9.

Schon aus ebenso purem wie kindischem Trotz heraus erschien Mogens nicht pünktlich nach Ablauf einer halben Stunde an seinem neuen Arbeitsplatz, sondern erst, nachdem mehr als die doppelte Zeitspanne verstrichen war. Aber das war nicht der einzige Grund. Es war nicht einmal der hauptsächliche Grund. Der eigentliche Grund für diese Verspätung war, dass er sich davor fürchtete, Jonathan Graves wiederzusehen.

Mogens versuchte vergeblich, den Gedanken als so lächerlich abzutun, wie er selbst in seinen eigenen Ohren klang. Es gab keinen Grund, Graves zu fürchten. Noch vor Wochenfrist hatte er jeden Grund dafür gehabt, aber dieser Moment war vorbei; er hatte sich seiner persönlichen Nemesis gestellt, und nun gab es keinen Anlass mehr, vor Graves zu zittern. Er konnte ihn hassen, ihn verachten und zutiefst verabscheuen - und von all diesen Empfindungen war mehr als genug in ihm -, aber er brauchte keine Angst mehr vor ihm zu haben. Aber genau das hatte er.

Mogens' Bewegungen wurden immer langsamer, als er die Leiter herunterstieg. Während er den niedrigen Gang zur ersten Höhle entlangschritt, versuchte er sich über seine eigenen Empfindungen klar zu werden. Natürlich wusste er, dass sich Graves' Gesicht vorhin nicht wirklich verändert hatte. Es musste am Licht gelegen haben, oder an seiner eigenen Müdigkeit und Nervosität, vielleicht auch an einer Kombination von allem. Menschen verwandeln sich nicht in... Dinge, die in der Dämmerung auseinander fließen und sie zu neuer, schrecklicherer Gestalt zusammensetzen. Nicht einmal Jonathan Graves tat so etwas, auch wenn Mogens keine Skrupel gehabt hätte, ihm sogar solcherlei Abscheulichkeiten zuzutrauen. Das Problem war, dass er bereit war, diesen Unsinn zu glauben - jeden Unsinn zu glauben, solange es Jonathan Graves nur schadete.

Tatsächlich war ihm im Nachhinein klar geworden, dass ein nicht geringer Teil von ihm vorhin geradezu begierig darauf gewartet hatte, dass Wilson mehr als nur einen vagen Verdacht äußern und dass sich dieser Verdacht als wahr herausstellen würde. Vielleicht war es in Wahrheit nicht so sehr Graves, um den er sich Sorgen machen sollte, sondern er selbst. Dass er Graves niemals wirklich verzeihen konnte, sondern zeit seines Lebens hassen oder zumindest verachten würde, das war ihm ebenso klar, wie es auch Graves klar sein musste. Mogens war jedoch zutiefst erschrocken über die Intensität seines Hasses. Vielleicht stimmte es, was die Psychologen sagten, dass ein gewisses Maß an Rachegedanken, ja, sogar Hass durchaus gesund und bei der Überwindung eines traumatischen Erlebnisses hilfreich war. Doch das, was Mogens in sich spürte, war ganz gewiss nicht mehr gesund.

Er hatte das Ende des Stollens nahezu erreicht, und seine Schritte wurden noch einmal langsamer, als er Stimmen vor sich hörte - die von Graves und gleich darauf die von Doktor Hyams, die schrill und beinahe hysterisch klang. Mogens machte noch zwei weitere Schritte und blieb dann stehen, als er begriff, dass er mitten in einen heftigen Streit hineinplatzte.

