32.

Anders als in der vergangenen Nacht war der Generator ausgeschaltet, und somit herrschte unten im Gang, als Mogens die Leiter hinunterstieg und sich auf den Weg zu Graves und Tom machte, pechschwarze Dunkelheit. So unheimlich ihm das Arbeitsgeräusch des Generators auch gewesen war, so sehr vermisste er es jetzt beinahe, denn die Stille, die ihn empfing, war beinahe noch bedrückender. Es schien nicht nur die reine Abwesenheit von Geräuschen zu sein. An ihre Stelle war etwas anderes getreten; etwas Fremdes, das nicht hierher gehörte und sich wie eine würgende Decke über das Hier und Jetzt legte und jeden Laut erstickte. Selbst seine Schritte schienen nicht mehr das allermindeste Geräusch zu verursachen. Wäre nicht am Ende des Tunnels ein blasses, flackerndes Licht gewesen, so hätte Mogens wohl spätestens jetzt der Mut verlassen, und er wäre auf der Stelle umgekehrt.

Zu seiner Enttäuschung war die große Höhle leer. Von Graves und Tom war keine Spur zu entdecken, und auch die drei großen Kisten waren verschwunden. Auf dem Tisch stand eine einsame Petroleumlampe, deren Licht das sie umgebende Durcheinander aus Papieren, Werkzeugen und Fundstücken in eine bizarre Skulptur aus schrägen Linien und Schatten verwandelte.

Immerhin gab es ein zweites Licht, das ihm den Weg wies. Mogens war nicht überrascht, aber ihm lief ein kalter Schauer über den Rücken, als er sah, dass es aus dem zur Tempelkammer führenden Gang kam. Der einzige Grund, aus dem er weiterging, war vermutlich, dass umzukehren ihn mehr Mut gekostet hätte, als seinen Weg fortzusetzen.

Auch die Lampen im Hieroglyphengang brannten nicht, aber der Raum an seinem anderen Ende war hell genug erleuchtet, sodass er zumindest nicht Gefahr lief, zu stolpern oder sich auf andere Weise an den Wänden zu verletzen. Und auf halbem Wege hörte er auch endlich wieder Stimmen. Ganz zweifelsfrei kamen sie von Tom und Graves, dennoch hatte Mogens im ersten Moment Mühe, sie zu identifizieren. Die sonderbare Stille, die ihn hier unten empfangen hatte, war noch immer da, nur nicht mehr so allumfassend wie zuvor; sie verschlang nun nicht mehr jegliches Geräusch, sondern schien nur noch gewisse Frequenzen zu überdecken, sodass sich Graves' Stimme sonderbar dumpf und verzerrt anhörte, als befände er sich unter Wasser.

Mogens schob auch diesen bizarren Eindruck auf seine eigene Nervosität und beschleunigte seine Schritte - mit dem Ergebnis, dass er die nur halb geöffnete Gittertür am Ende des Ganges übersah und unsanft dagegen prallte. Tom, der mit dem Rücken zum Eingang dagestanden hatte, fuhr alarmiert herum und sah für einen Moment regelrecht entsetzt aus, zumindest aber sehr erschrocken. Graves hingegen drehte sich betont gelassen zu ihm um und sah ihn gute fünf Sekunden lang eindeutig zufrieden an. Dann griff er mit einer schon übertrieben langsamen Bewegung in die Westentasche, zog seine Uhr hervor und klappte den Deckel auf. Mogens hatte das sichere Gefühl, dass diese Geste vollkommen überflüssig war. Graves wusste auf die Minute genau, wie spät es war.

Er wandte sich auch nicht an ihn, als er sprach, sondern an Tom. »Ich habe gewonnen, Tom«, sagte er fröhlich. »Du schuldest mir einen Dollar.«

»Gewonnen?«, wiederholte Mogens fragend.

Graves ließ den Deckel seiner kostbaren goldenen Taschenuhr mit einem übertrieben heftigen Geräusch zuklappen, das mehrfach gebrochen und verzerrt von den Wänden widerhallte und dabei zu etwas anderem zu werden schien. »Tom und ich haben gewettet«, sagte er. »Er hat einen Dollar daraufgesetzt, dass du entweder gar nicht oder erst nach Mitternacht kommst. Ich hingegen habe zwanzig Dollar darauf gewettet, dass du spätestens um elf hier bist.« Er wiegte den Kopf. »Es war knapp. Acht Minuten später, und du wärst mich teuer zu stehen gekommen, Mogens.«

»Das hättest du mir sagen sollen, Tom«, sagte Mogens. »Um Doktor Graves zu schädigen, hätte ich selbst die Gesellschaft von Miss Preussler noch für zehn Minuten ertragen.«

»Ich wusste nicht, dass du mich so sehr hasst, Mogens«, seufzte Graves. Er steckte seine Uhr ein. »Es ist schlimm, wenn die Domestiken anfangen, sich zu verbünden.«

»Vor allem, wenn sie Grund dazu haben«, sagte Mogens. Er drehte sich zu Tom um. »Den Dollar kriegst du selbstverständlich von mir zurück, Tom.«

Graves verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen und wurde dann übergangslos ernst. »Ich freue mich, dass du doch noch gekommen bist. Um ehrlich zu sein, war ich mir dessen gar nicht so sicher.«

Das war gelogen. Graves hatte nicht eine Sekunde daran gezweifelt, dass er kommen würde. Er hatte es gewusst. Mogens verzichtete allerdings darauf, eine entsprechende Bemerkung zu machen. Stattdessen trat er endgültig in den Raum hinein und sah sich dabei ein zweites Mal und aufmerksamer um.

Wie überall war auch hier das elektrische Licht ausgeschaltet, doch Tom und Graves hatten mindestens ein halbes Dutzend Öl- und Petroleumlampen aufgestellt, die die Tempelkammer mehr als ausreichend beleuchteten, sie zugleich aber in etwas anderes zu verwandeln schienen, von dem Mogens noch nicht zu sagen wusste, ob es ihm gefiel. Das warme Licht schien alle Kanten zu glätten und die Umrisse der Dinge nahezu aufzulösen, sodass aus vertrauten Formen Unvertrautes wurde, die spitzen Zähne der Anubis-Statuen und der schreckliche Horus-Schnabel aber zugleich auch etwas von ihrer Bedrohlichkeit einbüßten.

Darüber hinaus gab es aber auch noch weitere Veränderungen. Die drei sargähnlichen Kisten, die Mogens draußen vermisst hatte, standen nun hier. Die Deckel von zweien waren aufgeklappt, und zwischen ihnen spannte sich ein auf den ersten Blick sinnloses Gewirr aus Seilen, Knoten und mechanischen Umlenkrollen. Mogens' Blick folgte einem der dickeren Seile. Es führte über eine Art komplizierten Flaschenzug zur Decke hinauf, wo mehrere aus fast daumendicken Seilen geflochtene, weitmaschige Netze aufgehängt waren.

»Ihr wart nicht untätig«, sagte er anerkennend, musste aber zugleich auch ein heftiges Gefühl von Ärger unterdrücken, als er daran dachte, dass Graves Stahlnägel in eine mit fünftausend Jahren alten Fresken geschmückte Decke getrieben hatte.

Großer Gott, der Mann war Wissenschaftler! Wusste er denn nicht, welchen Schaden er anrichtete?

»Das größere Lob gebührt Tom«, antwortete Graves. »Eigentlich hat er die ganze Arbeit gemacht. Ich habe ihm nur gesagt, was er tun soll.«

»Ja«, murmelte Mogens. »Das habe ich mir gedacht.«

Graves legte für einen Moment den Kopf auf die Seite und sah ihn aus eng zusammengekniffenen Augen an, aber dann zuckte er nur mit den Schultern. »Ich bin auf jeden Fall froh, dass du dich entschieden hast, uns zu helfen... Du willst uns doch helfen, nehme ich an?«

»Nein«, antwortete Mogens grob. »Das will ich nicht. Ich will nicht einmal hier sein.«

»Das kann ich gut verstehen«, behauptete Graves ernst. »Aber glaub mir, du hast dich richtig entschieden. Wenn wir Erfolg haben, dann wirst du in kurzer Zeit nicht nur vollständig rehabilitiert sein, sondern wir wissen auch, was mit Janice und den anderen geschehen ist. Und vielleicht werden sie dann die Letzten gewesen sein, die ein so schreckliches Schicksal erleiden mussten.«

»Wenn wir Erfolg haben«, sagte Mogens mit belegter Stimme. Er starrte die Netze unter der Decke an.

»Du zweifelst daran?« Die Vorstellung schien Graves zu amüsieren. Er zog sein Zigarettenetui aus der Jacke und klappte es auf, steckte es dann aber unverrichteter Dinge wieder ein, ohne sich bedient zu haben, nachdem Tom ihm einen erschrockenen Blick zugeworfen hatte. »Verzeihung«, murmelte er. »Ich vergaß.« Mogens blickte fragend, und Graves fügte hinzu: »Die Ghoule haben einen sehr hoch entwickelten Geruchssinn.«

»Ghoule?«

»Irgendwie muss man sie nennen, oder?« Graves hob abermals Schultern. »Es ist auf die Dauer ein wenig lästig, immer von Kreaturen oder Wesen und Geschöpfen zu reden.« Er zog sein Etui schon wieder aus der Tasche, bedachte es mit einem langen, fast wehmütigen Blick und steckte es schließlich endgültig weg. »Sind alle Vorbereitungen getroffen?«, wandte er sich an Tom.

