Rhapsodys neuer Führer war ein Mann namens Clovis; sein Haar und seine Augenfarbe ähnelten Cedelias so sehr, dass man sie für Zwillinge hätte halten können. Allerdings lächelte er mehr, und Rhapsody fühlte sich in seiner Gegenwart weit entspannter, als er sie vom Langhaus auf einem Pfad nach Süden führte. Beim Abschied berührte Rial ihren Arm.
»Rhapsody, ich hoffe, du weißt, dass du hier in Tyrian willkommen bist. Der Wald selbst hat das mehr als deutlich gemacht, und ich hoffe, ich ebenfalls.«
»Danke«, antwortete sie und lächelte den Reichsverweser an. »Nun lasst uns sehen, ob Oelendra mit Euch in ihren Ansichten übereinstimmt.«
»Das wird sie ohne jeden Zweifel. Oelendra hat ihre kleinen Absonderlichkeiten und ihre Launen, aber sie ist eine weise Frau. Mehr als alles andere wünscht sie sich, die Welt in Sicherheit und Frieden zu sehen, denk daran.«
Rhapsody bemühte sich, ihr Lächeln weiter strahlen zu lassen, als Rial sich über ihre Hand beugte und sich dann zum Gehen wandte. Sie erinnerte sich an Ashes Bemerkungen, dass seine Freunde Oelendra als harte, strenge Lehrerin beschrieben hätten, kam aber zu dem Schluss, dass ihr Mangel an Humor keinesfalls schlimmer sein konnte als Achmeds. Sie sah Rial nach, wie er zwischen den Bäumen verschwand, und folgte dann Clovis den Waldweg entlang.
Nach einer Stunde gelangten sie zu einer großen Lichtung. Es war ein weitläufiger Garten, fast ein Park, mit großzügig gepflanzten Zierbäumen, hohem Gras und Wildblumen, die eher an Wildnis denn an einen angelegten Garten gemahnten. Aber hier und dort gab es Anzeichen, die eindeutig auf die Arbeit von lirinschen Händen hinwiesen. Ein gepflegter Weg, ein Blumenbeet, dessen Farbkomposition zu vollkommen war, um dem Zufall entsprungen zu sein, und das spärliche Unterholz alles wies darauf hin, dass hier geplant und eingegriffen wurde und keineswegs Wildwuchs herrschte.
Unweit neben dem Weg stand eine Gruppe Kinder, allesamt mit Holzschwertern bewaffnet, und lachten über einen Scherz der einzigen Erwachsenen, die in ihrer Mitte kauerte. Rhapsody wandte sich an Clovis, der stehen geblieben war. Er deutete zu den Kindern hinüber. Sie umringten eine ältere Frau, in deren langem, silberblondem Haar graue und weiße Strähnen zu sehen waren. Sie trug keine Rüstung, keine Waffe und war mit einem einfachen weißen Hemd und einer Hose aus aufgerautem Wildleder bekleidet, die aussah, als wäre sie oft getragen worden. Die Frau sprach mit sanfter Stimme zu den Kindern und berichtigte bei einem von ihnen geduldig die Art, wie es sein Übungsschwert in der Hand hielt. Dann horchte sie plötzlich auf.
Langsam erhob sie sich, sagte leise etwas zu den Kindern und ging auf Rhapsody zu. Diese hielt den Atem an, überwältigt von der Schönheit der Frau. Ihre Schultern waren fast so breit wie Achmeds oder Ashes, und beim Anblick ihres silberblonden Haars, der rosig goldenen Haut und der langen, schlanken Gliedmaßen wurden Rhapsodys Hände feucht. Oelendra war eine Liringlas, eine vom Volk der Felder, eine Himmelssängerin und von der gleichen Gattung wie Rhapsodys Mutter. Schon lange bevor sie Serendair verlassen hatte, hatte sie keinen Angehörigen dieses Stammes mehr gesehen.
»Mhivra evet liathua tyderae. Itahn veriata.«
Rhapsody spürte, wie ihr Herz einen Schlag aussetzte. Die altlirinschen Worte stammten aus einer anderen Zeit: In dir fließen zwei Flüsse zusammen. Wie passend. Der Akzent, der Dialekt war genau wie bei Rhapsodys Mutter, und die Metapher der zusammenfließenden Flüsse war einst ein geflügeltes Wort auf der Insel gewesen, um die Halbblut-Lirin zu beschreiben.
