51.

Auf dem Weg zurück bebte die Erde noch zweimal. Aber es waren schwache Erdstöße, der letzte kaum mehr als ein Zittern, der allerletzte, schwache Schauder eines überstandenen Fiebers. Aus dem Boden drangen keine Maden mehr, und es regnete auch keine Steine und Felsbrocken von der Decke. Trotzdem atmete nicht nur Mogens erleichtert auf, als sie den von Kälte und Dunkelheit erfüllten Spalt im Felsen erreichten, der sie vorhin hierher geführt hatte. Der Weg war nicht einmal mehr weit gewesen - wenige hundert Schritte, die sie in ebenso wenigen Augenblicken zurückgelegt hatten -, aber auf dem letzten Stück war Graves immer nervöser geworden und hatte allein zweimal seine Taschenuhr herausgezogen, um einen Blick auf das Ziffernblatt zu werfen. Möglicherweise wusste er doch mehr über die präzise Dauer der Frist, die noch blieb; vielleicht hatte er auch schlicht und einfach nur Angst. Mogens verzichtete darauf, ihn zu fragen.

Graves trat ohne zu zögern als Erster durch den Spalt und wurde von der darin herrschenden Dunkelheit verschlungen, und ganz wie Mogens erwartet hatte, kostete es Miss Preussler eine Menge an gutem Zureden und besänftigenden Gesten, bis sie auch das Mädchen dazu bewegen konnte, in die schmale Schlucht hineinzutreten, in der mehr als nur Dunkelheit und die Abwesenheit von Wärme auf sie warteten. Schließlich aber überwanden sie auch dieses letzte Hindernis beinahe leichter - und auf jeden Fall schneller -, als er befürchtet hatte, und wenige Augenblicke später erreichten sie das Haus, unter dem der Kanal mit der Barke lag. Mogens hielt vor allem ihre dunkelhaarige Begleiterin aufmerksam im Auge, und auch Tom drehte immer wieder im Gehen den Kopf, um einen Blick zu ihr zurückzuwerfen. Das Mädchen folgte ihnen jetzt gehorsam, aber ihr Verhalten hatte sich nicht geändert, weil sie Vertrauen zu ihnen gefasst oder gar begriffen hatte, dass sie ihr nur helfen wollten. Sie hatte aufgegeben. Spätestens das, was Graves getan hatte, hatte sie so eingeschüchtert, dass sie es nicht mehr wagte, sich zu widersetzen. Aber das musste nicht so bleiben. Besser, er blieb auf der Hut.

Mogens trat als Letzter gebückt durch den niedrigen Eingang, der ihm jetzt mehr denn je wie das aufgerissene Maul eines amorphen Ungeheuers vorkam, richtete sich auf der anderen Seite wieder auf und hob schützend die Hand vor die Augen, während er in das unerwartet grelle, weiße Licht blinzelte. Graves und Tom hatten ihre Lampen wieder entzündet, und der Junge war gerade in diesem Augenblick damit beschäftigt, dasselbe auch mit Miss Preusslers Laterne zu tun. Angesichts der gewaltigen Gefahr, in der sie nach wie vor schwebten, hätte Mogens erwartet, dass Graves sofort die Treppe nach unten ansteuern würde, um so schnell wie überhaupt nur möglich auf das Boot zu kommen. Stattdessen jedoch war er wieder an die gegenüberliegende Wand herangetreten und hatte seine Lampe erhoben, um die Zeichen und Bilder darauf zu studieren.

»Was in Gottes Namen tust du da, Jonathan?«, murmelte Mogens. Fast entsetzt deutete er auf die Treppe. »Lass uns gehen! Oder hältst du das für den richtigen Moment, sich antike Wandmalereien anzusehen?«

Graves löste nicht einmal seinen Blick von der Wand. Ganz im Gegenteil hielt er die Lampe noch ein Stück höher und hob nun auch die andere Hand, um mit den Fingerspitzen beinahe zärtlich die Konturen einer Hieroglyphe nachzuzeichnen, die an eine bizarre Mischung aus einem Vogel und etwas ganz und gar Unbekanntem erinnerte. »Du bist ein Dummkopf, Mogens«, sagte er. »Wenn nicht jetzt, wann ist dann der richtige Moment? Wir werden diese Bilder vielleicht niemals wiedersehen. Vielleicht wird sie nie wieder ein Mensch sehen.«

»Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie niemals von einem Menschen gesehen worden wären«, erwiderte Mogens.

Nun löste Graves doch seinen Blick von den Wandmalereien, drehte ganz langsam den Kopf und maß ihn mit einem langen, unendlich verächtlichen Blick. »Ich muss mich bei dir entschuldigen«, sagte er kühl. »Ich habe dich gerade einen Dummkopf genannt, Mogens, aber das stimmt nicht. Du bist etwas Schlimmeres. Du bist ein Ignorant.«

Mogens schluckte alles herunter, was ihm dazu auf der Zunge lag. Von seinem Standpunkt aus hatte Graves vermutlich sogar Recht - aber was bewies das schon, vom Standpunkt eines Wahnsinnigen aus? Statt Graves die Antwort zukommen zu lassen, die ihm gebührte, deutete er nur ein Schulterzucken an und fragte noch einmal: »Können wir jetzt weitergehen?«

»Nur einen Moment noch«, antwortete Graves. »Ich will zumindest noch eine Aufnahme von dieser Wand machen. Gottlob war ich vorausschauend genug, Tom aufzutragen, meine fotografische Ausrüstung mitzubringen.«

»Eine Aufnahme?« Mogens hätte das Wort fast geschrien. Erwartete dieser Verrückte tatsächlich, dass sie in aller Ruhe abwarteten, bis Tom die Kamera ausgepackt, mühsam zusammengebaut und alle notwendigen Vorbereitungen getroffen hatte, um eine Fotografie von dieser Wand anzufertigen? Mogens verstand herzlich wenig vom Fotografieren, und es interessierte ihn auch nicht - aber er hatte oft genug zugesehen, um zu wissen, dass so etwas Zeit beanspruchte. Zeit, die sie nicht hatten.

Graves musste seinen Einwand vorausgesehen haben, denn er hob rasch die Hand, um ihm das Wort abzuschneiden. »Keine Angst - es dauert allerhöchstens zwei oder drei Minuten. Ich habe vorausgesehen, dass wir möglicherweise wenig Zeit haben werden, und alles schon vorbereitet. Tom muss die Kamera nur aufstellen. Gebt der Wissenschaft und dem Rest der Welt wenigstens die Chance, einen einzigen Blick auf dieses Bild zu werfen.«

Auch wenn uns dieser eine Blick möglicherweise das Leben kostet, dachte Mogens. Aber seltsam - es gelang ihm nicht, die Worte auszusprechen. Trotz aller Angst war da immer noch ein Teil in ihm, der Graves Recht gab. Es war nur ein Bild, das keinen Schaden anrichten konnte. Und es konnte so unendlich wichtig sein.

Graves deutete sein Schweigen richtig und machte eine ungeduldige Geste in Toms Richtung. »Du hast es gehört, Tom. Bau die Kamera auf. Und beeil dich.«

»Sie riskieren unser Leben wegen einer Fotografie?«, fragte Miss Preussler ungläubig.

»Andere riskieren unser Leben wegen einer Schwachsinnigen, die den Rest ihrer Tage im Irrenhaus verbringen wird«, murmelte Graves boshaft, gönnte Miss Preussler aber nicht einmal einen Blick, sondern wandte seine Aufmerksamkeit wieder der bemalten Wand zu.

»Das ist unglaublich«, flüsterte er. Seine Stimme bebte vor Ehrfurcht, und seine Augen leuchteten in einer Begeisterung, die Mogens erschreckte. »Jetzt verstehe ich es erst. Hätte ich es doch nur vorher gewusst!«

»Wovon redest du?«, fragte Mogens. Er wollte es nicht. Alles in ihm schrie ihm zu, dass es besser war, nicht mehr Graves zu sprechen, nicht unbeabsichtigt vielleicht die eine, entscheidende Frage zu stellen, die diesen launischen Mann endgültig auf die andere Seite des schmalen Grates abrutschen ließ, auf dem er seit ihrer Ankunft hier unten balancierte. Trotzdem wiederholte er, als Graves nicht sofort antwortete: »Hättest du was nur vorher gewusst?«

»Dieses Bild«, antwortete Graves und begann heftig mit der freien Hand zu gestikulieren. Die Bewegung übertrug sich auf die Lampe, die er in der anderen Hand hielt, sodass das Licht über die Fresken und Bilder zu tanzen begann und sie zu unheimlichem Leben erweckte. »Das hier ist viel mehr als nur ein Bild, Mogens!«, sagte er erledigt. »Es ist eine Karte! Eine Karte ihrer Heimat!«

»Ein Lageplan der Stadt, ich weiß«, antwortete Mogens, aber Graves schüttelte nur noch einmal und noch heftiger den Kopf. Die vermeintliche Bewegung, mit der Licht und Schatten das Bild erfüllten, nahm noch zu. Es war, als beginne tief im Innern der Wand irgendetwas zu erwachen. »Es ist eine Karte der Stadt«, bestätigte er, »zugleich aber eine Karte ihres Heimatstaates, siehst du es nicht?«

Mogens schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Wie könntest du auch?«, gab Graves mit einem sonderbaren Lächeln zurück. »Du hast nicht gesehen, was ich gesehen habe. Ich war in der Pyramide. Ich habe Wunder gesehen, die zu schauen du dein Leben geben würdest, Mogens, nur für einen einzigen Blick.« Er trat einen halben Schritt zurück und deutete nun mit ausgestrecktem Arm auf die Wand. »Sie haben ihre Stadt nach dem Vorbild ihrer Heimat gebaut, verstehst du nicht? Das dort...«, er deutete auf die Pyramide, »... ist die Sonne ihrer Heimat. Der Sirius. Dieses Gebäude, und dieses, und dieses hier...«, er deutete auf drei weitere, besonders auffällige Symbole, und Mogens erkannte zu seinem Schrecken in einem davon genau die vermeintliche Mastaba wieder, in der Miss Preussler und er gewesen waren, »... müssen die Welten sein, die den Hundsstern umkreisen. Diese weniger aufwändigen Gebäude hier stehen möglicherweise für kleine Trabanten. Es ist ein Wunder, Mogens! Allein dieses Bild wird unsere Auffassung vom Universum und den Gesetzen, denen es gehorcht, von Grund auf verändern!«