»Ja«, antwortete Tom, schüttelte absurderweise aber zugleich auch den Kopf. »Aber ich will zur Vorsicht noch mal den Alarmdraht überprüfen.«

Graves sah ihm kopfschüttelnd nach, als er hinter der Totenbarke verschwand. »Ein guter Junge«, sagte er. »Manchmal wüsste ich gar nicht mehr, was ich ohne ihn tun sollte. Habe ich dir erzählt, dass er mir das Leben gerettet hat?«

Mogens war nicht ganz sicher, aber er nickte trotzdem. Dieses Eingeständnis überraschte ihn kein bisschen. Er wusste jetzt noch viel weniger als am ersten Tag, was er von Tom zu halten hatte, aber er hätte diesem Jungen dennoch blindlings sein Leben anvertraut. Außerdem meldete sich sein schlechtes Gewissen, wie jedes Mal, wenn er an Tom dachte oder ihn sah. Der ungeheuerliche Verdacht, in dem er ihn gehabt hatte, machte ihm zu schaffen. Dass Tom es offensichtlich ein wenig an der gebotenen Ordnung und Hygiene mangelte, war betrüblich, gab ihm aber noch lange nicht das Recht, vorschnell über ihn zu urteilen. Da Mogens selbst ein Opfer ungerechter Verurteilung geworden war, reagierte er in diesem Punkt schon fast übersensibel.

Graves sah - diesmal länger - auf die Uhr. Er wirkte ein wenig besorgt, fand Mogens, und er sagte es auch. Graves schüttelte jedoch nur den Kopf, klappte den Uhrdeckel deutlich leiser als beim ersten Mal zu und sah aus schmalen Augen in die Richtung, in die Tom verschwunden war. »Sie kommen meistens gegen Mitternacht«, sagte er. »Ich bin nicht sicher, aber ich nehme an, dass es mit der Stellung des Mondes zu tun hat.«

»Nicht der des Sirius?« Mogens bedauerte die Frage, noch bevor er sie ganz ausgesprochen hatte, aber er konnte sie sich trotzdem nicht verkneifen.

Ausnahmsweise erwies sich Graves diesmal als der Vernünftigere von ihnen, denn er beließ es bei einem bösen Blick, statt irgendetwas darauf zu erwidern und so den Streit aufzunehmen, den Mogens völlig grundlos vom Zaun gebrochen hatte.

»Verzeihung«, murmelte Mogens.

»Schon gut.« Graves winkte ab. Der schwarze Handschuh, in dem seine Finger steckten, bewegte sich dabei auf eine unheimliche Weise, die Mogens an die grässliche Art denken ließ, auf die Janices Hände auseinander gefallen waren. Er sah rasch weg und schluckte den bitteren Kloß herunter, der sich in seinem Hals bilden wollte.

»Du bist nervös«, fuhr Graves fort. »Das bin ich auch, glaub mir.«

Seine demonstrative Großmut ärgerte Mogens schon wieder, aber diesmal hatte er sich gut genug in der Gewalt, um die Bemerkung herunterzuschlucken, die ihm auf der Zunge lag.

Etwas geschah mit dem Licht. Wo vorher goldbraune Helligkeit geherrscht hatte, breiteten sich nun Schatten aus.

»Ich habe Tom gesagt, er soll die Lampen löschen«, sagte Graves, dem Mogens' fast unmerkliches Zusammenzucken nicht verborgen blieb. »Sie reagieren auf Licht. Ich glaube, es bereitet ihnen Schmerzen. Ihre Augen sind sehr empfindlich.«

Eine weitere Laterne erlosch, dann noch eine und schließlich die vorletzte. Die Dunkelheit schien wie eine Woge aus kompakter Schwärze über ihnen zusammenzuschlagen, und Mogens glaubte regelrecht zu sehen, wie selbst der Lichtschein der letzten Laterne, die unmittelbar vor Graves' Füßen stand, unter dem Anprall der Düsternis ein Stück zurückwich. Sein Herz begann schneller zu schlagen, als er den gedrungenen Schatten sah, der sich vor ihnen aus der Dunkelheit schälte. Obwohl er genau wusste, dass es niemand anderes als Tom war, glaubte er für einen kurzen Moment spitze Fuchsohren zu erkennen, blitzende Fänge und rot glühende Augen, die ihn gierig anstarrten. Aber es war auch diesmal wieder nur seine eigene Fantasie, die ihm einen bösen Streich spielte. Dennoch hämmerte sein Herz wie verrückt, als er Graves folgte, der die Laterne aufnahm und sich damit hinter den Schutz eines mächtigen Sandsteinquaders zurückzog, der vielleicht einmal der Sockel einer längst verschwundenen Statue gewesen war. Plötzlich war er fast froh über die Dunkelheit, die das Zittern seiner Hände verbarg. Der bittere Geschmack der Furcht begann sich in seinem Mund auszubreiten.

Er fragte sich, ob er der richtige Mann für diese Aktion war. Tom gesellte sich zu ihnen und huschte im nächsten Moment wieder davon, um hinter einem anderen Steinblock Deckung zu nehmen, nachdem Graves ihm einen entsprechenden Wink gab, und es war Tom, ganz zweifelsfrei - wer sollte es denn auch sonst gewesen sein, fragte die spöttische Stimme seiner Vernunft in Mogens' Gedanken -, aber er hatte trotzdem immer mehr Mühe, sich der Vorstellung zu erwehren, dass sich sein Gesicht plötzlich auf grässliche Weise zu verändern begann, spitzer und länger wurde und eine sabbernde Hundeschnauze voller schrecklicher Fänge bildete, wie seine Fingerspitzen aufplatzten und sich mörderische Klauen daraus hervorschoben und spitze Ohren und borstiges Fell aus seinem Schädel herauswuchsen. Und es war nur seine Fantasie, die ihm so zu schaffen machte - was mochte geschehen, wenn er erst einmal wirklich einer dieser Bestien gegenüberstand?

»Hast du eine Waffe bei dir?«, fragte er.

»Wozu?« Graves schüttelte den Kopf. »Wir wollen einen Ghoul lebend fangen.«

»Deinen wissenschaftlichen Ehrgeiz in Ehren«, sagte Mogens, »aber es könnte sein, dass er nicht damit einverstanden ist.«

Graves deutete mit einer Kopfbewegung zur Decke hoch. »Diese Netze stammen von einem Ausrüster, der normalerweise Großwildjäger in Afrika beliefert. Sie sind stark genug, um einen wütenden Gorilla zu bändigen.«

»Und wenn sie stärker sind als ein wütender Gorilla?«

»Dann haben wir ein Problem«, antwortete Graves lächelnd. Aber er schüttelte auch gleich darauf beruhigend den Kopf. »Keine Sorge, Mogens. Ich habe einige Erfahrung mit diesen Kreaturen. Sie sind Aasfresser, keine Beutejäger.«

»Das sind Hyänen auch. Dennoch sind sie gefährlich.«

»Sie sind normalerweise nicht aggressiv«, beharrte Graves. »Das Überleben ihrer Art hängt davon ab, dass niemand von ihrer Existenz weiß.«

Mogens widersprach nicht, aber er sah so bezeichnend zu Tom hinüber, dass Graves sich offensichtlich zu einer Erklärung genötigt fühlte. »Sein Vater hat sie angegriffen. Vergiss das nicht. Selbst das friedlichste Tier wehrt sich, wenn man es angreift.«

»Und seine Mutter?« Mogens sprach bewusst leise, damit Tom seine Worte nicht verstand, aber ganz schien es ihm nicht gelungen zu sein, denn Tom wandte den Kopf in seine Richtung und sah ihn aus Augen an, die plötzlich dunkel vor Schmerz und Zorn wurden. Gerade hatte Mogens überlegt, ob er der richtige Mann für diese Aktion war. Vielleicht sollte er diesen Gedanken relativieren. Möglicherweise sollte die Frage lauten: Waren sie die Richtigen? Vielleicht hatte der Umstand, dass sie ohne Waffen hergekommen waren, ja einen ganz anderen Grund, als Graves behauptete.

Graves beantwortete seine Frage erst mit einiger Verspätung, und auch nicht wirklich überzeugt: »Vielleicht wollten sie nur ihr Revier verteidigen.«

»Und Janice?«, fragte Mogens bitter. »Mussten sie gegen Janice auch nur ihr Revier verteidigen

Graves wand sich einen Moment, bevor er sich in ein trotziges Schulterzucken rettete. »Um genau diese Fragen zu beantworten, sind wir hier. Und jetzt sollten wir besser schweigen, um sie nicht schon zu verscheuchen, bevor sie überhaupt gekommen sind.«

Das war nicht der Grund, aus dem er Mogens zum Schweigen aufforderte. Er wollte nicht weiter über dieses Thema reden, begriff Mogens, vielleicht, weil er weniger darüber wusste, als er ihm gegenüber den Anschein zu erwecken versuchte. Vielleicht auch, weil er mehr darüber wusste.

Graves streckte die Hand nach seiner Laterne aus und drehte den Docht herunter, und das Licht zog sich unter dem Ansturm der Dunkelheit weiter zurück, bis es zu einem blassgelben düsteren Schimmer geworden war, der kaum noch Helligkeit spendete, die Dunkelheit an ihrem Rand aber noch zu betonen schien. Dahinter kroch die Furcht heran.