»Willkommen«, sagte die Frau, als sie vor Rhapsody stand, und lächelte. Rhapsody war unfähig zu antworten oder sich auch nur zu rühren, denn ein Schwall vergessen geglaubter Gefühle stieg in ihrem Herzen auf. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber sie brachte keinen Ton heraus. Ihr Blick begegnete dem der Frau und fand dort die Erinnerung an eine längst vergangene Zeit. Ein staunender Ausdruck breitete sich auf ihrem Gesicht aus, gefolgt von dem Pfad einer Träne, die unbemerkt über ihre Wange rollte. »Ich bin Oelendra.« Die Frau legte in einer zärtlichen Geste die Hand auf Rhapsodys Schulter. »Ich freue mich sehr, dich zu sehen.«
Endlich fand sie ihre Stimme wieder. »Rhapsody. Ich bin Rhapsody«, sagte sie. »Oelendra, wie der gefallene Stern.« Ein unendlich musikalischer Ton tanzte in der Luft, als sie das Wort aussprach, wirbelte wie eine unsichtbare Wolke, bis er leicht und ungesehen auf dem Wind zerschellte. »Man hat mir nicht gesagt, dass Ihr eine Liringlas seid.«
»Und mir hat man nicht gesagt, dass du die Canwr bist, deren Musik wir hörten, als sie den Wald erfüllte; aber jetzt verstehe ich es. Du musst weit gereist sein, denn ich sehe, dass du müde bist. Ich werde dir etwas zu trinken besorgen und einen Platz, wo du dich ausruhen kannst.«
Rhapsody dachte über die Bemerkung der Frau nach. Seit sie den Wald von Tyrian betreten hatte und so weit sie sich erinnern konnte, war das vor acht Tagen gewesen, hatte sie nicht mehr als zwei Stunden am Stück geruht. Der Ruf des Waldes und die sich stetig vertiefende Magie überall um sie herum hatten sie eingelullt wie ein Traum, und bis jetzt hatte sie kein Bedürfnis nach Ruhe verspürt. Nun aber hatte sie das Gefühl, als dürfte sie die Last, die sie so lange mit sich herumgeschleppt hatte, endlich ablegen. Hier war sie in Sicherheit, und nun überkam sie mit einem Mal die Erschöpfung.
»Ich bin schon ein wenig müde«, gestand sie.
»Danke, Clovis.« Rhapsodys Führer nickte und ging den Weg zurück, bis er, genau wie Rial zuvor, im Wald verschwunden war. Oelendra nahm Rhapsody am Arm. »Komm mit, du musst völlig erschöpft sein.« Mit diesen Worten geleitete sie Rhapsody über die Wiese und durch einen Hain voll blühender Bäume, bis sie an den Rand eines Feldes in einer Senke gelangten. An den steilsten Abschnitt des Hangs geschmiegt, stand ein kleines, mit Torf gedecktes Haus. Es hatte weiß verputzte Wände mit frei liegenden Holzbalken, Glasfenster mit schweren Läden und einen Steinkamin, aus dem nur wenig Rauch quoll. Durch die etwas eingesunkene Vordertür traten die beiden Frauen ein. Sie durchquerten einen kleinen Vorraum und gelangten in ein weit größeres Zimmer, das fast die Hälfte des Hauses einnahm.
»Bitte, setz dich und fühl dich ganz wie zu Hause.« Oelendra trat zu einem großen offenen Kamin, in dem ein kleiner Kessel über der schwachen Glut hing. »Du kannst dich niederlassen, wo immer du möchtest.«
Hier im Innern sah Rhapsody, dass ein großer Teil des Hauses ebenfalls eingesunken war; vermutlich war es auf tiefer liegendem Niveau gebaut, sodass es drinnen weit mehr Höhe bot, als es von außen den Anschein hatte.
Wie Oelendra selbst war auch die Einrichtung ganz anders, als Rhapsody es erwartet hatte. Das Haus war karg ausgestattet, mit nur wenig schmückendem oder gemütlichem Beiwerk. Vor dem großen gemauerten Kamin, der die Innenwand des Raums bildete, standen zwei Sessel. Ganz in der Nähe war ein Sofa und in der Ecke ein einfacher geflochtener Schaukelstuhl. Am anderen Ende fand sich ein solider Tisch aus dunklem Kiefernholz mit zwei langen Bänken und zwei massiven Stühlen. Den Rest der Einrichtung bildete eine Reihe großer Kissen, die alle nicht zusammenpassten. Auf dem Waffengestell neben der Tür lagen ein ramponiertes Stahlschwert und ein seltsam geschwungener Bogen aus weißem Holz. Dankbar ließ Rhapsody sich in den Schaukelstuhl sinken und seufzte vor Erleichterung. Vom langen Wandern taten ihr die Füße weh. Während ihre Gastgeberin sich an der Feuerstelle zu schaffen machte, sah sie sich weiter um. Der Raum hatte eine hohe Decke; ziemlich weit oben verlief eine kleine Galerie. Der große gemauerte Kamin wies mehrere Eisentüren auf anscheinend Backöfen und eine zentrale Feuerstelle, in der ein paar dicke Holzscheite leise glühten.
Wie außen waren die Wände auch innen bis auf die Holzbalken weiß verputzt. Eine Leiter führte zu einer Empore, die den großen Raum überblickte. Abgesehen von einem kleinen Teppich mit einem verschlungenen geometrischen Muster war der Fußboden nackt. Rhapsody lächelte. Ohne zu wissen, warum, fühlte sie sich hier wohl und geborgen. Oelendra wandte sich um und ging zu ihr.
»Hier, das erwärmt dein Herz vielleicht ein wenig«, sagte sie und reichte Rhapsody einen großen Keramikbecher. Er fühlte sich heiß an, aber Rhapsody war das nach der kühlen Frühlingsluft gerade recht. In dem Becher war eine rotgoldene Flüssigkeit, von der ein kräftiger Duft nach Gewürzen aufstieg. Rhapsody nahm einen Schluck, und sogleich war ihr Gaumen erfüllt von der Süße des milden Honigweins, versetzt mit Orangen und einer Mischung aus Hibiskus, Hagebutten, Nelken, Zimt und weiteren Gewürzen. Vergessen geglaubte Erinnerungen drangen auf sie ein.
