Rhapsody schlich durch die kalte graue B und sah sich verstohlen um, ob per Zufall doch irgendein Bolg im Allerheiligsten umherwanderte. Schon seit geraumer Zeit hatte sie keine Nacht mehr im Kessel verbracht, und sie war unsicher, wann der Wachwechsel stattfand, der früher oft von den Bolg-Wachen als Ausrede benutzt worden war, um einen schnellen Blick in Achmeds Privatquartier zu werfen.
Über ihr langes blaues Nachthemd hatte sie einen Umhang mit Kapuze gezogen, und sie trug einen großen Korb mit Süßigkeiten vom Bazar in Sepulvarta bei sich, ein Friedensangebot für Jo, die in letzter Zeit distanziert und sehr gereizt gewesen war. Mit ein wenig Glück würde sie ihre Schwester allein und in Stimmung für ein nächtliches Plauderstündchen vorfinden. Rhapsody klemmte den Korb unter den Arm und klopfte an Jos Tür. Kurze Zeit später wurde die Tür langsam geöffnet, und Jo lugte durch den Spalt. Bei ihrem Anblick musste Rhapsody schlucken sie war dünner geworden, ihr Gesichtsausdruck war matt, die Haut fahl, das strohblonde Haar dunkler und ohne seinen üblichen Glanz. Sie starrte gezielt durch Rhapsody hindurch.
»Ja?«
»Jo, ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Rhapsody, während ihr die Sorge den Magen verkrampfte und die Kehle zuschnürte. »Du siehst aus, als fühltest du dich nicht wohl.«
»Mir geht’s gut«, antwortete sie barsch und schaute dann auf Rhapsody herab. »Was willst du denn?«
»Ach na ja, ich habe gedacht, wir könnten mal wieder einen gemütlichen Frauenabend veranstalten«, antwortete sie unbeholfen. »Ich hab dich vermisst, Jo. Unsere Gespräche und einfach die Zeit mit dir. Aber wenn du jetzt keine Lust darauf hast, kann ich das verstehen.«
Ihre Stimme erstarb.
Einen Moment starrte Jo sie an, dann entspannte sich ihr Gesicht ein wenig. »Na klar«, meinte sie und öffnete die Tür ein Stück weit. »Komm rein.«
Rhapsody gab ihr den Korb. »Das ist für dich. Ich weiß, du magst solche Leckereien. In Sepulvarta gibt es einen wunderbaren Zuckerbäcker, der alle möglichen Süßigkeiten und Trockenfrüchte verkauft und ...« Erschrocken hielt sie inne. Jos sonst immer so schlampiges Zimmer, in dem früher all ihre Habseligkeiten verstreut auf dem Boden herumgelegen hatten, war plötzlich genauso ordentlich wie Rhapsodys. Die vielen kleinen Kerzen, die sie ihr einmal geschenkt hatte, waren nirgends mehr zu sehen, und an ihrer Stelle hing eine einzelne Laterne von der Decke, die gedämpftes Licht und einen ekelhaften Gestank verbreitete. Jo trug den Korb zu ihrem Bett, ließ sich im Schneidersitz dort nieder und wühlte den Inhalt durch. Rhapsody nahm den Krug mit gewürztem Honigwein und füllte zwei kleine Becher, die sie in den Taschen ihres Umhangs mitgebracht hatte, stellte eine davon für Jo auf das Nachttischchen und trug die andere zu dem Kissenstapel auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers. Dort machte sie es sich bequem und hoffte, der warme Wein werde die Unterhaltung zwischen ihnen erleichtern, die sich so mühsam dahinschleppte. Bei Oelendra hatte er jedenfalls immer zu einer behaglichen Atmosphäre geführt.
»Also, was war denn hier oben so los?«
»Nichts.« Jo packte den Korb systematisch aus und legte das, was sie am liebsten mochte, zur Seite. Rhapsody trank noch einen Schluck und fragte sich, wo die Begeisterung geblieben war, die Jo gewöhnlich bei solchen Geschenken an den Tag legte sie konnte doch sonst die Finger nicht von Süßigkeiten lassen. »Das Übliche, du weißt schon; Aufstände niederschlagen, Dörfer einnehmen und unterwerfen, die Truppenübungen. Nichts Besonderes.« Sie wählte eine Papiertüte mit gezuckerten Trauben und warf Rhapsody einen Beutel getrockneter Aprikosen zu. Rhapsody sah zu, wie Jo ein paar Früchte in den Mund steckte; all das süße Konfekt aber, das sie für gewöhnlich gleich als Erstes verschlang, mied sie heute. Vielleicht wird sie allmählich erwachsen, dachte sie und versuchte, das ungute Gefühl zu verscheuchen, das ihr die Nackenhaare sträubte. Tatsächlich half ihr der Gedanke, sich ein wenig zu entspannen. Natürlich! Jo wurde einfach reifer, sie war ein Mensch und befand sich im Alter der Veränderungen. Das war tröstlich und traurig zugleich.
