11.

Mogens schlug nach ihm.

Die Bestie heulte vor Wut und Schmerz auf, zuckte zurück und schlug ihrerseits nach ihm, und dieser Hieb raubte Mogens endgültig das Bewusstsein.

Mogens schlug die Augen auf und stieß einen gellenden Schrei aus. Die Visage des Ungeheuers war über ihm, nur Zentimeter von seinem Gesicht entfernt und nahe genug, dass er ihren nach Verwesung und Aas stinkenden Atem riechen konnte. Grausame Augen taxierten ihn kalt, das schreckliche Maul war halb geöffnet, sodass er die fauligen, kreuz und quer stehenden nadelspitzen Fänge sehen konnte. Mogens warf sich herum und versuchte, der Kreatur die Fäuste gegen die Kehle zu schmettern. Aber er war viel zu langsam. Das Wesen wich seinem Hieb ohne die geringste Mühe aus, packte im nächsten Moment seine Handgelenke und hielt sie mit nur einer seiner riesigen Pranken fest; so als hätte sie Mogens' nächste Bewegung schon vorausgeahnt, noch bevor er selbst sich ihrer bewusst wurde: Mogens zog die Knie an, um dem Ungeheuer die Füße in den Leib zu rammen, aber das Ding blockierte seine Beine mit der anderen Pfote. »Professor?«

Der Griff des Ungeheuers war so hart wie Stahl. Mogens spürte, dass er nicht einmal die Spur einer Chance hatte, sich zu befreien, aber er kämpfte trotzdem mit der Kraft eines Wahnsinnigen weiter, warf sich herum, schrie und wand sich und versuchte zu treten. »Professor! Hören Sie auf! So beruhigen Sie sich doch!«

Mogens beruhigte sich nicht, sondern kämpfte im Gegenteil nur noch mit viel größerer Kraft, und eine Hand klatschte in sein Gesicht und warf seinen Kopf mit solcher Gewalt herum, dass ihm die Luft wegblieb. Erst nach einer Sekunde sah er wieder auf und es verging noch ein weiterer, quälend schwerer Herzschlag, bis das Gesicht des Albtraummonsters über ihm zerfloss und sich neu und auf fast unheimliche Weise zu dem eines Jungen mit fast mädchenhaft zerbrechlichen Zügen und schulterlangem blondem Haar zusammensetzte. Was sich nicht änderte, war der stählerne Griff, mit dem er Mogens' Handgelenke zusammenpresste.

»Alles in Ordnung mit Ihnen, Professor?«, fragte Tom. Nicht nur sein Blick, sondern vor allem der besorgte Ton in seiner Stimme machte Mogens klar, dass er nur ja zu sagen brauchte, um sich für alle Zeiten in Toms Augen lächerlich zu machen.

»Tom?«, murmelte er. »Du?«

Er zwang sich mit einer gewaltigen Willensanstrengung, seine Muskeln zu entspannen. Es verging noch ein Moment, aber als Tom spürte, dass Mogens' Widerstand erlahmte, ließ auch er seine Handgelenke los, und einen Moment später zog er auch die andere Hand zurück, die Mogens' Knie blockierte.

»Ist alles in Ordnung, Professor?«, fragte er zögernd.

Nichts war in Ordnung. Mogens hätte über die Frage gelacht, hätte er die Kraft dazu gehabt. »Entschuldige, Tom«, sagte er. »Es tut mir Leid. Ich... hatte wohl einen Albtraum.«

»Und dazu hast du auch allen Grund, Mogens.« Es war nicht Tom, der diese Worte sagte, und Mogens erkannte die Stimme schon mit der ersten Silbe, die sie aussprach. Und dennoch - nein: deswegen - dauerte es eine geschlagene Sekunde, bevor er die Kraft aufbrachte, den Kopf zu drehen und den Sprecher anzublicken.

»Jonathan?«, hauchte er ungläubig.

»Immerhin erinnerst du dich noch an meinen Namen«, sagte Graves spöttisch. Er lehnte mit vor der Brust verschränkten Armen an der Wand neben der Tür und sah mit einem Ausdruck auf Mogens herab, den dieser nicht zu deuten vermochte, der aber alles andere als angenehm war. »Das gibt Anlass zur Hoffnung. Vielleicht haben die Steine doch nicht alle deinen Kopf getroffen.«

Mogens nahm seine Worte nicht einmal zur Kenntnis. Tom ließ ihn endgültig los - wenn auch erst, nachdem er Graves einen fragenden Blick zugeworfen und dieser mit einem kaum merklichen Nicken sein Einverständnis signalisiert hatte -, und Mogens richtete sich in eine halb sitzende Position auf.

»Du... du lebst?«, murmelte er.

Graves sah ihn an, als müsse er ernsthaft eine Sekunde über diese Frage nachdenken. Auch dann antwortete er nicht sofort, sondern faltete die Arme auseinander, streifte seinen Hemdsärmel hoch und kniff sich selbst in den Unterarm.