»Eine hübsche Theorie«, sagte Mogens. »Aber unsere Kollegen von der astronomischen Fraktion werden dich steinigen, wenn du sie ihnen vorträgst.«

»Gar nichts werden sie!«, antwortete Graves verächtlich. »Sie werden mich auslachen, daran besteht kein Zweifel. Aber das Lachen wird ihnen im Halse stecken bleiben, wenn sie das hier sehen.«

»Was?«, fragte Miss Preussler. Ihre Stimme war angespannt. »Wenn sie was sehen, Doktor Graves?«

Graves hatte sich ausgezeichnet in der Gewalt, aber letzten Endes doch nicht gut genug. Wenn schon nicht Miss Preussler, so fiel doch Mogens, der ihm viel näher war, das kurze, erschrockene Zusammenzucken auf und der Ausdruck von Betroffenheit, der sich für einen noch viel kürzeren Moment in seinen Augen spiegelte. Dann aber schüttelte er nur den Kopf und sagte: »Die Fotografie, meine liebe Miss Preussler. Was sonst?« Er drehte sich halb herum. »Tom. Wie weit bist du mit der...« Er stockte mitten im Wort. »Tom? Worauf zum Teufel wartest du? Bau die Kamera auf! Uns läuft die Zeit davon!«

Tatsächlich hatte Tom bisher keinen Finger gerührt, und er bewegte sich auch jetzt nicht, sondern sah Graves nur verlegen an.

»Tom!«, sagte Graves scharf.

»Ich... ich fürchte, das kann ich nicht, Doktor Graves«, stammelte er. Mogens konnte sich kaum erinnern, ihn jemals so unsicher erlebt zu haben.

»Was soll das heißen?«, fauchte Graves. »Tom, zum Teufel noch mal - bau die Kamera auf, oder gib mir den verdammten Rucksack, und ich mache es selbst!«

Er trat einen Schritt auf Tom zu und streckte tatsächlich die Hände aus, wie um seine Worte unverzüglich in die Tat umzusetzen, aber Tom trat einen Schritt zurück und hob abwehrend die Hände. Graves blieb wieder stehen. »Tom?«, fragte er verwirrt.

»Es... es tut mir Leid, Doktor Graves«, sagte Tom. Es klang fast gequält. »Aber ich... ich hab sie... vergessen.«

»Vergessen?«, ächzte Graves.

»Und was, um alles in der Welt, schleppst du dann in diesem riesigen Rucksack mit dir herum?«, fragte Miss Preussler verwirrt.

»Das würde mich allerdings auch interessieren«, fügte Graves hinzu.

»Es tut mir wirklich Leid«, stotterte Tom. »Ich hatte sie bereitgelegt, aber ich muss sie in der Eile...«

»Der Rucksack, Tom«, unterbrach ihn Graves. »Zeig mir deinen Rucksack!«

Tom presste die Kiefer aufeinander. Sein Blick wurde gehetzt. »Es tut mir...«

»Der Rucksack!«, unterbrach ihn Graves noch einmal und in deutlich schärferem Ton, gab Tom aber gar keine Gelegenheit, zu reagieren, sondern war mit zwei schnellen Schritten bei ihm, riss ihn mit einer kraftvollen Bewegung herum und machte sich an den Schnallen seines Rucksacks zu schaffen: Tom versuchte sich zu wehren, aber Graves schlug seine Hände einfach beiseite und zerrte so ungeduldig an den Lederriemen, dass eine der Schnallen abriss und davonflog. Mit einem triumphierenden Laut griff er in den Tornister - und riss ungläubig die Augen auf. »Aber was...?«

Tom riss sich los und fuhr mit einem Schrei herum. Graves machte eine ganz instinktive Bewegung, um ihn festzuhalten, aber Tom tauchte blitzschnell unter seiner Hand weg, sprang zur Seite und versetzte Graves seinerseits einen Stoß, der ihn zurücktaumeln und gegen die Wand prallen ließ, wo er haltlos zu Boden sank. Noch bevor Mogens auch nur wirklich begriffen hatte, was geschah, war Tom mit einem Satz an ihm vorbei und aus der Tür.

»Aber was...?«, keuchte Mogens und riss ungläubig die Augen auf, als er sah, was Graves da in der Hand hielt: Eine in braunrotes Packpapier eingeschlagene Rolle vom doppelten Durchmesser eines Daumens, etwas länger als eine Hand und mit einer dünnen Zündschnur an einem Ende.

»Um Gottes willen, was... was ist das?«, flüsterte Miss Preussler.

Graves staunte seinen Fund aus aufgerissenen Augen an. »Dynamit«, stammelte er. »Der... der ganze Rucksack ist voller Dynamit!«

»Dynamit?«, wiederholte Miss Preussler verstört. »Aber wieso denn? Ich meine, was... was will er denn...?«

»Dieser verdammte Dummkopf!« Graves sprang mit einem Schrei auf die Füße und schleuderte die Dynamitstange von sich. Mogens zog instinktiv den Kopf zwischen die Schultern und wartete wider besseres Wissen auf eine Explosion, aber die Dynamitstange prallte nur harmlos gegen die Wand, und Graves war mit einer einzigen Bewegung herum und schon fast bei der Tür.

»Bring die Frauen zum Boot, Mogens!«, schrie er. »Ich versuche ihn aufzuhalten! Wenn ich in zehn Minuten nicht zurück bin, rette dich und die anderen!«

Die letzten Worte erriet Mogens mehr, als er sie verstand, denn Graves war bereits draußen und stürmte davon.

»Dynamit?«, fragte Miss Preussler noch einmal. »Aber... aber ich verstehe nicht... was hat er denn mit Dynamit vor?«

»Etwas sehr Dummes, fürchte ich«, antwortete Mogens. Dann drehte er sich mit einer entschlossenen Bewegung gänzlich zu ihr um und deutete zugleich auf die Treppe. »Graves hat Recht. Wir haben keine Zeit. Gehen Sie, Miss Preussler. Ich erkläre Ihnen alles auf dem Weg nach unten!«

Er eilte zur Treppe und konnte gerade noch den Impuls unterdrücken, das Mädchen am Arm zu ergreifen; stattdessen drehte er noch einmal um und kehrte zur Tür zurück. Sowohl Graves als auch Tom hatten ihre Lampen hier gelassen. Er nahm eine davon an sich und richtete die andere so aus, dass ihr Lichtstrahl auf die Treppe fiel. Mehr konnte er nicht für Graves tun, und mehr wollte er auch nicht tun. Bevor er wieder zurückging, zog er seine Taschenuhr heraus und sah auf das Ziffernblatt. Graves hatte ihm eine Frist von zehn Minuten abverlangt, und die würde er bekommen, aber keine einzige Sekunde mehr!

Miss Preussler und das Mädchen hatten die Treppe mittlerweile erreicht und waren zwei oder drei Stufen weit nach unten gestiegen, nun aber war die junge Frau stehen geblieben und weigerte sich beharrlich, weiter zu gehen. Miss Preussler redete beruhigend auf sie ein, aber sie schüttelte nur immer wieder den Kopf und wäre vermutlich sogar wieder zurückgewichen, hätte Mogens nicht hinter ihr gestanden und ihr den Weg verwehrt.

»Worauf warten Sie?«, fragte Mogens ungeduldig.

»Sie will nicht weitergehen«, antwortete sie. »Irgendetwas dort unten scheint ihr furchtbare Angst zu machen.«

Was Mogens ihr nicht verdenken konnte. Vielleicht war es einfach die Treppe an sich, überlegte er. Immerhin führte der Weg wieder hinab in die Erde, zurück in die Welt, in der sie Schlimmeres erlebt haben musste, als er sich auch nur vorstellen konnte.

Er sagte nichts, blickte aber demonstrativ auf die Uhr, und Miss Preussler wandte sich wieder um und fuhr fort, mit leiser, beruhigender Stimme auf das Mädchen einzureden. Sie verbrauchte einen Gutteil ihrer wenigen Zeit - annähernd drei Minuten -, aber schließlich gelang es ihr, die junge Frau zum Weitergehen zu bewegen.

Bis sie die letzte Stufe erreicht hatten. Miss Preussler blieb erschrocken stehen, als sie weit genug nach unten gestiegen war, um das Boot zu erkennen, das Mädchen aber reagierte nahezu panisch. Diesmal war es ihr gleich, dass Mogens hinter ihr stand. Sie fuhr auf dem Absatz herum und hätte Mogens wahrscheinlich einfach über den Haufen gerannt, wäre die Treppe nur breit genug dafür gewesen.

Sie prallte hart genug gegen ihn, um ihn nahezu aus dem Gleichgewicht zu bringen. Mogens prallte gegen die Wand des schmalen Treppenschachtes, und ob er nun mit Absicht zugriff oder sich nur festklammerte, um nicht von den Füßen gerissen zu werden, es gelang ihm, das Mädchen zu packen zu kriegen. In der allerersten Sekunde wehrte es sich mit erstaunlicher Kraft gegen seinen Griff, dann aber konnte er regelrecht spüren, wie es erschlaffte. Für einen halben Atemzug musste er sie tatsächlich festhalten, damit sie nicht fiel.

»Professor?«, fragte Miss Preussler alarmiert.

