Auch den größten Teil des nächsten Tages regnete es unablässig. Als der Regen endlich ein wenig nachließ, war die Sonne schon wieder untergegangen, und bis auf das Tropfen des Wassers auf Teich und Hütte war es still in der Dunkelheit. Der strömende Regen hatte Rhapsody seltsam müde gemacht, daher verbrachten sie eine weitere Nacht in der Hütte, um dem Boden Gelegenheit zu geben, ein wenig zu trocknen.
Sie hatten den Tag in recht angenehmer Unterhaltung verbracht, hauptsächlich über Pflanzen und Bäume, über die Kriege, in denen Ashe gekämpft hatte, über die Unterwerfung der Firbolg und über die Ausbildung bei Oelendra, von der Ashe einiges gehört hatte. Als hervorragende Kriegerin und legendäre Heldin genoss Oelendra den Ruf einer strengen, ernsten und gelegentlich sogar brutalen Lehrerin, galt aber nach wie vor als die beste Ausbilderin im Schwertkampf. Ashe selbst hatte nicht bei ihr gelernt und war ihr auch nur ein einziges Mal begegnet, ohne ein Wort mit ihr zu wechseln.
Rhapsody fühlte, wie eine schleichende Traurigkeit sich ihrer bemächtigte, die sie nicht recht verstehen konnte, die sich jedoch immer mehr in ihr ausbreitete. Jedes Mal, wenn Ashe sie anlächelte oder an ihr vorbeiging, wurde sie traurig; daher musste ihr Gefühl wohl etwas mit ihm zu tun haben. Aber warum ihr Herz ihr dermaßen zusetzte, wusste sie nicht. Dass sie Ashe lieb gewonnen hatte, war kein Geheimnis, weder für sie selbst noch für ihn das nahm sie jedenfalls an.
Er erinnerte sie stark an ihren Bruder Robin, den Zweitältesten, den sie auch sehr gemocht hatte, zu dem sie aber nie ein sehr enges Verhältnis gehabt hatte. Sie hatte Robin nicht verstanden, und sie verstand auch Ashe nicht. Vielleicht würde sich das eines Tages ändern, aber der Vergleich mit Robin machte ihre Traurigkeit nur noch tiefer. Sie war von zu Hause weggelaufen, als sie sich gerade ein wenig näher gekommen waren, ganz ähnlich, wie auch Ashe und sie jetzt auseinander gingen. Sie hatte Robin nie wieder gesehen und sie fragte sich, ob das mit Ashe auch so sein würde.
Er war meistens freundlich zu ihr gewesen und hatte viel für sie getan. Bei Licht betrachtet hatte er sich intensiver um sie gekümmert als sonst jemand in diesem neuen Land. Leider wusste sie jedoch, dass unter der Oberfläche seiner Großzügigkeit irgendetwas anderes lag, etwas Berechnendes, das danach drängte, persönliche Dinge über sie in Erfahrung zu bringen, ohne selbst bereit zu sein, über sich zu sprechen etwas, das Vertrauen suchte, aber anderen keines entgegenbrachte. Ihr war klar, dass Ashe sie auf irgendeine seltsame Art benutzte. Hoffentlich würde es kein schlimmes Ende nehmen.
Sie blieben die Nacht über in der Hütte, wo sie warteten, dass der Regen aufhörte und der Nachtwind die Erde trocknen ließ. Ashe hatte darauf bestanden, dass Rhapsody im Bett schlief, und sie hatte sich, nachdem sich ihre Weigerung als erfolglos erwiesen hatte, bedankt und war unter die Decken gekrochen, plötzlich furchtbar müde vom ungewohnten Mangel an Bewegung und der Aussicht auf das, was ihr bevorstand.
In ihren Träumen wurde sie heimgesucht von Dämonen und Zerstörung, von einer blinden Seherin mit seltsamen Augen ohne Iris, in denen Rhapsody ihr eigenes Spiegelbild erblickte. Sie spürte eine eisige Kälte, eine Kälte, die ihr durch Mark und Bein ging und das Blut gefrieren ließ, die ihr Wärme und Musik raubte und sie ohne Stimme zurückließ, sodass sie nicht einmal um Hilfe rufen konnte. Nach Atem ringend, erwachte sie in Ashes Armen und klammerte sich an ihn, als wäre er der einzige Mensch auf der Welt, der sie jetzt, da ihre Musik verloren war, noch hören konnte.