»Dol mwl«, sagte sie leise, schloss die Augen und lächelte traurig. »Meine Mutter hat ihn immer für uns bereitet, wenn wir an kalten Tagen vom Spielen nach Hause kamen.«
»Ja, ich habe mir schon gedacht, dass du ihn kennst«, erwiderte Oelendra. »Obwohl ich vermute, dass deine Mutter wahrscheinlich nur Honig und nicht Met hinzugegeben hat. Bei meiner Mutter war das jedenfalls so.«
»Ich habe ihn nicht mehr getrunken, seit ich ein Kind war.«
»Die Menschen wissen ihn einfach nicht zu schätzen. Nicht mal die Gwenen und die Wald-Lirin können den Trank richtig zubereiten. Sie nehmen den ganz süßen Met anstelle des leichten. Den einzig guten dol mwl, den ich je außerhalb der Langhäuser vorgesetzt bekommen habe, war der im Gasthaus Zum Scheideweg im alten Land, und das ist sehr lange her. Inzwischen ist er aus unserer Kultur einfach verschwunden, fürchte ich, vom Meer verschlungen wie so viele andere Schätze. Leider scheine ich die Einzige zu sein, der das Getränk richtig schmeckt jedenfalls bis du hier angekommen bist.«
»Dann wissen die anderen nicht, was ihnen entgeht«, sagte Rhapsody. Sie öffnete die Augen wieder und blickte Oelendra nachdenklich an. Die alte Frau saß auf der Armlehne eines Sessels, so ruhig und behaglich, dass auch Rhapsody sich immer mehr entspannte. Ihre grauen Augen schimmerten, und sie schien einfach abzuwarten, schweigend, was in anderer Gesellschaft sicher hätte unangenehm sein können.
Sie ist wunderschön, dachte Rhapsody, obwohl der Körperbau der Kriegerin so gar nicht dem traditionellen Bild von der weiblichen Figur entsprach. Ihre Schultern waren breit, ihre Haut zwar rosig, aber nicht mehr jung und von den feinen Linien des Alters und all der Jahre in der Wildnis durchzogen. In jeder ihrer Bewegungen spiegelten sich ihre Sanftheit und ein unbefangenes Selbstvertrauen, das nichts mit Überheblichkeit zu tun hatte. In den Silberaugen glaubte Rhapsody eine nostalgische Traurigkeit zu erkennen, und sie versuchte sich vorzustellen, wie viele Generationen diese Augen schon hatten auf die Welt kommen und sie wieder verlassen sehen.
»Bestimmt hast du tausend Fragen an mich«, meinte Oelendra und riss Rhapsody damit aus ihrer Grübelei. »Fangen wir gleich mit der ersten Antwort an. Ich bin Oelendra Andaris, vor dir die letzte Iliachenva’ar. Ich habe dich erwartet.«
»Ach ja? Woher wusstet Ihr, dass ich kommen würde?«
»Es war eher eine Hoffnung als das sichere Wissen, Rhapsody. Zwei Jahrzehnte schon habe ich auf die Rückkehr des Schwertes gewartet. Ich wusste, dass es früher oder später zurückkommen würde, und mit ihm die Iliachenva’ar. Dass es eine Frau ist, Cymrerin und vor allem Liringlas, tut mir von Herzen gut.«
»Woher wusstet Ihr, dass ich aus der alten Welt stamme?«
Oelendra lächelte. »Das sieht man dir an, Liebes, aber außerdem habe ich keine Liringlas mehr gesehen, seit ich hier gelandet bin. Mit der Zweiten Flotte, die in Manosse an Land ging, sollen, soweit ich es gehört habe, einige von ihnen gesegelt sein, aber ansonsten gibt es nur dich und mich. Wir allein sind übrig von einer einst weit verzweigten und edlen Linie, die ein paar der größten Krieger und Gelehrten der Welt hervorgebracht hat.«
Rhapsody machte ein beklommenes Gesicht. »Euch kann man dazurechnen, Oelendra, aber mir gebührt eine solche Ehre nicht. Meine Mutter war eine schlichte Bauersfrau.«
»Adel hat rein gar nichts mit der sozialen Schicht oder der Herkunft zu tun, Rhapsody, sondern nur mit dem Herzen. Sag mir, warum du hier bist.«
»Ich bin gekommen, um den Umgang mit dem Schwert zu lernen, falls Ihr bereit wärt, mich zu unterweisen«, antwortete Rhapsody und nahm noch einen Schluck dol mwl. »Ich verdiene es nicht, eine solche Waffe zu tragen, wenn ich nicht angemessen mit ihr umgehen kann.«
»Die erste charakteristische Eigenschaft: der Wunsch, sich der Waffe wert zu erweisen«, sagte Oelendra, mehr zu sich selbst als zu Rhapsody. In ihren grauen Augen glomm ein fernes Licht. »Und was willst du mit diesem Wissen anfangen, sollte ich mich bereit erklären, es dir angedeihen zu lassen?«
»Da bin ich mir nicht ganz sicher. Ich weiß, es klingt dumm, aber ich glaube, dass die Tagessternfanfare aus einem bestimmten Grund zu mir gekommen ist. Vielleicht kann ich helfen, die Kluft zwischen den Cymrern oder den Lirin zu heilen und diesen schrecklichen Grenzüberfällen ein Ende zu bereiten.«
