolltest mir etwas zeigen?«

Graves sah ein bisschen verletzt aus. »Wir hatten keinen guten Start, wie?«, sagte er, Mogens' Frage ignorierend. »Das tut mir Leid. Ich hatte es mir anders vorgestellt, nach all der Zeit. Vielleicht zu einfach. Mein Fehler. Es tut mir Leid.«

»Dir tut etwas Leid?« Mogens zog die linke Augenbraue hoch. »Es fällt mir ein wenig schwer, das zu glauben.«

»Gib mir eine Chance.«

»Die gleiche, die du mir gegeben hast?« Mogens suchte vergebens nach einer Antwort auf die Frage, warum er sich überhaupt auf diese Diskussion einließ. Er war fast erstaunt, seine eigene Stimme zu hören, als er fortfuhr: »Warum hast du nichts gesagt, damals? Ein einziges Wort, Jonathan, und...«

»... nichts hätte sich geändert«, fiel ihm Graves ins Wort. »Sie hätten mir ebenso wenig geglaubt wie dir, Mogens. Wir hätten beide als verrückt gegolten, das wäre der einzige Unterschied gewesen - und wären vielleicht beide ins Gefängnis gegangen.«

»Und da hast du es vorgezogen, dass ich allein als verrückt gelte«, sagte Mogens bitter.

Graves trank einen langen Schluck Kaffee, währenddessen er Mogens durchdringend über den Rand der Tasse hinweg ansah. Dann sagte er ganz ruhig: »Ja.«

Wäre er aufgestanden und hätte Mogens warnungslos ins Gesicht geschlagen, hätte der Schock nicht größer sein können. »Wie bitte?«, krächzte er.

»Bist du jetzt schockiert?«, fragte Graves. »Ich an deiner Stelle wäre es.«

Es dauerte einige Sekunden, bis Mogens die wahre Implikation dieses Geständnisses aufging. »Dann... dann hast du es auch gesehen?« Sein Herz jagte. Er hatte Angst vor Graves' Antwort. Panische Angst.

Wieder trank Graves einen Schluck Kaffee, bevor er antwortete. Seine gefühllosen Augen musterten Mogens in dieser Zeit, die sich zu einer endlosen Aufeinanderfolge zeitloser Ewigkeiten der Qual dehnte, so kalt, als spüre er seine Pein genau und dehne diesen Moment bewusst lang hinaus, um sich daran zu weiden. Aber dann hob er die Schultern und sagte in sehr leisem, nachdenklichem Ton: »Ich weiß nicht, was ich gesehen habe. Ich habe etwas gesehen, das stimmt, aber ich weiß nicht, was es war. Weißt du es?«

Als ob er diesen Moment je vergessen könnte, und wenn er hundert Jahre alt wurde! Das Bild hatte sich unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt, eine Narbe in seinem Kopf, die niemals heilen würde, so wenig, wie sie je aufhören würde zu schmerzen: Janice, die von einem Ungeheuer mit lodernden Schultern und Kopf davongeschleift wurde und ebenso verzweifelt wie vergeblich um Hilfe schrie, und den unwiderruflich letzten Blick, den er aus ihren Augen aufgefangen hatte. Es war nicht die Todesangst gewesen, mit der er gerechnet hatte. Vielleicht - sicher - war sie da gewesen, aber was Mogens gesehen hatte, war das verzweifelte Einfordern eines Versprechens, das er ihr nie laut, sehr wohl aber im Stillen für sich gegeben hatte, und das er nun nicht mehr einhalten konnte: Das Versprechen, immer und unter allen Umständen für sie da zu sein, sie vor jeder Gefahr zu beschützen, und sei es mit seinem eigenen Leben. Er hatte dieses Versprechen nicht eingehalten, und es spielte keine Rolle, warum.

»Gib mir eine Chance, Mogens«, sagte Graves. »Ich bitte dich.«

»Dir?« Der beinahe flehende Ton in Graves' Stimme machte es Mogens unmöglich, all die Verachtung in seine Stimme zu legen, die er für ihn empfand. Nicht einmal einen Bruchteil.

»Oh, ich verstehe.« Plötzlich war ein höhnischer, böser Ton in seiner Stimme, und seine Augen blitzten. »DU musst niemandem eine zweite Chance geben, nicht wahr? Warum auch? Dir ist wehgetan worden. Du hast einen schrecklichen Verlust erlitten, und vor allem und am schlimmsten: Man hat dir Unrecht getan. Und daraus leitest du jetzt das Recht ab, für den Rest deines Lebens alles Leid dieser Welt für dich reklamieren zu können.«

Er beugte sich vor und verzog die Lippen zu einem Ausdruck, den Mogens im ersten Moment für verächtlich hielt, bis ihm sein Irrtum klar wurde.

»Du hältst mich für ein Ungeheuer, nicht wahr? Du glaubst, du hättest das alleinige Recht auf Schmerz und Leid?« Er schnaubte. »Was bildest du dir eigentlich ein, VanAndt?«

»Ich?«, ächzte Mogens. Er war vollkommen fassungslos. Er hatte buchstäblich mit allem gerechnet - aber nicht damit, dass Jonathan seinerseits zum Angriff übergehen und ihm Vorwürfe machen würde Das war... absurd.

