8.

Graves war an diesem Abend nicht mehr gekommen. Mogens hatte mehrmals mit dem Gedanken gespielt, seinerseits zu ihm hinüberzugehen - schließlich waren es nur wenige Schritte bis zu der Blockhütte, die Graves bewohnte -, sich aber dann anders entschieden und war früh zu Bett gegangen. Fast zu seiner eigenen Überraschung schlief er augenblicklich ein und erwachte erst am nächsten Morgen, weitaus entspannter und ausgeruhter, als er selbst es nach dem zurückliegenden Tag für möglich gehalten hätte, und ohne die allergeringste Erinnerung an einen Albtraum.

Er war auch nicht von selbst erwacht. Ein leises Rumoren und Hantieren in seiner unmittelbaren Nähe hatte ihn geweckt, und noch bevor er die Augen aufschlug, stieg ihm der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee in die Nase.

Mogens richtete sich auf und erblickte Tom, der emsig dabei war, den Frühstückstisch zu decken. In den Kaffeeduft mischte sich nun der Geruch von gebratenem Speck und Eiern, und ohne dass Mogens es verhindern konnte, ließ sein Magen ein lautes Knurren hören. Tom wandte mit einem Ruck den Kopf und sah ihn im allerersten Moment so betroffen an, als hätte Mogens ihn bei etwas Verbotenem ertappt, aber dann lächelte er. »Morgen, Professor. Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt.«

Mogens richtete sich weiter auf, schwang die Beine vom Bett und verbarg für einen Moment das Gesicht in den Händen. Er fühlte sich ausgeruht und frisch, war aber im ersten Moment noch so benommen, dass er nur mit Mühe ein Gähnen unterdrücken konnte. »Doch, das hast du«, sagte er. »Es macht ja wohl auch wenig Sinn, ein so köstliches Frühstück zu bereiten und dann abzuwarten, bis es kalt geworden ist.« Er nahm die Hände herunter, schnüffelte übertrieben und sah die gedeckte Frühstückstafel an. »Hat Graves dich beauftragt, mir irgendetwas schonend beizubringen?«

»Sir?«, fragte Tom verwirrt.

»Diese Portion scheint mir eher für einen Bauarbeiter gedacht«, erklärte Mogens lächelnd. »Hat er vielleicht vergessen zu erwähnen, dass ich den Tempel ganz allein mit einer Spitzhacke ausgraben soll?«

»Wenn ich mich richtig erinnere, war die Rede eher von einem Löffel«, antwortete Tom todernst, schüttelte aber sofort den Kopf und fuhr wieder lächelnd fort: »Um ehrlich zu sein: Es ist 'ne doppelte Portion. Doktor Mercer wollte heute Morgen kein Frühstück, und es war mir zu schade zum Wegwerfen.« Sein Lächeln floss zu einem Grinsen auseinander. »Ich glaub, er fühlt sich heut nicht so gut.«

»Gestern Abend schien er sich jedenfalls ganz ausgezeichnet zu fühlen.« Mogens stand auf, grub die Taschenuhr aus seiner Jacke, die er in Ermangelung eines Kleiderhakens über die Stuhllehne gehängt hatte und klappte den Deckel auf. Es war noch nicht einmal sechs, selbst für Mogens, der gewiss kein Langschläfer war, eine ungewohnt frühe Zeit.

»Ich hoffe doch, du machst es dir jetzt nicht zur schlechten Angewohnheit, mich immer so früh wecken«, sagte er gähnend.

Tom blinzelte. »Früh?«

Mogens zog eine Grimasse. »Schon gut«, seufzte er. Er griff nach der Kanne, um sich einen Kaffee einzugießen, zögerte aber ganz unwillkürlich und unterzog die Tasse einer kurzen, aber sehr aufmerksamen Inspektion, bevor er sich einschenkte und die erste Tasse in einem einzigen Zug herunterstürzte.

»Nehmen Sie Platz, Professor«, sagte Tom. »Ich mach das schon.«

»Danke«, antwortete Mogens, trat aber ganz im Gegenteil einen Schritt vom Tisch zurück und machte eine leicht verlegene Kopfbewegung zur Tür. Da er gerade aufgestanden war, verspürte er ein menschliches Bedürfnis, aber es war ihm peinlich, darüber zu sprechen. »Ich bin sofort zurück.«

Die entsprechende Örtlichkeit befand sich ein Stück abseits der Häuser und auf halbem Wege zu den Büschen, die das Lager zum Friedhof hin abschirmten. Mogens eilte mit weit ausgreifenden Schritten dorthin. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, und es war empfindlich kalt, und er dachte sehnsüchtig an das köstliche Frühstück, das Tom vorbereitet hatte, sodass er sich beeilte, in seine Unterkunft zurückzukommen. Er hatte jedoch noch nicht den halben Weg hinter sich gebracht, als er das Motorengeräusch eines Automobils hörte und überrascht wieder innehielt.

