35.

Mogens blieb nicht nur vollkommen verstört zurück, sondern auch mit einem überaus schlechtem Gewissen. Er hatte Tom nicht einfach nur verunsichert, sondern auch zutiefst verletzt, und das hatte er ganz gewiss nicht gewollt. Zugleich fragte er sich allerdings auch, warum Tom so überaus verschreckt auf diese Frage reagiert hatte.

Die Antwort war so offensichtlich, dass Mogens ganz automatisch den Kopf schüttelte, sie sich überhaupt hatte stellen zu müssen. Er hatte etwas gesehen, und es hatte ihn erschreckt - aber kein bisschen überrascht.

Wieso aber konnte er sich nicht daran erinnern?

Mogens spürte, wie seine Gedanken schon wieder auf Pfaden zu wandeln begannen, die sie am Ende vielleicht genau dorthin führen würden, wo das Janice-Ding in der Dunkelheit wohnte, und das würde er im Moment nicht ertragen.

Mogens wandte sich einem näher liegenden Problem zu: Tom hatte ihm zwar frische Kleider gebracht, aber mit seinen bandagierten Händen war er kaum in der Lage, sie hochzuheben, und ganz gewiss nicht, sie anzuziehen. Darüber hinaus musste er wissen, was mit seinen Händen geschehen war. Tom hatte behauptet, die Verletzung wäre nicht so schlimm, aber auf der anderen Seite hatte Graves darauf bestanden, sie ihm höchstpersönlich und noch dazu auf diese sonderbare Weise zu bandagieren, und Jonathan tat prinzipiell nichts Sinnloses.

Mogens sah sich unversehens mit einem neuen, vollkommen unerwarteten Problem konfrontiert, als er damit begann, seine Bandagen zu lösen. Durch die eng geschnürten Binden praktisch des Geschickes beider Hände beraubt, war es ihm nahezu unmöglich, den straff angelegten Verbandsstoff auch nur zu lockern. Erst, als er die Zähne zu Hilfe nahm, gelang es ihm, einen Anfang an seiner linken Hand zu machen. Er bezahlte dafür mit so heftigen Schmerzen, dass ihm die Tränen in die Augen schossen, und fast noch schlimmer war der Geschmack. Graves musste die Verbände mit irgendeiner Salbe oder Tinktur getränkt haben. Obwohl Mogens sorgfältig darauf achtete, dass seine Lippen nicht mit dem groben Verbandsstoff in Berührung kamen, löste der Geschmack ein so heftiges Gefühl von Übelkeit in seinem Magen aus, dass er sich um ein Haar übergeben hätte. Dennoch arbeitete er verbissen weiter und lockerte nach und nach einen Streifen nach dem anderen, bis sich der Verband schließlich vollends löste und mit einem sonderbar schweren und nassen Laut zu Boden fiel.

Was darunter zum Vorschein kam, war so verblüffend, dass Mogens für einen Moment sowohl den tobenden Schmerz als auch die kaum minder quälende Übelkeit vergaß.

Er hatte erwartet, seine Finger aufs Schrecklichste verstümmelt zu erblicken, denn seine Hände fühlten sich nicht nur an, als wären sie gehäutet worden, sondern darüber hinaus auch noch, als wäre jeder einzelne Knochen darin gebrochen.

Aber sie waren vollkommen unversehrt. Mogens gewahrte nicht den winzigsten Kratzer; allenfalls zwei oder drei Stellen, an denen die Haut leicht gerötet war. Dazu kam noch etwas, das ihm erst nach einigen weiteren Augenblicken richtig bewusst wurde: Jetzt, da er den Verband entfernt hatte, ließen die Schmerzen rasch nach. Was zurückblieb, war ein allenfalls noch unangenehmes Brennen und Kribbeln.

Hastig und nun im Besitz einer funktionstüchtigen Hand, entfernte er auch den Verband von seiner Rechten und wurde mit demselben, fast schon unheimlichen Anblick belohnt. Auch seine rechte Hand war nahezu unversehrt; ein paar Schrammen, die er sich wahrscheinlich zugezogen hatte, als er auf der Trümmerhalde gestürzt war, und auch die Schmerzen in dieser Hand ließen sofort nach, nachdem er den Verband entfernt hatte.

Noch etwas fiel ihm auf: Seine Haut war von einer dünnen, klebrigen Schicht bedeckt, die einen leicht scharfen, aber nicht einmal wirklich unangenehmen Geruch verströmte. Was zum Teufel hatte ihm Graves da auf die Finger geschmiert? Und vor allem: Warum?

