37.

Noch vor weniger als einer Viertelstunde war Mogens nicht sicher gewesen, ob seine Kraft ausreichte, den schlammigen Platz überhaupt noch einmal zu überqueren. Jetzt, als er dicht hinter Graves und Tom her stürmte, spürte er die Anstrengung kaum. Er fiel ein paar Schritte zurück, erreichte die schäbige Hütte, die Miss Preussler von Doktor Hyams übernommen hatte, aber nur wenige Sekunden nach den beiden anderen, und obwohl sein Herz jagte und seine Lungen bei jedem Atemzug zu zerreißen drohten, hielt er nicht einmal im Laufen inne, sondern schlug nur einen hastigen Bogen um den Wagen des Sheriffs, der neben der offenen Tür stand, und überwand die drei hölzernen Stufen davor mit einem einzigen Satz.

Um ein Haar wäre er gegen Wilson geprallt, der sich unmittelbar hinter der Tür aufgebaut hatte und sie mit seinen breiten Schultern nahezu vollkommen blockierte. Es war auch Wilson, der den Zusammenstoß verhinderte, denn er trat im letzten Moment blitzschnell zur Seite und ließ ihn passieren; aber Mogens entging keineswegs der rasche, ebenso abschätzige wie misstrauische Blick, mit dem der Sheriff ihn maß.

Im Augenblick interessierte ihn das aber nicht im Geringsten. Mit zwei weiteren, weit ausgreifenden Schritten war er fast vollends durch den Raum und prallte dann mit einem keuchenden Laut zurück, als er die Gestalt sah, die auf dem schmalen Feldbett lag. Während des gesamten Weges hierher hatte er keinen einzigen klaren Gedanken fassen können - und wie auch? -, aber seine Fantasie war nicht müde geworden, ihn mit den schrecklichsten Visionen zu quälen. Schließlich hatte er mit eigenen Augen gesehen, was ihr widerfahren war.

Nichts von all den Schreckensbildnissen, die er erwartet hatte, traf zu.

Die Wirklichkeit war tausend Mal schlimmer.

Dabei war sie nicht einmal verletzt; jedenfalls nicht, soweit Mogens das erkennen konnte. Miss Preussler lag lang ausgestreckt auf dem einfachen Feldbett, das sie mit ihrer gewaltigen Leibesfülle zumindest in der Breite eindeutig überforderte, ihre Haare waren zerzaust und schmutzig, und auf ihrem Gesicht, den Armen und den nackten Schultern prangten ein paar frische, offensichtlich gerade erst verschorfte Kratzer und Schrammen. Alles unterhalb ihrer Achseln bis hinab zu den Waden war in eine graue Wolldecke gewickelt, die vermutlich aus Wilsons Automobil stammte. Auch ihre nackten Füße waren zerschrammt und starrten vor Schmutz. Ihre Augen standen weit offen, und sie war ganz offensichtlich auch bei Bewusstsein, aber Mogens wünschte sich fast, es wäre nicht so gewesen. Niemals zuvor hatte er ins Antlitz eines Menschen geblickt, in dessen Züge sich ein Ausdruck solch abgrundtiefen Grauens gegraben hatte.

»Was... was ist mit ihr passiert?«, flüsterte er.

Tom, der auf der anderen Seite des Bettes auf die Knie gesunken war und Miss Preusslers linke Hand hielt, sah nur kurz und mit einem Ausdruck zu Mogens auf, der eher wütend als besorgt oder gar mitleidig wirkte, aber Graves sagte: »Sheriff Wilson wird uns das sicher gleich erklären.« Er hatte am Fußende des Bettes Aufstellung genommen und sah etwa so teilnahmsvoll auf Miss Preussler hinab wie ein Angler, der einen besonders mageren Fisch aus dem Wasser gezogen hatte und sich überlegte, ob es sich überhaupt lohnte, ihn auszunehmen, oder ob er ihn besser einfach hier liegen lassen sollte.

»Ich fürchte, das kann ich nicht«, antwortete Wilson. Nicht nur Graves drehte sich langsam zu ihm herum und zog fragend die linke Augenbraue hoch; auch Mogens wandte überrascht den Kopf und sah den Sheriff mit einem Ausdruck leiser Verwirrung an.