»Das Bestreben, einem höheren Ziel zu dienen«, murmelte Oelendra. »Und was, wenn du bei diesem Versuch dein Leben lässt?«
»Ich gehe davon aus, dass ich dabei sterben werde«, entgegnete Rhapsody mit einem leichten Lächeln. »Ich habe das Gefühl, dass meine Zeit begrenzt ist, trotz allem, was ich über die Unsterblichkeit der Cymrer gehört habe. Und so hoffe ich, vorher etwas Lohnendes tun zu können ich wünsche mir, dass diese Welt, wenn ich sie verlasse, ein wenig besser sein wird, als sie vor meiner Ankunft war.«
»Die Erkenntnis, dass es Höheres gibt als das eigene Selbst, und die Bereitschaft, sein Leben dafür herzugeben«, bemerkte Oelendra leise. Als sie ihre letzte Frage an Rhapsody stellte, wurde ihre Stimme ein wenig lauter. »Und was, wenn du beschließt, diese Macht gegen die Lirin anzuwenden?«
»Hiermit gebe ich Euch die Erlaubnis, mich in einem solchen Fall sofort wegzuschicken, ohne jede Diskussion. Ich würde mein eigenes Volk niemals betrügen.«
»Loyalität und Ergebenheit, sowohl bei der Sache als auch dem eigenen Volk gegenüber«, sagte Oelendra. Ihre Augen wurden klar, und sie lächelte. »Nein, Rhapsody, ich fürchte, du irrst dich. Du bist kein Bauer, du bist eindeutig eine Liringlas in deiner Seele, was immer dein Vater auch gewesen sein mag. Und du wurdest geboren, um die Iliachenva’ar zu sein. Es ist mir eine Ehre, dich unterrichten zu dürfen.«
»Vielleicht solltet Ihr mir am besten sagen, was es bedeutet, die Iliachenva’ar zu sein«, erwiderte Rhapsody unbeholfen. »Ich möchte nichts versprechen, was ich nicht einmal verstehe.«
»Das ist nur recht und billig«, meinte Oelendra und lehnte sich zurück. »Iliachenva’ar, wie würdest du das übersetzen?«
»Licht in der Dunkelheit oder Licht aus der Dunkelheit.«
»Natürlich kennst du die Nachsilbe rar?«
»Überbringer, Träger.«
»Ja. Also bezeichnet das Wort jemanden, ›der oder die Licht an einen dunklen Ort bringt«
»Oder aus einem dunklen Ort.«
»Genau.« Oelendra sah zufrieden aus. »In der alten Welt hatte die Tagessternfanfare noch zwei andere Namen, nämlich Ria, was Licht bedeutet, und Feuerstern. Bestimmt ist dir klar, wie der zweite Name entstanden ist. Verstehst du jetzt, was die Rolle der Iliachenva’ar ist?«
»Ich soll sozusagen eine Laternenanzünderin werden?«
Oelendra lachte, der gleiche fröhliche, glockenhelle Ton, in dem Rhapsodys Mutter in glücklichen Zeiten gelacht hatte, und Rhapsody spürte plötzlich, wie sich ihre Kehle zuschnürte. »Nun, das Schwert würde bestimmt auch in diesem Beruf gute Dienste leisten. Du bist die ideale Person für die Rolle, Rhapsody. Die Iliachenva’ar versucht, Licht an Orte und in Situationen zu bringen, die vom Bösen befleckt oder verwüstet wurden.«
Unbehaglich rutschte Rhapsody auf ihrem Stuhl herum. »Ich bin mir da nicht so sicher, Oelendra ... Ich weiß nicht mal, ob ich das Böse erkenne, wenn ich ihm begegne. Wisst Ihr, mein Urteilsvermögen ist nicht immer das beste. All den Wesen, die gemeinhin als monströs oder minderwertig gelten, schenke ich mein Herz, während ich denen gegenüber, die eine Vormachtstellung innehaben oder über Ansehen verfügen, oft Misstrauen empfinde. Ich kann nicht gut unterscheiden, wem ich vertrauen kann und wann ich lieber meinen Mund halten sollte. In einer solchen Machtstellung könnte das sehr gefährlich sein. Genau genommen wäre es vermutlich besser, wenn ich Euch das Schwert einfach zurückgäbe.«
»Oh? Um was damit anzufangen?«
Das Blut schoss Rhapsody in die Wangen. »Ich ich weiß es auch nicht recht; ich meine, Ihr wart schließlich vor mir die Iliachenva’ar.«
»Und du meinst, ich sollte die Aufgabe erneut übernehmen?«
»Ich glaube, das müsst Ihr entscheiden, Oelendra. Ich wollte nicht anmaßend sein.«
Die Lirin-Kriegerin lächelte. »Du bist keineswegs anmaßend, Rhapsody, nur weißt du nicht alles. Doch das lässt sich leicht beheben.«
Rhapsody seufzte tief. »Von all den Dingen, die ich suche, seit ich in diesem Land weile, finde ich, dass ehrliche Auskünfte mit am schwersten zu bekommen sind, Oelendra. Die Leute geben sie genauso ungern her wie das eigene Familiensilber. Auskünfte und Vertrauen.«
»Du erkennst mehr, als dir bewusst ist, Rhapsody. Drei Dinge möchte ich dir gern sagen. Erstens verstehe ich nur zu gut, wie du dich fühlst, und werde dir gern jeden Gefallen tun, wenn es um Auskünfte geht. Frage mich, was du willst, und ich werde dir ohne Zögern alles sagen, was ich weiß.«