»Es ist schon in Ordnung«, sagte Mogens rasch und hoffte, dass das stimmte. Behutsam ergriff er das Mädchen bei den Schultern, drehte es mit sanfter Gewalt herum und schob es die verbliebenen drei Stufen die Treppe hinab. »Hier, nehmen Sie sie. Ich glaube, sie hat sich nur erschreckt.«

»Das kann ich ihr nicht verdenken«, antwortete Miss Preussler, griff aber zugleich auch nach dem Handgelenk der jungen Frau und zog sie sanft in ihre Umarmung. Diesmal wehrte sie sich nicht, aber der Anblick alarmierte Mogens trotzdem. Von dem vorsichtigen Vertrauen, das sie zu Miss Preussler gefasst hatte, war nichts mehr geblieben. Sie ließ einfach alles mit sich geschehen.

»Was ist das für ein grässliches... Ding?«, fuhr Miss Preussler mit einem Blick auf die Barke fort. »Sagen Sie nicht, das ist das Boot, von dem Graves gesprochen hat!«

»Ich fürchte, doch«, antwortete Mogens, während er sich behutsam an ihr vorbeischob und dann mit umso weiter ausgreifenden Schritten dem Ufer zustrebte. Er konnte Miss Preusslers Reaktion durchaus verstehen. Vorhin, als er zum ersten Mal hier gewesen war, war es ihm nicht aufgefallen, weil ihn die bloße Tatsache der Entdeckung einfach erschlagen hatte, aber nun sah er, wie unheimlich die Barke tatsächlich war. Wie bei den Bewohnern dieser unterirdischen Welt selbst war der Unterschied nicht wirklich in Worte zu fassen, aber er war da: Alles an diesem fantastischen Gefährt war so, wie es sein sollte, und zugleich auf entsetzliche Weise falsch. Dabei war die Barke noch nicht einmal komplett. Mogens fragte sich, was Miss Preussler wohl gesagt hätte, hätten die beiden lebensgroßen Anubis-Statuen in Bug und Heck gestanden, die er von zahllosen Abbildungen und Miniaturen her kannte.

»Sie glauben nicht ernsthaft, dass ich auch nur einen Fuß auf dieses gotteslästerliche Ding setze«, sagte Miss Preussler hinter ihm.

»Ich fürchte, uns bleibt keine andere Wahl«, antwortete Mogens abwesend, und ohne den Blick auch nur für eine Sekunde von der schwarzen Barke zu nehmen: Vielleicht konnte er Miss Preusslers Beunruhigung so gut verstehen, weil ihn der Anblick selbst beunruhigte; mehr, als er trotz allem gedurft hätte. Etwas... hatte sich verändert. Aber er konnte nicht sagen, was. Unstet huschte sein Blick über das nachtfarbene Boot, glitt an den bizarren Konturen und feindseligen Linien entlang und tastete über Winkel und Kanten, die so falsch waren, dass etwas in ihm empört aufschrie. Er spürte etwas, und es lag nicht nur daran, dass er das Boot nun mit anderen Augen betrachtete. Eine... Präsenz. Da war eine Gefahr, die es bisher noch nicht gegeben hatte. Aber es war ihm nicht möglich, sie zu greifen.

Mogens schüttelte den Gedanken ab und sah auf die Uhr. Die Frist, die Graves sich selbst gesetzt hatte, war nahezu verstrichen. Ihm blieben noch weniger als drei Minuten - auch wenn Mogens bezweifelte, dass diese Zeit überhaupt ausreichte, um Miss Preussler und das Mädchen zum Betreten der Barke zu überreden und abzulegen.

»Gibt es denn gar keinen anderen Weg hier heraus?«, fragte Miss Preussler mit zitternder Stimme.

»Ich fürchte, nein«, antwortete Mogens. Er wandte sich halb zu ihr um, eigentlich nur, um ihr einen beruhigenden Blick zuzuwerfen, runzelte aber dann überrascht die Stirn, als er ins Gesicht des Mädchens sah. Sie wirkte noch erschrockener als zuvor. Ihre Augen waren schwarz vor Angst, und ihre Finger hatten sich mit solcher Kraft in das zerlumpte Bündel gekrallt, das sie an die Brust presste, dass sie das Kind mit Sicherheit verletzt hätte, wäre es noch am Leben gewesen. Miss Preussler und er waren nicht die Einzigen hier, die der Anblick der schwarzen Barke mit etwas erfüllte, das über reine Furcht hinausging.

Diese Erkenntnis war nicht neu. Und trotzdem: Etwas daran irritierte ihn, und es verging auch nur noch eine einzige weitere Sekunde, bis ihm klar wurde, was. Die junge Frau starrte gar nicht das Boot an. Ihr Blick war so teilnahmslos darüber hinweggeglitten, als wäre dieses monströse Ding das Selbstverständlichste von der Welt; was es für sie vermutlich auch war. Sie starrte das Wasser an.

Auch Mogens blickte konzentriert auf die schwarz und nahezu unbewegt daliegende Wasseroberfläche hinab, konnte aber keinen Unterschied zu vorhin erkennen. Es gab eine ganz leichte Strömung, gerade genug, um das Wasser, nicht aber etwa das Boot zu bewegen, und vielleicht hatte die Anzahl der haardünnen Algen, die sich unter seiner Oberfläche bewegten, ein wenig zugenommen. Aber das war schon alles.

Mogens warf Miss Preussler einen entsprechenden Blick zu, auf das Mädchen aufzupassen, trat mit einem großen Schritt in die Barke hinein und registrierte erleichtert, dass das Boot unter seinem Gewicht ganz sanft schwankte. Er war froh, dass ihm diese Möglichkeit erst im Nachhinein eingefallen war - aber es hätte gut sein können, dass es sich gar nicht um ein richtiges Boot handelte, sondern vielmehr um eine Skulptur aus Stein, die nur um des authentischen Anblicks willen hier aufgestellt worden war.

»Kommen Sie!«, sagte er. »Wir müssen uns beeilen!«

»Aber Doktor Graves...«, begann Miss Preussler unsicher.

»Doktor Graves«, unterbrach sie Mogens, während er sich bereits einmal um sich selbst drehte, um nach den Rudern Ausschau zu halten, »hat noch ungefähr zwei Minuten. Wenn er bis dahin nicht zurück ist, fahren wir ab. Er hat es schließlich selbst gesagt.«

»Aber wir können ihn doch nicht einfach im Stich lassen!«, protestierte Miss Preussler.

Mogens sah sie nur überrascht an. Nach allem, was bisher geschehen war, hätte er eine etwas andere Reaktion von ihr erwartet. Der gute Kern, der unter Miss Preusslers sprichwörtlicher rauer Schale schlug, musste wohl noch größer sein, als er bisher geahnt hatte. Und zweifellos hatte sie Recht. Dennoch schüttelte er nur noch einmal entschlossen den Kopf und atmete zugleich innerlich erleichtert auf, als er genau das fand, wonach er Ausschau gehalten hatte: Zwar keine Ruder, aber doch zwei kräftige, mehr als mannslange Stangen, mit denen man das Boot von der Stelle staken konnte.

»Er hat es selbst gesagt«, antwortete er, während er sich bereits nach einer Stange bückte. Sie war unerwartet schwer und fühlte sich so glatt und massiv in seiner Hand an, als bestünde sie aus Metall oder Stein, nicht aus Holz. Mogens musste beide Hände zu Hilfe nehmen, um sie überhaupt hochheben und ihr Ende ins Wasser hinabgleiten lassen zu können. »Vielleicht sollten wir ausnahmsweise einmal auf das hören, was er sagt.«

Die Stange stieß schon nach einem überraschend kurzen Stück auf Widerstand. Der Kanal war offensichtlich gerade tief genug, dass das Boot darauf schwimmen konnte. Mogens stemmte sich probehalber mit seinem ganzen Körpergewicht dagegen. Im allerersten Moment geschah nichts, dann aber löste sich die Barke, langsam, zitternd und so widerwillig wie ein lebendes Wesen, das nicht mit dem einverstanden ist, was von ihm verlangt wurde, vom Ufer und begann sich träge auf der Stelle zu drehen. »Kommen Sie«, sagte er noch einmal. »Es wird Zeit.«

Miss Preussler wäre nicht Miss Preussler gewesen, hätte sie nicht noch ein paar Sekunden verstreichen lassen, in denen sie einfach ihn und das Boot abwechselnd anstarrte, dann aber trat sie mit einem plötzlich entschlossenen Schritt zu ihm herab und zog in der gleichen Bewegung auch das Mädchen mit sich. Mogens hatte fest damit gerechnet, dass sie sich sträuben oder gar wehren würde, aber ihr Widerstand schien endgültig gebrochen zu sein. Fast willenlos folgte sie Miss Preussler, das Bündel mit dem toten Kind weiter fest an die Brust gedrückt und mit leerem Blick, der starr auf die Wasseroberfläche gerichtet blieb. Und ganz plötzlich wurde Mogens auch klar, was er sah: einen Menschen, der mit seinem Leben abgeschlossen hatte. Der Augenblick, in dem sie das, was immer sie in diesen schwarzen Fluten auch sehen mochte, noch zu Tode geängstigt hatte, war vorüber. Sie hatte aufgegeben und fügte sich in ihr Schicksal, vielleicht weil ihre Kraft einfach nicht mehr reichte, um zu kämpfen, vielleicht auch, weil sie niemals gelernt hatte, sich zu wehren.

Mogens' Blick folgte dem der jungen Frau. Es war nicht einfach nur das Boot, das sie anstarrte. Die größte Angst hatte sie sichtlich vor dem schwarzen Sarkophag, vielleicht auch vor der monströsen Gestalt, die in seinen Deckel eingraviert war, und Mogens fragte sich, ob sie ein solch monströses Wesen vielleicht schon einmal tatsächlich zu Gesicht bekommen hatte. Noch vor weniger als einer Stunde hätte er einen solchen Gedanken als lächerlich von sich gewiesen, aber jetzt jagte er ihm einen eisigen Schauer über den Rücken.