»Was soll das heißen?«, fragte Graves. »Sie können es nicht?«

Wilson hob mit einer Bewegung die Schulter, von der Mogens nicht sagen konnte, ob sie hilflos wirkte oder von mühsam unterdrücktem Zorn erfüllt. Bevor er antwortete, trat auch er an das Bett heran und blickte lange Sekunden nachdenklich und mit gerunzelter Stirn auf Miss Preussler hinab. »Ich kann Ihnen nicht viel sagen, fürchte ich«, wiederholte er. »Ich hatte im Gegenteil gehofft, dass Sie mir einige Fragen beantworten könnten.«

»Wir?«, wiederholte Graves. Seine linke Hand pulsierte unter dem schwarzen Leder des Handschuhs ganz leicht. »Aber wie könnten wir?«

Wilson riss sich vom Anblick der halb bewusstlosen Frau los und wandte sich mit einer betont langsamen Bewegung ganz zu Graves um. »Nun, zum einen«, antwortete er, »weil diese Frau ganz offensichtlich zu Ihnen gehört. Und zum anderen, weil ich sie ganz in der Nähe gefunden habe.«

»Wo?«, entfuhr es Mogens.

Die Frage - vielleicht aber auch der ganz eindeutig schuldbewusst klingende Ton, in dem er sie hervorgestoßen hatte - erregte eindeutig Graves' Missfallen, denn er spießte ihn mit Blicken regelrecht auf. Wilson wandte langsam den Kopf in seine Richtung und sah auch ihn etliche Sekunden lang nachdenklich und durchdringend an, bevor er antwortete.

»Auf dem alten Friedhof. Gleich vorne, wo er an die Straße stößt. Sie wissen, wo das ist?«

Mogens begann sich unter seinem Blick zunehmend unwohler zu fühlen. Als er Wilson das erste Mal begegnet war, hatte er geglaubt, es mit einem vermutlich warmherzigen und sehr aufrichtigen, aber nicht allzu hellen Landpolizisten zu tun zu haben, der sein Bestes tat, um seiner Aufgabe gerecht zu werden, aber mehr eben auch nicht. Allein der Blick jedoch, mit dem ihn Wilson jetzt maß, lehrte ihn eines Besseren. Wilson war weder ein Dummkopf, noch würde er sich von Graves' überheblichem Benehmen und ihren akademischen Titeln beeindrucken lassen. Er konnte natürlich nicht wissen, was sich hier zugetragen hatte, aber er spürte offensichtlich, dass sie etwas damit zu tun haben mussten.

»Sie haben sie so gefunden?«, vergewisserte sich Graves. »Ich meine...?«

»Unbekleidet, wenn es das ist, was Sie wissen wollten, ja«, sagte Wilson ungerührt und wandte Graves jetzt wieder seine volle Aufmerksamkeit zu. »Und in einem völlig hysterischen Zustand. Ich habe eine ganze Weile gebraucht, um überhaupt ein vernünftiges Wort aus ihr herauszubekommen. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass sie zu Ihnen gehört, hätte ich sie erst einmal in die Stadt mitgenommen, zum Arzt. Was tut sie überhaupt hier?«

»Miss Preussler ist erst seit wenigen Tagen bei uns«, antwortete Graves. Er deutete auf Mogens. »Genau genommen gehört sie zu Professor VanAndt.«

Mogens war sicher, dass Graves seinen akademischen Grad ganz bewusst erwähnt hatte, aber er war ebenso sicher, dass Wilson dieser Umstand so wenig entgangen war wie ihm, und dass er sein Misstrauen vermutlich eher noch schürte, statt es zu besänftigen. Wilson wandte noch einmal den Kopf in seine Richtung und maß ihn mit einem langen, taxierenden Blick von Kopf bis Fuß, dann hob er - obwohl er den Hut in den Händen trug, die Linke an die Stirn und tippte mit Zeige- und Mittelfinger dagegen, als befände sich seine Krempe noch dort oben. »Ach ja, Professor«, sagte er. »Ihre... Haushälterin. So sagten Sie doch, nicht wahr?«