»... verstehe Ihre Erregung, ehrlich gesagt, nicht ganz«, sagte Graves in diesem Moment. »Was fehlt Ihnen, Suzan? Mangelt es Ihnen an irgendwelchen Materialien? Brauchen Sie mehr Geld? Größeren Entscheidungsspielraum?«

»Darum geht es nicht, und das wissen Sie verdammt genau, Graves!«, schnappte Hyams. »Wir schuften seit einem Jahr wie die Sklaven für Sie! Wir sehen kaum das Tageslicht, und wir dürfen kein Wort über unsere Arbeit verlieren, obwohl wir hier die vielleicht sensationellste Entdeckung des Jahrhunderts gemacht haben!«

»Weil, meine Liebe«, unterbrach sie Graves. »Weil, nicht obwohl.«

»Papperlapapp!«, fauchte Hyams. »Es geht doch darum, dass wir uns seit einem Jahr bemühen, ernsthafte wissenschaftliche Arbeit zu leisten, und Sie, Sie holen einen... einen Hexenmeister!«

Mogens hatte genug gehört. Ihm war klar, dass er im allerungünstigsten aller nur denkbaren Augenblicke hereinplatzte, aber selbst das war ihm mit einem Mal egal. Es machte keinen Sinn, auf Zehenspitzen durch einen Porzellanladen zu schleichen, durch den zuvor ein Hurrikan getobt war. Er ging weiter, steuerte mit energischen Schritten auf Graves und Hyams zu und registrierte eher beiläufig, dass auch die beiden anderen anwesend waren. McClure fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut, und diese Ausstrahlung von Unwohlsein explodierte regelrecht, als er Mogens' ansichtig wurde, während Mercer einfach nur müde aussah und alle Mühe zu haben schien, dem Gespräch überhaupt zu folgen.

»Stehen Sie schon lange da und lauschen?«, empfing ihn Hyams feindselig.

»Es war nicht nötig, zu lauschen«, antwortete Mogens. »Sie waren laut genug.« Er streifte Graves mit einem raschen, aufmerksamen Blick und wandte sich dann wieder der Archäologin zu. Er musste sich beherrschen, um nicht unhöflich zu werden, und er musste sich noch mehr beherrschen, um nichts zu sagen oder etwas zu tun, was sie noch mehr provozierte. »Hexenmeister« war längst nicht das schlimmste Wort, mit dem man ihn in den letzten Jahren belegt hatte, und doch ärgerte es ihn ungemein.

»Es tut mir aufrichtig Leid, dass Sie so über mich denken, Doktor Hyams«, sagte er mit erzwungener Ruhe. »Ich dachte wirklich, Sie hätten verstanden, was ich Ihnen gestern Abend zu erklären versucht habe. Ich habe nichts mit schwarzer Magie und Hokuspokus im Sinn. Ich bin Wissenschaftler, genau wie Sie!«

»Und zwar einer der besten, den ich kenne«, mischte sich Graves ein. Hyams wollte auffahren, doch Graves brachte sie mit einer herrischen Geste zum Schweigen und fuhr mit erhobener Stimme fort: »Genug! Ich dulde diese kindischen Eifersüchteleien nicht! Dafür haben wir wirklich keine Zeit! Ich kann Ihnen versichern, Suzan, dass Professor VanAndt nicht hier ist, um Ihnen irgendetwas von Ihrem wohlverdienten Ruhm streitig zu machen - ebenso wenig wie einem von Ihnen, meine Herren. In wenigen Tagen werden Sie verstehen, warum ich den Professor zurate gezogen habe. Und bis dahin bitte ich mir ein wenig von der Disziplin aus, die ich von Forschern Ihres Kalibers erwarten darf!«

Zu Mogens' nicht geringem Erstaunen widersprach niemand. Selbst Hyams blickte ihn nur noch einen Moment lang herausfordernd an, drehte sich dann aber mit einem trotzigen Verziehen der Lippen weg, und auch McClure und Mercer brachten irgendwie das Kunststück fertig, furchtbar beschäftigt auszusehen, obwohl sie weiter mit leeren Händen dastanden.

»Komm, Mogens.« Graves machte eine Geste in seine Richtung, die kaum weniger herrisch war als die, mit der er Hyams zum Schweigen gebracht hatte. »Wir haben zu tun!«

Mogens schloss sich ihm ganz automatisch an, als er sich umwandte und auf die Brettertür zuging, die zu dem Hieroglyphengang führte. Verwirrt sah er zu Hyams und den beiden anderen zurück. Da er selbst zu jener Gattung gehörte, wusste er nur zu gut, wie allergisch Wissenschaftler im Allgemeinen auf Autorität reagierten. Umso unglaublicher kam es ihm nun vor, dass sich Hyams, Mercer und McClure wie verschüchterte Schüler von Graves hatten abkanzeln lassen. Andererseits hatte auch er selbst Graves' befehlendem Ton ganz instinktiv gehorcht.