»Au!«, sagte er. Dann wandte er sich grinsend an Mogens. »Ja, es fühlt sich zumindest so an, als wäre ich noch am Leben.« Sein Lächeln erlosch übergangslos. »Das ist mehr, als man um ein Haar von dir hätte behaupten können, Mogens. Wenn Tom nicht gewesen wäre, würden wir dieses Gespräch hier wohl kaum führen. Aber ich müsste mich wieder mit diesem Dummkopf von Sheriff herumschlagen.«

Mogens sah ihn verständnislos an, und Graves deutete mit einem glänzenden schwarzen Handschuh auf Tom. »Tom hat dir das Leben gerettet, Mogens. Gib Acht, dass das nicht zu einer schlechten Angewohnheit wird.«

Mogens blickte verständnislos von einem zum anderen. Graves grinste schon wieder, während Tom eindeutig mit jeder Sekunde verlegener wurde.

»Das war pures Glück«, sagte er stockend. »Ich war im richtigen Augenblick da, aber das war auch alles.«

»Ja, und mit ein bisschen weniger Glück wärst du jetzt tot«, fügte Graves hinzu. Er schüttelte den Kopf. »Du bist zu bescheiden, Tom.«

»Ich erinnere mich kaum, was passiert ist«, sagte Mogens - was nur zu einem geringen Teil der Wahrheit entsprach. Streng genommen erinnerte er sich an jeden einzelnen furchtbaren Augenblick der zurückliegenden Nacht - aber er konnte nicht sagen, was von diesen Erinnerungen echt und was nur Ausgeburt einer schrecklichen Fieberfantasie war. Er setzte sich weiter auf und verspürte einen heftigen, reißenden Schmerz im Knöchel, der ihm ein qualvolles Keuchen entlockte. Ganz eindeutig war nicht alles, woran er sich zu erinnern glaubte, bloße Einbildung.

»Was ist passiert?«, fragte er.

»Ein Erdbeben«, antwortete Graves und hob die Schultern. Zugleich machte er eine besänftigende Handbewegung. »Es war nicht besonders stark. Vielleicht sind in der Stadt ein paar Teller von den Regalen gefallen, aber das glaube ich nicht einmal.«

Das war es, was er sagte. Sein Blick jedoch sagte etwas ganz anderes. Mogens hielt ihm eine Sekunde lang stand, dann erwiderte er ihn mit einem fast ebenso unmerklich angedeutetem Nicken und wandte sich wieder direkt an Tom. »Mir wäre jetzt nach einer Tasse deines köstlichen Kaffees, Tom.«

Tom zögerte. Für einen Moment sah er regelrecht verloren aus, aber dann tauschte er wieder einen raschen und diesmal eindeutig Hilfe suchenden Blick mit Graves und stand schließlich auf, um mit schnellen Schritten das Haus zu verlassen.

»Der Junge hat dir das Leben gerettet, Mogens«, sagte Graves ernst. »Du solltest vielleicht ein wenig mehr Dankbarkeit zeigen.«

»Ich weiß«, murmelte Mogens. Graves hatte durchaus Recht, und sein schlechtes Gewissen regte sich und unterstrich seine Worte noch. Aber er war viel zu verwirrt, um auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.

»Und du?«

Graves sah ihn fragend an.

»Wie bist du rausgekommen?«, verdeutlichte Mogens seine Frage. »Ich dachte, du... du wärst tot. Großer Gott, als dort unten alles zusammenbrach...«

»Für einen Mann, der von sich behauptet, ein überzeugter Agnostiker zu sein, nimmst du den Namen des Herrn ziemlich oft in den Mund«, spottete Graves. Er schüttelte den Kopf und machte zugleich eine Bewegung, die an ein halbes Achselzucken erinnerte. »Es war dann doch nicht so schlimm, wie es im ersten Moment schien. Ich hatte mehr Angst um dich als um mich, Mogens. Du hättest zu mir kommen sollen, statt davonzulaufen. Als ich dich in den Tunnel rennen sah, da glaubte ich, es wäre um dich geschehen. Das war ziemlich dumm, Mogens. Wenn Tom dich nicht gefunden hätte, dann wärst du jetzt tot.«

Tom. Etwas an diesem Namen klang... falsch in Mogens' Ohren. Er versuchte sich an die vergangene Nacht zu erinnern, aber in seinem Kopf stürzten die Gedanken und Bilder wild durcheinander. Da war etwas, doch es wollte ihm einfach nicht gelingen, die Erinnerung zu fassen. Ein grässliches Gesicht mit einer Hundeschnauze und rot glühenden Augen, Krallen, die sein Hemd ebenso mühelos zerfetzten wie die Haut darunter...

Mogens richtete sich vollends auf und sah an sich herab. Sein Hemd starrte vor Dreck und war über Brust und Schulter zerrissen. Auf seiner kaum weniger verdreckten Haut darunter waren vier dünne, verkrustete Linien zu sehen, die wie Feuer brannten. Kratzer, die er sich bei seiner verzweifelten Flucht zugezogen hatte.