Graves hob die Hand, um Tom einen Wink zu geben. Es war zu dunkel, als dass Mogens erkennen konnte, was genau Tom tat, aber nur einen Moment später begann sich eines der Seile zu spannen und Mogens glaubte ein helles, rhythmisches Quietschen zu hören. Der Deckel der letzten, bisher verschlossenen Kiste schwang auf. Ein sonderbarer, leicht süßlicher Geruch stieg Mogens in die Nase, fremd und auf unangenehme Weise zugleich vertraut, aber es dauerte noch einen Moment, bis Mogens ihn wirklich erkannte. Ungläubig und entsetzt zugleich sog er die Luft ein.

»Das ist...«

»Was hast du erwartet?«, fiel ihm Graves ins Wort, leise, aber in einem fauchenden Ton, der an das Zischen einer angreifenden Schlange erinnerte, kurz bevor sie zuschlug. »Dass wir sie mit den sterblichen Überresten von Miss Preusslers Katze anlocken?« Er schüttelte zornig den Kopf. »Diese Kreaturen ernähren sich von Menschenfleisch, Mogens!«

»Aber du... du...« Mogens begann zu stammeln und brach schließlich ab. Was hätte er sagen sollen, das Graves nicht mit einer einzigen hämischen Bemerkung entkräften konnte? Und das mit Recht. Graves hatte ihn nicht ein einziges Mal belogen. Ganz im Gegenteil: Der Einzige, der stets und beharrlich die Augen vor der Realität verschlossen hatte, war er.

Und irgendwie tat er das sogar jetzt noch, denn das Schlimmste war noch nicht vorbei, obwohl er es hätte wissen müssen. Er wusste es. Graves hatte es ihm ja gesagt. Er hatte es einfach nicht wissen wollen.

Mogens starrte Graves noch einige Sekunden lang fassungslos an. Der süßliche Verwesungsgeruch wurde stärker, und Mogens schob sich mit klopfendem Herzen über den Rand ihrer Deckung und strengte sich an, um einen Blick ins Innere der Kiste zu werfen. So schwach das Licht war, hatten sich seine Augen doch mittlerweile weit genug an die Dunkelheit gewöhnt, um ihn zumindest einige Schritte weit sehen zu lassen. Aber beinahe bedauerte er, dass es so war.

Hyams sah gar nicht aus, wie er sich eine Tote vorgestellt hatte. Vielmehr schien sie zu schlafen. An ihrem Hals befand sich eine klaffende Wunde, und ihre ehemals weiße Bluse hatte sich fast zur Gänze dunkel gefärbt, aber Graves war zumindest pietätvoll genug gewesen, ihr Gesicht zu säubern und ihre Augen zu schließen.

»Das ist... Hyams«, stammelte Mogens. »Großer Gott, Jonathan, du... du hast Doktor Hyams...?«

»Ich habe dir gesagt, dass wir einen Köder brauchen«, antwortete Graves kalt.

»Aber Hyams!«, ächzte Mogens. »Um Gottes willen, Graves, was hast du getan?«

»Ich habe gar nichts getan«, antwortete Graves scharf und bedeutete Mogens gleichzeitig mit einem ärgerlichen Wink, sich wieder zu setzen und nicht so laut zu sein. »Doktor Hyams ist bei einem Unfall ums Leben gekommen, hast du das schon vergessen?«

»Aber du... du kannst sie doch nicht...«, stammelte Mogens. »Ich meine... um Himmels willen, Jonathan! Du... du hast fast ein Jahr mit dieser Frau zusammengearbeitet! Du hast sie gekannt! Du kannst sie doch nicht... nicht einfach als Köder benutzen!«

»Ich bin sicher, Doktor Hyams hätte nichts dagegen«, antwortete Graves ungerührt. »Was kann sich jemand wie sie mehr wünschen, als selbst nach dem Tod noch der Wissenschaft zu dienen?« Er lachte böse. »Was hast du geglaubt, wer in diesem Sarg liegt? Cleopatra?«

»Aber... aber ich dachte... nachdem Sheriff Wilson von den Grabschändungen erzählt hatte...«

»Oh, ich verstehe«, unterbrach ihn Graves hämisch. »Du hast geglaubt, dass Tom und ich uns des Nachts heimlich auf den Friedhof geschlichen und die Leiche irgendeines armen Tropfes ausgebuddelt haben.« Graves schüttelte heftig den Kopf. »Würdest du dich dabei wohler fühlen?«

»Verdammt noch mal, ja!«, brüllte Mogens.

Graves fuhr heftig zusammen und wurde eine Spur blasser, was aber vermutlich eher an der Lautstärke von Mogens' Worten lag.

»Ich bitte Sie, Professor, mäßigen Sie Ihren Ton«, sagte er ironisch. »Nicht so laut!«

»Es wäre ein Unterschied«, wiederholte Mogens. »Und das weißt du verdammt genau, du Monster.« Aber er sprach tatsächlich leiser.

»Bist du jetzt fertig?«, fragte Graves.

Mogens starrte ihn an. Er schwieg.

»Wie gesagt: Wir sind alle nervös, und ich nehme dir diese Entgleisung nicht übel. Aber zweimal ist genug. Wenn das alles hier zu viel ist für dich, verstehe ich das. Du kannst gehen, wenn du es wünschst. Ich werde es dir nicht übel nehmen. Aber wenn du bleibst, dann verbitte ich mir weitere derartige Auftritte. Haben wir uns verstanden?«

Graves starrte ihn an. Mogens starrte zurück, aber am Ausgang dieses stummen Duells bestand kein Zweifel, so wie an keinem der Kämpfe, die sie bisher ausgefochten hatten. Als er in den Zug nach San Francisco gestiegen war, war er zugleich in einen Krieg gezogen, den er schon verloren hatte, noch bevor der erste Schuss gefallen war. Graves hatte sich nicht einmal anstrengen müssen, um ihn zu gewinnen. Er hatte einfach gesiegt, weil er da war.

Und so war es schließlich auch diesmal Mogens, der den Blick senkte und stumm nickte.

»Also gut«, sagte Graves. »Und jetzt sollten wir wirklich schweigen. Ich habe das Gefühl, dass es nun nicht mehr lange dauert.«

Zumindest in diesem Punkt sollte er sich täuschen. Möglicherweise verging wirklich nicht mehr allzu viel Zeit, doch selbst eine kurze Zeit konnte zu einer schieren Ewigkeit werden, und so dehnten sich die Sekunden zu Stunden, und die Minuten zu Unendlichkeiten. Mindestens ein Dutzend Mal glaubte er Geräusche zu hören, und mindestens ebenso oft gaukelten ihm seine Augen verkrüppelt-humpelnde Bewegung in den Schatten dazu vor, doch jedes Mal stellte es sich nur als Trugbild heraus.

Und dann hörte das Schlurfen und Schleichen plötzlich nicht mehr auf, und der Schatten, der fuchsohrig und humpelnd aus der Dunkelheit vor ihm auftauchte, war kein weiterer Albdruck.

Der Ghoul war da.

Mogens hatte das Gefühl, lautlos und schnell von innen heraus zu Eis zu erstarren. Er hatte geglaubt, sich hinlänglich gegen diesen Moment gewappnet zu haben, aber auch das gehörte anscheinend zu der Kette aufeinander aufbauender und einander verschlimmernder Irrtümer, aus denen sein Leben bestand, seit er diesen verfluchten Ort betreten hatte. Es war nicht das erste Mal seit jener furchtbaren Nacht in Harvard, dass er wieder einem dieser Ungeheuer gegenüberstand, doch Mogens begriff erst jetzt wirklich, dass es Dinge gab, auf die man sich nicht vorbereiten konnte, ganz egal, wie sehr man es auch versuchte.

Graves hatte sich geirrt: Der Schatten vor ihm war das Ding, das Janice geholt hatte, sein ganz persönlicher Dämon, von der Hölle zu keinem anderen Zweck erschaffen und ausgespien, als ihn zu verderben. Es hatte nichts damit zu tun, dass er sich zu wichtig nahm, denn ganz genau das war das Wesen der Hölle: Dass sie nichts belanglos tat oder nebenbei, sondern jedes einzelne ihrer Opfer mit all ihrer Macht und ihrer gesamten Bosheit zu verfolgen trachtete.

»Keinen Laut mehr jetzt!«, zischte Graves. Mogens löste seinen Blick nicht für eine Sekunde von dem gedrungenen Schatten, aber er konnte spüren, wie Graves sich neben ihm anspannte. Gleich darauf hob er die Hand, um Tom einen verstohlenen Wink zu geben. Mogens' Herz schlug schneller, während er den Schatten beobachtete, der allmählich näher kam, aber das Blut, das immer schneller und schneller durch seine Adern pumpte, schien nun aus Eiswasser zu bestehen, in dem rasiermesserscharfe Schollen schwammen.

Der Ghoul kam näher, aber er schien zugleich auch mit jedem Schritt langsamer zu werden. Mogens glaubte ein misstrauisches Schnüffeln zu hören, wie von einem Hund, der die Witterung einer Beute aufgenommen hatte, zugleich aber eine Falle befürchtete. Er bewegte sich nicht in direkter Linie auf den offen stehenden Sarg mit Hyams' Leichnam zu, sondern schnüffelte unentwegt von links nach rechts. Der Blick seiner unheimlichen, rot glühenden Augen tastete misstrauisch über den angebotenen Köder, aber auch über die beiden anderen offen stehenden Särge, und mindestens einmal sah er Mogens so direkt in die Augen, dass dieser vollkommen sicher war, dass das Ungeheuer ihn einfach gesehen haben musste. Tatsächlich stockte das Monster für einen Moment im Schritt, ging aber dann nach kurzem Zögern weiter.