»Ja, du!«, schnappte Graves. Seine Hand schloss sich mit einem so heftigen Ruck um den emaillierten Becher, dass das dünne Metall wie das Blech einer leeren Konservendose zusammengequetscht wurde. Kaffee spritzte und lief über seine in schwarzes Leder gehüllten Hände, ohne dass er es auch nur bemerkte. »Was glaubst du denn, wie die letzten zehn Jahre für mich waren? Was glaubst du, warum du hier bist?«

Mogens sah ihn verstört an.

»Glaubst du«, fuhr Graves fort, »ich hätte jene Nacht vergessen, Mogens?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Gewiss nicht. Nicht für einen Tag, in all den Jahren. Ich habe Janice ebenso gemocht wie du, Mogens. Du magst sie geliebt haben, aber auch für mich war sie eine gute Freundin. Ich weiß, was du durchgemacht hast, Mogens.«

»Das bezweifle ich«, flüsterte Mogens.

»Oh, verzeihen Sie, wenn ich Ihnen zu nahe getreten bin, verehrter Professor«, sagte Graves böse und wieder ganz förmlich. »Ich wollte keinesfalls an Ihrem Ruhm als größter leidender Märtyrer dieses Kontinents kratzen. Ich weiß, was Sie durchgemacht haben. Aber Sie hatten wenigstens noch Ihren Hass auf mich.«

»Wie kommst du darauf, dass...«

»Ich weiß, dass du mich hasst«, unterbrach ihn Graves. »Ich hasse mich selbst für das, was ich getan habe. Aber ich habe es getan, und ich bin kein Mann, der sich für Fehler entschuldigt, die nicht rückgängig zu machen sind. Und ich bleibe dabei: Es hätte nichts geändert. Im Gegenteil. Wir wären beide für verrückt erklärt worden.« Er machte eine wedelnde Geste. »Ich hätte all das hier wahrscheinlich nicht gefunden. Ich wäre nicht hier. Du wärst nicht hier.«

»Und warum bin ich hier?«, fragte Mogens.

»Natürlich, weil du gut bist«, versetzte Graves. Er hob die zerbeulte Kaffeetasse an den Mund, setzte dazu an, daraus zu trinken, stutzte dann und blickte eine geschlagene Sekunde lang verwirrt darauf hinab, ehe er sie mit einem angedeuteten Achselzucken wieder auf den Tisch setzte. »Glaube es, oder lass es bleiben, aber ich halte dich für den besten Wissenschaftler deines Faches. Aus keinem anderen Grund habe ich dich kommen lassen.« Er zögerte einen winzigen Moment. »Und natürlich als Wiedergutmachung.«

»Wiedergutmachung? Wofür?«

»Für das, was ich dir angetan habe«, antwortete Graves. Er schnitt Mogens mit einer herrischen Geste das Wort ab, als dieser widersprechen wollte. »Spare es dir, mir vorzuhalten, dass ich nur mein schlechtes Gewissen beruhigen möchte. Wenn du das glauben willst, soll es mir recht sein. Wenn das hier publik wird - und das wird es, Mogens -, dann schert es niemanden mehr, was du getan hast und was nicht.«

»Wie kommst du darauf, dass ich Almosen von dir annehmen würde?«, fragte Mogens. Seine Stimme zitterte, aber er konnte den Grund dafür selbst nicht genau benennen.

»Warum wartest du nicht erst einmal ab, bis ich dir gezeigt habe, worauf wir wirklich gestoßen sind?«, fragte Graves.

»Worauf...« Mogens brach verwirrt ab. »Aber ich dachte, der Tempel...?«

»Ja, das dachte ich auch«, sagte Graves. Er stand auf. »Und am Anfang war es auch so. Versteh mich nicht falsch: Der Tempel ist eine Sensation, vielleicht die größte archäologische Sensation dieses Jahrhunderts - zumindest bisher. Und doch ist es nicht alles.«

»Was soll das heißen?«, fragte Mogens verwirrt. »Was hast du gefunden?«

Graves schüttelte den Kopf und grinste plötzlich breit. »O nein, so geht das nicht«, sagte er. »Lass mir die kleine Freude, dich noch ein wenig auf die Folter zu spannen. Darüber hinaus ist es bedeutend einfacher, wenn ich es dir zeige. Komm.«

Er wandte sich zur Tür, öffnete sie und wedelte ungeduldig mit der Hand, als Mogens zögerte, ihm zu folgen. Das Sonnenlicht verwandelte seine Gestalt in einen schwarzen Schattenriss ohne Tiefe, und erneut spürte Mogens einen raschen, eisigen Schauer, denn der Anblick erinnerte ihn an das Bild, das er aus den Augenwinkeln gesehen zu haben glaubte. Es war so wenig real wie dieses, und es verging ebenso schnell.

Mogens schüttelte die Erinnerung mit einer fühlbaren Kraftanstrengung ab und verließ hinter Graves die Hütte.

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