Sie brachten den Gang in so scharfem Tempo hinter sich, dass Mogens kaum die nötige Zeit fand, seine Gedanken zu ordnen, bevor sie die Gittertür an seinem jenseitigen Ende erreichten. Sie stand offen, aber Graves drehte sich um, kaum dass Mogens an ihm vorbeigetreten war, ließ das Vorhängeschloss einrasten und zog den Schlüssel ab, um ihn in die Westentasche zu stecken. Mogens sah ihn fragend, aber auch ein ganz kleines bisschen alarmiert an. Er hatte es noch nie ertragen, eingesperrt zu sein.

»Ich will nur sichergehen, dass wir auch ungestört bleiben«, sagte Graves, dem Mogens' Blick nicht verborgen geblieben war. »Normalerweise öffne ich die Geheimtür nur sonntags, wenn Hyams und die anderen in der Stadt sind.«

»Und du wunderst dich, dass die anderen allmählich misstrauisch werden?«, fragte Mogens.

Graves hob zur Antwort nur die Schultern und ging weiter. Er war ganz offensichtlich nicht bereit, weiter über dieses Thema zu reden.

Sie steuerten die Geheimtür an, wie Mogens nicht anders erwartet hatte - aber zu seiner nicht geringen Überraschung stand sie weit offen, und er bemerkte erst jetzt, als er unmittelbar davor stand, das dicke Elektrokabel, das sich über den Boden schlängelte und in dem dahinter liegenden Gang verschwand.

Die zweite - und weitaus größere - Überraschung war die schlanke Gestalt, die ihnen entgegenkam, kaum dass sie wenige Schritte weit in den Tunnel eingedrungen waren.

»Tom!«

Tom nickte ihm flüchtig zu und wandte sich dann an Graves. »Ich bin fast fertig, Doktor Graves«, sagte er. »Ich muss nur noch die Lampen holen und anschließen.«

»Das hat Zeit bis heute Nacht«, antwortete Graves. »Du kannst das erledigen, nachdem du das Abendessen aufgetragen hast. Jetzt geh und ruh dich ein paar Stunden aus.«

Tom nickte dankbar und entfernte sich rasch. Graves sah ihm nach, bis er den Gang verlassen hatte und seine Schritte draußen verklungen waren, dann fügte er leiser und mit einem angedeuteten Kopfschütteln hinzu: »Der Junge hat die ganze Nacht gearbeitet.«

»Ich dachte, dir wäre daran gelegen, dass niemand von diesem Gang erfährt«, sagte Mogens.

»Das ist auch so«, bestätigte Graves. »Niemand, der nicht ohnehin schon von seiner Existenz weiß - und dessen, wohin er führt.« Er lächelte flüchtig. »Unterschätze niemals die Neugier eines Kindes, Mogens. Hyams und die beiden anderen mögen noch darüber spekulieren, was ich hier gefunden habe, aber Tom wusste es bereits kurz nach mir.« Er hob die Schultern. »Wir brauchen Licht für unsere Arbeit. Mir war nicht danach, Kabel zu verlegen und Lampen zu installieren - ganz davon zu schweigen, dass ich es gar nicht könnte. Du vielleicht?«

Mogens schüttelte den Kopf. »Und du vertraust Tom?«

»Habe ich eine andere Wahl?« Graves lachte. Aber er wurde auch sofort wieder ernst. »Nein, ich vertraue Tom. Vielleicht ist er sogar der Einzige hier, dem ich wirklich vertrauen kann. Dich natürlich ausgenommen«, fügte er mit einem feinen Lächeln hinzu.

»Natürlich«, sagte Mogens.