Vielleicht auf Armeslänge vor dem Sarg blieb der Ghoul noch einmal stehen und Mogens spürte, wie Graves neben ihm erschrocken zusammenfuhr, als er den Kopf in den Nacken legte und zur Decke hinaufsah. Er konnte das Netz gar nicht übersehen. Und dennoch ging er nach einem abermaligen Zögern weiter und beugte sich über den Sarg mit Hyams' leblosem Körper. Seine schrecklichen Klauen öffneten sich, um sich in das Fleisch seiner Beute zu graben.

»Tom!«, schrie Graves.

Der Kopf des Ungeheuers flog mit einem Ruck in den Nacken, und fünf Schritte neben Mogens erwachte der Schatten, zu dem Tom bisher erstarrt gewesen war, zu fast explosivem Leben. Mogens konnte nicht erkennen, was er tat, doch noch während auch Graves hochsprang, ertönte ein metallischreißendes Geräusch, und ihm war, als erwache die gesamte Decke der Tempelkammer zu zitternder Bewegung.

Der Ghoul reagierte unglaublich schnell. Mit einem Heulen wie dem eines angeschossenen Wolfs wirbelte er hoch und herum und schien sich dabei selbst in einen rasenden Schatten zu verwandeln, der sich fast schneller bewegte, als Mogens' Blicke ihm zu folgen vermochten.

Doch nicht schnell genug.

Die gesamte Decke schien auf ihn herabzustürzen. Selbst Mogens zog instinktiv den Kopf zwischen die Schultern, und das schreckliche Wolfsheulen der Kreatur steigerte sich zu einem irrsinnigen Kreischen der Wut, als das schwere Netz auf sie herniederpeitschte und sie zu Boden riss.

»Licht!«, brüllte Graves. »Mogens, mach Licht!«

Er flankte kurzerhand über den Steinquader, der ihnen als Deckung gedient hatte, und auch Tom war längst auf dem Weg dorthin, wo sich der Schatten des Ghouls mit dem heruntergefallenen Netz zu einem Chaos aus reiner Bewegung verwoben hatte.

Mogens griff hilflos nach der Lampe, die Graves stehen gelassen hatte, und hob sie in die Höhe. Das Licht reichte nicht aus, um mehr zu erkennen, auch nicht, als Mogens den Docht höher drehte. Er sah aus den Augenwinkeln, wie Graves und Tom den tobenden Ghoul beinahe gleichzeitig erreichten und sich todesmutig auf ihn warfen, machte einen Schritt in ihre Richtung und blieb wieder stehen. Graves und sein jugendlicher Gehilfe kämpften mit dem Ungeheuer, aber er konnte keine Einzelheiten erkennen. Er hatte nur Angst.

»Hilf uns«, schrie Graves. »Mogens! Er ist zu stark für uns!«

Mogens machte einen weiteren Schritt. Sein Herz hämmerte. Angst floss wie zähflüssiger Teer durch seine Adern und ließ alle seine Bewegungen grotesk langsam werden. Er wollte Graves helfen, aber zugleich hatte die Panik seine Gedanken lichterloh in Flammen gesetzt, und er wollte nur noch weg. Er hatte noch niemals solche Angst gehabt wie jetzt.

»Mogens, um Himmels willen!«, brüllte Graves. Und dann schrie auch Tom: »Professor!«

Es war Toms Schrei, der Mogens aus seiner Erstarrung riss, nicht der Graves'. Seine Angst war keinen Deut schwächer geworden, sondern nahm im Gegenteil mit jedem hämmernden schweren Herzschlag noch zu, aber die bloße Vorstellung, Tom im Stich zu lassen, war noch unendlich viel schlimmer.

Mit einem Schrei, mit dem er all seine Angst hinausbrüllte, stürzte er vor und fiel der Länge nach hin, als sich sein Fuß prompt in einem der Stricke verfing, die Tom kreuz und quer durch den Raum gespannt hatte.

Instinktiv riss er die Arme vor das Gesicht, und darüber hinaus dämpften die gleichen Seile, die ihn zu Fall gebracht hatten, auch seinen Aufprall, sodass er sich dieses Mal nicht verletzte. Jedoch blieb er einen Moment benommen liegen, und als er sich wieder hochstemmte, hatte der bizarre Kampf eine dramatische Wendung genommen. Obwohl Graves und Tom in der Überzahl waren und der Ghoul von dem schweren Netz behindert wurde, dessen bloßes Gewicht schon ausgereicht hätte, um einen normalen Menschen niederzuhalten, drohten sie den Kampf zu verlieren. Der Ghoul hatte sich mittlerweile auf alle viere hochgestemmt und biss und schlug fauchend um sich. Die fast daumendicken Stricke des Netzes schützten Graves und den Jungen zwar vor seinen Zähnen und Krallen, aber es gelang ihnen auch nicht, das Ungeheuer niederzuringen. Tom hatte sich auf seinen Rücken geworfen und versuchte mit aller Macht, ihn zu bändigen, aber ebenso hätte er auch versuchen können, einen wütenden Grizzly mit bloßen Händen zu besiegen. Es sah beinahe schon komisch aus.

»Hilf uns, verdammt!«, keuchte Graves. »Wir müssen ihn umwerfen!«

Mogens hatte nicht die mindeste Vorstellung, wozu das gut sein sollte, aber Graves' befehlender Ton riss ihn einfach mit. Graves tat etwas, was Mogens im ersten Moment ebenso sinnlos erschien wie Toms vermeintlich albernes Herumgehampel: Er nahm einen Schritt Anlauf und warf sich dann mit seinem ganzen Körpergewicht gegen die Bestie. Der Ghoul heulte auf und schnappte nach ihm. Das Gorillanetz schützte Graves auch jetzt vor seinen Zähnen, aber Mogens hörte Stoff reißen. Ein nur noch halb unterdrückter Schrei kam über Graves' Lippen, als er zurücktaumelte.

»Jonathan, um Gottes willen - bist du verletzt?«, keuchte Mogens.

Graves antwortete nicht gleich, sondern starrte aus hervorquellenden Augen an sich herab. Die Fänge des Ghouls hatten seine Jacke und auch das Hemd so sauber wie Rasierklingen aufgeschlitzt, die Haut darunter aber wie durch ein Wunder nicht einmal angeritzt.

»Schnell!«, schrie Tom. »Ich kann ihn nicht mehr lange halten!«

Tatsächlich hatte sich der Ghoul weiter aufgerichtet. Seine schnappenden Kiefer und Klauen verfingen sich immer wieder in den Maschen des Netzes, aber es war nur noch eine Frage von Augenblicken, bis er Tom abgeschüttelt hatte und seine ganze Kraft darauf verwenden konnte, sich aus dem Netz zu befreien.

Diesmal versuchten sie es gemeinsam. Der Ghoul brüllte vor Wut und schlug nach ihm, doch ihr gemeinsamer Anprall - zusammen mit Toms Bemühungen - war selbst für ihn zu viel. Das Ungeheuer stürzte schwer auf die Seite, wobei es Tom um ein Haar unter sich begraben hätte, und Mogens und Graves nutzten die Gelegenheit, es hastig noch weiter in das Netz einzuwickeln. Die Bestie schlug, trat und biss um sich, doch nun richteten sich ihre wütenden Bewegungen und ihre übermenschliche Kraft gegen sie selbst, denn je verzweifelter sie sich wehrte, desto hoffnungsloser verstrickte sie sich in den Maschen des Netzes. Nach nur wenigen weiteren Augenblicken hatte der Ghoul sich praktisch selbst außer Gefecht gesetzt, und das gründlicher und vor allem schneller, als es seinen menschlichen Kontrahenten jemals möglich gewesen wäre. Aus seinem Wutgebrüll war ein drohendes Knurren und Geifern geworden.

Graves richtete sich schwer atmend auf und trat einen Schritt zurück. »Ist jemand verletzt?«, fragte er.

Mogens zuckte mit den Schultern, was in diesem Moment die einzige Antwort war, die er geben konnte. Er hatte eine ganze Anzahl derber Stöße und Schläge abbekommen, und mit ziemlicher Sicherheit würde seine Hüfte morgen früh nicht das Einzige an ihm sein, das ein prächtiger blauer Fleck zierte. Aber er glaubte nicht, dass er ernstlich verletzt war.

Auch Tom schien mit dem Schrecken davongekommen zu sein, während Graves' einzige Blessuren aus einer zerrissenen Jacke samt dem dazugehörigen Hemd zu bestehen schienen.

»Also gut«, sagte Mogens grimmig. »Dann lasst ihn uns in die Kiste schaffen. Schnell.«

Obwohl das Ungeheuer sicher gefesselt und so gut wie hilflos war, musste Mogens all seinen Mut zusammennehmen, um sich ihm noch einmal zu nähern und Graves und Tom dabei zu helfen, es zu einer der vorbereiteten Kisten zu zerren. Es kostete ihn auch nicht nur unerwartet viel Überwindung, sondern ebenso große Kraft. Selbst wenn man das enorme Gewicht des Fangnetzes bedachte, musste der Ghoul mindestens doppelt so viel wiegen, wie er gedurft hätte; die Kreatur war nicht größer als ein durchschnittlich gewachsener Mensch, zwar kräftig, aber keinesfalls so massig, wie sie es angesichts ihres Gewichtes hätte sein müssen.