»Das ist eine etwas kompliziertere Geschichte«, sagte Graves rasch, bevor Mogens antworten konnte. »Und sie hat auch ganz sicher nichts mit dem zu tun, was Miss Preussler zugestoßen ist.« Er schüttelte ein paar Mal hintereinander und übertrieben heftig den Kopf, bevor er sich leicht vorbeugte und Miss Preussler mit einem langen, gespielt verständnislosen Blick maß. »Sie hatte keine Kleider an, sagen Sie?«, vergewisserte er sich. »Hat man sie...?«

»Das war auch mein erster Gedanke«, sagte Wilson, als Graves nicht weitersprach. Er schüttelte den Kopf. »Ich habe sie danach gefragt, aber sie sagt, nein. Jedenfalls«, schränkte er in etwas leiserem Tonfall und mit einem neuerlichen, sonderbaren Blick in Mogens' Richtung ein, »soweit ich sie verstehen konnte.«

»Aber warum haben Sie sie nicht in die Stadt gebracht?«, fragte Graves. »Die Frau gehört zu einem Arzt!«

»Selbstverständlich«, sagte Wilson. »Aber es war ihr ausdrücklicher Wunsch, hierher gebracht zu werden. Ich habe versucht, sie vom Gegenteil zu überzeugen, aber es ist mir nicht gelungen. Ich kann niemanden festnehmen, nur weil er oder sie vielleicht Opfer eines Verbrechens geworden ist. Die Frau war nicht verletzt, und trotz ihres hysterischen Benehmens war sie ganz offensichtlich zugleich auch genug Herrin ihres Verstandes, um ihren Willen klar zu formulieren. Sie wollte hierher. Zu jemandem namens Mogens.«

»Das bin ich«, antwortete Mogens rasch.

»Mogens...?«, wiederholte Wilson. »Sagten Sie nicht, Ihr Name wäre -«

»Mogens VanAndt«, unterbrach ihn Mogens. »Ich bin gebürtiger Flame. Meine Eltern stammen aus Brüssel.«

»Das liegt in Europa, nicht wahr?«, fragte Wilson.

Mogens zollte ihm in Gedanken noch ein wenig mehr Respekt, als er es ohnehin bisher schon getan hatte. Selbst die Studenten, die er in den letzten neun Jahren unterrichtet hatte, wussten nicht alle, wo Brüssel lag. Bei einigen von ihnen argwöhnte er sogar, dass sie nicht einmal wussten, wo Europa war. Er nickte. »Ja. Aber ich bin hier aufgewachsen. Und seit meinem vierten Lebensjahr amerikanischer Staatsbürger, bevor Sie fragen.«

Der gutmütige Ausdruck, der trotz allem noch immer irgendwo in Wilsons Augen gewesen war, erlosch, und Mogens begriff, dass er soeben einen schweren Fehler begangen hatte. Er hätte jetzt selbst nicht mehr sagen können, warum ihm dieser Blödsinn überhaupt entschlüpft war, doch ganz offensichtlich fühlte sich Wilson von ihm angegriffen, und damit augenscheinlich in seinem Misstrauen bestätigt.

»Wie kommen Sie darauf, dass Miss Preussler Opfer eines Verbrechens geworden ist?«, fragte Graves spröde.

Wilson maß ihn mit einem fast schon verächtlichen Blick und drehte sich demonstrativ ganz zu Mogens um. »Miss... wie war ihr Name noch gleich?«

»Preussler«, antwortete Mogens. »Betty Preussler. Wenn Sie die Adresse brauchen, kann ich sie Ihnen geben.«

»Das wird nicht nötig sein«, antwortete Wilson. »Jedenfalls im Augenblick nicht. Ich nehme an, dass Sie noch einige Zeit hier bleiben werden - nur wenn ich doch noch eine Frage haben sollte.«

»Und welche Frage könnte das sein?«, fragte Graves. Warum auch immer, er schien es darauf angelegt zu haben, Wilsons Misstrauen zur Gewissheit zu machen.