Er streckte sich neben ihr auf dem Bett aus, allerdings ohne unter die Decke zu schlüpfen, und hielt sie fest, bis sie nicht mehr zitterte. Nach über einer Stunde erst wurde sie ruhiger und schlummerte traumlos weiter. Als Ashe sicher war, dass sie wirklich schlief, schob er wehmütig ihren Arm weg, der um seine Taille lag bestimmt aus Rücksicht auf seine Wunde. Mühsam erhob er sich und blickte auf sie hinab: Wie ein kleiner Drache um seinen Schatz, so hatte sie sich um das Heukissen gerollt; vielleicht war es noch eine Auswirkung von ihrem Besuch bei Elynsynos. Lange stand er so da und fragte sich, ob irgendetwas in seinem ganzen Leben jemals so schwer gewesen war, wie sie in dem Bett allein zu lassen. Irgendwann kehrte er schließlich auf seinen Stuhl zurück.
Die Großmutter führte sie einen Gang hinunter, der in eine Höhle von gewaltigen Ausmaßen mündete; sie wies die Form eines Zylinders auf und erreichte annähernd die Größe der Stadt Canrif. Um den inneren Bereich zogen sich kreisförmig angeordnete Simse, so breit wie Prachtstraßen. Diese Ringe aus Stein umschlossen die Höhle in unterschiedlicher Höhe über und unter dem Sims, auf dem sie standen, und waren durchbrochen von hunderten dunkler Öffnungen, die ebensolche Tunnel zu sein schienen wie der, aus dem sie soeben gekommen waren. Irgendetwas an der Form und Größe der Höhle erinnerte Achmed an die Gänge nahe der Wurzel der Sagia an der Axis Mundi. Die Grotte dehnte sich weit über ihre Sichtweite hinaus in die Finsternis aus, ein stummes Denkmal der Zivilisation, die diese Gänge einstmals mit pulsierendem Leben erfüllt hatte.
Eine verfallene Steinbrücke spannte sich vor ihnen über den immensen offenen Raum. Im Zentrum der zylindrischen Höhle befand sich eine Felsformation, die einem Podest ähnelte; ihre ebene Oberfläche entsprach in ihren Ausmaßen etwa der Großen Halle von Ylorc. Der Abgrund auf beiden Seiten der Brücke ließ Grunthor unwillkürlich schaudern. Aus den Tiefen erhob sich ein feuchter Wind, schal und schwer vom Geruch nach feuchter Erde und Verlassenheit.
Schweigend trat die Großmutter auf die Brücke und überquerte sie, ohne ein einziges Mal in die Schlucht hinunterzublicken. Der tote Wind ließ ihr Gewand flattern, ein unheilvolles, peitschendes Geräusch. Die beiden Firbolg folgten ihr über die Kluft zu dem mächtigen flachen Felsen im Zentrum des Zylinders.
Als sie näher kamen, sahen sie, dass an einem sehr langen Seil vermutlich aus Spinnenseide etwas herunterhing, das wohl an der unsichtbaren Decke weit über ihnen befestigt war. Das Objekt am Ende dieses Seils schwang in gemessenem Rhythmus über dem Felsplateau hin und her, wie die langsamen Wellen der Gezeiten oder der Herzschlag eines Schlafenden. Es schillerte sanft im Dunkeln.
Kaum dass sie auf der ebenen Fläche des Felsen angekommen waren, lebte der Wind aus dem Bauch der Höhle auf; sein Brausen war so schwer wie der Staub, den er mit sich trug. Unwillkürlich zog Achmed den Schleier übers Gesicht; in den Böen dieses leblosen Windes war etwas, was vom Tod sprach. Die Großmutter deutete auf den Boden unter ihren Füßen. In den Stein war ein Kreis aus Runen eingeritzt, in derselben Sprache wie die Worte auf dem Torbogen über der Kammer des Erdenkinds. Eine große, verblasste Einlegearbeit befand sich im Innern des Kreises, wunderschön und äußerst fein, jedoch rußbeschmiert und vom Zahn der Zeit zerfressen. Die Symbole auf dem Boden zeigten die vier Winde, die Stunden des Tages und die Jahreszeiten. Achmed schloss die Augen und erinnerte sich an seine Jugend im Kloster am Rand des Hochlands von Serendair. Auch dort waren diese Zeichen in den Boden eingeritzt gewesen.