Dafür war sie aber auch übermenschlich stark. Selbst zu dritt und obwohl er so hoffnungslos in das Netz verstrickt war, dass er sich kaum noch rühren konnte, gelang es ihnen nur mit äußerster Mühe, den Ghoul zu bändigen. Das Ungeheuer machte es ihnen noch zusätzlich schwer, indem es sich knurrend und geifernd vor Wut hin und her warf. Mogens handelte sich zwei oder drei weitere blaue Flecke ein, und auch Tom bekam einen Tritt in den Leib, der ihn vor Schmerz aufstöhnen ließ, aber am Ende gelang es ihnen dennoch, das Ungeheuer in die schwere Holzkiste zu bugsieren. Während Mogens und Tom den Ghoul auf Graves' Geheiß hin niederhielten, wandte Graves selbst all seine Kraft auf, um das linke Handgelenk der Bestie mit einer der schweren Eisenschellen zu binden, die mit der Innenwand des Sarges verschraubt waren. Seine Kraft reichte sogar noch aus, auch den anderen Arm des Monstrums zu fesseln, aber dann sank er zu Tode erschöpft zu Boden und schüttelte matt den Kopf. Tom überließ es Mogens allein, das tobende Ungeheuer zu bändigen, während er den zweiten Teil der undankbaren Aufgabe übernahm, die Glieder des Ghouls mittels eiserner Ringe zu fixieren. Seine Nase blutete, als er es endlich geschafft hatte und sich schwer atmend neben Graves zu Boden sinken ließ. Im ersten Moment hatte er nicht einmal die Kraft, den Arm zu heben und sich das Blut aus dem Gesicht zu wischen.

Endlich ließ sich auch Mogens von der Brust des Ungeheuers hinuntergleiten. Obwohl der Ghoul mittlerweile noch zuverlässiger gebunden war, kroch er hastig rücklings so weit zurück, bis er mit Schultern und Hinterkopf gegen den zweiten leeren Sarg stieß. Der Anprall war so heftig, dass der Deckel mit einem Knall zuschlug, der wie ein Kanonenschuss durch die dunkle Tempelkammer hallte.

»Wir haben es geschafft, Mogens«, sagte Graves. Er rang so kurzatmig nach Luft, dass Mogens Mühe hatte, ihn überhaupt zu verstehen. Dennoch war nicht zu überhören, wie zufrieden er war. »Ich kann es fast selbst nicht glauben, aber wir haben es geschafft. Weißt du überhaupt, was das bedeutet?«

»Ja«, antwortete Mogens gepresst. »Dass ich mich morgen früh wahrscheinlich nicht mehr bewegen kann.« Er verzog schmerzerfüllt das Gesicht. Sein ganzer Körper fühlte sich taub an, und seine Ohren klingelten noch immer von dem Knall, mit dem der Deckel zugefallen war.

»Wir haben es geschafft!«, wiederholte Graves in einem Ton, als zweifelte er selbst am meisten an dem, was er sagte. »Und es war noch dazu leichter, als ich gedacht hatte.«

»Leichter?«, krächzte Mogens fassungslos.

Wie um seine eigenen Worte ad absurdum zu führen, versuchte sich Graves hochzustemmen und sank mit verzerrtem Gesicht und einem hörbaren Keuchen zurück. Dennoch fuhr er, kaum wieder zu Atem gekommen, fort: »Du hast immer noch keine Ahnung, womit wir es zu tun haben, wie?«

Das hatte Mogens tatsächlich nicht. Aber er war jetzt weniger sicher denn je, ob er es überhaupt wissen wollte.

Mühsam stemmte er sich hoch, ging zu der offen stehenden Kiste und beugte sich mit klopfendem Herzen vor, wobei er instinktiv einen Abstand einhielt, der ihn aus der Reichweite der Krallen und Zähne des Ghouls hielt, obwohl dieser gleich doppelt gefesselt war. Graves gesellte sich zu ihm, während Tom ging, um die Laterne zu holen. Mogens registrierte beiläufig, aber mit einem Gefühl ehrlicher Dankbarkeit, dass er im Vorbeigehen den Deckel der dritten Kiste schloss, in der Hyams' Leichnam lag.

»Wir haben es geschafft, Mogens«, sagte Graves zum dritten Mal. »Weißt du, was das bedeutet?«

Der Triumph in Graves' Stimme war mittlerweile nicht mehr zu überhören, aber Mogens versuchte vergeblich, in sich selbst etwas Ähnliches zu entdecken. Ganz im Gegenteil spürte er plötzlich, dass die Angst immer noch da war, kein bisschen weniger schlimm als zuvor, nur, dass sie jetzt eine andere Qualität angenommen hatte. Sein Herz begann schon wieder heftiger zu pochen, als er sich vorbeugte, um das Ungetüm zu betrachten.

Selbst gefesselt bot der Ghoul einen Furcht einflößenden Anblick. Mogens korrigierte seine Schätzung, das Gewicht des Ungeheuers betreffend, ein gehöriges Stücke nach oben. Die Kreatur maß allerhöchstem sechs Fuß und konnte somit kaum größer sein als Graves, aber sie war unglaublich massig. Mogens schätzte ihr Gewicht auf mindestens zweihundertfünfzig Pfund, und er war sicher, dass davon nicht eine Unze überflüssiges Fett war. Als er die Kisten, die Graves vorbereitet hatte, das erste Mal gesehen hatte, da hatte er die schweren Eichenbretter, die breiten eisernen Bänder und die massiven Hand- und Fußfesseln für hoffnungslos übertrieben gehalten. Jetzt fragte er sich, ob sie ausreichten.

»Was für ein Koloss«, murmelte er.

»Ja«, sagte Graves. »Wenn man das Endergebnis sieht, dann sollte man vielleicht in Erwägung ziehen, unsere Ernährungsgewohnheiten zu ändern.«

Mogens warf ihm einen eisigen Blick zu. »Du bist geschmacklos, Jonathan«, sagte er.

Graves grinste nur noch breiter. »Dieser Meinung ist unser Freund da bestimmt nicht.« Er hob rasch die Hand, als er sah, dass Mogens zu einer noch schärferen Entgegnung ansetzte, und fuhr in verändertem Ton und ernster fort: »Und das ist noch nicht einmal das größte Exemplar, dem ich je begegnet bin. Bei weitem nicht.«

Was Mogens anging, so reichte ihm dieses Exemplar vollkommen. Der Ghoul sah nicht nur aus, als könne er mit bloßen Händen einen Bären zerreißen, er strahlte auch eine Wildheit und Wut aus, die Mogens einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. Das Allerschlimmste aber war das Gefühl, etwas vollkommen Fremdem gegenüberzustehen, etwas, das so absolut falsch war, dass sich alles in Mogens einfach weigerte, es als real anzuerkennen.

Graves beugte sich vor, streckte die Hand aus und zerrte ein paar Mal kräftig an den Maschen des Netzes, bis er einen Blick auf den Schritt des Ghouls werfen konnte.

»Was soll das?«, fragte Mogens.

»Ein männliches Exemplar«, sagte Graves. Es klang nicht wirklich wie die Antwort auf seine Frage, dachte Mogens, sondern eher wie etwas, das er zu sich selbst gesagt hatte, und das ihn mit Besorgnis erfüllte.

»Und was stimmt daran nicht?«, fragte er.

»Oh, nichts«, antwortete Graves hastig. »Es ist alles in Ordnung.« Er grinste schief. »Im Gegenteil, wenn das da ein Mensch wäre, dann würde ich jetzt vor lauter Neid grün im Gesicht werden.«

Mogens schenkte ihm einen eisigen Blick, und Graves schaltete sein infantiles Grinsen wieder ab. »Es ist nur so, dass alle Ghoule, die wir bisher gesehen haben, männlich waren. Natürlich sind wir noch niemals so nahe an eines dieser Geschöpfe herangekommen wie jetzt, aber ich bin dennoch sicher, dass es alles Männchen waren. Und das ist sonderbar.«

»Vielleicht gehen nur die Männchen auf Futtersuche«, vermutete Mogens.

»Das wäre ungewöhnlich«, sagte Graves. »Bei den meisten Raubtieren sind es eher die Weibchen, die jagen. Allenfalls, dass beide Gattungen auf Nahrungssuche gehen.«

»Sagtest du nicht selbst, dass das hier eine vollkommen unbekannte Spezies ist, über die wir so gut wie nichts wissen?«, gab Mogens zurück.

Graves sah ihn einige Sekunden lang nachdenklich an, aber dann nickte er widerwillig. »Natürlich. Du hast Recht. Aber sonderbar ist es trotzdem. Nun ja, wir haben ja jetzt ein Exemplar, um wenigstens einige ihrer Geheimnisse lösen zu können.«

Als hätte er seine Worte verstanden, bäumte sich der Ghoul gegen seine Fesseln auf und stieß ein lang gezogenes Heulen aus. Mogens wich instinktiv einen halben Schritt zurück, und auch Graves fuhr merklich zusammen. Tom, der noch zwei Schritte entfernt war und gerade mit einer zweiten Laterne zurückkam, blieb instinktiv stehen und sah nervös über die Schulter zurück in die Dunkelheit, aus der er gerade gekommen war.

»Was hast du jetzt mit ihm vor?«, fragte Mogens - im Grunde nur, um die Furcht zu überspielen, die erneut in seinem Herzen erwachen wollte.