Sie gingen weiter, nachdem Graves wieder die Karbidlampe aus der Nische in der Wand genommen und eingeschaltet hatte. Das schwarze Elektrokabel, so dick wie Mogens' Handgelenk, ringelte sich vor ihnen in der Dunkelheit und wies ihnen den Weg, endete aber vor dem Schutthaufen, der den Gang von der eigentlichen Zeremonienkammer trennte. Wie am Vortage kletterte Graves voraus. Diesmal ließ er die eingeschaltete Lampe oben auf der Halde liegen, sodass ihr grelles Licht Mogens zumindest nicht mehr die Tränen in die Augen trieb, als er ihm folgte.

Graves hatte diesmal in der Kammer gleich vier Sturmlaternen entzündet, als Mogens sie betrat. Das Licht war somit doppelt so hell, schien die Dunkelheit aber dennoch nicht nennenswert mehr zu vertreiben, sondern die Schwärze jenseits seiner vagen Grenzen noch zu betonen. Mogens hatte erneut das Gefühl, große, sich auf sonderbar ungesunde Weise bewegende Schemen zu sehen, die sich dem Licht näherten, es aber nicht wirklich zu berühren wagten.

»Da du hier bist, muss ich dich nicht mehr fragen, wie du dich entschieden hast, nehme ich an«, sagte Graves, während er Mogens gleich zwei der vier Lampen reichte, die er entzündet hatte. »Also lass uns beginnen. Wir haben nicht alle Zeit der Welt.«

Mogens griff gehorsam nach den beiden Laternen und folgte Graves, der zielstrebig die so seltsam unregelmäßige Treppe ansteuerte, welche zu dem monströsen Tor mit seinen beiden noch viel monströseren Torwächtern hinaufführte. Das hellere Licht hätte den Effekt mildern sollen, aber das genaue Gegenteil war der Fall: Der flackernde Schein schien das unheimliche Spiel der Schatten und vermeintlichen Bewegung noch zu verstärken. Sie sollten nicht dort hinaufgehen. Dieses gewaltige Tor aus unzerstörbarem Metall hatte einen Sinn, so wie auch die beiden oktopoiden Wächterdämonen nicht grundlos dort oben standen oder nur der Fantasie des prähistorischen Künstlers entsprungen waren, der sie erschaffen hatte.

»Und was genau erwartest du jetzt von mir?« Mogens fühlte sich hilflos, schlimmer noch: deplatziert. Im wortwörtlichen Sinne an einem Ort, an dem er nicht sein sollte. An dem kein Mensch sein sollte.

Graves war ein paar Schritte vorausgeeilt, blieb aber genau wie Mogens stehen, bevor der Schein seiner Lampen die monströsen Statuen vollends aus der Dunkelheit reißen konnten, in der sie seit Jahrtausenden geschlafen - und gewartet? - hatten. »Wenn ich die Antwort auf diese Frage wüsste, wärst du nicht hier«, sagte er.

Er hob eine seiner Laternen, aber ihr Licht schien die riesige krakengesichtige Kreatur auf ihrem schwarzen Steinsockel nicht wirklich zu berühren, sondern im allerletzten Moment davor zurückzuprallen wie eine Hand, die der Flamme um ein Haar zu nahe gekommen wäre und im allerletzten Moment zurückzuckte, bevor sie sich verbrennen konnte. Im Gegenzug schien die unheimliche Steingestalt mit einem jähen Satz auf sie zuzuspringen, ohne die zitternde Barriere indes weiter überwinden zu können, als das Licht zuvor die Schatten vertrieben hatte. Doch sie zogen sich auch nicht wieder zurück, sondern krallten sich in den Rand aus zerbrechlicher Helligkeit, um ihn geduldig zu belagern und daran zu nagen, so wie die Finsternis das Licht seit Anbeginn der Zeiten belagert hatte - Kombattanten in einem Krieg, der ewig währen mochte, an dessen letztendlichem Ausgang es aber keinen Zweifel gab.

Statt sich der Treppe und damit dem Tor weiter zu nähern, machte Mogens im rechten Winkel kehrt und steuerte die nächstgelegene Wand an, um die Malereien und Hieroglyphen darauf einer ersten, gründlicheren Untersuchung zu unterziehen.

Was er erfuhr, war schlimm genug.

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