Vogelgezwitscher und ein unerwarteter Sonnenstrahl weckten Rhapsody am nächsten Morgen. Die Nacht war schwierig gewesen, deshalb hatte sie die Morgendämmerung verschlafen, was ihr so gut wie nie passierte. Panisch setzte sie sich auf, bekümmert, weil sie ihre Gebete bei Sonnenaufgang verpasst hatte.
»Guten Morgen.« Die Stimme kam von der anderen Seite des Lagers, wo Ashe saß, gehüllt in seine üblichen nebligen Gewänder, und sie beobachtete. »Hast du dich ein bisschen ausgeruht?«
»Ja, entschuldige«, antwortete sie verlegen. In der Nacht hatte sie sich so heftig herumgeworfen, dass sich ihre Haare aufgelöst hatten, und Ashe war plötzlich etwas aufgefallen: Mit ihren glänzenden goldenen Locken, die offen um das nahezu vollkommene Gesicht fielen, war sie ohne Frage das Anziehendste Wesen, das er jemals gesehen hatte, und auf unbewusster Ebene musste sie das zumindest ahnen. Deshalb hielt sie ihr Haar immer mit diesem unscheinbaren schwarzen Band zurück sie spielte ihre Schönheit herunter, um nicht aufzufallen. Ashe lachte leise in sich hinein. Ihre Vorsichtsmaßnahmen genügten nicht, und jetzt war sowieso alles zu spät.
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte er und warf eine Hand voll Zweige aufs Feuer. »Es muss sehr unangenehm sein, wenn man nicht mal eine einzige Nacht ruhig schlafen kann.«
Rhapsody wandte den Blick ab. »Ja, das stimmt.« Langsam kroch sie unter ihren Decken hervor, stand auf und klopfte sich Blätter und Gras von den Kleidern. »Meinst du, wir schaffen es heute?«
»Zu Elynsynos?«
»Ja.«
»Ich halte morgen für wahrscheinlicher. Wenn du schon in ihrem Reich wärst, würdest du besser schlafen.«
Rhapsody band ihr Haar wieder ordentlich mit dem Samtband zurück und sah Ashe an. »Wie meinst du das?«
»Man sagt, Drachen könnten die Träume eines Menschen bewachen und die schlechten in Schach halten. Wenn wir innerhalb von Elynsynos’ Einflussbereich wären, hätte sie ohne Zweifel deine Albträume verjagt.«
»Woher willst du wissen, dass sie das überhaupt möchte?«
»Weil sie von dir hingerissen sein wird, Rhapsody. Vertrau mir.«
Offensichtlich wusste Ashe, wovon er sprach. Nach einem ereignislosen Tag, an dem sie durch die Wälder wanderten, die mit jeder Meile dichter und stiller wurden, machten Rhapsody und Ashe wieder Halt, um einen Platz für die Nacht zu suchen. Noch immer war ihre nachdenkliche Stimmung nicht vergangen, und sie waren meist schweigend nebeneinander hergegangen, bis sie in ein dunkles, von Stechpalmen eingesäumtes Tal kamen. Hier schlugen sie ihr Lager auf, und Ashe übernahm die erste Wache. Mitternacht kam, und noch immer schlummerte Rhapsody friedlich, ungestört von nächtlichen Ängsten, abgesehen von einem kurzen Gemurmel, das wie ein Schluckauf klang, nach dem sie sich aber schnell wieder beruhigte. Ashe beschloss, sie schlafen zu lassen, so lange sie konnte, und so wachte er immer noch, als der Morgen kam. Schlanke Arme erschienen unter der Decke und streckten sich zu einem langen, tiefen Seufzer; einen Augenblick später kam der Kopf zum Vorschein der goldene Haarschopf wirkte fast wie die aufgehende Sonne, die über den Horizont stieg. Große Augen wurden noch größer vor Entsetzen.
Blitzschnell kroch sie aus den Decken hervor und rannte zur nächsten lichten Stelle, wo sie den Himmel sehen konnte.
Das Licht der Morgendämmerung färbte den dunklen Himmel schon azurblau und zauberte einen rosa Hauch auf den östlichen Rand. Der Morgenstern ging gerade unter, als Rhapsody ihre Aubade anstimmte; die süße Klarheit ihrer Stimme durchbrach die Stille des Tals und sandte Schauder über Ashes Rücken. Da spürte er unter seinen Füßen ein sanftes Rumpeln, und der Wind wurde ein wenig stärker. Auch Elynsynos hatte Rhapsody gehört.