»Zum Beispiel die, wann Sie Miss Preussler das letzte Mal gesehen haben«, antwortete Wilson kühl, »und ob es zu ihren Gewohnheiten gehört, unbekleidet auf Friedhöfen herumzulaufen.«

Graves ignorierte den zweiten Teil seiner Frage. »Gestern Abend«, sagte er. »Miss Preussler hat uns das Abendessen zubereitet - ein ganz vorzügliches Abendessen, nebenbei bemerkt -, und danach haben wir uns zurückgezogen. Wir gehen hier früh schlafen, müssen Sie wissen. Wir arbeiten vierzehn Stunden am Tag, manchmal auch mehr.«

Wilson zog es vor, die Spitze zu überhören. »Und heute?«, fragte er.

»Wir haben seit Sonnenaufgang gearbeitet«, antwortete Graves. »Das Frühstück bereiten wir uns im Allgemeinen selbst. Miss Preussler ist nicht unsere Köchin. Sie ist nur hergekommen, um Professor VanAndt zu besuchen. Deshalb ist ihr Fehlen auch bisher niemandem aufgefallen. Ich glaube, wir alle sollten uns in Miss Preusslers Namen bei Ihnen bedanken, Wer weiß, wie es ihr ergangen wäre, wären Sie nicht zufällig im richtigen Moment vorbeigekommen.«

»Das war kein Zufall«, antwortete Wilson.

Graves lächelte knapp, kramte eine Zigarette aus seiner Westentasche und schnippte fast in der gleichen Bewegung ein Streichholz an. Lag es wirklich nur an der winzigen, grell flackernden Flamme, dass Mogens den Eindruck hatte, irgendetwas versuche mit aller Kraft, aus dem Gefängnis seiner schwarzen Handschuhe zu entkommen?

»Sondern?«, fragte Graves, nachdem er einen ersten, tiefen Zug genommen und eine graue Rauchwolke zielsicher in Wilsons Gesicht gesabbert hatte.

»Ich war ohnehin auf dem Weg zu Ihnen, Doktor Graves«, antwortete Wilson ungerührt.

»Und warum?«

»Ich fürchte, dass ich in einer etwas unangenehmen Angelegenheit zu Ihnen komme«, antwortete Wilson, wobei er sich nicht die geringste Mühe gab, zu verhehlen, wie sehr er diese Worte genoss. »Ich habe Ihnen ein Schreiben des Gerichts zu übergeben.«

»Welchen Inhalts?«, fragte Graves ungerührt.

Auf dem Bett ließ Miss Preussler einen sonderbaren Laut hören; eine Mischung aus einem Stöhnen und etwas, das vielleicht ein Wort werden sollte, aber nur zu einem verschwommenen Murmeln wurde. Dennoch warf Wilson einen fast schuldbewussten Blick in ihre Richtung und deutete dann zur Tür. »Vielleicht besprechen wir das lieber draußen«, schlug er vor.

Graves deutete ein Schulterzucken an und wandte sich ohne ein weiteres Wort zur Tür; wenn auch nicht, ohne Mogens einen warnenden Blick zuzuwerfen, ihm bloß nicht zu folgen.

Mogens hatte nichts dergleichen vorgehabt. Wenn Graves Probleme mit der Justiz hatte, so interessierte ihn das allerhöchstens insofern, dass sie gar nicht groß genug sein konnten. Er wartete gerade lange genug ab, bis Graves und der Sheriff das Haus verlassen hatten, dann ließ er sich behutsam auf die Bettkante sinken und griff nach Miss Preusslers Hand.

Ihre Haut fühlte sich warm an, auf eine unangenehme Art warm: fiebrig. Sie reagierte auf die Berührung, wenn auch erst nach einer geraumen Weile - sie drehte mühsam den Kopf und sah ihn an, und nachdem weitere, schier endlose Sekunden verstrichen waren, erschien die Andeutung eines Lächelns auf ihren Zügen.

»Professor«, sagte sie.

»Mogens«, antwortete Mogens. »Meine Freunde nennen mich Mogens.« Er machte eine rasche, abwehrende Bewegung, als Miss Preussler antworten wollte, denn er konnte ihr ansehen, wie sehr sie das Sprechen anstrengte. »Nicht reden«, sagte er. »Es ist alles in Ordnung. Sie sind jetzt bei uns. Hier kann Ihnen niemand etwas tun.«

Tom sah ihn an, als hege er gewisse Zweifel an dieser Behauptung, und auch Miss Preussler sah nicht wirklich überzeugt aus, oder gar beruhigt.