Ein Scheinwerferpaar erschien hinter dem Unterholz, dann brach der dazugehörige Wagen durch das Geäst und Mogens machte instinktiv zwei Schritte zur Seite, um nicht über den Haufen gefahren zu werden. Die Gefahr bestand nicht im Geringsten - der Wagen fuhr zwar in scharfem Tempo an ihm vorbei, aber auch in mindestens zehn oder zwölf Schritten Abstand -, doch Mogens erschrak trotzdem wie ein Dieb, der sich auf frischer Tat ertappt fühlte.

Es war nicht irgendein Automobil, sondern ein Polizeiwagen.

Statt zu seiner Hütte und dem Frühstück zurückzukehren, das dort auf ihn wartete, machte Mogens kehrt und folgte dem Streifenwagen mit schnellen Schritten. Das Automobil kurvte so dicht an dem Zelt im Herzen des Lagers vorbei, dass der dünne Stoff wie ein Segel im Wind knatterte, steuerte Graves' Haus an und kam so abrupt davor zum Stehen, dass der Morast unter seinen Rädern aufspritzte. Mogens beschleunigte seine Schritte abermals, sodass er zwar noch nicht wirklich rannte, aber auch nicht mehr weit davon entfernt war.

Ein untersetzt gebauter Mann mit einem schon fast absurd großen Stetson stieg aus dem Streifenwagen. Praktisch im gleichen Augenblick ging auch schon die Tür der Blockhütte auf, und Graves trat hinaus. Mogens war noch zu weit entfernt, um die Gesichter der beiden Männer zu erkennen, aber er konnte die Spannung, die zwischen ihnen knisterte, selbst über die Entfernung hinweg spüren. Er ging noch schneller und langte bei Graves und seinem uniformierten Besucher an, als dieser gerade seinen riesigen Cowboyhut absetzte und die Schultern straffte, um Graves gebührend zu begegnen.

»Mogens!« Graves machte keinen Hehl daraus, wie wenig begeistert er über Mogens' Auftauchen war. »So früh schon wach?«

Mogens erschrak, als er in Graves' Gesicht sah. Es war keine vierundzwanzig Stunden her, dass sie sich gesehen hatten, aber Graves schien in dieser Zeit um Jahrzehnte gealtert zu sein. Sein Gesicht wirkte eingefallen. Dunkle Schatten lagen auf seinen Wangen und in seinen Augen flackerte eine Wildheit, bei deren Anblick sich Mogens beherrschen musste, um nicht unwillkürlich einen Schritt zurückzutreten. Doktor Jonathan Graves hatte ganz eindeutig keine gute Nacht hinter sich.

»Ich konnte nicht mehr schlafen«, antwortete Mogens und fügte mit einer Kopfbewegung auf den Streifenwagen hinzu: »Der Verkehrslärm wird in letzter Zeit immer schlimmer. Und dabei bin ich extra aufs Land gezogen, um meine Ruhe zu haben.« Er grinste, aber er spürte selbst, dass der ohnehin lahme Scherz seine Wirkung verfehlte. Graves verzog die Lippen zu etwas, das das genaue Gegenteil eines Lächelns war, und sein Besucher sah für einen Moment so betroffen aus, als hätte er seine Worte tatsächlich ernst genommen.

»Professor Mogens VanAndt«, sagte Graves mit einer entsprechenden Geste in Mogens' Richtung. »Mein neuer Mitarbeiter.« Er wies aus der gleichen Bewegung heraus auf den Polizisten. »Sheriff Wilson.«

»Professor.« Wilson deutete ein Kopfnicken an, das Mogens weniger neutral erschien, als ihm lieb gewesen wäre, und setzte dazu an, etwas zu sagen, doch Graves kam ihm zuvor.