»Nehmen Sie die Stange, Miss Preussler«, sagte er. »Bitte.«

»Doktor Graves' Frist ist noch nicht um«, sagte sie stur.

Mogens funkelte sie einen Moment lang wütend an, aber er sagte nichts. Sie hatte ja Recht, auch wenn es sich vermutlich nur noch um wenige Augenblicke handelte; und es ging dabei gar nicht so sehr um Graves. Miss Preussler hatte viel rascher als er begriffen, dass er sich den Rest seines Lebens fragen würde, ob Graves nicht vielleicht doch noch im allerletzten Moment gekommen war. Er hatte einmal in seinem Leben jemanden im Stich gelassen, und er würde es nicht noch einmal tun. Wortlos drückte er ihr die Stange in die Hand, bückte sich nach der zweiten und ging zum Bug der Barke. Etwas wie ein kalter Luftzug schien ihn zu streifen, als er den schwarzen Sarkophag passierte, aber das mochte Einbildung sein. Nicht erst, seit sie dieses Boot betreten hatten, konnte er seinen Sinnen nicht mehr in gewohntem Umgang vertrauen.

Obwohl Miss Preussler die Stange nur lose in den Händen hielt, drehte sich die Barke weiter langsam auf der Stelle, bis der hochgezogene Bug genau in die Richtung wies, in der sich der Kanal in der Dunkelheit verlor, und kam mit einem sachten Zittern zur Ruhe; ein weiterer Zufall, der Mogens einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. Aber vielleicht hatte sich das Boot ja auch einfach nur in die Strömung gedreht. Er wäre nicht einmal mehr übermäßig überrascht gewesen, hätte sich die Barke in diesem Moment von sich aus in Bewegung gesetzt, aber sie erzitterte nur noch einmal sacht und kam dann endgültig zur Ruhe, und Mogens rammte seine Stange ins Wasser und sah noch einmal auf das Ziffernblatt seiner Uhr. Graves' Frist war abgelaufen. Wenn sie jetzt aufbrachen, gab es nichts, was er sich hätte vorwerfen können. Graves selbst hätte nicht anders gehandelt. Ganz im Gegenteil - Mogens war nicht einmal sicher, ob er tatsächlich bis zum Ablauf der vereinbarten Frist gewartet hätte, und mit jeder Sekunde, die er weiter verstreichen ließ, setzte er sein Leben und das der beiden Frauen mehr aufs Spiel.

»Was hat... Thomas mit dem Dynamit vor?«, fragte Miss Preussler stockend.

»Etwas sehr Dummes«, antwortete Mogens. »Und ich fürchte, es ist meine Schuld.«

»Wieso?«

»Ich hätte es wissen müssen«, antwortete er halblaut. »Spätestens, als ich diesen gewaltigen Rucksack gesehen habe.«

»Das haben wir alle«, antwortete Miss Preussler. »Und wir alle haben uns gefragt, was er wohl darin trägt - ich habe ja sogar noch meine Scherze darüber gemacht. Aber niemand hat ihn gefragt. Ich auch nicht.«

»Sie wussten ja auch nicht, dass Toms Eltern von diesen Ungeheuern getötet worden sind«, antwortete Mogens bitter. »Ich nehme nicht an, dass er es Ihnen erzählt hat?« Er drehte sich halb zu ihr herum und fuhr fort: »Sie haben seine Mutter entführt und seinen Vater praktisch vor seinen Augen umgebracht. Der Junge hat noch eine Rechnung mit diesen Biestern offen, Miss Preussler.«

»Und jetzt glauben Sie, er will sich rächen«, vermutete sie und beantwortete ihre eigene Frage gleich mit einem Nicken.

»Ich wüsste nicht, wozu er sonst einen ganzen Rucksack voller Sprengstoff brauchte«, sagte Mogens. Er sah zur Treppe hin. Das tanzende Licht ihrer Scheinwerfer gaukelte ihm eine Bewegung vor, die es nicht gab. Keine Spur von Graves. Mogens dachte an die Prozession grauenerregender Missgeburten zurück, die an ihrem Versteck vorbeigezogen war, und seine Hoffnung, Tom oder auch nur Graves noch einmal lebend wiederzusehen, sank noch weiter. Er sah auf die Uhr. Sie waren gute drei Minuten über die Zeit. Er konnte nicht länger warten. Er hatte nicht einmal das Recht dazu. Er spielte nicht nur mit seinem Leben, sondern auch mit dem der beiden Frauen.

Seine Hand schloss sich fester um die Stange, doch statt das Boot damit von der Stelle zu bewegen, ließ er nur den Deckel seiner Taschenuhr mit einem scharfen Knall zuschnappen und steckte sie ein.

»Sie hätten es sich niemals verziehen«, sagte Miss Preussler leise.

»Was?«

»Ihn zurückgelassen zu haben«, antwortete sie. »Es ist richtig, zu warten.« Und als hätte sie seine Gedanken gelesen, fügte sie mit einem schmalen Lächeln noch hinzu: »Gerade weil er es umgekehrt wahrscheinlich nicht getan hätte.«

»Wir können trotzdem nicht mehr lange warten«, antwortete er. »Noch ein paar Minuten.«

Miss Preussler antwortete nicht mehr, aber ihr Blick wurde für einen Moment weich, und das war ihm ein fast größerer Trost als alles, was sie hätte sagen können.

Er wandte sich wieder nach vorne und richtete den Scheinwerfer direkt auf das Wasser. Unter seiner Oberfläche bewegte sich etwas, aber er konnte nicht wirklich erkennen, was. Neugierig und beunruhigt zugleich beugte er sich vor und lenkte den Lichtstrahl unmittelbar neben dem Boot auf die Flut. Es waren die Algen - oder das, was er bisher dafür gehalten hatte, auch wenn ihn der Anblick jetzt mehr an ein Gespinst feiner Haare erinnerte, das sich, einem eigenen, anderen Takt als dem der Strömung gehorchend, träge im Wasser bewegte. Mogens ließ sich in die Knie sinken und streckte die Hand aus, um das sonderbare Gespinst zu berühren, aber irgendetwas warnte ihn, es zu tun. Vielleicht war es die sonderbare Bewegung, die ihm jetzt immer deutlicher auffiel, auch wenn daran nichts wirklich Bedrohliches zu sein schien. Dennoch war es eine Bewegung, die nicht hätte sein dürfen.

Ohne die Finger ins Wasser getaucht zu haben, richtete er sich wieder auf und wollte gerade nach seiner Laterne greifen, um auch die Ufer des Kanals einer etwas genaueren Inspektion zu unterziehen, als er ein Geräusch hörte.

Abrupt fuhr er herum und richtete den Strahl seiner Grubenlampe gerade im richtigen Moment auf die Treppe, um zu sehen, wie Graves hereinstolperte; und das wortwörtlich. Er machte zwei, drei, schließlich vier Schritte, von denen einer größer und ungeschickter war als der andere, fiel schließlich auf Hände und Knie herab und versuchte, den Schwung seiner eigenen Bewegung zu nutzen, um wieder in die Höhe zu springen - wodurch er endgültig nach vorne gerissen wurde und haltlos über den rauen Boden auf das Ufer zuschlitterte.

Hinter ihm stürmte ein Ghoul herein.

Das Ungeheuer überwand die letzten drei oder vier Stufen mit einem einzigen, federnden Satz, mit dem er zwar ebenfalls auf Händen und Knien landete, aber sofort wieder in die Höhe schoss. Mit einem zornigen Knurren fuhr er herum und hielt nach seiner Beute Ausschau. Fänge und Zähne blitzten im kalten Licht des Scheinwerfers, und seine Augen funkelten tückisch. War das Blut, was da von seinen Reißzähnen tropfte?

Mit einem ungeheuerlichen Brüllen stürzte der Ghoul vor, weit nach vorne gebeugt und auf eine groteske Art hüpfend, wie ein absurd großer Affe. Seine Krallen rissen Funken aus dem Stein und verfehlten Graves' Gesicht nur um Haaresbreite. Graves schrie auf, warf sich herum, und der Ghoul stieß mit seinem gewaltigen, klauenbewehrten Fuß nach seinem Gesicht. Graves entging ihm auch dieses Mal mit einer verzweifelten Bewegung, doch der Fuß der riesigen Bestie stanzte mit grausamer Wucht auf seine linke Hand hinab und zermalmte sie.

Graves brüllte vor Schmerz. »Mogens!«, kreischte er. »Schieß!«

Mogens hatte nichts, um zu schießen. Graves musste seine eigene Waffe irgendwo verloren haben, und Toms Gewehr lehnte immer noch oben an der Wand, wo er es zurückgelassen hatte. Mogens konnte ihn nur hilflos anstarren, während Miss Preussler ihre Lampe herumschwenkte und den Strahl direkt ins Gesicht des Ungeheuers richtete. Der Ghoul brüllte wie unter Schmerzen auf, riss die Arme vor das Gesicht, um seine empfindlichen Augen zu schützen und prallte ein Stück zurück, und Graves nutzte die Chance, um sich trotz seiner schrecklichen Verletzung aufzurappeln und weiter auf das Boot zuzustolpern. Der Ghoul knurrte wütend und stürzte ihm nach. Seine Krallen blitzten auf wie winzige, gefährliche Messer. Mogens hörte das Geräusch von reißendem Stoff, das von einem gellenden Schrei aus Graves' Kehle verschluckt wurde, doch Graves stolperte dennoch weiter, erreichte das Ufer und stieß sich mit einer verzweifelten Bewegung ab. Er landete ungeschickt und mit solcher Wucht unmittelbar neben Mogens im Boot, dass die Barke sich fühlbar auf die Seite legte und mit einem schweren Klatschen zurückfiel. Der plötzliche Ruck brachte auch das Mädchen aus dem Gleichgewicht. Es prallte gegen den Sarkophag und stürzte, und auch Mogens kämpfte einen Moment lang mit gespreizten Beinen um seine Balance und gewann diesen Kampf nur, weil er sich mit beiden Händen an der Stange festhielt. Einzig Miss Preussler reagierte mit erstaunlicher Kaltblütigkeit: Das Ungeheuer stürmte brüllend heran, und als es noch zwei Schritte vom Ufer entfernt war, beugte sie sich vor und riss die Stange zur Seite. Der Ghoul registrierte die Gefahr vielleicht noch im letzten Moment und versuchte, sich herumzuwerfen, aber es war zu spät. Er prallte mit nahezu ungebremstem Tempo gegen die Stange, deren Ende noch immer im Schlamm des Kanalbodens steckte. Mogens glaubte die Rippen des Ungeheuers knirschen zu hören, und aus dem wütenden Brüllen des Ghoul wurde ein wimmerndes Röcheln. Das Ungeheuer brach in die Knie, schlang die Arme um den Oberkörper und begann sich langsam zur Seite zu neigen, und Mogens hoffte schon, dass er einfach weiter kippen und ins Wasser stürzen würde. Zu seinem Entsetzen musste er jedoch erkennen, dass sich der Ghoul im letzten Moment wieder fing und sogar damit begann, sich schwankend wieder hochzuarbeiten.