»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte er. Miss Preussler fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen, fast als müsse sie erst prüfen, ob sie tatsächlich durstig war. Mogens wollte sich mit einer entsprechenden Bitte an Tom wenden, doch der Junge war bereits aufgestanden und eilte zum Tisch. Als er zurückkam, trug er jedoch kein Glas oder Becher in der Hand, sondern eine flache Emailleschüssel und einen Schwamm, mit dem er behutsam Miss Preusslers Lippen betupfte. Er wartete geduldig, bis sie die Tropfen mehrmals hintereinander abgeleckt hatte, dann tauchte er den Schwamm tiefer in seine Schüssel, drückte ihn aus und begann anschließend sehr behutsam, ihr Gesicht und ihren Hals zu säubern.

Die Zärtlichkeit, mit der Tom zu Werke ging, rührte Mogens. Trotz der ohnehin nicht wirklich ernst gemeinten kleinen Zänkereien zwischen ihnen hatten sich Tom und Miss Preussler vom ersten Moment an gut vertragen, nun aber fragte er sich, ob Tom nicht möglicherweise mehr in ihr sah; vielleicht die Mutter, die ihm viel zu früh weggenommen worden war.

»Fühlen Sie sich jetzt besser?«, fragte er, nachdem er fertig war und die Schüssel neben sich auf den Boden gestellt hatte. Die Hände wischte er sich kurzerhand an der Jacke ab, und Mogens war sicher, in Miss Preusslers Augen trotz ihres bejammernswerten Zustandes ein missbilligendes Funkeln zu erkennen.

»Viel besser«, sagte sie. »Danke, Thomas. Du bist ein guter Junge.«

Tom war das unübersehbar peinlich. Er stand hastig auf, trug die Schüssel zurück zum Tisch und beschäftigte sich einige Augenblicke lang damit, vermutlich vollkommen sinnlos herumzuklappern.

Gerade, als er zurückkam, drang von draußen Graves' Stimme herein. Mogens konnte die Worte nicht verstehen, aber sie klangen sehr laut und überaus wütend. Nur einen Augenblick später hörten sie das Zuschlagen einer Autotür, und ein Automobil fuhr weg.

»Das klingt nach Ärger«, sagte Tom.

Wahrscheinlich war es gut, dass Mogens nicht dazu kam, darauf zu antworten, denn Tom hatte noch nicht ganz zu Ende gesprochen, als die Tür aufflog und ein äußerst übellauniger Graves hereinstampfte.

»Dummköpfe!«, schimpfte er. »Verdammtes Ignorantenpack! Und so was nennt sich Wissenschaftler!«

»Was ist passiert?«, fragte Mogens.

Graves wedelte ärgerlich mit einem schmal zusammengefalteten Blatt Papier, auf dem ein amtlich aussehendes Siegel prangte. »Unsere geschätzten Kollegen von nebenan«, ereiferte er sich.

»Die Geologen?«, fragte Tom.

»Maulwürfe!«, stieß Graves fast hasserfüllt hervor. »Verdammte Dreckwühler! Sie sind einfach nicht in der Lage, über den Rand der Löcher hinauszublicken, die sie selbst gebuddelt haben! Aber das lasse ich nicht auf mir sitzen. Diese so genannten Wissenschaftler werden sich noch wundern!«

Dann, ganz plötzlich, verschwand der wütende Ausdruck wie weggeblasen von seinem Gesicht und machte einem breiten Grinsen Platz. »War ich überzeugend?«, fragte er.

Mogens blinzelte, und auch Tom sah ihn mit einem Ausdruck vollkommener Verwirrung an.

»Doktor Graves?«

Graves' Grinsen wurde noch breiter, während er das Schriftstück mit einer nachlässigen Bewegung in der Innentasche seines Jacketts verschwinden ließ. »Ich hoffe doch, ich war überzeugend. Schließlich wollte ich unseren geschätzten Ordnungshüter nicht enttäuschen.«

»Was war das für ein Schreiben, das er dir übergeben hat?«, fragte Mogens.