»Ich habe mir gedacht, ich brauche vielleicht ein bisschen Urlaub«, meinte sie, zog das schwarze Band aus ihren Haaren und fuhr sich mit den Fingern durch die goldenen Locken.
»Weißt du, eine Reise oder so, nur wir beide. Wie findest du das?«
Jo steckte eine weitere Traube in den Mund. »Weiß nicht. Was würde Ashe dazu sagen?«
»Er hat selbst Einiges zu erledigen«, erwiderte Rhapsody und senkte unter Jos durchdringenden Blicken die Augen. »Ich bin sicher, dass er sich allein beschäftigen kann. Außerdem weiß er, dass ich auch Zeit mit dir verbringen will.«
Jo antwortete nicht, sondern streckte sich auf dem Bett aus, die Arme unter dem Kopf.
»Möchtest du, dass ich dir etwas vorsinge, Jo?«, fragte Rhapsody. »Ich habe meine Lerchenflöte mitgebracht.« Noch immer versuchte sie verzweifelt, das Gespräch zu entkrampfen.
»Wenn du willst.« Jos Stimme klang unverbindlich.
Rhapsody zog das kleine Instrument hervor und begann mit einer kleinen Melodie, ziellos umherwandernd, ohne Wiederholungen. Sie fügte Phrasen aus Wald und Wiesenliedern aneinander, tröstlich und honigsüß. Schon nach kurzer Zeit sah sie, dass Jo sich entspannte und ihr Gesicht weicher wurde. Im Rhythmus der durchs Zimmer tanzenden Schatten wob sie eine wohltuende Melodie, die eine Weile in der Luft hing und dann leicht auf ihrer Schwester zur Ruhe kam.
Sobald Jo sich einigermaßen wohl zu fühlen schien, flocht Rhapsody eine Idee in das Lied ein, eine zarte Andeutung, dass Jo das, was sie beunruhigte, zur Sprache bringen könne. Rhapsody liebte ihre Schwester viel zu sehr, um sie mit ihrer Musik zu verhexen oder sie zu zwingen, etwas gegen ihren Willen preiszugeben; das Lied war nichts weiter als eine wortlose Ermutigung.
»Rhapsody?«
»Ja?«
»Kann ich dich was fragen?«
Rhapsody beugte sich auf ihren Kissen vor, einen freudigen Ausdruck auf dem Gesicht.
»Natürlich, Jo, du kannst mich alles fragen«, antwortete sie ernst. »Konntest du das nicht schon immer? Was möchtest du denn wissen?«
Jo setzte sich auf und sah ihr direkt ins Gesicht. »Wirst du Ashe heiraten?«
»Nein«, erwiderte Rhapsody. Das Laternenlicht flackerte über ihr Gesicht, ohne eine Spur von Trauer zu offenbaren.
»Warum nicht?«
»Wir haben nicht einmal darüber gesprochen. Es gibt eine Menge Gründe. Er ist von königlichem Geblüt, ich bin ein Bauer.«
»Ein Bauer? Ich dachte, du bist die Herzogin von Elysian.«
Rhapsody warf ihr ein Kissen an den Kopf und freute sich über die Rückkehr der alten Kameradschaftlichkeit. »Na gut, ich bin von Firbolg-Adel. Was übrigens einem Rang unter dem eines cymrischen Bauern entspricht.«
»Eingebildetes Volk«, meinte Jo. »Sollen sie sich ihren Dünkel doch sonst wohin schieben.«
Sie kippte den Met hinunter und füllte sich den Becher aus dem Krug nach. Rhapsody hielt ihr auch ihren Becher hin.
»Kann ich dich noch was fragen?« Jo sah ihr eindringlich ins Gesicht.