Rhapsody atmete hörbar aus. »Danke. Ich bin nur nicht sicher, ob ich damit umgehen kann.«
»Das kannst du. Zweitens ist das, was du als Unfähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, bezeichnest, ungewöhnliche Weisheit. Nicht alles Gute ist schön, nicht alles Schöne ist gut. Im Allgemeinen wird diese Regel in der Kindheit hübschen Mädchen beigebracht, damit sie nicht eitel werden und damit die weniger Begünstigten sich besser fühlen. Doch die Wahrheit geht tiefer; nicht alles Gute und Wertvolle ist mit bloßem Auge sichtbar. Das gilt auch für das Böse.«
»Gibt es bestimmte Pflichten für eine Iliachenva’ar, außer einfach den Raum zu erhellen und Böses zu vertreiben?«
Wieder lachte Oelendra. »Nun, traditionell ist die Iliachenva’ar eine geweihte Kämpferin, das heißt, eine Begleiterin oder Beschützerin der Pilger, Kleriker und anderer heiliger Männer und Frauen. Die jeweilige Sekte, der die Betreffenden angehören, spielt dabei keine Rolle. Du musst all die beschützen, die dich brauchen, um Gott was immer sie darunter verstehen verehren zu können.«
Rhapsody nickte. »Und das Dritte, was Ihr mir sagen wolltet?«
Das Lächeln verschwand aus Oelendras Gesicht. »Die Tagessternfanfare wählt sich ihre Träger selbst aus, nicht anders herum. Das Schwert hat dich gewählt, Rhapsody. Ich kann nicht die Iliachenva’ar sein, selbst wenn ich es wollte was nicht der Fall ist.«
»Warum habt Ihr aufgehört, die Iliachenva’ar zu sein, wenn ich fragen darf?«
Langsam stand die ältere Frau auf, ging zum Kamin und bückte sich; gedankenverloren stocherte sie in der Glut unter dem Kessel mit dol mwl. Aus einem Fass neben der Feuerstelle löffelte sie Wasser in einen verbeulten Kessel und hängte ihn neben den dol mwr. Rhapsody konnte sehen, wie sich die Muskeln in ihrem durchtrainierten Rücken zusammenzogen, als sie sich wieder aufrichtete und zu ihr umwandte.
»Ich habe diese Geschichte noch niemandem erzählt, Rhapsody. Aber ich glaube, ich schulde sie dir.«
»Ihr schuldet mir doch nichts, Oelendra«, platzte Rhapsody mit knallrotem Kopf heraus. »Es tut mir sehr Leid, dass ich meine Nase in etwas gesteckt habe, was mich nichts angeht.«
»Niemand sonst hat jemals danach gefragt, hauptsächlich weil man mich für verrückt hält.«
Oelendra ließ sich in ihren Sessel sinken. »Seit Jahrhunderten hatte ich auf sie eingeschimpft und versucht, ihnen klar zu machen, was in ihrer Mitte lebte, was ihnen von der Insel gefolgt war, aber sie weigerten sich zuzuhören.«
»Die Cymrer?«
»Zuerst die Cymrer, dann die Lirin.« Oelendra verschwand in die Küche und kam mit zwei Messern und einem gusseisernen, mit Kartoffeln und Zwiebeln gefüllten Topf zurück. Diesen stellte sie auf den Kieferntisch, ging dann zu den Tonnen neben der Tür, fischte Trockenfleisch, Möhren und Gerste heraus und legte alles neben den Topf. Rhapsody stand auf und trat an den Tisch. Sie zog sich einen Stuhl heran und nahm sich eines der Messer. Mit geübter Hand machte sie sich ans Kartoffelschälen, während Oelendra die Zwiebeln mit heftigen Bewegungen klein schnitt, die dem Feuer in ihren Augen gleichkamen. Doch ihre Stimme klang ruhig.
»Siehst du, Rhapsody, als die Cymrer Serendair verließen, war ich die Schutzherrin der Ersten Flotte, jener Leute also, die ursprünglich geschickt wurden, um den Ort, den Merithyn gefunden hatte, zu besiedeln und aufzubauen. Seinen Berichten zufolge war das Land, das er entdeckt hatte, unbewohnt, abgesehen natürlich von Elynsynos, der Drachenfrau. Gwylliam, der letzte serenische König, der Visionär, hielt das Heer zurück bis zur dritten und letzten Fahrt, denn an einem unbewohnten Ort würden sie es nicht brauchen. Er wollte nicht, dass die Drachin sich bedroht fühlte, und er wollte auch nicht den Eindruck erwecken, dass er vorhatte, zu kämpfen oder in das Land einzumarschieren. Wir waren eingeladen worden, daher kamen wir in Frieden Architekten, Maurer, Zimmerer, Ärzte, Gelehrte, Heiler, Bauern. Die Überfahrt war schwierig, wir verloren Merithyn und viele andere unterwegs, aber das Land hieß uns willkommen, und als wir unsere Heimat fanden, war die Lage der Ersten Flotte nicht schlecht, vor allem im Vergleich zu den anderen, die später kamen.« Oelendra warf die Zwiebeln in den Topf mit den Kartoffeln, dann schabte sie das Fleisch.