»Hier sind wir«, sagte Ashe. Seine Stimme war beinahe ein Flüstern, und Rhapsody fragte sich, ob es Ehrfurcht war oder Angst.
In einer Vertiefung im Berghang unter ihnen lag ein kleiner Waldsee. Sein kristallklares Wasser war vollkommen ruhig, und wie ein Spiegel reflektierte er die um ihn stehenden Bäume. Der See ergoss sich in einen kleinen Bach, dem sie vom Tar’afel immer wieder gefolgt waren.
Im Wald herrschte Stille, unterbrochen hier und da nur vom Zwitschern eines Vogels oder dem Plätschern eines Bachs. Die Schönheit und Heiterkeit dieses Ortes entsprach ganz und gar nicht Rhapsodys Erwartungen, wie die Umgebung einer Drachenhöhle auszusehen hatte. Nirgendwo gab es Anzeichen, dass hier ein großes Reptil oder überhaupt jemand wohnte. Sie umrundeten den See, bis sie auf seine andere Seite gelangten und Rhapsody die Quelle sah, die ihn speiste. Im steilsten Abhang der Hügel befand sich eine Höhle, die nur von diesem Standpunkt aus zu sehen war, und aus ihr floss leise ein kleiner, glasklarer Bach in den Spiegelsee. Der Eingang der Höhle war etwa zwanzig Fuß hoch. Es bestand kein Zweifel, dass dies ihr Ziel war; Rhapsody fühlte die Macht, die von der Höhle ausging und sie innerlich erzittern ließ.
Als sie den langen Pfad hinuntergingen, glaubte Rhapsody flüsternde Stimmen im Wind zu hören, aber als sie stehen blieb, um zu lauschen, waren die Worte verschwunden, und sie hörte nichts als das Rascheln der knospenden Zweige in der Frühlingsbrise. Sie hatte das sichere Gefühl, dass sie beobachtet wurden. Ashe schwieg, und sie konnte unter der Kapuze seines Umhangs keine Reaktion ausmachen.
Schließlich gelangten sie zum Höhleneingang. In einem gleichmäßigen Rhythmus entströmte ihm warme Luft; der Atem des Drachen, dachte Rhapsody. Zweifel bemächtigten sich ihrer, Zweifel, ob es richtig gewesen war, hierher zu kommen. Schon spielte sie mit dem Gedanken, schnell wieder wegzugehen, als der Friede des Waldes von einer Stimme durchbrochen wurde, die nur von Elynsynos stammen konnte.
»Du machst mich neugierig«, sagte die Stimme in verschiedenen Tonlagen, gleichzeitig Bass, Tenor, Alt und Sopran. Ihr Nachhall enthielt eine elementare Vertrautheit, die nicht einmal Rhapsodys Feuergeborenes Herz ermessen konnte, die indes das Innerste ihrer Seele anrührte. Einen Augenblick lang konnte sie nicht sagen, ob sie tatsächlich Worte gehört oder nur gefühlt hatte. »Komm herein.«
Rhapsody schluckte schwer und trat langsam auf den Eingang der Höhle zu. Am äußeren Rand der Höhlenwand blieb sie stehen und schob Flechten und Efeu zurück, um die dort eingravierten Runen zu betrachten. Plötzlich erkannte sie vertraute Worte.
Cyme we inne frið,
fram the grip of deaþ to lif
inne ðis smylte land
Unter ihren Fingerspitzen vibrierte es sanft, als sie den uralten Schriftzug berührte; sie spürte die Aura des seit Jahrhunderten brachliegenden Wissens, und Staunen erfüllte sie, Entdeckerfreude und noch mehr Erregung, die herzzerreißende Spannung einer ersten Leidenschaft. Sie verstand es sofort, es war unverkennbar, obgleich sie es nur ein einziges Mal in ihrem Leben empfunden hatte.
Das Wissen, so alt es war, hing an diesem Ort förmlich in der Luft und war gegenwärtig im Stein der Höhlenwand. Hierher musste Merithyn gekommen sein, hier hatte er zum ersten Mal das Gelübde seines Königs eingraviert. In gewisser Weise war dies also der Geburtsort des cymrischen Volkes und hatte als solcher eine geradezu magische Aura. Mehr noch, hier hatte es einmal Liebe gegeben, eine große Liebe, und ein Teil davon war immer noch vorhanden. Gern wäre Rhapsody einfach hier stehen geblieben und hätte die Runen studiert.