Tom war vorausschauend genug gewesen, ihm nicht nur ein kräftiges Frühstück zu bringen, sondern auch eine Schale mit frischem Wasser. Nachdem er die schleimige Schicht vollends abgewaschen und seine Hände schließlich schon fast übertrieben sorgsam trocken gerieben hatte, wurde sein Verdacht zur Gewissheit: Die Schmerzen waren wie weggeblasen. Nicht irgendeine Verletzung, die er sich im Laufe der vergangenen Nacht zugezogen hatte, war für die Schmerzen verantwortlich gewesen, sondern die Salbe, die Graves auf seine Verbände gegeben hatte.

Mogens wurde für einen Moment zornig, beruhigte sich aber dann auch fast ebenso schnell wieder.

Graves mochte seine Gründe gehabt haben. Aber Mogens nahm sich fest vor, ihn zu fragen, und sich diesmal auch ganz gewiss nicht mit irgendwelchen Halbwahrheiten oder Ausflüchten abspeisen zu lassen. Im Moment jedoch hatte er Wichtigeres zu tun.

Nachdem er sich angezogen hatte - die Kleider mussten Tom gehören, denn sie passten weder richtig, noch waren sie wirklich sauber -, machte er sich wie ein hungriger Wolf über das Essen her. Tom hatte seinen Appetit großzügig eingeschätzt; dennoch hatte er nicht das Gefühl, wirklich satt zu sein, obwohl er alles bis auf den letzten Krümel verzehrte.

Wie spät mochte es sein? Mogens durchwühlte die beklagenswerten Überreste seiner Kleider nach seiner Taschenuhr, ohne jedoch fündig zu werden, und vor dem einzigen, noch dazu nicht besonders großen Fenster waren die Läden vorgelegt, sodass im Innern der Hütte ein schummeriges Halbdunkel herrschte. Das wenige Licht jedoch, das durch die schmalen Ritzen der altersschwachen Läden drang, war so klar, dass es nur das eines noch recht jungen Tages sein konnte. Also hatte er noch nicht einmal sehr lange geschlafen, wenn man seinen Zustand und den immensen Blutverlust bedachte, den er erlitten hatte. Dennoch viel zu viel Zeit.

Mogens warf einen sehnsüchtigen Blick auf das zerwühlte Bett, dessen Laken so schweißnass waren, dass er den unangenehmen, säuerlichen Geruch selbst hier noch wahrnehmen konnte. Doch es half nicht. Sie hatten nur noch so wenig Zeit und so unendlich viele Fragen.

Entschlossen stand er auf und wandte sich zur Tür. Schon auf dem Weg dorthin wurde ihm wieder schwindelig, und es wurde nicht besser, als er das Haus verließ und sich quer über den schlammigen Platz hinweg auf den Weg zu Graves' Hütte machte.

Was die Tageszeit anging, so hatte er sich verschätzt, und zwar zu seinen Ungunsten. Die Sonne hatte den Zenith schon überschritten, und es musste nach zwei sein, wenn nicht drei.

Er war mindestens zwölf Stunden bewusstlos gewesen. Gott allein wusste, was in dieser Zeit unten in den Höhlen geschehen sein mochte oder welche Ungeheuer die ewige Nacht dort unten ausbrütete, um sie auf eine ahnungslose Welt loszulassen.

Allein auf dem kurzen Stück zu Graves' Hütte musste er zweimal innehalten, um neue Kraft zu schöpfen. Der üble Geschmack war noch immer in seinem Mund und sorgte dafür, dass er zumindest einen der Gründe nicht vergaß, aus denen er zu Graves unterwegs war, und er nutzte die zweite Zwangspause, die ihm Schwindel und Schwächegefühl auferlegte, um seine Hände noch einmal im hellen Sonnenlicht zu betrachten.

Sie waren nicht ganz so unversehrt, wie er noch vorhin geglaubt hatte. Zwar konnte er auch jetzt noch keine Verletzungen entdecken, die über einige vernachlässigbaren Schrammen hinausgingen, aber seine Haut war leicht gerötet - vor allem an den Handflächen -, und es gab zwei oder drei kleine nässende Stellen, die ihm vorher im schwachen Licht seiner Hütte nicht aufgefallen waren.

Mogens ballte prüfend erst die eine, dann die andere Hand zur Faust und ging dann weiter.

Graves öffnete nicht, als er gegen die Tür klopfte, zuerst zaghaft, dann etwas energischer und schließlich so laut, dass Graves es einfach hören musste, wenn er da war. Es erfolgte keine Reaktion.