Graves machte eine wegwerfende Handbewegung »Ein Gerichtsbeschluss, den unsere geschätzten Kollegen erwirkt haben«, antwortete er. »Er verbietet mir und jedem Mitglied meiner Gruppe, die Höhle noch einmal zu betreten, bevor sich nicht eine Kommission von Sachverständigen davon überzeugt hat, dass von unserer Arbeit keine Gefahr ausgeht. Ich kann mir schon vorstellen«, fügte er in verächtlichem Ton hinzu, »wie sich diese Kommission zusammensetzt!«

»Wir dürfen unsere Arbeitsstelle nicht mehr betreten?«, fragte Tom ungläubig.

»Bei Androhung einer Strafe von tausend Dollar«, bestätigte Graves fröhlich. »Für jedes Mal, wenn wir gegen diesen Beschluss verstoßen.«

»Aber das können sie doch nicht!«, protestierte Tom.

»Ich fürchte, sie können es doch«, antwortete Graves und schlug mit der flachen Hand dorthin, wo er das Blatt unter seinem Jackett trug.

»Mit welcher Begründung?«, wollte Mogens wissen.

Graves machte ein abfälliges Geräusch. »Unsere verehrten Kollegen«, antwortete er, mit einer Betonung, als spräche er über etwas ausnehmend Ekelhaftes, »sind der Meinung, dass unsere Ausgrabungen ihre Messungen beeinträchtigen. Und man könne nicht ausschließen, dass von ihnen auch eine erhebliche Gefahr für die Stadt und Leib und Leben ihrer Bewohner ausginge. Idioten!«

Irgendwie machte Graves nicht den Eindruck, dass ihn das wirklich beeindruckte, oder gar ärgerte, und Mogens sagte das auch.

»Damit hast du ausnahmsweise einmal Recht, mein lieber Professor«, antwortete Graves fröhlich. »Papier ist bekanntlich geduldig. Bevor Wyatt Earp Wilson auch nur begreift, was ich mit seinem Gerichtsbeschluss anzufangen gedenke, ist schon alles vorbei. Heute ist der entscheidende Tag, vergiss das nicht. Wir brauchen nur noch eine einzige Nacht.«

Es gefiel Mogens nicht, wie er wir sagte, aber er sparte es sich, irgendetwas dazu anzumerken, sondern wandte sich wieder zu Miss Preussler um. Sie war Graves und seinen Worten zwar schweigend, aber offenbar sehr aufmerksam gefolgt, und ihr Gesichtsausdruck sprach Bände. Mogens wusste nur zu gut, was sie von Kraftausdrücken jener Art hielt, wie Graves sie gerade benutzt hatte, und ein Gerichtsbeschluss Tangierte bei ihr nur unwesentlich unter Moses' Gesetzestafeln.

»Das spielt jetzt alles keine Rolle mehr, Miss Preussler«, sagte er. »Alles, was im Moment zählt ist, dass Sie am Leben und wieder zurück sind. Wir alle haben uns die größten Sorgen um Sie gemacht. Um ehrlich zu sein, habe ich schon das Schlimmste befürchtet, als ich gesehen habe, wie diese... diese Ungeheuer Sie verschleppt haben.«

Dem Ausdruck nach zu schließen, den er in ihren Augen las, war das, was ihr zugestoßen war, schlimm genug gewesen, und er war nicht sicher, ob er wirklich wissen wollte, was es gewesen war. Einen Moment lang verlor sich ihr Blick in eine Ferne, die von erschreckenden und fremdartigen Dingen erfüllt war - vielleicht ihre Welt zwischen Tag und Nacht -, doch sie fand ihre Beherrschung erstaunlich schnell wieder und zwang sich sogar zu einem matten Lächeln, auch wenn ihre Augen von diesem Lächeln auf sonderbare Weise unberührt blieben. Ihre Hand schloss sich ein wenig fester um seine Finger.

»Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen sich nicht mit diesen gottlosen Menschen einlassen, Professor«, sagte sie. »Ich wusste, dass es ein böses Ende nehmen würde.«

»Immerhin leben Sie ja noch, meine Liebe«, sagte Graves kühl. »Was haben Sie dort unten gesehen, Miss Preussler?«

Mogens war nicht sicher, ob sie ihm überhaupt antworten würde, und es verging auch eine geraume Weile, bevor sie es tat. »Meinen Sie nicht, dass Sie zuallererst mir ein paar Fragen beantworten sollten, Doktor Graves?«, fragte sie.