Er blickte hinauf zu dem langen Seil mit seiner langsam hin und her schwingenden Last; da begriff er, dass es sich um eine Pendeluhr handelte: das Gewicht markierte stumm die Augenblicke, Stunden und Jahreszeiten eines längst vergangenen Reiches, jedes Ausschlagen des Pendels ein weiteres Bruchstück der endlos verstreichenden Zeit. »Hier wurde das Bann-Ritual gelehrt und eingeübt, hier wurden die Weihen vorgenommen«, erklärte die Großmutter. Ihre eigentümliche Stimme hatte sich nun auf eine einzige Tonlage reduziert, das dünne Zischen, mit dem sie Achmed angeredet hatte. Offenbar hielt sie es für unnötig, auch Grunthor diese Information zukommen zu lassen. »In alten Zeiten ging es hier laut und geschäftig zu, eine Unmenge von Vibrationen, die es einzuordnen galt. Eine gute Umgebung, um jemandem beizubringen, wie man den richtigen Herzschlag erkennt und wie man auf der Jagd nach dem F’dor alle anderen Geräusche der Welt ausschaltet.« Achmed nickte zustimmend.
Nun wanderten die grauen Augen der Großmutter hinüber zu dem riesigen Bolg-Sergeanten. Als sie wieder sprach, klang ihre Stimme denn auch wieder doppeltönig. »Früher einmal beherbergten diese Berge unsere großen Städte, unsere Ratssäle. Die Tunnel waren die Adern der Kolonie, durch die ihr Lebensblut strömte. Dieses Lebensblut waren wir, die Zhereditck, die Brüder. An diesem Ort schlug das Herz der Kolonie.«
»Wie ist das Feuer ausgebrochen?«, fragte Achmed.
»Es gab kein Feuer.«
Die beiden Bolg starrten erst die Großmutter, dann einander an. Grunthors Visionen waren erschreckend klar gewesen. Auch waren überall die Zeichen von Rauch und Ruß zu erkennen, und noch immer hing ein Gestank wie von Schmelzfeuern in der Luft. Doch das Gesicht der Großmutter blieb unverändert, nur ihre Augen funkelten amüsiert. »Es gab kein Feuer«, wiederholte sie und sah Achmed ins Gesicht. »Du bist ein Dhrakier, aber kein Zhereditck, keiner von den Brüdern. Du hast nie zur Kolonie gehört.«
»Nein.« Die Galle stieg in Achmeds Kehle hoch. Die Vergangenheit war tief in seiner Erinnerung vergraben, er hatte nicht den Wunsch, sie hervorzuholen. Er machte sich auf weitere bohrende Fragen gefasst, aber die Großmutter nickte nur.
»Keiner der Brüder hätte Feuer verwendet, und sei es noch so klein. Feuer ist das Element unseres Feindes. In den Tümpeln des Urquells war genügend Hitze.« Die Vibrationen, die sie beim Sprechen hervorrief und die auf der Haut der Männer prickelten, beschworen in beiden das Bild von Schwefelteichen und heißen Quellen, blubbernd in gedämpftem Grün und Lavendel, von Dampfschwaden, die auf der anderen Seite der Felswand unter dem Loritorium aufstiegen. Es war die gleiche Quelle wie die des Dunkellichts, des unterirdischen Glühens, das die Höhlengänge schwach erleuchtete. Am Wurzeltunnel war es ebenso gewesen. Die Großmutter deutete auf den Boden. »Setzt euch«, sagte sie mit ihrer zischenden, sandigen Stimme. Als die beiden Männer es täten, starrte sie erst Achmed an und blickte dann wieder in die Dunkelheit. »Es ist nur recht und billig, dass du die Geschichte in ihrer Vollständigkeit hörst, denn in gewisser Weise ist es auch die Geschichte deines eigenen Todes.«