»Rhapsody«, ertönte hinter ihr Ashes Stimme, so unvermittelt, dass sie heftig zusammenzuckte. »Schau ihr nicht in die Augen.«
Sie schüttelte ihre Trance ab und nickte. Dann überprüfte sie ihre Ausrüstung und wandte sich zu ihm um.
»Ich werde vorsichtig sein. Auf Wiedersehen, Ashe«, sagte sie leise. »Danke für alles. Mögest du eine sichere Heimreise haben.«
»Warte, Rhapsody.« Ashe streckte ihr die Hand hin. Sie nahm sie und ließ sich von ihm vom Fels herunter auf den Waldboden ziehen.
»Ja?« Sie stand vor ihm und blickte hinauf in die Dunkelheit seiner Kapuze. Langsam hob er die Hand, ergriff die Kapuze und zog sie dann blitzschnell herunter. Rhapsody stockte der Atem.
Jo hatte Recht gehabt. Er hatte keine Narben, er war nicht im Geringsten entstellt. Vielmehr war sein Gesicht wunderschön, und er blickte mit einem unsicheren Lächeln auf sie herab. Genau wie ihre Schwester bemerkte auch Rhapsody als Erstes sein Haar. Es leuchtete wie blankes Kupfer, und im Licht der Nachmittagssonne hätte Rhapsody fast glauben können, es wäre tatsächlich das Werk eines Schmiedes. Weder in diesem Land noch in jenem, aus dem sie stammte, hatte sie jemals so etwas gesehen, und sie fragte sich, ob es wohl weich war wie Sommerfäden oder hart und drahtig, wie der metallische Glanz es nahe legte. Die Frage faszinierte sie, und sie hätte den Rest des Nachmittags damit verbringen können, hier zu stehen, ihn anzustarren und gegen den Drang anzukämpfen, sein Haar zu berühren. Es dauerte mehrere Atemzüge, bis ihre Augen den Rest seines Gesichts aufnahmen. Es war klassisch schön und zeigte wie ihr eigenes seine aus menschlichen und lirinschen Eigenschaften gemischte Herkunft. Seine Haut war hell und glatt, sein schön gemeißelter Kiefer von struppigen Bartstoppeln bedeckt. Bei einem Mann rein menschlicher Abstammung hätte das auf ungefähr einen Monat ohne Rasur hingedeutet, aber Rhapsody wusste, dass der Bart bei einem Halbblut mindestens ein Jahr wuchs, bis er so aussah. Wäre er ein Mensch gewesen, hätte sie ihn auf Mitte Zwanzig geschätzt, aber als Halb-Lirin, möglicherweise von cymrischer Abstammung, konnte Rhapsody sein wahres Alter unmöglich erraten. Und dann blickte sie in seine Augen, schöne, fremdartige Augen. Sie waren leuchtend blau, mit kleinen bernsteinfarbenen Sternen um die Iris herum. Sie musste zweimal hinsehen, ehe ihr klar wurde, was an ihnen so fremdartig war. Die Pupillen waren vertikale Schlitze wie bei einer Schlange, jedoch ohne das Grausige eines Reptils; vielmehr sah man in ihnen Erfahrung und Kraft, uralt und ausdauernd. Rhapsody fühlte sich zu ihnen hingezogen wie von einem mächtigen Fluss, der über einen Wasserfall stürzt, oder von der Ruhe einer abgelegenen Lagune. Dann schloss Ashe kurz die Augen, er blinzelte, und ihr stockte wieder der Atem. Als sie wieder Luft holte, spürte sie, dass ihre Wangen nass waren von Tränen, doch ihr war nicht bewusst, dass sie geweint hatte. Schlagartig verstand sie nun viele Dinge, die ihr zuvor rätselhaft erschienen waren warum er sich unter seinem Umhang versteckt, warum er sie weggestoßen hatte.
Er wurde verfolgt. Nur das konnte der Grund sein.
Sie wollte sprechen, war jedoch zu aufgewühlt. Ashe sah ihr in die Augen, als fürchtete er sich vor ihren Worten, müsste sie aber trotzdem hören. Endlich fühlte Rhapsody sich bereit.
»Ashe?«
»Ja?«
Sie holte tief Atem.