»Was führt Sie zu dieser frühen Stunde hierher, Sheriff?«, fragte er. »Sie wissen, dass ich die Anwesenheit von Fremden auf meinem Gelände nicht schätze.«

Von Wilsons Gesicht verschwand auch noch die letzte Spur von Freundlichkeit, als er sich zu Graves umwandte. »Ich habe auch nur ein paar Fragen, Doktor«, sagte er kühl. »Es geht um ein Mitglied des Geologenteams, das drüben auf der anderen Seite campiert. Doktor Phillips, um genau zu sein.«

»Phillips?« Mogens' Miene verdüsterte sich noch weiter. Er gab sich nicht einmal die Mühe, so zu tun, als denke er über Wilsons Worte nach. »Nie gehört.«

»Ich glaube, ich habe noch zu tun«, sagte Mogens und wollte sich unverzüglich abwenden, um zu gehen, aber Wilson hielt ihn mit einer knappen Geste zurück.

»Nein, bleiben Sie, Professor«, sagte er. »Es kann gut sein, dass ich auch an Sie noch ein paar Fragen habe.«

»Aber ich bin erst seit einem Tag hier!«

Wilson ignorierte seine Antwort und wandte sich wieder an Graves. »Es wundert mich ein wenig, dass Sie Doktor Phillips nicht kennen wollen, Doktor Graves«, sagte er. »Wo Sie doch erst gestern Morgen mit ihm gesprochen haben.«

»Ich?«, fragte Graves.

»Es gibt Zeugen, die einen heftigen Streit zwischen Doktor Phillips und Ihnen beobachtet haben wollen«, bestätigte Wilson. »Hier.«

Für den Bruchteil eines Herzschlages sah Graves nicht mehr Wilson, sondern Mogens an, und in seinen Augen blitzte etwas auf, das fast an Hass grenzte. Dann aber hatte er sich wieder in der Gewalt und wandte sich dem Sheriff zu.

»Ach, der.« Graves schürzte verächtlich die Lippen. »Ja, das ist wahr. Ich wusste nicht, dass sein Name Phillips ist. Er war hier, das ist richtig.«

»Also geben Sie zu, dass es einen Streit gab?«, vergewisserte sich Wilson.

»Das ganze Gelände hier ist Privatbesitz, Sheriff«, sagte Graves kühl. »Ich habe meinen geschätzten Kollegen von der geologischen Fakultät schon vor einem halben Jahr verboten, meinen Grund und Boden zu betreten. Wie Sie ja selbst am besten wissen, verstoßen sie permanent gegen dieses Verbot. Ich habe einen Fremden auf meinem Grund und Boden ertappt, der dort nichts zu suchen hat, und war nicht begeistert davon.« Sowohl sein Blick als auch sein Tonfall wurden deutlich herausfordernder. »Dabei wäre es eigentlich die Aufgabe der Behörden, dafür zu sorgen, dass meine Rechte als Staatsbürger und Grundbesitzer gewahrt bleiben.«

»Nun, zumindest soweit es Phillips betrifft, müssen Sie sich keine Sorgen mehr machen, Doktor«, antwortete Wilson. »Er wird Sie mit Sicherheit nicht mehr belästigen. Seine Leiche wurde heute Nacht unweit von hier gefunden.«

»Er ist tot?«, entfuhr es Mogens unwillkürlich, was ihm diesmal nicht nur einen Blick von Graves, sondern auch einen von Wilson eintrug. Er hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen.

»Das ist anzunehmen, nachdem man seinen Leichnam gefunden hat«, sagte Graves böse. Er wandte sich wieder zu Wilson um. »Was ist geschehen? Ein Unfall?«

»Das wissen wir noch nicht genau«, gestand dieser. »Sein Leichnam wird noch untersucht. Er ist in einem furchtbaren Zustand - als hätte ihn ein Raubtier angefallen und zerfleischt. Auch wenn ich mir beim besten Willen kein Raubtier vorstellen kann, das imstande wäre, so etwas zu tun.«

»Und jetzt glauben Sie, dass ich ihn umgebracht habe?«, fragte Graves höhnisch.

»Sie waren der Letzte, der mit Doktor Phillips gesprochen hat«, antwortete Wilson ruhig. »Seither hat ihn niemand mehr gesehen. Ich muss diese Fragen stellen.«

»Was Ihnen zweifellos das Herz bricht«, schnappte Graves. Er schüttelte zornig den Kopf. »Ich muss Sie enttäuschen, Sheriff. Ich werde dem Nächsten, der widerrechtlich einen Fuß auf meinen Grund und Boden setzt, möglicherweise eine Ladung Schrotkugeln auf den Pelz brennen, aber ich bringe niemanden um. Und ich pflege widerrechtliche Eindringlinge auch nicht in Stücke zu reißen.« Graves machte eine unwillige Geste. »Wenn das alle Fragen gewesen sind, dann tut es mir Leid, Ihnen nicht helfen zu können, Sheriff.«