»Es dauerte über ein Jahr, bis die Dritte Flotte landete, und über fünfzig weitere Jahre, bis wir uns wieder sahen. Das war ein großer Freudentag; ungute Gefühle kamen erst später ans Licht. Mitten in dem ganzen Jubel darüber, dass wir mit unseren Landsleuten wieder vereint waren, fühlte ich mich plötzlich zutiefst unbehaglich. Ich spürte den Geruch eines Dämons von der gleichen Art wie jener, der am Großen Krieg schuld gewesen war und der Jahrhunderte zuvor fast die ganze Insel vernichtet hatte. Hast du von den F’dor gehört?«
»Ja, ein wenig, aber bitte erzählt mir trotzdem alles über sie.«
»Die F’dor gehörten zu den erstgeborenen Rassen wie die Drachen, eine der ersten fünf, die jemals die Welt beschriften haben. Von Natur aus standen sie in Verbindung mit dem Feuer, mit dunklem Feuer, böse geboren, ein zutiefst abartiges, geisterähnliches Volk, das nach nichts anderem als Zerstörung und Chaos trachtete, Meister der Manipulation, welche eine Ewigkeit damit verbrachten, Wege zu suchen, wie sie über die Grenzen ihrer eigenen Macht hinausgelangen konnten. Sie sind begabte Lügner und überaus fähig, Teile der Wahrheit mit Halbwahrheiten und echten Lügen zu vermischen und sehr überzeugend darzustellen. Als nichtkörperliche Wesen können sie sich an die Seelen von Männern und Frauen binden und mit ihren Wirten verschmelzen.
Manchmal ist die Verbindung nur leicht und zeitlich begrenzt; meist vollbringt das Opfer irgendeine Tat, ohne sich dessen bewusst zu sein, und wird danach nie wieder belästigt. Aber manchmal binden sich die F’dor fest an eine Seele und besitzen diese von nun an für alle Zukunft, bis zu ihrem Tod.
Zur schlimmsten Verbindung kommt es jedoch, wenn sie sich einen echten Wirt aussuchen, ein Individuum, mit dem sie völlig verschmelzen. Das ist mehr als nur Besitzergreifung, es ist die uneingeschränkte Vereinnahmung des Opfers durch den Dämon. Er lebt in diesem Körper, wird stärker, wenn der Wirt stärker wird, nimmt andere Formen an, wenn er selbst mächtiger wird oder wenn der Wirt stirbt. Und dieser Zustand ist für die meisten, mich eingeschlossen, nicht zu erkennen. Ich habe unter den Händen dieser Kreaturen schrecklich gelitten, Rhapsody, ebenso wie viele andere, die ich geliebt habe. Sobald wir der Dritten Flotte wieder begegnet waren, wusste ich, dass einer mitgekommen war. Der Dämon hatte sich an jemanden auf dem letzten Schiff gebunden. Gwylliam hatte versagt, denn als Schirmherr war es seine Aufgabe gewesen, das Böse daran zu hindern, uns zu folgen. Aber niemand wollte mir Glauben schenken.«
Rhapsody schauderte. »Das muss furchtbar gewesen sein. Was habt Ihr getan?«
»Als der Herrscher und die Herrscherin gewählt wurden, die das vereinte cymrische Volk regieren sollten, warnte ich sowohl Gwylliam als auch Anwyn vor dem, was ich fühlte. Doch sie schlugen meine Warnung in den Wind. Da zunächst nichts sonderlich Schlimmes geschah, wurden meine Befürchtungen verlacht und als Verfolgungswahn abgetan. Doch sie verstanden eines nicht: Wenn das Böse eine Weile nicht an die Oberfläche kommt, ist es noch lange nicht verschwunden, sondern es verbirgt sich höchstwahrscheinlich irgendwo in der Dunkelheit, gärt vor sich hin und sammelt neue Kräfte. Aber Anwyn und Gwylliam fühlten sich nur in ihrer Annahme bestätigt. Die F’dor zeigten sich nicht; Anwyn und Gwylliam regierten drei Jahrhunderte lang in relativem Frieden, bis eines Nachts in Canrif, das heute den Namen Ylorc trägt, ihr Reich zusammenbrach. Ob der Dämon eine Rolle dabei spielte oder ob es allein Anwyns und Gwylliams Torheit war, werden wir nie wissen. Es kam zu einem neuerlichen Krieg, der über Jahrhunderte währen sollte, über siebenhundert Jahre, Rhapsody. In jener Zeit bildete ich Kämpfer und Kämpferinnen aus und schickte sie aus, um den Dämon zu finden. Keiner von ihnen ist jemals zurückgekehrt.« Oelendra warf das Fleisch in den Topf und fing an, die Gerste zu putzen.
»Und das reichte nicht aus, um sie zu überzeugen?«
»Während des Krieges waren solche Verluste bedeutungslos; schließlich verschwanden ständig Soldaten. Und nach dem Krieg, in dem unsicheren Frieden, der folgte, nahm man irgendwann an, ich selbst sei in irgendeiner Weise schuld am Verschwinden meiner Kämpfer. Erst dachten nur die Cymrer, ich wäre verrückt und jagte einem Dämon hinterher, der gar nicht existierte, dann schlössen die Lirin sich ihnen an. Allmählich bekam sogar ich selbst Zweifel an mir und fragte mich, ob ich die Zeichen womöglich falsch gedeutet hätte, ob ich so im Kummer der Vergangenheit gefangen war, dass ich mir alles nur einbildete. Nach und nach hörten die Cymrer auf, mir ihre Söhne zur Ausbildung im Schwertkampf zu schicken, weil sie fürchteten, dass ich mit meinem fruchtlosen Unterfangen ihren Tod herbeiführte. Schließlich suchte ich selbst den F’dor, bis ich zu dem Schluss kam, dass die anderen Recht hätten.«
Rhapsody ging zu ihrem Tornister, zog einen der Gewürzbeutel hervor und gab eine Hand voll getrocknete Kräuter und ein wenig wilden Meerrettich in den gusseisernen Topf. »Wie habt Ihr erkannt, dass Ihr Euch doch nicht geirrt hattet?«
»Als ich Gwydion gefunden habe.«
Der Name ließ Rhapsody aufhorchen. »Gwydion von Manosse?«
»Ja. Du kennst ihn?«
»Ich habe seinen Namen einmal gehört«, räumte Rhapsody ein. »Da kann man wohl kaum sagen, dass ich ihn kenne. Herzog Stephen Navarne bewahrt ein paar Erinnerungsstücke an ihn auf.«
»Ich habe ihn auch kaum gekannt. Nur einmal habe ich ihn gesehen, bei seiner Namenszeremonie, als er noch ein Säugling war. Aber Stephen war bei mir zur Ausbildung. Er und Gwydion waren Kinderfreunde, wuchsen aber in verschiedenen Provinzen auf, bis sie sich wieder trafen, als Stephen seine Ausbildung bei Gwydions Vater fortsetzte.«
Rhapsody nahm den Kessel von der Feuerstelle und goss kochendes Wasser in den Topf. Voller Erstaunen starrte Oelendra auf Rhapsodys Hand, die das rot glühende Eisen ungeschützt berührte. Als Rhapsody ihren Blick bemerkte, musste sie lächeln.