»Du solltest den Bart abrasieren, er ist scheußlich.«
Er starrte sie verwundert an, bis ihm endlich dämmerte, was sie gesagt hatte, und er lachen musste. Rhapsody atmete erleichtert aus. Als er, immer noch leise lachend, wegsah, reckte Rhapsody sich empor und umarmte ihn. Sie wollte nicht, dass er sah, wie die Tränen in ihren Augen standen.
Ashe zog sie an sich und hielt sie zärtlich umfangen, aber Rhapsody spürte, wie er zusammenzuckte. Aus irgendeinem Grund hatte sie ihm wehgetan, und sie ließ ihn los, denn sie wollte es nicht schlimmer machen. Der Schmerz schien aus seiner Brust zu kommen, aber sie war nicht ganz sicher. Auch er ließ sie los, allerdings mit einem tiefen Seufzer.
»Danke«, sagte sie, und es kam von Herzen. »Ich weiß, das war schwer für dich, und ich fühle mich geehrt, dass du es trotzdem getan hast. Wenn du dich mir nicht gezeigt hättest, hätte ich immer darüber nachgrübeln müssen, wie du aussiehst.«
»Sei vorsichtig da drin«, sagte er mit einer Kopfbewegung zu der Höhle.
»Sei du vorsichtig auf dem Weg zurück«, erwiderte sie und wandte sich zum Gehen. Ein Stück weiter bückte sie sich und hob ein Stück trockenes Holz auf, das im Eingang der Höhle lag. »Noch einmal vielen Dank. Gute Reise.« Sie warf ihm eine Kusshand zu, kletterte auf den nassen Felsen und in die Höhle hinein.
Der Eingang weitete sich in einen dunklen Tunnel, in dem tief drinnen ein glühendes Licht pulsierte. Am äußeren Rand wuchsen sternartige Flechten an den Höhlenwänden; sie streckten sich hinaus ins Tageslicht, wurden dünner und verschwanden in der zunehmenden Dunkelheit des Tunnels schließlich ganz.
Langsam, mit gespitzten Ohren folgte Rhapsody dem Gang. Kurz darauf hörte sie es ein Platschen, mit dem sich etwas in der Tiefe der Höhle durchs Wasser bewegte, gefolgt von schweren Schritten Klauenbewehrter Füße, die über den Felsboden tappten. Stahl rieb auf Stein, und die Höhle füllte sich mit dem heißen Wind des Drachenatems, vermischt mit den beißenden Gerüchen, die Rhapsody aus Schmiedewerkstätten oder von Achmeds Esse kannte; Gerüche, wie ein Glühofen sie verbreitete.
Der Tunnel machte eine Biegung und öffnete sich schließlich nach unten in eine große Höhle. Da die Dunkelheit hier undurchdringlich war, berührte Rhapsody das Stück Holz, das sie aufgelesen hatte, und zündete seine Spitze an, in der Hoffnung, mit Hilfe einer Fackel besser sehen zu können. Fast sofort flammte das Holz auf, und die lodernden Flammen warfen lange Schatten an die Wände des Tunnels und umrissen und übertrieben die Bewegungen der riesigen Bestie, die sich nun aus dem Wasser hievte. Bei jedem Schritt der Drachin erzitterte der Boden, und das flackernde Fackellicht tanzte auf ihren kupferfarbenen Schuppen, die in der Finsternis glänzten wie Millionen winziger Schilde aus polierter Bronze. Elynsynos war gewaltig. Im Feuerschein schätzte Rhapsody die Länge der Drachin auf fast hundert Fuß, ohne weiteres in der Lage, den gesamten Tunnel zu füllen, durch den sie soeben gekommen war. Angesichts der Kraft ihrer gewaltigen Muskeln wich der Sängerin die Farbe aus dem Gesicht.
Dann sah sie die Augen der Drachin, zu spät, um Ashes Warnung zu beherzigen. Wie zwei plötzlich enthüllte gigantische Laternen tauchten sie im Tunnel auf, große Kugeln aus prismatischem Licht, so wunderschön, dass Rhapsody ihr Leben dafür gegeben hätte, sie auf immer betrachten zu dürfen. Lange vertikale Schlitze durchteilten die silberne Iris, eingerahmt von schimmernden Regenbogenfarben. Auf der Stelle fühlte Rhapsody, wie die Feuer ihrer Seele aufflammten, wie von einem plötzlichen Lufthauch angefacht. Einen Augenblick lang war ihr schwindlig, sie verlor sich in sich selbst, und als sie ihren Blick von der Drachin losriss, schrie ihre Seele laut.