»Miss Preussler!«, brüllte er. »Die Stange! Staken Sie.« Gleichzeitig stemmte auch er sich mit verzweifelter Gewalt gegen die Stange. Das Boot begann zu zittern. Eine einzige, furchtbare Sekunde lang schien es sich gar nicht von der Stelle zu rühren, dann aber setzte es sich schwerfällig in Bewegung.

Der Ghoul war mittlerweile wieder ganz auf die Füße gekommen, aber er musste sich wohl doch schwerer verletzt haben, als es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte. Er wankte. Blut lief aus seinem halb offen stehenden Maul. Er hatte sich verletzt, wenn auch wohl nicht schlimm genug. Mogens registrierte voller Entsetzen, wie sich das Ungeheuer zum Sprung spannte. Das Boot hatte sich mittlerweile ein Stück vom Ufer entfernt und wurde schneller, aber längst nicht schnell genug. Selbst Mogens hätte sich zugetraut, es vom Ufer aus mit einem beherzten Satz zu erreichen - für den Ghoul konnte es kaum mehr als ein großer Schritt sein.

Die Bestie stieß sich ab und landete mit solcher Wucht unmittelbar neben Graves in der Barke, dass das Boot zu wanken begann und sich bedrohlich auf eine Seite legte. Mogens musste sich mit aller Kraft an die Stange klammern, um nicht über Bord zu stürzen, und auch der Ghoul kämpfte heulend und mit wild fuhrwerkenden Armen um sein Gleichgewicht. Seine Krallen zischten wie Messer durch die Luft, verfehlten Graves' Gesicht um Haaresbreite - und trafen das tote Kind, das das Mädchen im den Armen hielt! Es wurde ihr einfach entrissen, flog im hohen Bogen durch die Luft und klatschte meterweit entfernt ins Wasser.

Die junge Frau schrie auf, als hätten die rasiermesserscharfen Krallen sie selbst getroffen, wirbelte herum und streckte mit einer verzweifelten Bewegung die Arme aus, wie um es aufzufangen, und Mogens war felsenfest davon überzeugt, dass sie sich im nächsten Sekundenbruchteil ins Wasser stürzen und hinter ihrem Kind her schwimmen würde. Stattdessen fuhr sie mit noch spitzerem, gellenderem Schrei herum und warf sich mit weit ausgebreiteten Armen gegen den Ghoul. Ihre Fingernägel zerkratzten sein Gesicht, rissen tiefe, blutende Furchen in die lange Schakalschnauze und löschten eines der glühenden Augen aus, und ihr Anprall war so gewaltig, dass sie den ohnehin wankenden Koloss endgültig von den Füßen riss. Haltlos kippte er nach hinten und fiel über Bord. Aber im letzten Moment schlossen sich seine gewaltigen Arme um das Mädchen, sodass er es mit sich riss.

Mogens streckte ebenso entsetzt wie vergeblich die Arme aus, aber er war viel zu weit entfernt, um noch irgendetwas tun zu können. In einer gewaltigen Woge aus aufspritzender Gischt verschwanden das Ungeheuer und die junge Frau im Wasser.

Mit einem einzigen Satz war Mogens in der Mitte des Bootes, und auch Miss Preussler ließ ihre Stange los und balancierte hastig über den schwankenden Grund heran. Fast verzweifelt beugte Mogens sich vor, konnte aber im ersten Moment nichts anderes erkennen als schäumendes Wasser und zwei formlose Schatten, die irgendwo unter seiner Oberfläche miteinander zu ringen schienen. Der Kanal schien zu kochen.

Miss Preussler warf sich vor und versuchte nach dem Mädchen zu greifen, aber Mogens riss sie zurück. Ohne es begründen zu können, wusste er einfach, dass sie dieses Wasser nicht berühren durften.

Plötzlich tauchte eine Hand aus den Wellen auf. Mogens griff ganz automatisch danach, zog mit aller Kraft und schaffte es irgendwie, Kopf und Schultern der jungen Frau über Wasser zu bekommen und griff auch mit der anderen Hand zu, aber das Mädchen machte keinerlei Anstalten, ihm zu helfen, sondern begann sich ganz im Gegenteil mit derselben irrationalen Kraft zu wehren, mit der manche Ertrinkende ihre Retter mit ins Verderben reißen, und tatsächlich war es plötzlich Mogens, der für einen Atemzug darum kämpfte, nicht über Bord gerissen zu werden. Erst, als auch Miss Preussler abermals nach ihrem Arm griff und ihm half, gelang es ihnen mit vereinten Kräften, sie aus dem Wasser und halbwegs an Bord zu ziehen.

Plötzlich aber wurde das Mädchen mit einem harten Ruck zurückgerissen. Ein keuchender Schmerzlaut kam über seine Lippen, und selbst Mogens und Miss Preussler wurden wieder ein Stück nach vorne gerissen. Eine gewaltige Pranke hatte sich um den Unterschenkel des Mädchens gekrallt und versuchte sie mit brutaler Kraft zurückzureißen.

»Jonathan! Hilf uns!«, keuchte Mogens.

Graves hatte sich mittlerweile aufgerappelt und rumorte irgendwo hinter ihnen herum, aber er dachte offenbar gar nicht daran, ihnen zu helfen. Wahrscheinlich war er einfach zu schwer verletzt. Mogens verdoppelte seine Anstrengungen, das Mädchen zu sich über die Bordwand zu ziehen, und auch Miss Preussler zerrte und zog nach Kräften. Der Ghoul umklammerte ihr Bein noch immer mit unerbittlichem Griff, aber seine Kraft war nicht so unwiderstehlich, wie Mogens befürchtet hatte. Das Ungeheuer wirkte benommen. Rings um seinen Schädel herum kochte das Wasser noch immer, aber der Schaum hatte sich rosa gefärbt. Blut quoll in Strömen aus seiner leeren Augenhöhle, und seine Bewegungen wirkten benommen und trotz aller Kraft fahrig und ziellos. Vielleicht hatte es sich an der Wand des Kanals den Schädel angeschlagen, oder seine Verletzung war schwerer, als es den Anschein hatte.

Dennoch gelang es nicht einmal seinen und Miss Preusslers vereinten Kräften, das Mädchen vollends an Bord zu ziehen. Ganz im Gegenteil: Die junge Frau klammerte sich mit so verzweifelter Kraft an die niedrige Bordwand, dass ihre Fingernägel abbrachen und sich das Wasser auch hier blassrosa zu färben begann, und auch Mogens und Miss Preussler zogen und zerrten mit aller Gewalt. Trotzdem wurde sie, ganz langsam, aber auch mit schrecklicher Unaufhaltsamkeit, wieder zurück ins Wasser gezerrt. Das Boot begann sich immer weiter zu neigen, und Mogens spürte, wie seine Kräfte im gleichen Maße nachließen, wie die des Ungeheuers zuzunehmen schienen. Das Monster stieß jetzt ein lang gezogenes, schreckliches Heulen aus, in dem sich Wut, Schmerz und noch etwas Anderes, Schlimmeres mischten, und als Mogens instinktiv in seine Richtung sah, überlief ihn ein neuerlicher, eisiger Schauer. Erst jetzt sah er, dass das Ungeheuer über und über mit Fäden des dünnen, glitzernden Tangs bedeckt war, die außerhalb des Wassers eher fleischfarben bis weiß zu schimmern schienen, statt schwarz, und ihn nun mehr denn je an Haar erinnerten. Die Berührung musste ihm unangenehm sein, denn es benutzte nur eine Hand, um das Mädchen festzuhalten, während es mit der anderen immer hektischer versuchte, das glitzernde Geflecht von seinem Gesicht und seinen Schultern zu reißen. Dennoch zerrte es unbarmherzig weiter am Bein des Mädchens. Das Boot neigte sich weiter, und Mogens wurde mit schrecklicher Gewissheit klar, dass der Ghoul die Barke eher zum Kentern bringen oder das Bein seines Opfers herausreißen würde, bevor er losließ.

»Graves!«, schrie er verzweifelt. »Hilf uns!«

Er rechnete auch diesmal nicht wirklich damit, dass Graves irgendetwas tun würde, um ihnen zu helfen; oder auch nur konnte. In der nächsten Sekunde jedoch tauchte Graves breitbeinig hinter ihnen auf. Er hielt eine der beiden Stangen in den Händen. Sie war zu lang, um damit zuschlagen zu können, doch das versuchte er auch gar nicht. Stattdessen stieß er dem Ghoul das stumpfe Ende mit solcher Gewalt ins Gesicht, dass mehrere seiner Reißzähne abbrachen und die grässliche Kreatur ein gepeinigtes Heulen ausstieß.