»Zuerst einmal schaffen wir ihn hier raus«, antwortete Graves. Auch er klang ein wenig nervös. »Tom hat in den letzten Tagen Material für einen stabilen Gitterkäfig aus der Stadt geholt. Binnen einer Stunde können wir ihn zusammenbauen.«

»Und dann?«

Wieder ließ das gefesselte Ungeheuer jenes unheimliche, klagende Wolfsheulen hören, sodass es einen Moment dauerte, bis Graves antworten konnte. »Sheriff Wilson hat einen Telefonanschluss in seinem Büro«, sagte er. »Ich muss ein paar Anrufe tätigen, aber im Grunde sind die meisten Vorbereitungen schon getroffen. Mit etwas Glück können wir ihn morgen Abend nach San Francisco bringen, um ihn der Öffentlichkeit zu präsentieren - und natürlich einem Auditorium unserer geschätzten Kollegen.« Er seufzte. »Mach dich auf etwas gefasst, Mogens. Du weißt, was diese Entdeckung auslösen wird. Sie werden nichts unversucht lassen, uns als Dummköpfe oder Betrüger hinzustellen. Oder beides.«

Vermutlich beides, dachte Mogens. Er gestand sich ein, dass das Schlimmste noch nicht überstanden war. Genau genommen hatte es noch nicht einmal angefangen. Und es kam gewiss nicht von ungefähr, dass er bisher noch nicht einmal darüber nachgedacht hatte, welches Erdbeben sie in der Welt der Wissenschaft auslösen würden, wenn sie diese Kreatur der Öffentlichkeit präsentierten. Aber auch jetzt war nicht der richtige Moment dazu, und er sagte es auch.

»Du hast Recht«, sagte Graves. »Tom.«

Tom stellte seine Laterne am Fußende der Kiste ab und machte eine fragende Geste. »Das Netz?«

Graves überlegte einen Moment, aber dann schüttelte er zu Mogens' Erleichterung den Kopf. »Besser, wir lassen es, wo es ist. Das wird ihn nicht umbringen.« Ganz offensichtlich bewegten sich seine Gedanken in eine ähnliche Richtung wie die von Mogens. Die massiven Hand- und Fußfesseln sahen stabil genug aus, um selbst den Kräften eines wütenden Gorillamännchens zu trotzen. Angesichts dessen, was Graves vorhin selbst über die Herkunft des Netzes gesagt hatte, nahm Mogens sogar an, dass ein solches Tier bei der Konstruktion seiner »Särge« Pate gestanden hatte. Er war zugleich aber sicher, dass der Ghoul über weit größere Körperkräfte verfügte als jeder Gorilla. Vielleicht war Graves auf all seinen Reisen diesen Geschöpfen doch nicht so nahe gekommen, wie er behauptet hatte.

Wieder heulte der Ghoul. Diesmal versuchte er nicht, sich gegen seine Fesseln zu stemmen - vielleicht, weil er die Sinnlosigkeit seines Tuns eingesehen hatte -, aber das Heulen hielt länger an und klang klagender; viel weniger wütend oder zornig, sondern eher wie ein Hilferuf. Mogens versuchte den Gedanken fast erschrocken abzuschütteln, aber seine noch immer auf Hochtouren laufende Fantasie griff ihn begierig auf und bastelte sich auch noch ein zweites, entfernteres und daher leiseres Wolfsheulen dazu, das darauf antwortete. Es kostete ihn alle Mühe, die unheimliche Vision zu verscheuchen.

Aber vielleicht war es ja auch gar keine Vision...

Als Mogens aufsah, hatten sich Graves und Tom halb umgewandt und sahen mit schreckensbleichen Gesichtern in die Dunkelheit jenseits der Totenbarke.

Dorthin, wo der Geheimgang lag, der zur zweiten Tempelkammer führte.

Und damit in die Richtung, aus der das an- und abschwellende Heulen kam, das auf die Hilferufe des Ghouls antwortete...

»Die Tür!«, sagte Graves erschrocken. »Tom, schließ die Tür!«

Tom erwachte mit einer Verzögerung von einer weiteren Sekunde aus seiner Erstarrung und stürzte los, aber es war zu spät. Er hatte den zweiten Schritt noch nicht zu Ende getan, als ein dumpfes Poltern erscholl, gefolgt von dem typischen Bersten zerbrechenden Steins. Genau auf der Grenze zwischen völliger Dunkelheit und gerade noch erahnbarer Schatten begann einer der lebensgroßen Streitwagen zu wanken. Vor fünftausend Jahren bemaltes Holz wurde von einem gewaltigen Hieb zertrümmert, und die lebensgroße Pferdestatue stürzte zu Boden und zerbrach in mehrere Teile.

Der Platz, an dem sie gestanden hatte, blieb jedoch nicht leer. Noch während die einzelnen Teile der zerbrochenen Skulptur davonrollten, wuchs ein gedrungener, spitzohriger Schatten an ihrer Stelle empor, und unheimliche, rot glühende Augen starrten Mogens an. Das grässliche Wolfsheulen war verstummt, doch dafür hörte Mogens nun einen fast noch furchteinflößenderen Laut: eine Mischung aus einem Knurren und einem grollenden Fauchen, die Mogens das Blut in den Adern gerinnen ließ.

Nicht so Tom. Auch er erstarrte für eine Sekunde, dann aber stieß er einen gellenden Schrei aus, riss die Arme in die Höhe und rannte los, um sich mit bloßen Fäusten auf den Ghoul zu stürzen.

Er erreichte ihn nie.

Es war nicht dieser Ghoul, der Tom ansprang und zu Boden riss, sondern ein anderer, viel näherer Teil der Schatten, der zu plötzlichem Leben erwachte. Aus Toms Schrei wurde ein entsetztes Keuchen, das mit erschreckender Plötzlichkeit abbrach, als der Ghoul ihn unter sich begrub.

Mogens erschrak nicht einmal wirklich. Er war viel zu entsetzt, um noch Überraschung empfinden zu können. Die Wirklichkeit war endgültig zum Albtraum geworden, und der Albtraum zur Wirklichkeit. Obwohl vollkommen gelähmt und hilflos vor Entsetzen, empfand Mogens doch zugleich eine vollkommen absurde Erleichterung, als der Ghoul endgültig aus den Schatten trat und von einem bloßen Schemen zu einer massigen, muskel- und fellbepackten Gestalt mit mörderischen Zähnen und Klauen wurde. Er hatte keinen Zweifel daran, dass er nun sterben würde, in dieser Minute, innerhalb der nächsten Sekunden, und doch war er erleichtert, dass ihm der allergrößte Schrecken erspart blieb. Die beiden Ghoule brachten den sicheren Tod, doch das, was er für einen grässlichen zeitlosen Moment zu sehen glaubte, das Janice-Ding aus seinem Albtraum, hatte den Wahnsinn gebracht, den Sturz in den bodenlosen Abgrund eines Irrsinns, der hundertmal schlimmer wäre als der Tod.

Die beiden Ghoule kamen langsam näher. Sie hatten aufgehört zu knurren, und stattdessen hörte Mogens nun ein Schnüffeln und Hecheln, das von einem tiefen, aber nicht einmal unbedingt drohend winkenden Grollen begleitet wurde. Ein Übelkeit erregender, süßlicher Odem wehte Mogens entgegen, den er zuerst für Verwesungsgestank hielt, bis er begriff, dass es der Körpergeruch von Wesen war, die sich so lange von verfaulendem Fleisch ernährt hatten, bis der Geruch ihrer Nahrung zu ihrem eigenen geworden war.

»Um Himmels willen, Mogens - lauf!«, brüllte Graves. Mogens rührte sich nicht, aber Graves fuhr auf dem Absatz herum und zerrte ihn so derb mit sich, dass er um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte und zwei, drei Schritte hilflos hinter ihm her stolperte, bevor es ihm gelang, seine Balance wieder zu finden und sich loszureißen.

»Tom!«, keuchte er. »Sie haben Tom! Wir müssen ihm helfen!«

Graves stolperte noch zwei Schritte weiter und blieb unweit des Ausgangs stehen, bevor er sich hastig umdrehte. »Helfen? Bist du wahnsinnig? Wie denn helfen! Renn, Mann!«

Als ob es dafür nicht längst zu spät wäre! Die beiden Ghoule waren allerhöchstens noch drei oder vier Schritte entfernt, und Mogens hatte schon mehr als einmal erlebt, wie unglaublich schnell diese scheinbar so schwerfälligen Geschöpfe sein konnten. Er konnte rennen und wie ein Feigling auf der Flucht sterben, oder das tun, was er vor neun Jahren hätte tun sollen, und sich seinem Schicksal stellen. Statt Graves zu folgen, drehte er sich wieder um und erwartete den Tod. Er hatte keine Angst. Er hat gesehen, was die Klauen dieser Monster anrichten konnten. Es würde schnell gehen.

Die beiden Ungetüme waren bis auf zwei oder drei Meter herangekommen, nun aber erstaunlicherweise stehen geblieben. Tiefe, drohende Knurrlaute drangen aus ihren Kehlen, und beide hatten die Zähne gefletscht und die Lefzen hochgezogen. Mogens spürte ihre Wut und Wildheit, aber da war auch noch mehr. Jedes einzelne dieser Geschöpfe war in der Lage, ihn in einer Sekunde in Stücke zu reißen, und dennoch spürte er etwas, das zwischen Respekt und Furcht schwankte. Da war etwas, was Graves gesagt hatte. Aasfresser. Sie waren Aasfresser, keine Beutejäger, und genau wie Geier oder Hyänen waren sie schreckliche Gegner, wenn sie zum Kampf gezwungen wurden, aber sie wichen ihm dennoch aus, so lange es nur ging.