»Hübsche«, sagte Elynsynos. In dem einen Wort lag eine Kraft, die Rhapsody sofort erkannte. Elynsynos redete mit einer Elementarmusik, und das Wort, das sie ausgesprochen hatte, war keine Beschreibung, sondern ein Name. Der harmonische Klang stammte nicht aus einem Kehlkopf so wenig Rhapsody auch über Drachen wusste, war ihr doch bekannt, dass Lindwürmer von Natur aus keinen besaßen, sondern war eine meisterliche Manipulation der Schwingungen des Winds. Zu gern hätte Rhapsody die Drachin noch einmal direkt angeschaut, aber sie tat es nicht, sondern beobachtete sie lediglich aus dem Augenwinkel.
»Warum bist du gekommen, Hübsche?« In der Stimme lag eine Weisheit, welche den kindlichen Ton und die einfachen Worte Lügen strafte.
Rhapsody holte tief Luft und wandte sich noch etwas mehr ab. »Aus vielen Gründen«, antwortete sie und blickte auf den schlangenähnlichen Schatten vor ihr an der Höhlenwand.
»Ich habe von dir geträumt. Ich bin gekommen, um dir etwas zurückzugeben, was dir gehört, und für dich zu singen, wenn du nichts dagegen hast.« Sie sah den Schatten sich bewegen, als der Kopf der Drachin auf dem Boden direkt hinter ihr zu ruhen kam, und sie spürte den heißen Atem auf ihrem Rücken. Das Feuer in ihr trank die Hitze und die Kraft, die darin enthalten war. Die Feuchtigkeit in ihren Kleidern verdampfte, der Stoff war heiß und kurz davor, in Brand zu geraten.
»Dreh dich um, bitte«, sagte die mehrtönige Stimme. Rhapsody schloss die Augen und gehorchte, und sie spürte die Wärme auf ihrem Gesicht, als wendete sie sich blind in die Sonne. »Hast du Angst?«
»Ein wenig«, antwortete Rhapsody, öffnete die Augen aber noch immer nicht.
»Warum?«
»Wir fürchten das, was wir nicht kennen und nicht verstehen. Ich hoffe, beides zu ändern, und dann werde ich keine Angst mehr haben.«
Wieder hörte sie das Geräusch, das klang wie flüsternde Stimmen. »Es ist klug, Angst zu haben«, sagte Elynsynos. In ihrem Ton lag keine Drohung, aber seine Tiefe war einschüchternd. »Du bist wahrlich ein Schatz, Hübsche. Dein Haar ist wie gesponnenes Gold, deine Augen sind Smaragde. Selbst deine Haut ist fein wie Porzellan, und du bist unberührt. In dir ist Musik und Feuer und Zeit. Jeder Drache würde dich als seinen Besitz begehren.«
»Ich gehöre nur mir selbst«, entgegnete Rhapsody. Die Drachenfrau lachte leise. »Aber ich bin hierher gekommen in der Hoffnung, wir könnten Freunde sein. Dann gehöre ich dir gern, auf gewisse Weise. Ein Freund ist etwas wunderbar Wertvolles, oder nicht?« Sie warf der Drachin einen kurzen Blick zu und schaute rasch wieder weg.
Das riesige Gesicht nahm einen neugierigen Ausdruck an, der seltsam liebenswert wirkte, was Rhapsody sogar aus dem Augenwinkel bemerkte.
»Das weiß ich nicht. Ich habe keine Freunde.«
»Dann werde ich eine neue Art Schatz für dich sein, wenn du es möchtest«, sagte Rhapsody.
»Lass mich dir zuerst das hier zurückgeben.« Damit zog sie den Krallendolch aus ihrem Tornister.
Die riesigen Prismenaugen blinzelten. Noch immer sah Rhapsody die Drachin nicht direkt an, merkte aber, wie sich das Licht in der Höhle eine Sekunde lang verdunkelte. Ihre Haut prickelte; um sie herum erhob sich ein elektrisches Summen und verbreitete sich in der Höhle wie ein gewaltiger Bienenschwarm. Rhapsody sah, wie sich der Schatten an der Wand bewegte; eine große Klaue griff über ihren Kopf hinweg und nahm ihr den Dolch behutsam ab, mit Krallen, die dem Dolch exakt ähnelten. Dann zog sich die Klaue wieder an den Platz hinter ihr zurück. Rhapsody ließ den Atem entweichen.