Sie ließ das Bein des Mädchens trotzdem nicht los.

Ganz im Gegenteil gruben sich ihre Krallen nur noch tiefer in ihr Fleisch, sodass das Bein heftig zu bluten begann. Graves fluchte, stieß noch einmal zu und zielte diesmal auf die Kehle des Ungeheuers. Er traf nicht so gut, wie er es vermutlich beabsichtigt hatte - seine verletzte Hand musste ihn stark behindern, ganz abgesehen von den höllischen Schmerzen, die er zweifellos litt -, doch der Stoß zeitigte dennoch Wirkung. Das Monster ließ endlich das Bein seines Opfers los, warf beide Arme in die Luft und tauchte mit einem gurgelnden Laut unter, und Graves stieß mit seiner Stange nach ihm, um es noch weiter unter Wasser zu drücken und womöglich zu ertränken.

»Schnell jetzt«, schrie er. »Zieh! Ich weiß nicht, wie lange ich ihn halten kann!«

Mogens warf sich mit verzweifelter Kraft zurück, und gemeinsam mit Miss Preussler gelang es ihm tatsächlich, die junge Frau ein gutes Stück weit über die Bordwand zu ziehen. Aber nicht vollständig. Nicht einmal so weit, wie er erwartet hätte. Obwohl die Bestie ihr Bein losgelassen hatte, schien irgendetwas sie noch immer festzuhalten.

Die Stange in Graves' Händen begann immer heftiger zu zucken und hin und her zu peitschen. Es war ihm gelungen, den Ghoul tatsächlich bis auf den Grund des Kanals hinab zu drücken und dort festzuhalten, aber die Bestie wehrte sich mit verzweifelter Kraft. Graves' Gesicht war vor Anstrengung verzerrt, aber es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis er die Stange loslassen musste, oder sie ihm einfach aus den Händen gerissen wurde.

Mogens verdoppelte seine Anstrengungen noch einmal, aber es fiel ihm immer schwerer, das Mädchen zu halten. Keuchend beugte er sich vor und sah endlich, was das Mädchen festhielt: Seine Beine hatten sich in dem wehenden Tang verfangen, der sich dünn wie Haar, aber in gewaltiger Menge um seine Knöchel gewickelt hatte.

Mogens warf sich mit einer entschlossenen Bewegung vor, griff mit beiden Händen nach dem glitzernden Gespinst und versuchte es zu zerreißen.

Es blieb bei dem bloßen Versuch.

Mogens schrie vor Schmerz und Überraschung auf, prallte zurück und sank unbeholfen neben Miss Preussler zu Boden. Seine Hände brannten, als hätte er sie in Säure getaucht, und die Haut begann sich dort, wo er den vermeintlichen Tang berührt hatte, unverzüglich zu röten. Das Mädchen schrie nicht vor Angst, sondern vor Schmerzen.

»Lassen Sie das!«, fauchte Graves. Er versetzte dem untergetauchten Ghoul noch einen abschließenden, harten Stoß, warf dann die Stange neben sich ins Boot und zog mit fliegenden Fingern ein Taschenmesser aus der Jacke. Er konnte nur die rechte Hand und die Zähne zu Hilfe nehmen, um die Klinge herauszuklappen, sodass es ihm um ein Haar ins Wasser gefallen wäre, aber er erlangte im letzten Moment die Kontrolle über seine Bewegungen zurück und beugte sich weit vor, um die Beine des Mädchens zu erreichen. Mogens starrte ihn aus aufgerissenen Augen an. Hatte Graves den Verstand verloren? Die Klinge war kaum so lang wie sein kleiner Finger und sah alles andere als scharf aus. Er würde eine Stunde brauchen, um die ineinander gedrehten Haarbüschel damit durchzusäbeln!

Hinter ihnen begann das Wasser zu brodeln, und Mogens hätte um ein Haar aufgeschrien, als er den Ghoul inmitten einer schäumenden Gischtexplosion aus spritzendem Weiß und schmierigem Rosa durch die Wasseroberfläche brechen sah.

Das Wesen bot einen grauenerregenden Anblick. Es war über und über mit dünnen, fahlweißen Fäden bedeckt, die seine Gliedmaßen umschlangen, seine Schnauze und Krallen umwickelten und sich sogar, winzigen gierigen Ärmchen gleich, in seine leere Augenhöhle vorgetastet hatten. Was von seiner Haut und insbesondere seinem Gesicht unter der wimmelnden Masse überhaupt noch zu sehen war, glich einer einzigen blutenden Wunde, als hätten die peitschenden Stränge damit begonnen, seine Haut aufzulösen.

Mogens geriet in Panik. Obgleich ihm der brennende Schmerz in seinen Händen klar machte, dass sein Verdacht vielleicht nicht so absurd war, wie ihn sein Verstand glauben machen wollte, warf er sich abermals vor, grub die Hände in das zerfetzte Kleid der jungen Frau und zog und riss mit aller Kraft. Graves hatte zu seiner Überraschung bereits einen Gutteil der schleimigen Fäden durchgeschnitten. So harmlos die winzige Klinge auch aussehen mochte, zerteilte sie die hauchdünnen tastenden Fühler doch fast mühelos, und mit jedem Strang, den Graves abschnitt, fiel es ihnen leichter, die junge Frau an Bord zu ziehen. Schließlich zerrissen die letzten Fäden mit einem peitschenden Knall, und das Mädchen schoss regelrecht über die niedrige Bordwand und begrub Miss Preussler und ihn halbwegs unter sich.

Graves ließ das Messer fallen, sank neben ihnen auf die Knie und begann mit bloßen Händen an den abgeschnittenen Strängen und Ärmchen zu reißen, die sich bis weit über die Knie hinauf um beide Beine des Mädchens gewickelt hatten. Die Haut, die darunter zum Vorschein kam, war gerötet und blutete an zahllosen Stellen, und der Würgegriff der so haarfein erscheinenden Fäden war noch im Tode so unbarmherzig, dass Graves all seine Kraft aufwenden musste, um sie abzureißen. Mogens stemmte sich ungeschickt hoch und streckte die Arme aus, um ihm zu helfen, aber Graves stieß ihn so derb zurück, dass er abermals das Gleichgewicht verlor und hart mit Schultern und Hinterkopf gegen den Sarkophag prallte.

»Bist du verrückt?«, keuchte er. »Sorg lieber dafür, dass wir hier wegkommen!«

Mogens blinzelte die grellen Lichtpunkte weg, die vor seinen Augen tanzten. Der Schmerz in seinem Hinterkopf war so schlimm, dass ihm übel wurde, aber er kämpfte ihn nieder und stemmte sich mit zusammengebissenen Zähnen hoch. Miss Preusslers Stange war ins Wasser gefallen und schwamm unerreichbare drei oder vier Meter hinter ihnen; aber selbst wenn sie näher gewesen wäre, hätte Mogens es nicht gewagt, danach zu greifen und die Hände ins Wasser zu tauchen. Millionen glitzernder Fäden bildeten einen lebenden Teppich überall rings um sie herum auf der Wasseroberfläche. Der Ghoul war verschwunden, aber dort, wo er untergegangen war, brodelte und schäumte das Wasser noch immer.

Mogens kämpfte seine Furcht nieder, schloss die Hände um die Stange, die Graves fallen gelassen hatte, und balancierte hastig zum Heck der Barke. Das Boot musste in die Strömung geraten sein, denn sie hatten sich schon ein gutes Stück von der Stelle entfernt, an der der Ghoul ins Wasser gefallen war, aber sie bewegten sich erbärmlich langsam. Wenn ein weiteres Ungeheuer auftauchte, dann waren sie verloren. Der Kanal war einfach nicht breit genug!

Der Gedanke spornte Mogens noch einmal an. Entschlossen rammte er das Ende der Stange ins Wasser und stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Im allerersten Moment geschah nichts. Das Boot zitterte widerwillig auf der Stelle und schien ganz im Gegenteil sogar langsamer zu werden, statt Fahrt aufzunehmen, und eine rasche, irgendwie lebendig wirkende Bewegung lief durch die Masse der Fäden. Tastend, wie eine neugierig suchende Hand wickelten sich zwei, drei aus jeweils hunderten einzelner Fäden bestehenden Stränge um die Stange, krochen zu Mogens' Entsetzen sogar ein gutes Stück weit daran empor und fielen dann mit einem hörbaren Klatschen ins Wasser zurück, als hätten sie den Eindringling in ihr nasses Reich einer flüchtigen Prüfung unterzogen und dann schlagartig das Interesse an ihm verloren.

Vielleicht, weil er nicht lebendig war, dachte Mogens schaudernd. Was immer dieses Zeug auch war - es war ganz gewiss kein Tang oder irgendein anderes, unbekanntes Gewächs. Es war lebendig, und es hatte ganz eindeutig einen eigenen Willen. Vielleicht hatte es kein eigenes Bewusstsein, aber es folgte mindestens einem starken Instinkt, ein womöglich vernunftloses, aber deshalb nicht minder gefährliches Raubtier, das blind nach Beute tastete.

»Mach schneller, um Himmels willen!«, keuchte Graves hinter ihm. »Sie müssen gleich hier sein!«

Mogens fragte vorsichtshalber nicht, wen Graves damit meinte. Stattdessen stemmte er sich mit verzweifelter Kraft gegen die Stange, und endlich setzte sich die Barke ganz allmählich in Bewegung. Quälend langsam zuerst, dann aber rasch schneller werdend, drehte sich der aufwärts geschwungene Bug vollends in die Strömung und nahm Fahrt auf. Es bewegte sich nicht wirklich schnell, aber es bewegte sich.

»Mogens! Komm her«, befahl Graves.