Mogens wandte sich enttäuscht um und ließ seinen Blick unschlüssig über den weiten Platz und die Ansammlung unterschiedlich großer Gebäude schweifen. Graves konnte buchstäblich überall sein, in jenem einzelnen dieser Gebäude, selbst unten in den Höhlen, und er hatte nicht die Kraft, überall nach ihm zu suchen. Aber er konnte auch nicht einfach in seine Hütte zurückkehren und darauf hoffen, dass Graves früher oder später von selbst bei ihm auftauchte, um ihm all seine Fragen zu beantworten. Ebenso gut konnte er auch hier auf ihn warten.

Obwohl es ihm selbst nach allem, was geschehen war, nachgerade lächerlich vorkam, empfand er doch ein heftiges Gefühl von schlechtem Gewissen, als er die Türklinke herunterdrückte und das kleine Haus betrat. Auch hier waren die Läden vorgelegt, sodass Mogens seine Umgebung mehr erahnte als wirklich sehen konnte; eine Umgebung, die zudem nur aus verschwommenen Schatten und Schemen und allesamt gleichermaßen unwirklich wie bedrohlich anmutenden Umrissen zu bestehen schien. Mogens versuchte, sich die genaue Einrichtung und die Standorte des Mobiliars ins Gedächtnis zu rufen, um sich wenigstens unbeschadet an eines der Fenster vorzutasten, prallte prompt in der Dunkelheit gegen einen Stuhl, der mit einem lautstarken Poltern umfiel, und kam erst dann auf die nächstliegende Idee, nämlich kurzerhand die Tür offen zu lassen. Sein schlechtes Gewissen, das ihm sagte, dass er hier ein unerwünschter Eindringling war, hatte ihn wohl offensichtlich dazu veranlasst, sich auch wie ein solcher zu benehmen.

Beim zweiten Anlauf erreichte er das Fenster ohne größere Zwischenfälle oder Verletzungen, zog es auf und stieß auch den altersschwachen, zweigeteilten Laden nach außen. Das Sonnenlicht, das hereinströmte, wirkte im ersten Moment deplatziert; die Luft war voller Staub, der hell aufleuchtete wie ein Schwarm winziger goldfarbener Insekten, die allesamt im gleichen Sekundenbruchteil dem Licht zu nahe gekommen waren, und für einen winzigen Moment, jenen zeitlosen Augenblick, in dem die Dunkelheit zurück wich, ohne dass das Licht ihr bereits gefolgt war, schienen die Dinge rings um ihn herum eine vollkommen andere, bedrohliche Gestalt anzunehmen, sprungbereit lauernde Schatten, die Gesichter und Münder hatten und ihn gierig anstarrten; ihrer Beute noch nicht habhaft, aber schon gewiss.

Der Augenblick verging, ehe er auch nur wirklich erschrecken konnte, aber er ließ etwas wie einen neuerlichen, noch schlechteren Geschmack in ihm zurück. Diesmal nicht auf seiner Zunge, sondern auf seiner Seele.

Mogens verscheuchte den unheimlichen Gedanken, schalt sich im Stillen den Feigling, der er ganz offensichtlich auch war, und beeilte sich nun, auch zu den beiden anderen Fenstern zu eilen und sie aufzumachen; wie er sich selbst sogar einigermaßen erfolgreich einredete, weil es hier drinnen finster und die Luft so stickig war, dass man sie kaum noch atmen konnte, in Wahrheit aber wohl viel mehr, weil er Angst vor den Schatten hatte und den Dingen, die darin lebten.

Zumindest die Luft wurde merklich besser, auch wenn Mogens nun umso deutlicher wahrnahm, wie erbärmlich es hier drinnen stank - nach Graves' grässlichen Zigaretten, abgestandenem Essen und alten Büchern, aber auch nach noch etwas anderem, das er nicht richtig bezeichnen konnte, obgleich es eindeutig der unangenehmste Geruch von allem war.

Mit einiger Mühe gelang es ihm, sich auch von diesem Gedanken frei zu machen. Er war nicht hierher gekommen, um sich ein Urteil über Graves' Reinlichkeit oder seine Essgewohnheiten zu bilden. Er musste mit Graves sprechen - und vor allem musste er sich setzen, wollte er nicht Gefahr laufen, dass Graves ihn bewusstlos und zitternd auf dem Fußboden vorfand, wenn er zurückkam. Die kleine Anstrengung, das Zimmer dreimal zu durchqueren und die Fenster zu öffnen, war offensichtlich schon mehr, als er sich im Moment zumuten konnte.

Загрузка...