Vorsichtig, unendlich langsam, um nicht durch eine unbedachte Bewegung doch noch einen Angriff zu provozieren, hob er die Arme und wich rückwärts gehend vor den beiden Ghoulen zurück. Eine der Bestien schnappte nach ihm, aber es war eine reine Drohgebärde; die zusammenschlagenden Kiefer kamen nicht einmal in seine Nähe. Unendlich behutsam machte er einen weiteren Schritt.

Hinter den beiden Ungeheuern bewegte sich ein Schatten, und Mogens hörte ein halblautes Stöhnen.

»Tom, um Gottes willen, bleib liegen!«, keuchte er. »Rühr dich nicht!«

Er sah nicht hin, um sich davon zu überzeugen, dass Tom seine Warnung beherzigte, sondern machte einen weiteren Schritt, und dann noch einen und noch einen, bis er neben Graves stand.

»Mogens, was...«, begann Graves.

»Still!«, unterbrach ihn Mogens hastig, aber in so erschrockenem Ton, dass Graves mitten im Satz verstummte. »Sie tun uns nichts! Sieh doch! Ich glaube, sie wollen nur ihren Kameraden befreien!«

Tatsächlich waren ihm die beiden Ghoule nicht weiter gefolgt, sondern näherten sich - noch immer misstrauisch schnüffelnd, knurrend und dann und wann drohend in seine und Graves' Richtung schnappend - dem Sarg, in dem der gefangene Leichenfresser lag. Mogens erschauerte, als er sah, mit welcher Leichtigkeit ihre Krallen die daumendicken Stricke des Netzes zerfetzten. Nur einen Moment später zerbrachen auch die eisernen Fesseln, die den Ghoul hielten, und die Kreatur richtete sich mit einem triumphierenden Heulen auf. Ihre wie spitze nadelscharfe Dolche gebogenen Fänge schnappten wütend in Mogens' Richtung. Übel riechender Geifer troff von ihren Lefzen, und in ihren Augen loderte die blanke Mordlust, aber auch sie machte keine Anstalten, sich auf ihn oder Graves zu stürzen.

Stattdessen gesellte es sich zu seinen beiden Kameraden, die sich schnüffelnd und knurrend dem Kasten mit Hyams' Leichnam näherten. Ein einziger, wütender Krallenhieb zerfetzte den Deckel aus fast fingerdickem Eichenholz, ein zweiter Hieb ließ die Metallbänder davonfliegen, mit denen er verstärkt war. Eines der Geschöpfe stieß ein triumphierendes Zischen aus, während es sich vorbeugte und den Leichnam der Archäologin in die Höhe riss.

Irgendwo hinter ihnen erscholl ein lautstarkes Scheppern und Klirren, und als Mogens erschrocken herumfuhr, sah er ein flackerndes gelbrotes Licht, das sich durch den Hieroglyphengang näherte.

»Ju - hu, Doktor Gra - haves! Professor?«, ertönte eine wohl bekannte, schrille Stimme. »Ich bin es, Betty Preussler!« Das Flackern der Kerze kam näher, und einen Augenblick später wurde auch die Besitzerin der Stimme sichtbar, die mit einem Tablett voller schepperndem Geschirr, einer dampfenden Kanne und der brennenden Kerze vor der Brust auf sie zu kam. »Ich dachte mir, wenn Sie schon nicht auf mich hören und die ganze Nacht durcharbeiten, dann bringe ich Ihnen wenigstens einen starken Kaffee.«

»Um Gottes willen«, keuchte Mogens. Dann spürte er die Bewegung hinter sich und schrie, so laut er konnte: »Miss Preussler! Laufen Sie weg! Retten Sie sich!«

Selbstverständlich lief Miss Preussler nicht weg, sondern machte im Gegenteil noch zwei weitere Schritte, bevor sie stehen blieb und verständnislos in seine Richtung blinzelte. »Aber Professor«, sagte sie. »Ich wollte Ihnen doch nur...«

Mogens hörte, wie Graves hinter ihm entsetzt aufschrie und sich zur Seite warf, dann traf ihn etwas mit solcher Wucht in die Seite, dass er gegen die Wand geschleudert wurde und benommen in die Knie brach. Eine rote Lohe aus reinem Schmerz explodierte vor seinen Augen, sodass er für einen Moment fast blind war. Aber er hörte Miss Preussler schreien, dann das Scheppern von Metall und das helle Splittern von zerbrechendem Porzellan, und dann noch einmal ihre Schreie, höher, spitzer diesmal, und von einem Entsetzen erfüllt, das selbst den Nebel aus Schmerz durchdrang, der sich über Mogens' Sinne gelegt hatte. Stöhnend wälzte er sich herum und zwang sich, die Augen zu öffnen.

Graves war auf der anderen Seite des Ausganges ebenfalls gegen die Wand geprallt und zu Boden gesunken. Er hatte die Knie an den Leib gezogen und die Unterarme schützend vors Gesicht gerissen. Einer der Ghoule stand drohend über ihn gebeugt da, knurrte und geiferte ihn an und schlug manchmal mit den Krallen in seine Richtung, ohne ihn indes auch nur zu berühren. Der zweite Ghoul hatte sich Hyams' Leichnam über die Schulter geworfen und entfernte sich humpelnd, und gerade in diesem Augenblick tauchte das dritte Ungeheuer aus dem Gang auf. Es hatte Miss Preussler mit beiden Armen gepackt und trug sie ohne die geringste Mühe, und zumindest war sie noch am Leben und bei Bewusstsein, denn sie kreischte aus Leibeskräften, schlug und trat wie besessen auf ihren Entführer ein und versuchte gar, ihm mit den Fingernägeln das Gesicht zu zerkratzen. Das Ungetüm zeigte sich davon jedoch nicht im Geringsten beeindruckt, sondern machte sich im Gegenteil nicht einmal die Mühe, ihre Attacken abzuwehren.

Beseelt vom Mut der Verzweiflung, sprang Mogens hoch und warf sich auf den Ghoul.

Es gelang ihm nicht, das Ungeheuer zu Boden zu werfen, oder es auch nur dazu zu bringen, sein hilflos strampelndes Opfer loszulassen. Der Ghoul reagierte mit einem unwilligen Knurren und einer blitzartigen Bewegung, die fast beiläufig aussah, Mogens aber mit der Wucht eines Hammerschlages traf und ihm die Luft aus den Lungen trieb. Messerscharfe Krallen schlitzten sein Hemd auf, und er hatte weniger Glück als Graves zuvor: Vier grausame, parallel verlaufende Linien aus gleißendem Schmerz rasten von seinem Oberschenkel bis fast unter seine Achsel hinauf, und Mogens sank erneut auf die Knie und fiel gleich darauf auf die Seite. Warmes Blut lief klebrig und schwer an seinem Körper herab, und der Schmerz wurde so schlimm, dass er darum flehte, das Bewusstsein zu verlieren.

Diese Gnade wurde ihm nicht gewährt. Mogens trieb eine Zeit lang auf dem schmalen Grat zwischen Wachsein und Ohnmacht dahin, aber schließlich kämpfte er sich mühsam wieder ins Bewusstsein zurück - absurd genug, denn zugleich wünschte er sich auch nichts mehr, als endlich von der grausamen Qual erlöst zu werden. Aber da war noch etwas, was er tun musste, etwas, das wichtiger war als seine Furcht, mehr wog als der grässliche Schmerz. Er stemmte sich hoch, stürzte prompt auf die verwundete Seite und wimmerte vor Schmerz, aber irgendetwas gab ihm die Kraft, die Pein niederzukämpfen und sich ein weiteres Mal in die Höhe zu arbeiten.

Es konnte nicht lange gedauert haben. Die Ghoule waren verschwunden, aber er glaubte noch einen verschwommenen Schatten irgendwo vor sich zu erkennen, und Miss Preusslers verzweifelte Schreie waren zwar leiser geworden, aber keineswegs verstummt. Taumelnd kam Mogens auf die Füße, presste die Hand auf die verletzte Seite und krümmte sich vor Schmerz, zwang sich aber dennoch, einen weiteren Schritt zu tun. Miss Preusslers Schreie wurden leiser, zugleich aber deutlich verzweifelter.

»Mogens, was tust du?«, schrie Graves.

Mogens ignorierte ihn, zwang sich zu einem weiteren Schritt und biss die Zähne zusammen, um ein Wimmern zu unterdrücken. Er wagte es nicht, an sich hinabzublicken, aber er spürte, wie nass und schwer seine Kleider von seinem eigenen Blut waren. Er hatte noch nie zuvor solche Schmerzen erlitten. Dennoch stolperte er weiter, zwang sich stöhnend, sich vollends aufzurichten und schaffte es sogar, seine Schritte um eine Winzigkeit zu beschleunigen. Miss Preusslers Schreie wurden leiser, aber noch waren sie zu hören. Er musste sie retten. Ganz gleich wie. Ganz gleich, was es ihn kostete. Es durfte nicht noch einmal geschehen. Er durfte nicht noch einmal versagen.