Mogens stemmte sich mit nur noch größerer Verbissenheit gegen die Stange, ohne das Boot damit nennenswert weiter beschleunigen zu können. Er sah immerhin über die Schulter zurück und erblickte Miss Preussler, die mit leichenblassem Gesicht auf ihn zusteuerte. Ohne auch nur ein Wort zu verlieren, nahm sie ihm die Stange aus den Händen und rammte sie mit solcher Kraft ins Wasser, dass die Barke nicht nur spürbar zitterte, sondern auch deutlich schneller wurde.

»Gehen Sie!«, raunte sie ihm zu. »Ich will nicht, dass Sie zu lange mit ihm allein ist.«

Mogens zögerte. »Sind Sie sicher, dass Sie...«, begann er.

Miss Preussler rammte die Stange noch einmal ins Wasser, und das Boot wurde abermals schneller. Sie sagte nichts, und Mogens wandte sich ohne ein weiteres Wort um.

Graves gestikulierte ihm ungeduldig zu, sich zu beeilen, während er zugleich mit spitzen Fingern einige lose Fäden abpflückte und über Bord warf, die an seinen Handschuhen haften geblieben waren. Ein leises Gefühl von Übelkeit stieg in Mogens auf, als er Graves' linke Hand sah. Der Ghoul hatte sie ihm regelrecht zerquetscht. Die Nähte des schwarzen Handschuhs waren aufgeplatzt, und etwas Weißes, Feuchtes quoll hervor. Graves schien es nicht einmal zu merken.

Wortlos riss er Mogens' Hände an sich, drehte sie hin und her und schüttelte dabei ununterbrochen den Kopf. »Irrsinn«, murmelte er immer wieder. »Was für ein Irrsinn.«

Mogens konnte gar nichts anderes tun, als die Tortur mit zusammengebissenen Zähnen über sich ergehen zu lassen. Seine Hände brannten immer noch wie Feuer. Graves' Berührung tat so weh, dass ihm die Tränen in die Augen schossen. Er konnte nur mit Mühe ein gequältes Wimmern unterdrücken.

»Was, zum Teufel, hast du dir dabei gedacht?«, fuhr ihn Graves an. Sein Mitleid hielt sich offensichtlich in Grenzen. »Weißt du nicht, was dir passieren kann, wenn du dieses Teufelszeug anfasst?«

»Nein«, antwortete Mogens gepresst. »Woher auch?«

Graves verzog abfällig die Lippen, griff zu, und Mogens schrie vor Schmerz auf, als er etwas wie einen dünnen, sich windenden weißen Faden aus dem Fleisch seines Handrückens riss und über Bord warf. Die Wunde begann fast augenblicklich zu bluten, aber Graves gab sich damit keineswegs zufrieden, sondern untersuchte seine Hände akribisch noch ein zweites und sogar drittes Mal, bevor er ihn endlich losließ. Der Zorn in seinem Blick hatte kein bisschen ab-, sondern eher noch zugenommen.

»Du hast mehr Glück als Verstand«, sagte er kopfschüttelnd. »Warst du vielleicht scharf auf Hände wie diese?« Er hob die behandschuhten Hände und spreizte die Finger. Unter dem schwarzen Leder schien etwas zu pulsieren. Etwas, das heraus wollte.

Statt zu antworten - und wenn er ehrlich war, hauptsächlich, um dem grässlichen Anblick von Graves' zerquetschter Hand zu entrinnen -, beugte sich Mogens zu dem Mädchen hinab und streckte die Hände nach ihren Beinen aus, aber er wagte es nicht, sie zu berühren; nicht nur, weil das Mädchen zusammenfuhr und erschrocken ein Stück vor ihm davonkroch, sondern vor allem wegen des entsetzlichen Anblicks, den sie boten. Füße, Waden und Schienbeine der jungen Frau sahen aus wie gehäutet. Die grässlichen Tentakel hatten tiefe, blutige Striemen in ihrer Haut hinterlassen, und Dutzende winziger, heftig blutender Wunden.

»Keine Sorge«, sagte Graves spöttisch. »Sie wird vielleicht ein paar Narben zurückbehalten, aber mehr nicht. Ich glaube, ich habe sie alle gefunden.«

»Du glaubst?«, fragte Mogens.

Graves hob die Schultern. »Also gut: Ich bin mir sicher«, verbesserte er sich. »Bist du jetzt zufrieden?«

»Nein«, antwortete Mogens scharf. Er stand auf. »Es wäre vielleicht ganz hilfreich gewesen, wenn du uns von Anfang an gesagt hättest, wie gefährlich dieses Teufelszeug ist.«

»Ich konnte nicht ahnen, wie nahe wir ihm kommen würden«, antwortete Graves ungerührt. »Wenn ich dich über jede Gefahr informiert hätte, auf die wir hier unten möglicherweise stoßen, dann säßen wir jetzt noch oben im Lager beisammen.« Er schnitt Mogens mit einer energischen Handbewegung das Wort ab. »Genug jetzt. Niemand ist ernsthaft zu Schaden gekommen, das ist ja wohl die Hauptsache.«

»Niemand außen dir.« Mogens machte eine Kopfbewegung auf Graves' zerquetschte Hand. Graves runzelte die Stirn und sah ihn einen Herzschlag lang mit einem Ausdruck vollkommener Verständnislosigkeit an. Dann folgte er seinem Blick und fuhr leicht zusammen.

»Ach das«, sagte er. »Das ist halb so wild. In ein paar Tagen sieht man nichts mehr davon.«

Mogens' Magen begann zu revoltieren, als er den Arm hob und die Hand vor dem Gesicht hin und her schlenkerte, als würde das allein seinen Worten mehr Glaubhaftigkeit verleihen. Der Handschuh bewegte sich wie ein nasser Sack, der mit einem zähflüssigen Brei gefüllt war. Weißer Schleim tropfte aus den aufgeplatzten Nähten und zog dünne, glitzernde Fäden hinter sich her. »Siehst du?«, sagte Graves mit einem breiten Grinsen, das zweifellos keinen anderen Ursprung hatte als den, dass man Mogens deutlich ansah, was er bei diesem Anblick empfand. »Alles in Ordnung.«

Mogens konzentrierte sich wieder hastig auf Miss Preussler und die junge Frau, schon, weil er befürchtete, sich sonst im nächsten Moment übergeben zu müssen. Auch Miss Preussler sah zu Graves hin, und der Ausdruck in ihren Augen spiegelte mindestens genau so großen Ekel wie den, den er selbst empfand, auch wenn der weniger Graves' Hand zu gelten schienen, als vielmehr ihm selbst und seinem Benehmen.

»Sie sind uns dennoch eine Erklärung schuldig, Doktor Graves«, sagte sie plötzlich. Obwohl sie sich vorsichtig bewegte, schwappte bei jedem Schritt Wasser zu ihnen herein, in dem glitzernde schwarze Fäden trieben. Bisher war ihnen keiner davon auch nur nahe gekommen, aber Mogens konnte sich des schrecklichen Eindrucks nicht erwehren, eine tausendfingerige Hand zu beobachten, die vielleicht langsam, aber auch überaus aufmerksam zu ihnen hereintastete. Auch sie hatte den unheimlichen Eindringling bemerkt, und obwohl sie sich bemühte, möglichst ruhig zu klingen, konnte sie die Furcht doch nicht ganz verhehlen, mit der sie der Anblick erfüllte.

»Inwiefern?«, fragte Graves.

»Insofern«, antwortete Miss Preussler mit einer heftigen Kopfbewegung auf die wehende Gespinste im Wasser.

Graves verzog abfällig die Lippen. »Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung. Diese... Substanz ist nicht gefährlich, solange man eine gewisse Vorsicht walten lässt.«

»Nicht gefährlich?« Mogens blickte demonstrativ auf seine Hände hinab. Sie sahen nicht annähernd so schlimm aus wie die Beine des Mädchens, aber für seinen Geschmack schlimm genug.

»Es zeigt normalerweise kein Interesse an menschlichem Protein«, antwortete Graves. »Ich weiß nicht, warum es uns attackiert hat. Vielleicht war es die Nähe des Ghouls.«

»Das klingt einleuchtend«, sagte Mogens spöttisch.

Graves schnaubte. »Du überraschst mich immer wieder, Mogens«, sagte er. »Wenn auch immer öfter in negativer Hinsicht. Es sollte einleuchtend klingen, wenigstens für dich.«

Mogens schwieg und sah ihn nur mit einer Mischung aus Zorn und Verständnislosigkeit an, aber Graves reagierte ganz anders, als er hoffte, nämlich mit einer wütenden Handbewegung in die Runde.

»Was ist los mit dir? Hast du all dein Wissen oben im Lager zurückgelassen? Was glaubst du denn, was das hier ist?«

»Ein Schiff«, antwortete Mogens, aber Graves schnitt ihm nur erneut und mit einer noch ärgerlicheren Geste das Wort ab.

»Es ist nicht irgendein Schiff, Mogens. Es ist eine Totenbarke. Und das hier...«, er ließ seine zerschmetterte Hand mit einem widerlichen Klatschen auf den schwarzen Block neben sich hinuntersausen, »... ist ein Sarkophag. Sie stammen aus dem Meer, Mogens. Sie kommen aus dem Wasser, und sie kehren nach dem Tod dorthin zurück. Vielleicht ist das ihre ursprüngliche Form. Das, woraus sie entstanden sind, und wozu sie nach ihrem Tod wieder werden - was weiß ich.« Er zuckte trotzig mit den Schultern. »Und ehrlich gesagt interessiert es mich auch nicht. Mit ein wenig Glück sind wir in einer Stunde hier heraus, und dieser Albtraum hat ein Ende.«

Mogens wollte antworten, doch dann blickte er nur den Sarkophag an und runzelte nachdenklich die Stirn. Seltsam - er hätte schwören können, dass vorhin etwas von dem weißen Schleim aus den aufgeplatzten Nähten von Graves' Handschuh auf den Sarkophagdeckel getropft war. Aber das schwarze Holz war vollkommen sauber. Wahrscheinlich hatte er sich getäuscht. Aber ein ungutes Gefühl blieb, und es wurde sogar noch stärker, als auch Graves einen Moment lang stirnrunzelnd auf den Sarkophag hinunterblickte. Dann wechselte er mit einer sichtlichen Anstrengung das Thema.