Wilson drehte sich zu Mogens um und setzte seinen übergroßen Stetson wieder auf - was seine Gestalt aber keineswegs imponierender erscheinen ließ, sondern eher komisch. »Und Sie, Doktor...?«

»VanAndt«, half Mogens aus. »Professor VanAndt.«

»Professor VanAndt.« Wilson zuckte mit den Schultern, um klar zu machen, wie wenig Respekt ihm Mogens' akademischer Titel abnötigte. »Haben Sie Doktor Phillips gestern gesehen, Professor

»Nein«, antwortete Mogens wahrheitsgemäß.

»Das ist bedauerlich.« Wilson seufzte. »Sollte Ihnen noch irgendetwas einfallen, was der Aufklärung dieser schrecklichen Geschichte dienlich sein könnte, dann benachrichtigen Sie mich bitte unverzüglich, Professor. Und Sie ebenfalls, Doktor Graves.« Er tippte mit Zeige- und Mittelfinger der Linken gegen den Rand seines albernen Cowboyhutes, stieg in den Wagen und fuhr davon.

Graves sah ihm finster nach, bis er - jetzt ebenso langsam, wie er zuvor schnell gefahren war - verschwunden war. Dann wandte er sich mit kaum weniger finsterem Gesichtsausdruck an Mogens.

»Dieser kleine, dumme Mann«, sagte er. »Er kommt sich vor wie Sherlock Holmes und Wyatt Earp in einer Person, nur weil er schon einmal das Wort Bluff gehört hat. Was bildet er sich ein, wer er ist?«

»Dann glaubst du nicht, dass ich...?«, begann Mogens, allerdings nur, um auf der Stelle unterbrochen zu werden.

»Dass du irgendetwas gehört oder gesehen haben könntest, das diesen Dummkopf von Sheriff interessieren müsste?« Graves grinste wölfisch - und Mogens hatte dieses Gefühl wortwörtlich. Im noch schwachen Licht der Dämmerung, die gerade erst heraufzuziehen begann, erinnerte sein Gesicht Mogens tatsächlich an das eines Wolfs, der mit gefletschten Zähnen seine Beute musterte. »Wo denkst du hin? Selbstverständlich nicht! Der verlogene kleine Gesetzeshüter macht mir Schwierigkeiten, seit ich hierher gekommen bin, aber man kann ihm eine gewisse Schläue nicht absprechen. Er weiß, dass du neu hier bist und versucht einen Keil zwischen uns zu treiben. Das ist die Gefahr an solchen Leuten: Sie sind vielleicht nicht sonderlich intelligent, aber man sollte sich davor hüten, sie zu unterschätzen.«

Mogens hatte Mühe, seinen Worten zu folgen. Irgendetwas stimmte mit Graves' Gesicht nicht. Es schien sich... zu verändern. Das Wölfische darin nahm zu, ohne dass es sich dabei um eine wirklich materielle Veränderung zu handeln schien. Dennoch war sie unübersehbar. Durch Graves' ausgezehrte, aber dennoch immer noch menschliche Züge schimmerte in immer stärkerem Maße das Raubtier, das darunter verborgen war.

»Aber warum sollte der Sheriff das tun?«, fragte er mühsam. Nicht weil er sich diese Frage tatsächlich stellte, sondern weil es einfach das Erste war, was ihm einfiel. Er musste aufhören, Graves anzustarren. Aber er konnte es nicht.

»Weil er dafür bezahlt wird«, schnappte Graves. »Diese verdammten Maulwürfe versuchen mich von hier zu vertreiben, seit ich gekommen bin. Aber das wird ihnen nicht gelingen!« Der Zorn in seinen dunklen, mit einem Male viel tiefer in den Höhlen zu liegen scheinenden Augen loderte zu blankem Hass auf. Ein dünner Speichelfaden lief sein Kinn herunter, offensichtlich ohne dass er es bemerkte.

»Und welchen Grund sollten die Geologen dafür haben?«, fragte Mogens. »Sie sind Wissenschaftler wie wir!«

»Vergleiche mich nie wieder mit diesen... diesen Dilettanten!«, knurrte Graves. Nicht im übertragenen Sinne, dachte Mogens schaudernd. Er knurrte tatsächlich. »Und jetzt geh frühstücken, Mogens. Wir haben einen langen anstrengenden Tag vor uns. Ich erwarte dich in einer halben Stunde unten im Tempel.«

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