»Mogens, bist du wahnsinnig?«, brüllte Graves hinter ihm. »Bleib hier! Sie werden dich umbringen!«

Mogens taumelte weiter. Er konnte spüren, wie vielleicht nicht das Leben, wohl aber mehr und mehr von seiner Kraft aus den schrecklichen Wunden aus ihm herausfloss, die ihm die Bestie geschlagen hatte. Und trotzdem taumelte er nicht nur weiter, sondern wurde auch mit jedem stolpernden Schritt schneller. Um ein Haar wäre er gestürzt, als sein Fuß gegen den abgebrochenen Schädel der Pferdestatue stieß, aber schließlich erreichte er die Geheimtür, die hinter der Horus-Statue lag. Der steinerne Göttervogel war zerborsten und lag in mehrere Stücke zerbrochen am Boden, und auch die Tür selbst war wie von einem gewaltigen Axthieb gespalten. Dahinter gähnte ein scheinbar bodenloser, vollkommen schwarzer Abgrund.

Eine zitternde Linie aus bleichem Licht glitt über ihn hinweg und tastete nach dem offen stehenden Geheimgang. Mogens hielt verwirrt mitten im Schritt inne und wandte den Kopf. Graves hockte noch immer an der Wand neben dem Ausgang und schrie ihm weiter verzweifelte Warnungen zu, umzukehren, aber Tom hatte weitaus besonnener reagiert und folgte ihm nicht nur, sondern hatte sich auch eine der beiden brennenden Laternen gegriffen.

»Professor! Um Gottes willen! Warten Sie!«

Mogens stolperte noch einen halben Schritt weiter und blieb dann - fast zu seiner eigenen Überraschung - tatsächlich stehen. Alles drehte sich um ihn, wurde unwichtig, und die Schmerzen hatten ein Maß erreicht, das er sich noch vor wenigen Augenblicken nicht einmal hätte vorstellen können, war zugleich aber auf eine sonderbare Art unwichtig geworden, sodass er ihn kaum noch störte. Es war Toms Stimme gewesen, die ihn zurückgerufen hatte. Wäre es Graves gewesen, wäre er vielleicht aus schierem Trotz einfach weiter getorkelt, selbst wenn es seinen sicheren Tod bedeutete.

Vielleicht war es auch schon zu spät. Die Wunden, die ihm der Ghoul zugefügt hatte, bluteten immer heftiger. Seine Kleider hingen nass und schwer an seinem Leib, und er konnte den süßlichen Kupfergeruch, den er verströmte, mittlerweile selbst spüren. Er war Beute. Alles an ihm signalisierte: Beute. Und er floh nicht vor seinen Jägern, er rannte ihnen hinterher.

Tom langte schwer atmend neben ihm an. Die Laterne in seiner Hand zitterte so stark, dass ihr Lichtschein die Hieroglyphen in den Wänden zu unheimlichem huschendem Leben zu erwecken schien. Metall blitzte in seiner anderen Hand, vielleicht eine Waffe, und auch sein Gesicht war blutüberströmt, aber Mogens vermochte nicht zu sagen, ob es sein eigenes Blut war.

»Geht es noch?«

Mogens hatte Mühe, den Worten irgendeinen Sinn abzugewinnen. Die Höhle hatte aufgehört, sich um ihn zu drehen, und die Welt begann zu steinerner Härte zu gerinnen, die ihn zu erdrücken drohte. Er bekam keine Luft mehr, als enthielte jeder gequälte Atemzug, zu dem er seine Lungen zwang, ein bisschen weniger Sauerstoff als der vorhergehende. Ein Teil von ihm begriff mit kristallener Klarheit, dass es die Folgen des Blutverlustes waren, die er spürte; der Wissenschaftler in ihm, der ihm in emotionslosem Ton erklärte, was genau in diesem Moment in seinem Körper geschah: sein Herz schlug immer schneller, um sein Blut mit dem Sauerstoff anzureichern, den jede Faser seines Körpers so verzweifelt benötigte, aber ganz gleich, wie angestrengt Herz und Lungen auch arbeiteten, es war einfach nicht mehr genug Blut da, um den kostbaren Sauerstoff dorthin zu bringen, wo er gebraucht würde.

Oder, um es anders auszudrücken: Er war dabei, bei vollem Bewusstsein zu verbluten.

»Ja«, murmelte er.

Toms Blick wurde für einen Moment noch besorgter. Eine weitere, unendlich kostbare der so verzweifelt wenigen Sekunden, die ihm noch blieben, verstrich und war unwiederbringlich dahin, bevor Tom zu einem Entschluss kam und nickte.

»Also gut«, sagte er und hielt ihm die Hand hin. Was Mogens für eine Waffe gehalten hatte, war eine klobige Lampe, die weißes Licht und einen scharfen Karbidgeruch verströmte, als Tom sie entzündete. Sie wog eine Tonne. Mogens musste beide Hände zu Hilfe nehmen, um sie zu halten, und selbst dann war er nicht sicher, sie nicht doch nach ein paar Schritten fallen zu lassen. Es spielte keine Rolle mehr. Tom machte abrupt auf dem Absatz kehrt und drang mit schnellen Schritten in den Hieroglyphengang ein, und zu Mogens' eigener, unendlich großer Überraschung gelang es ihm nicht nur, ihm zu folgen, sondern auch, mit ihm Schritt zu halten. Der Teil von ihm, der sich noch immer mit verzweifelter Kraft an eine Illusion namens Logik klammerte und ihm zuschrie, dass er dabei war, sich umzubringen, wurde leiser; verzweifelter und hysterischer, aber leiser. Er hatte Recht - Mogens konnte mittlerweile tatsächlich spüren, wie das Leben in harten, pulsierenden Stößen aus ihm herausfloss. Seine Schritte hinterließen blutige Fußabdrücke auf dem staubigen Boden, und die Schmerzen gingen allmählich in ein auf absurde Weise fast angenehmes Schwindelgefühl über. Aber es war gleich. Mochte der Tod dort vorne am Ende des Tunnels auf ihn warten, er musste ihn zu Ende gehen, um seine Schuld dem Schicksal gegenüber zurückzuzahlen. Es durfte nicht noch einmal geschehen.

Gegen Ende des Tunnels begann Toms Vorsprung doch sichtbar anzuwachsen. Der hektisch hin und her tanzende Schein seiner Lampe entfernte sich allmählich und war dann plötzlich verschwunden, um nur einen Moment später blasser und sonderbar zerfasert wieder aufzutauchen. Er hatte die Schutthalde überwunden und die Torkammer betreten. Mogens hörte ihn irgendetwas rufen, aber er verstand die Worte nicht. Vielleicht war es auch nur ein Schrei.

Mogens versuchte ihm zu folgen, aber seine Kraft reichte nicht mehr. Todesangst und Panik und ein seit einem Jahrzehnt geschürter Trotz dem Schicksal gegenüber hatten es ihm ermöglicht, auch jene letzten, finalen Kraftreserven anzuzapfen, die tief in jedem Menschen verborgen sind, aber nun neigte sich auch jenes letzte Reservoir dem Ende entgegen. Seine Kraft reichte noch, sich die Schutthalde hinauf zu quälen, aber nicht weiter. Auf ihrem Kamm brach er zusammen. Die Lampe entglitt Mogens aus von seinem eigenen Blut glitschig gewordenen Fingern, ging aber erstaunlicherweise nicht aus, sondern rollte auf der anderen Seite klappernd und sich unentwegt überschlagend die Halde hinab, wodurch ihr Licht in regelmäßigem Takt erlosch und wieder grell aufflammte, ein glühender Dolch, der weiße Bahnen aus geometrischen Linien und Winkeln in die Dunkelheit schnitt, Teile von Skulpturen und bizarre Halbgesichter aus der ewigen Nacht schälte und rascher wieder in ihr finsteres Gefängnis zurückstieß, als der Blick sie erfassen konnte, ließ Hieroglyphen und Basreliefs aufblitzen und zu einer Bewegung erwachen, die nicht sein durfte. Aber da war auch noch mehr. Trotz seines geschwächten Zustandes und obwohl der Bewusstlosigkeit ungleich näher als dem Wachsein erkannte es Mogens: Es waren nicht nur die Schatten. Genau auf der Schwelle zwischen gleißender Helligkeit und absoluter Schwärze, auf dem unendlich schmalen Grat, an dem sich Licht und Schatten endgültig voneinander trennten und aus dem Janice zu ihm gekommen war, bewegte sich etwas. Da waren... Dinge. Unheimliche, gestaltlose Dinge, die sich bewegten, ohne jemals von der Stelle zu kommen, Dinge, deren Zeit verging, ohne dass auch nur der millionste Teil einer Sekunde verstrich.

Dann erlosch die Lampe mit einem endgültigen, hellen Klingen und dem Splittern von Glas, und barmherzige Dunkelheit senkte sich über die Kammer und gebot dem Wahnsinn Einhalt, der seine Klauen bereits in Mogens' Verstand geschlagen hatte.

Aber nur für einen Moment, viel, viel zu kurz, dann flammte Toms Lampe anstelle seiner eigenen, erloschenen auf, und wenn Mogens geglaubt hatte, es könne nicht mehr schlimmer kommen als in jenem winzigen zeitlosen Moment, in dem er einen Blick in den Abgrund zwischen Licht und Dunkel geworfen hatte, so sah er sich getäuscht.

Der eng gebündelte Strahl aus Toms Lampe tastete nicht über die Wände und erweckte auch die Hieroglyphen und gemeißelten Reliefs nicht zum Leben. Er fiel genau auf das monströse steinerne Tor am anderen Ende der Halle.

Es stand offen.

Aber es war nicht leer.

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