»Nein«, antwortete Graves gelassen. »Glauben Sie mir, meine Liebe, es ist besser, wenn Sie nichts über all diese Dinge wissen. Besser für uns, aber auch besser für Sie. Sie haben schon viel zu viel gesehen. Wir hatten unsere guten Gründe, Sie eindringlich davor zu warnen, dort hinunter zu kommen.« Er wartete einen Moment lang vergebens auf eine Reaktion und fuhr dann fort: »Umso wichtiger ist es für uns, dass Sie uns erzählen, was Sie hinter dieser Tür gesehen haben - das verstehen Sie doch, oder?«

»Jonathan, hör endlich auf«, sagte Mogens müde. »Sie will nicht darüber reden, begreifst du das nicht?«

»Lassen Sie ihn ruhig, Professor«, sagte Miss Preussler. »Doktor Graves ist ein schlechter Mensch. Das habe ich vom ersten Moment an gespürt. Vielleicht bin ich ja selbst schuld. Ich hätte nicht herkommen sollen.«

»Nein, das hätten Sie nicht«, antwortete Mogens ernst. »Aber ich bin trotzdem froh, dass Sie es getan haben.«

»Miss Preussler«, sagte Graves. »Was haben Sie gesehen?«

Miss Preussler ignorierte ihn. Der Griff um Mogens' Hand wurde noch fester. »Diese Kreaturen, Professor«, sagte sie leise. »Diese schrecklichen Kreaturen... sagen Sie mir, dass Sie hergekommen sind, um sie zu vernichten.«

»Nein«, antwortete Mogens bedauernd. »Ich wusste nicht, dass es sie gibt, jedenfalls nicht hier.«

»Aber nachdem Sie es wussten?«

»Ich fürchte, das liegt außerhalb unserer Möglichkeiten, liebe Miss Preussler«, sagte Graves, bevor Mogens Gelegenheit fand, zu antworten. Ausnahmsweise war Mogens ihm sogar dankbar dafür, ihm ins Wort gefallen zu sein. »Jedenfalls, solange Sie sich weigern, uns zu verraten, was Sie gesehen haben.«

Mogens musste sich beherrschen, um nicht einfach aufzuspringen und Graves zu ohrfeigen, nur damit er endlich den Mund hielt. Hätte Miss Preussler seine Hand nicht so fest gehalten, hätte er es vielleicht wirklich getan. Selbst Tom starrte Graves einen Moment lang mit einem Ausdruck kaum noch verhohlener Wut in den Augen an.

»Aber Sie werden sie vernichten?«, vergewisserte sich Miss Preussler. »Das sind gottlose Kreaturen, Doktor Graves. Sie haben kein Recht, unter den Augen des HERRN ZU wandeln.«

»Was haben Sie hinter dieser Tür gesehen?«, beharrte Graves.

»Mehr als ich wollte«, antwortete sie. »Mehr als irgendein Mensch sehen sollte. Diese Ungeheuer... es... es waren so viele. So unglaublich viele.«

Mogens tauschte einen raschen, beunruhigten Blick mit Tom. Er hatte gewusst, dass sie es mit mehr als nur einer dieser unheimlichen Kreaturen zu tun hatten - seit gestern Nacht wenigsten wussten sie, dass es mindestens drei waren -, aber viele?

»Viele?«, fragte er.

»Dutzende«, antwortete Miss Preussler. Ihre Stimme wurde leiser, und etwas von der Dunkelheit kehrte zurück, die Mogens vorhin in ihren Augen gesehen hatte. »Wenn nicht Hunderte. Ich konnte nicht alles sehen. Sie hatten mich gepackt und... und ich hatte auch Angst. Es war alles so schrecklich.«

»Sie müssen nicht darüber reden, wenn Sie nicht wollen, Miss Preussler«, sagte Mogens leise.