»Selbstverständlich.«
»Als du deine Jungfräulichkeit verloren hast, hat das wehgetan?«
»Nein.«
»Da hast du aber Glück gehabt.«
»Warum, Jo?«, fragte Rhapsody, und auf einmal spürte sie eine kalte Faust im Magen. »Geht es ... geht es dir gut?«
Jo zuckte die Achseln.
Forschend blickte Rhapsody in ihr Gesicht, und Besorgnis brandete über sie hinweg wie eine kalte Meereswoge. »Was willst du mir damit sagen, Jo? Dass du keine Jungfrau mehr bist?«
Jo starrte an die Wand. »Nein. Und es tut immer noch weh. Ich hab mich genau genommen seither nicht mehr richtig gut gefühlt.«
Sofort war Rhapsody bei ihr, setzte sich neben sie aufs Bett und nahm sie in den Arm. Sanft streichelte sie ihrer Schwester übers Haar und küsste sie zärtlich auf die Stirn, wiegte sie sanft, um sie zu beruhigen und auch um die Angst auf ihrem eigenen Gesicht zu verbergen.
»Was meinst du damit ... du hast dich seither nicht mehr richtig gut gefühlt? Sag mir, was los ist.«
Aber Jo schwieg. Behutsam rückte Rhapsody ein Stück ab und sah sie an; als Jo Anstalten machte, sich abzuwenden, legte sie ihr sanft die Hand an die Wange und blickte ihr fest in die Augen.
»Sag es mir, Jo. Ich helfe dir, ganz egal, was es ist.«
Lange starrte Jo sie schweigend an, und wieder bemerkte Rhapsody, wie verhärmt sie aussah ihre Haut war grau, Gesicht und Hände waren abgemagert. Schließlich sagte sie: »Ich kann nichts bei mir behalten. Ständig habe ich so ein komisches Gefühl im Magen. Mein ganzer Körper tut weh, alles.«
Rhapsody blinzelte, um die Tränen zu vertreiben, die ihr unwillkürlich in die Augen stiegen. Dann legte sie behutsam die Hand auf Jos Bauch, um festzustellen, ob sie die Gegenwart einer anderen Seele fühlte. Tatsächlich bemerkte sie eine sonderbare Schwingung, aber es war etwas falsch daran, falsch und fremd. Als sie versuchte, weiter nachzuforschen, schob Jo ihre Hand weg.
»Nein, Rhapsody, ich bin nicht schwanger. Lass mich in Ruhe.«
So sanft sie konnte, fragte Rhapsody nach: »Bist du sicher, Jo?«
»Ja. Und jetzt hör auf damit.« Jo erhob sich und ging durchs Zimmer, den Becher Met in der Hand.
»Es tut mir Leid, Jo«, sagte Rhapsody. »Du weißt, ich würde alles tun, was ich kann, damit es dir besser geht. Ich habe eine Menge Kräuter und Wurzeln, die deinen Magen beruhigen und die Schmerzen in deinem Körper lindern können. Komm mit mir nach Elysian, dann kannst du ein schönes linderndes Bad nehmen.«
»Schon gut«, entgegnete Jo und nahm einen großen Schluck von der goldgelben Flüssigkeit.
»Wahrscheinlich liegt es nur daran, dass mein erstes Mal ein bisschen, na ja, ein bisschen grob war, ein bisschen heftig. In ein, zwei Wochen ist bestimmt alles wieder gut.«
Doch ihre Worte ließen Rhapsodys Seele frösteln, sie spürte, wie Ärger in ihr aufstieg und ihr die Kehle zuschnürte. Sie versuchte, ruhig und besonnen zu sprechen. »Jo, es tut mir Leid«, wiederholte sie. »Bin ich so lange weg gewesen? Ich wollte, ich hätte für dich da sein können, du weißt schon, um mit dir zu reden. Ich meine, mir war nicht klar, dass du einen Freund hast.«
Jetzt wandte Jo sich um und sah sie zum ersten Mal aus sich heraus an. Ihr Blick war fest und entschlossen.
»Ich habe keinen Freund. Genau genommen ist es dein Freund.«
Verständnislos starrte Rhapsody sie an. Jos Worte überschlugen sich fast, als sie hastig weitersprach. »Es war Ashe, Rhapsody. Es tut mir ehrlich Leid, aber es war auch nur ein einziges Mal.«
»Jo, was redest du da?«
»Es war Ashe«, wiederholte Jo, und ihr Gesicht wurde hart. »Ich habe mit Ashe gevögelt. In der Nacht, als ihr euch im Beratungszimmer getroffen habt, als ich weggelaufen bin, ist er mir nachgegangen und hat mich draußen auf der Heide gefunden. Er hat dir nichts davon gesagt, oder?«
Rhapsody schwieg, aber alles Blut war aus ihrem Gesicht gewichen.