»Wer war Gwydions Vater?«
»Llauron, der Fürbitter der Filiden im Gwynwald.« Schnell trat Oelendra zur Seite, um nicht vom dampfenden Wasser verbrüht zu werden, als Rhapsody den Kessel unsanft auf dem Tisch abstellte. Mit einem der Tücher, die am Spülbecken hingen, wischte Rhapsody die Pfütze hastig auf.
»Tut mir Leid. Habt Ihr Euch wehgetan?«
»Nein, nein. Und du?«
»Auch nicht. Habt Ihr gerade gesagt, dass Gwydion von Manosse Llaurons Sohn war?«
»Sein einziger Sohn, sein einziges Kind, sein einziger Erbe. Llaurons lirinsche Ehefrau Cynron starb bei seiner Geburt.«
»Wie traurig.« Langsam nahm Rhapsody Oelendras Worte in sich auf. Sie verspürte Mitleid mit ihrem sanften Mentor; kein Wunder, dass er sich so in seine Arbeit gestürzt hatte. Die Insignien cymrischer Macht konnten das, was er verloren hatte, offensichtlich nicht ersetzen deshalb blieb er für sich, kümmerte sich um seinen Garten und seine Schüler und verschmähte die Reichtümer und Titel seiner Herkunft. So erklärte sich auch seine enge Freundschaft mit Herzog Stephen, dem besten Freund seines Sohnes. »Was habt Ihr damit gemeint, dass Ihr Gwydion gefunden habt?«
Oelendras Augen verengten sich. »Es sind nunmehr zwanzig Jahre, dass ich auf Gwydion traf, blutend und geschunden, dem Tode nahe, am Rand des Gwynwalds in Navarne, unweit vom Haus der Erinnerungen. Er war auf der Suche nach dem Dämon gewesen; meines Wissens ist er der Einzige, der jemals entkommen ist. Doch er war schwer verletzt, sein Brustkorb aufgerissen, ein Stück seiner Seele entblößt.
Als ich ihn sah, wusste ich sofort, dass er sterben würde, und ich wusste auch, was ihn getötet hatte.«
Rhapsody hängte den Kessel wieder übers Feuer und beobachtete, wie die Flammen knisterten, als sie sich ihnen näherte. »Die F’dor?«
»Ohne jeden Zweifel. Seine Seele blutete, ein rotes pulsierendes Licht umgab ihn. Der Anblick wird mir stets unvergesslich bleiben. Man denkt immer, die Seele sei etwas Ätherisches, ohne körperliche Form, aber die F’dor hatten es geschafft, sie aufzuschlitzen. Ein grässlicher Anblick.«
»Ich kann es mir kaum vorstellen. Was habt Ihr getan?«
»Panik überwältigte mich, aber nicht aus Angst um Gwydion. Ich habe in meiner Zeit so viel Tod gesehen, dass er mich nicht mehr beeindrucken kann. Was mir Angst machte, war, wie mächtig der F’dor geworden war, Rhapsody. Gwydion war ein gefährlicher Gegner. Er war in der Wildnis von Manosse groß geworden, er war mit den Meeresmagiern in ferne, abenteuerliche Länder gereist und hatte in mehr als einem Krieg gekämpft. Aber noch mehr als das: Die Macht und die Führungsqualitäten, die er allein durch seine Herkunft erworben hatte, kannten nicht ihresgleichen.
Von Gwylliam, seinem Großvater, besaß er das Anrecht auf das Land, das nur jene erben, in deren Adern uraltes königliches Blut fließt, die Linie der Könige. Von Anwyn, seiner Großmutter, hatte er das Blut der Drachin Elynsynos und Merithyns in sich, der ein Seren war eine weitere der fünf erstgeborenen Rassen, den Elementen entsprungen, aus denen das Universum besteht.
Auf der mütterlichen Seite seiner Familie stammte er von den MacQuieth ab. Er war der Kirsdarkenvar und Herr des Hauses Neuland, des höchsten manossischen Geschlechts. Und all dem zum Trotz war vom Kronprinz der cymrischen Dynastie nichts weiter übrig als ein zitterndes Häufchen blutigen Fleisches. Wenn der F’dor Gwydion von Manosse vernichten konnte, dann war seine Macht so groß geworden, dass ich nicht einmal mehr hoffen konnte, sie allein zu bewältigen. Das war vor zwanzig Jahren, Rhapsody, und ich schaudere bei dem Gedanken, was der Dämon jetzt zu tun vermag.« Sie blickte zu ihrer neuen Schülerin auf und runzelte die Stirn.