»Wo hast du das gefunden?«
»In den Tiefen von Gwylliams Festung«, antwortete Rhapsody und versuchte eine Bildsprache zu verwenden, die der Drachin angemessen wäre. »Er war gut versteckt, aber als wir ihn fanden, wussten wir, dass er dir zurückgegeben werden sollte.«
»Gwylliam war ein schlechter Mensch«, sagte die harmonische Stimme. Kein Groll war ihr anzuhören, wie Rhapsody dankbar feststellte. Sie legte keinen Wert darauf, sich die Höhle mit einem wütenden Drachen zu teilen. »Er hat Anwyn geschlagen und viele Cymrer getötet. Diese Kralle hier war für sie bestimmt, und er hat sie aus Niederträchtigkeit behalten. Danke, dass du sie zurückgebracht hast, Hübsche.«
»Gern geschehen, Elynsynos. Was mit Anwyn geschehen ist, tut mir sehr Leid.«
Das Summen schwoll an. Rhapsody fühlte, wie die Luft um sie herum immer wärmer wurde.
»Auch Anwyn ist schlecht, ebenso schlecht wie Gwylliam. Sie hat ihren eigenen Schatz zerstört. Das darf ein Drache nicht, niemals. Ich schäme mich, dass sie aus meiner Brut stammt. Ein Drache verteidigt seinen Schatz mit allem, was er hat. Aber Anwyn hat ihren Hort zerstört.«
»Ihren Hort? Welchen Hort meinst du denn?«
»Schau mich an, Hübsche. Ich werde nicht versuchen, dich an mich zu nehmen.« Die mehrtönige Stimme klang warm und freundlich. »Wenn du mein Freund bist, solltest du mir vertrauen, nicht wahr?«
Rhapsody, sieh ihr nicht in die Augen.
Langsam wandte Rhapsody sich um, den Blick auf den Boden geheftet. Sie fühlte, wie die schimmernden Schuppen das Licht ihrer Fackel reflektierten; Wellen gleich wogte die Hitze über ihr Leinenhemd und verwandelte den weißen Stoff in einen durchsichtigen Regenbogen. Die Wärme der Stimme hatte ihr Herz gewonnen, obgleich ihr Gehirn noch funktionierte und ihr einschärfte, dem gigantischen Schlangentier nicht zu trauen. Die Durchtriebenheit der Drachen war wohl bekannt, und Ashes Warnung klang ihr noch in den Ohren.
Rhapsody, sieh ihr nicht in die Augen.
»Ihr Hort war das cymrische Volk«, erklärte Elynsynos. »Ein magisches Volk, das sie Erde überquert und damit die Zeit angehalten hatte. In ihnen fanden alle Elemente eine Verkörperung, selbst wenn sie diese nicht einzusetzen wussten. Einige entstammten einer Rasse, die in dieser Gegend völlig unbekannt war, Gwadd und Liringlas und Gwenen und Nain, Ur-Seren und Dhrakier und Mythlin, ein menschlicher Garten voller verschiedener Blumenarten. Sie waren etwas Besonderes, Hübsche, ein einmaliges Volk, das es verdient hatte, geliebt und beschützt zu werden. Aber sie hat sich gegen es gewandt und viele vernichtet, nur damit Gwylliam sie nicht haben konnte. Ich schäme mich, ja.«
Rhapsody spürte Nebel auf dem Gesicht, blickte an sich herunter und merkte, dass sie in einer schimmernden Flüssigkeit stand. Ohne nachzudenken, hob sie den Blick und starrte, ehe sie recht wusste, was sie tat, fasziniert auf das große Biest. Elynsynos weinte. Rhapsody spürte, wie es ihr das Herz brach; in diesem Augenblick hätte sie bereitwillig alles gegeben, um die Drachin zu trösten, ihren Schmerz zu lindern und ihre Traurigkeit zu stillen. Irgendwo im Hinterkopf überlegte sie, ob ihre Gefühle für den Wyrm Ergebnis eines Zaubers waren oder ob sie die Drachin wie es ihr Herz sagte einfach liebte, weil sie so außergewöhnlich und schön war. Vorsichtig trat sie an Elynsynos heran und berührte zärtlich ihre massive Klaue.
»Weine nicht, Elynsynos.«
Die Drachin bewegte ihren gigantischen Kopf ein Stück nach unten und betrachtete Rhapsody eindringlich, in den Augen ein blendendes Leuchten. »Dann wirst du also eine Weile bei mir bleiben?«
»Ja. Ich bleibe bei dir.«