»Du willst ihm das doch nicht etwa vorhalten, oder?«, fragte Graves. »Der arme Junge macht sich auch so schon genug Vorwürfe, dich allein gelassen zu haben, statt draußen im Gang auf dich zu warten, wie er es versprochen hatte.«

Mogens schwieg. Selbstverständlich war ihm klar, wie unsinnig dieser Gedanke war, aber für ihn waren diese Risse die Schrammen, die die Krallen des Ungeheuers in seine Haut gerissen hatten...

Er schüttelte den Gedanken ab. »Was war das, da drinnen?«, murmelte er. »Haben... haben wir das getan?«

»Das Erdbeben?« Graves lachte. »Kaum. Ich hoffe, du glaubst mir jetzt etwas mehr, Mogens. Die gesamte Tempelanlage versinkt in der Erde. Uns bleibt nicht mehr allzu viel Zeit.«

Es dauerte einen Moment, bis Mogens wirklich begriff, was Graves mit diesen Worten sagen wollte. Er richtete sich kerzengerade auf. »Du... du willst noch einmal dort hinunter?« Schon bei der bloßen Vorstellung, erneut diesen furchtbaren Raum aufzusuchen, zog sich sein Magen zu einem harten Klumpen zusammen.

»Was dachtest du?«, antwortete Graves. »Mogens, du hast doch nicht etwa vergessen, was wir gestern erlebt haben?« Er begann aufgeregt mit den Händen zu fuchteln. »Wir haben es geschafft, Mogens! Du hast es geschafft! Wir haben den Beweis.«

»Du willst noch einmal dorthin?«, vergewisserte sich Mogens. Seine Stimme wurde zu einem tonlosen Krächzen. »Du... du willst diese Tür öffnen?«

»Du etwa nicht?«

»Aber das dürfen wir nicht«, antwortete Mogens. »Jonathan, du musst es doch auch gespürt haben!«

»Gespürt?« Graves' Augen wurden schmal. Seine Hände hörten auf, hektische Bilder in die Luft zu malen, und erstarrten in einer zupackenden Geste. Mogens wurde klar, dass er einen Fehler gemacht hatte. Aber es war zu spät, ihn zu korrigieren. »Da ist also noch mehr«, fuhr Graves nach einer Weile fort. »Ich hatte Recht! Diese Kammer ist nur der Eingang! Das wahre Geheimnis wartet erst noch darauf, entdeckt zu werden!«

Mogens musste an die beiden gewaltigen Götzenbilder denken, die das Tor bewachten, und eine Klaue purer Angst krallte sich in seine Seele. Obwohl er wusste, dass es ein weiterer Fehler war, fuhr er fort: »Du hast Recht, Graves. Da ist etwas hinter dieser Tür. Aber es hat einen Grund, dass sie verschlossen ist.« Er schauderte. »Bist du noch gar nicht auf die Idee gekommen, dass, was immer sich hinter dieser Tür befindet, vielleicht dort eingesperrt worden ist?«

»Jetzt bist du es, der Unsinn redet«, sagte Graves.

»Nein!« Mogens sprang auf und sank gleich darauf stöhnend wieder auf die Bettkante zurück, als ihm prompt schwindelig wurde. Nicht mehr schreiend, aber in fast verzweifelt flehendem Ton fuhr er fort: »Großer Gott, Graves, reicht dir wirklich nicht, was da drinnen geschehen ist?«

»Was da drinnen...?« Graves riss verblüfft die Augen auf. »Mogens, du glaubst doch nicht im Ernst, dass wir an diesem Unglück schuld sind?«

»Du etwa nicht?«

Graves' Stimme wurde fast sanft. »Das war ein Erdbeben. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Ein ganz normales Erdbeben, wie es in dieser Gegend nicht einmal unüblich ist. Du kannst nicht ernsthaft glauben, dass wir irgendetwas damit zu schaffen haben.«

Nein, es war keine Sache des Glaubens. Er wusste es. Sie hatten etwas geweckt, etwas, das seit Urzeiten hinter jener verschlossenen Tür eingesperrt war und auf ihre bloße Anwesenheit reagiert hatte. Was sie gespürt hatten, das war vielleicht nicht mehr als ein flüchtiges Räuspern gewesen, kaum mehr als das Zucken eines Giganten, der sich im Schlaf regte. Und dennoch hatte die Erde gebebt und Felsen waren geborsten. Was mochte geschehen, wenn sie diesen Koloss weckten? »Ich werde nicht wieder dort hinuntergehen, Jonathan«, sagte er leise, aber sehr ernst und mit bitterer Entschlossenheit. »Nie wieder.«

Graves seufzte. »Du bist jetzt verwirrt, Mogens. Du wärst um ein Haar ums Leben gekommen, Vielleicht sollte ich nicht zu viel von dir verlangen.« Er löste sich von seinem Platz an der Tür. »Tom wird dir einen starken Kaffee brühen, und danach kümmert er sich um deine Verletzungen. Wir unterhalten uns später noch einmal, wenn du dich beruhigt hast.«

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