»Dacht ich mir’s doch«, fuhr Jo fort, als sie sah, wie Rhapsody erbleichte und die Augen abwandte. »Wahrscheinlich hat er dir gesagt, er hat mich nicht gefunden, ja? Alles Unsinn. Ich hab versucht, ihn wegzuschicken, aber er wollte einfach nicht. Und dann, na ja, dann haben wir’s getan. Irgendwie hab ich es teilweise schon genossen, aber insgesamt war es grausig. Ich werd seinen Gesichtsausdruck nie vergessen. Er hat mich regelrecht um den Verstand gevögelt. Ehrlich, Rhapsody, ich weiß nicht, was du an ihm findest. Hast du denn nichts Besseres zu tun, als dich von ihm bespringen zu lassen?«
Ihre Worte hatten die beabsichtigte Wirkung; als Rhapsody aufblickte, war ihr Gesicht von Tränen überströmt. Sie stand auf und zog wie in Trance die Bettdecke wieder glatt.
»Warum schläfst du nicht ein bisschen«, meinte sie, ohne Jo anzuschauen. »Ich mische ein paar Heiltrünke für dich zusammen und bringe sie dir morgen früh vorbei.« Jo sah zu, wie sie ihr Haarband und die Lerchenflöte einsammelte, das Zimmer verließ und leise die Tür hinter sich zuzog.
Ashe setzte sich im Bett auf, als sich die Tür zu Rhapsodys Zimmer lautlos öffnete. Eigentlich war er davon ausgegangen, dass sie bei Jo übernachten würde, und seine Freude über ihre Rückkehr war ihm sogleich anzusehen. Er schlug die Kapuze ein wenig zurück und streckte ihr die Arme entgegen, aber sie wandte sich schweigend von ihm ab und ging zur Garderobe, wo sie bedächtig ihren Mantel aufhängte.
»Rhapsody?«, sagte er, schwang die Beine aus dem Bett und setzte die Füße auf den eisig kalten Steinboden. »Alles in Ordnung?«
Sie wandte sich zu ihm um, und er sah mit Schrecken, dass ihr die Tränen übers Gesicht liefen.
»Aria, was ist los mit dir?« Schon wollte er aufstehen, aber Rhapsody hielt die Hände vor sich, als wollte sie ihn von weghalten.
»Bitte bleib, wo du bist.« Nun verschränkte sie die vor der Brust. Sie sah aus, als wäre ihr übel.
»Was ist denn passiert? Hast du dich mit Jo gestritten?«
Rhapsody machte ein paar Schritte auf ihn zu, noch immer die Arme um sich geschlungen.
»Sie sie hat gesagt, du hättest in der Nacht, als wir uns im Beratungszimmer trafen, Sex mit ihr gehabt. Draußen auf der Heide, oberhalb der Schlucht.«
Ashes Gesicht wurde ausdruckslos, dann überwältigten ihn der Schock und die Wut wie eine Springflut. Rhapsody spürte, wie sich die Spannung in der Luft veränderte, als der Drache in ihm sich zu regen begann. Rasch trat sie zu ihm und legte ihm die Fingerspitzen auf den Mund, ehe er aufbegehren konnte.
»Sag jetzt nichts, bitte. Ich weiß, dass es nicht wahr ist.« Ihre Tränen strömten wie Regen, und sie begann zu zittern.
Da ihm nichts zu sagen blieb, legte Ashe die Arme um sie und zog sie auf seinen Schoß. Fest drückte er sie an seine Brust und streichelte ihre glänzenden Haare, hin und her gerissen zwischen unglaublicher Wut über diese Lüge und der Freude darüber, dass sie ihm so vorbehaltlos vertraute. »Warum tut sie so etwas?«, fragte er. »Warum verletzt sie uns auf diese Weise vor allem dich? Meinst du, es ist ihre Rache dafür, dass wir es ihr nicht früher gesagt haben?«
Da hob Rhapsody den Kopf und sah ihm offen ins Gesicht. Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, erblickte er Angst in ihnen.
»Nein«, antwortete sie zitternd. »Ich glaube, sie ist dem Rakshas begegnet.«