»Du kannst mir später so viele Vorwürfe machen, wie es dir Spaß macht. Jetzt haben wir ein anderes Problem. Hilf mir mal.«

Er legte die Hände um eine der vier Stützen, die den geschnitzten Baldachin über dem Sarkophag trugen, und begann mit aller Gewalt daran zu zerren. Der gedrechselte, mehr als mannslange Pfeiler rührte sich nicht, obwohl Graves mit so großer Anstrengung zerrte und zog, dass seine Augen ein Stück weit aus den Höhlen quollen. »Zum Teufel noch mal, hilf mir gefälligst!«, ächzte er.

»Weißt du eigentlich, was du da gerade zu zerstören versuchst?«, fragte Mogens. Er rührte sich nicht.

»Ja. Ein... Jahrtausende altes... unersetzliches... Artefakt«, ächzte Graves. »Und es wäre nicht... notwendig, wenn... du... die Stange nicht... fallen gelassen hättest. Und jetzt hilf mir endlich... oder du... wirst herausfinden... wie sich ein Pharao in seinem... Pyramidengrab unter... einer Million Tonnen Fels... gefühlt hat. Wir brauchen etwas zum... Staken.«

Mogens starrte ihn noch eine geschlagene Sekunde lang an. Graves war dabei, etwas einfach Unersetzliches zu zerstören - aber er hatte zugleich auch Recht: Ihre fantastische Entdeckung nutzte nichts, wenn sie niemandem davon erzählen konnten. Der Wissenschaftler in ihm würde sich für den Rest seines Lebens dafür hassen, aber er griff trotzdem beherzt zu, um Graves zu helfen.

Es nutzte nichts. Obwohl sie mit aller Gewalt zogen und rüttelten, rührte sich der Pfeiler nicht. Nach vielleicht zwei oder drei Minuten gaben sie schweißgebadet und am Ende ihrer Kräfte auf, ohne dass es ihnen gelungen war, die so zerbrechlich aussehende Stütze auch nur zu lockern. Mogens ließ sich schwer atmend gegen den Sarkophag sinken, während sich Graves vorbeugte, die Handflächen auf den Oberschenkeln abstützte und fast asthmatisch nach Luft japste.

»Wovor... fliehen wir... eigentlich?«, keuchte Mogens. »Vor Ghoulen?«

»Vielleicht«, antwortete Graves, kaum weniger außer Atem als er. »Obwohl ich nicht glaube, dass sie es wagen, uns bis hierher zu verfolgen. Sie fürchten das, was im Wasser ist.«

»Zumindest einem scheint es keine besondere Angst gemacht zu haben«, mischte sich Miss Preussler ein, aber Graves schüttelte nur den Kopf.

»Ich fürchte, das war meine Schuld«, gestand er. »Ich habe ihn verletzt. Diese Kreaturen reagieren ausgesprochen bösartig, wenn man ihnen weh tut.«

»Ach?«, fragte Miss Preussler spitz. »Sonst nicht?«

Graves richtete sich auf, sog hörbar die Luft in die Lungen und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Einige Sekunden lang starrte er scheinbar nachdenklich ins Wasser, dann zog er seine Taschenuhr heraus, klappte den Deckel auf und studierte etwas länger und stirnrunzelnd die Stellung der Zeiger. Dann sagte er: »Lassen Sie es gut sein, Miss Preussler.«

Miss Preussler stemmte sich mit nur noch größerer Anstrengung gegen die Stange. »Wieso?«, fragte sie ächzend. »Verstoße ich gerade... gegen irgendeine Gewerkschaftsauflage?«

Graves klappte seine Uhr zu. »Dieser Kanal hat eindeutig eine Verbindung zum offenen Meer«, sagte er.

»Und?«, ächzte Miss Preussler. »Hoffen Sie vielleicht, dass die Küstenwache uns zu Hilfe kommt?«

Graves bückte sich nach seiner Laterne und richtete den Strahl auf das gemauerte Ufer. »Sehen Sie die dunkle Linie zwei Finger breit über dem Wasserspiegel, meine Liebe?«, fragte er. »Der Wasserstand ist gesunken. Draußen muss mittlerweile die Ebbe eingesetzt haben.«

Miss Preussler hörte auf zu staken. »Und?«

»Das heißt, die einsetzende Ebbe zieht uns hinaus«, antwortete Graves.

Miss Preussler blinzelte. Ihr Gesicht glänzte vor Schweiß. »Ist das wahr?«, wandte sie sich an Mogens.

»Es ist wahr«, sagte Graves unwillig. »Also hören Sie auf, sich unnötig zu verausgaben, und kümmern Sie sich lieber um das Mädchen. Ich glaube, sie hat ein wenig Zuspruch nötig.«

Miss Preussler funkelte ihn an. Aber sie sagte nichts, sondern zog nur mit einer einzigen, ärgerlichen Bewegung die Stange aus dem Wasser, warf sie mit einer übertrieben kraftvollen Bewegung unmittelbar vor Graves' Füße und ging zu dem Mädchen hin. Graves sah ihr stirnrunzelnd, aber auch mit einem nicht gänzlich unterdrückten spöttischen Glitzern in den Augen zu, hob aber nach einem Moment wieder den Kopf und musterte - nun eindeutig besorgt - die langsam vorübergleitenden Wände. Sie hatten die Höhle längst hinter sich gelassen und fuhren nahezu lautlos durch einen gemauerten Tunnel, dessen Decke sich nur wenige Zentimeter über dem hölzernen Baldachin befand. Er fragte sich, ob dieses sonderbare Boot passend für den Kanal gebaut worden war, oder umgekehrt, kam aber zu keiner eindeutigen Antwort. Logik hatte in diesem gemauerten Albtraum nicht mehr viel Bedeutung.

Mogens hob den Blick und suchte die Decke ab. Auch hier gab es überall Bilder, verschlungene Fresken und Reliefarbeiten, aber auch noch andere Dinge, die ihn über die Maßen erschreckten, zugleich aber auf eine morbide Weise faszinierten. Wenn man lange genug hinsah, begannen sich die Bilder scheinbar zu bewegen und zu einem neuen, unheimlicheren Sinn zu gruppieren, und beinahe glaubte er auch so etwas wie ein lautloses Flüstern zu hören, eine geisterhafte Stimme tief unter seinen Gedanken, die verbotene Geschichten aus einer Jahrmillionen zurückliegenden Zeit erzählte.

»Wie lange... brauchen wir bis zur Küste?«, fragte Miss Preussler zögernd.

Graves hob die Schultern. »Auf jeden Fall zu lange«, murmelte er. »Ich weiß es nicht. Wir sind vier oder fünf Meilen von der Küste entfernt, aber ich habe nicht die leiseste Vorstellung, wie schnell dieses Boot ist.« Er sog hörbar die Luft ein. »Ich fürchte allerdings, dass Tom auf jeden Fall schneller sein wird.«

»Das Dynamit«, vermutete Miss Preussler. »Er will irgendetwas damit in die Luft sprengen. Aber wir sind doch viel zu weit entfernt, als dass die Explosion...«

»Tom will nicht irgendetwas in die Luft sprengen, Miss Preussler«, unterbrach sie Graves. »Er ist auf dem Weg zur Pyramide, um sie zu zerstören.«

»Das ist doch lächerlich«, antwortete sie. »Auch wenn ich vielleicht nur eine dumme Frau bin, Doktor Graves, so weiß ich doch, dass nicht einmal die hundertfache Menge an Sprengstoff ausreichen würde, um ein so gewaltiges Bauwerk zu zerstören.«

Graves lächelte traurig Er wandte sich an Mogens, als er antwortete: »Ich fürchte, er hat vor, das Tor zu sprengen.«

»Die Verbindung zum Sirius?«, entfuhr es Mogens.

»Er hätte es niemals sehen dürfen. Er hätte niemals davon erfahren dürfen. Es ist meine Schuld. Wie konnte ich nur auf die Idee kommen, ihn hierher mitzunehmen!«

»Und was passiert, wenn es ihm gelingt?«, fragte Miss Preussler. Ihre Stimme zitterte.

»Das weiß ich nicht«, gestand Graves. »Niemand kann sagen, was geschieht, wenn ein so mächtiges Instrument außer Kontrolle gerät. Vielleicht nichts. Aber ich fürchte...« Er sprach nicht weiter, sondern breitete nur in einer Geste der Hilflosigkeit die Hände aus, und Mogens verspürte einen Schauer eisigen Entsetzens. Seine Fantasie weigerte sich, ihm auszumalen, was geschehen mochte, wenn Tom mit seinem Rucksack voller Sprengstoff auch nur in die Nähe des Tores kam. Er hatte es niemals gesehen, und er war auch kein Physiker oder Astronom, aber ihm war klar, welch wortwörtlich unvorstellbarer Gewalten - ob physikalischer, psychischer oder vielleicht auch gänzlich anderer Art - es bedurfte, die ungeheuerlichen Entfernungen zwischen den Sternen zu überbrücken, und was geschehen konnte, wenn diese Kräfte außer Kontrolle gerieten.

»Ich weiß nicht, was geschehen wird, Miss Preussler«, sagte Graves noch einmal. »Vielleicht nichts, vielleicht auch etwas Unverstellbares.«

»Die gesamte Höhle könnte zusammenstürzen«, murmelte Miss Preussler betroffen.

»Das könnte passieren«, antwortete Graves ernsthaft. »Es könnte aber auch das Ende unserer ganzen Welt bedeuten.«

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