Graves bedachte ihn mit einem Blick, den er fast körperlich zwischen den Schulterblättern spüren konnte, aber Miss Preussler schüttelte nur den Kopf, warf ihm einen raschen, dankbaren Blick zu und fuhr dann, an Graves gewandt, fort: »Ich kann Ihnen nicht viel mehr sagen, Doktor. Ich hatte große Angst, und es war sehr dunkel dort unten. Aber es gibt viele von diesen Kreaturen. Sehr viele. Sagen Sie mir, dass Sie sie vernichten werden.«

Graves schwieg.

»Wie sind Sie ihnen entkommen?«, fragte Tom fast hastig.

»Ich bin ihnen nicht entkommen«, antwortete Miss Preussler.

»Nicht entkommen?«, fragte Graves. »Was meinen Sie damit?«

Die Dunkelheit in ihren Augen war nicht nur wieder da, sie nahm zu. »Sie... sie haben mich an diesen schrecklichen Ort geschleift«, sagte sie leise. »Ich glaube, ich muss kurz in Ohnmacht gefallen sein. Es ging eine Treppe hinunter, eine sehr lange Treppe, das weiß ich noch. Dann war da ein Haus, und...« Ihre Stimme versagte. Ihr Griff war mit einem Mal so fest, dass es wehtat, aber Mogens gab keinen Laut der Klage von sich, und er unternahm auch keinen Versuch, seine Hand zu befreien. Er konnte spüren, wie unendlich schwer es Miss Preussler fiel, weiter zu sprechen. Aber vielleicht musste sie es zugleich auch, um nicht an den schrecklichen Bildern zu zerbrechen, die die Frage aus ihrer Erinnerung heraufbeschworen hatte.

»Überall waren diese Kreaturen«, fuhr sie mit leiser, zitternder Stimme fort. »Sie... sie haben mir die... die Kleider vom Leib gerissen. Alle Kleider. Ich meine... ich... ich war sicher, sie würden mich töten. Ich war ganz sicher. Aber sie haben mich nur... nur angefasst und beschnüffelt.«

»Beschnüffelt?«, vergewisserte sich Graves. Er klang interessiert, fand Mogens - aber eigentlich nicht sonderlich überrascht.

»Ja«, sagte Miss Preussler. Sie schluckte ein paar Mal schwer, und ihr Blick schien nun geradewegs durch ihn hindurch zu gehen, an einen Ort noch jenseits der Dunkelheit. »Es war so schrecklich. So... so entwürdigend. Sie haben mich überall beschnüffelt, ich meine... wirklich überall. Ich... ich wollte sterben vor Scham, aber ich konnte nichts tun.«

»Schon gut«, sagte Mogens sanft. »Es waren nur Tiere, Miss Preussler. Nur ein paar hirnlose Ungeheuer. Es muss Ihnen nicht peinlich sein.«

»Und dann haben sie Sie einfach gehen lassen?«, fragte Graves.

»Nein«, antwortete Miss Preussler. »Irgendwann sind mir die Sinne geschwunden. Ich bin oben auf dem Friedhof wieder wach geworden. Die Kreaturen waren nicht mehr da.«

»Und dann hat Sheriff Wilson Sie gefunden«, vermutete Mogens.

Miss Preussler presste die Lippen aufeinander. Mogens konnte nicht anders, als die Kraft dieser Frau zu bewundern, aber er sah dennoch plötzlich Tränen in ihren Augen schimmern. »Es war so... so... entwürdigend«, flüsterte sie mit bebender Stimme. »Ich schäme mich so.«

»Das brauchen Sie nicht«, sagte Mogens sanft. »Es ist alles vorbei. Ruhen Sie sich ein wenig aus, und später wird Tom uns dann mit dem Wagen in die Stadt fahren. Mit ein wenig Glück sitzen wir heute Abend schon in einem Zug, der uns nach Hause bringt.«

»Aber das geht nicht, Professor«, sagte Miss Preussler.

»Was?«, fragte Mogens.

»Wir können nicht einfach davonlaufen«, erklärte Miss Preussler. »Es geht nicht nur um mich, Professor. Ich habe dort unten... noch etwas gesehen.«

»Was?«, fragte Mogens. Sein Herz klopfte.

»Ich war nicht die Einzige dort unten«, antwortete Miss Preussler. »Es gibt dort noch mehr Frauen. Und sie sind am Leben.«

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