Rhapsody zitterte am ganzen Leib.
»Gwydion war der Kirsdarkenvar?«
»Ja, er trug das Schwert des Wasserelements, Kirsdarke, das über Generationen auf ihn herabgekommen war. Durch sein Blutrecht und strenge Initiationsriten vermochte er das Schwert mit der größtmöglichen Macht zu führen. Und wenn er unter Einsatz der Klinge, die eigens dafür gefertigt worden war, böse Wesen wie die F’dor zu töten, dennoch besiegt werden konnte, dann war klar, dass die Zeit gekommen war. Nun konnten nur noch die Drei das Böse besiegen ... Rhapsody? Was ist los?«
Rhapsody starrte aus dem Fenster in das verblassende Zwielicht, das sich im Laufe ihres Gesprächs eingeschlichen hatte.
Hast du selbst eine Verbindung zum Wasser oder besteht sie nur durch dein Schwert?
Das ist schwer zu sagen. Inzwischen trage ich Kirsdarke schon so lange bei mir, dass ich mir gar nicht mehr vorstellen kann, jemals ohne dieses Element gewesen zu sein. Rhapsody dachte an das verborgene Tal, den unerwarteten Anblick Ashes nach seinem Bad, nackt vom Nabel aufwärts, die grausige Wunde, die im Licht schwärte. Dann wanderten ihre Gedanken unvermittelt zu einem anderen versteckten Tal.
Es muss der Rakshas gewesen sein, dem ihr begegnet seid. Vor zwanzig Jahren schufen die F’dor den Rakshas im Haus der Erinnerungen. Ein Rakshas hat immer das Aussehen der Seele, die ihm Kraft gibt. Er besteht aus Blut, dem Blut des Dämons, und manchmal auch aus dem anderer Kreaturen. Für gewöhnlich sind es unschuldige Wesen oder wilde Tiere. Sein Körper ist aus einem Element wie Eis oder Erde gebildet; ich glaube, derjenige im Haus der Erinnerungen besteht aus gefrorener Erde. Das Blut schenkt ihm Leben und Kraft. Ein
Rakshas, der allein aus Blut besteht, ist kurzlebig und geistlos. Aber wenn der Dämon eine Seele besitzt, ganz gleich, ob sie menschlichen Ursprungs ist oder nicht, kann er sich diese einverleiben und nimmt schließlich die Form des Eigentümers der Seele an, wobei dieser natürlich tot ist. Damit verfügt er auch über einen Teil von dessen Wissen und kann all das tun, was dieser zu tun vermochte. Eine entstellte, böse Kreatur, vor der du dich in Acht nehmen musst, Hübsche. Und höre: Er befindet sich ganz hier in der Nähe. Sei vorsichtig, wenn du meine Höhle verlässt. Dies waren Elynsynos’ Worte gewesen. Cedelia hatte sie angestarrt.
Habe ich Euch irgendwie gekränkt, Cedelia?
Man hat Euch vor fünf Tagen am Rand des Außenwaldes zusammen mit einem Mann in einem grauen Kapuzenumhang gesehen. Ein Mann in einem grauen Kapuzenumhang hat in derselben Nacht am Ostrand des Außenwalds einen Überfall auf ein Lirin-Dorf angeführt.
Die Siedlung ist niedergebrannt. Vierzehn Männer, sechs Frauen und drei Kinder sind bei dem Überfall ums Leben gekommen.
Sie konnte sich Achmeds Gesichtsausdruck noch genau vor Augen rufen, als sie ihm aus dem Vertrag vorlas, den sie im Haus der Erinnerungen gefunden hatten.
Die Vertragspartner sind Cifiona ich schätze, das ist die Frau mit dem großen Dolch und eine Person namens Rakshas, die aber nur als Mittelsmann für einen Herrn in Erscheinung tritt, dessen Name interessanterweise unerwähnt bleibt. Zu diesen Pflichten gehört der Vollzug der Blutopferung von dreiunddreißig unschuldigen Herzen und unberührten Körpern menschlicher Abstammung sowie von Lirin oder Halb-Lirin in gleicher Zahl.
»Rhapsody?« Oelendras kräftige Hände umfassten ihren Oberarm.
Rhapsody wandte sich zu ihr um. »Ja?«
»Woran denkst du gerade?«
Rhapsody schaute wieder zum Fenster und schluckte; die Nacht brach herein.
»Wir können uns nach dem Abendessen weiter unterhalten, Oelendra. Jetzt müssen wir uns beeilen, sonst verpassen wir die Gebete.«
»Welche Gebete?«
Überrascht blickte Rhapsody die alte Lirin-Kriegerin an. Sie musste doch mit den Liedern der aufgehenden Sterne und der untergehenden Sonne vertraut sein Oelendra war eine Liringlas, eine Himmelssängerin! Doch sie starrte Rhapsody nur voller Verwirrung an. Vielleicht hatten die Gebete hier eine andere Bezeichnung.
»Bitte, Oelendra, kommt mit mir. Wir können die Gebete gemeinsam verrichten. Es ist so lange her, dass jemand mit mir gesungen hat.« Mit diesen Worten nahm sie Oelendra bei der Hand und eilte in der hereinbrechenden Dämmerung zur nächsten Waldlichtung.