»Möchtest du meinen Hort sehen, Hübsche?«
»Ja«, antwortete Rhapsody. Sie hatte sich noch nicht ganz von ihrer anfänglichen Angst erholt, sie könnte ihr Herz an den Drachen verlieren. Bisher schien alles gut zu verlaufen;
Elynsynos hatte sie in keiner Weise einzuschränken versucht. Doch der eigentliche Test würde erst kommen, wenn es Zeit wäre zu gehen. »Es wäre mir eine Ehre.«
»Dann komm.«
Das gigantische Tier hievte sich aus dem übel riechenden Wasser im Becken der Höhle und drehte sich herum. Um der Drachenfrau nicht im Weg zu stehen, drückte sich Rhapsody fest gegen die Höhlenwand, was sich jedoch als unnötig erwies. Elynsynos war weit beweglicher, als Rhapsody es sich hätte träumen lassen es hatte fast den Anschein, als besäße sie keine Substanz. Mit graziösen, geschmeidigen Bewegungen wandte sie sich innerhalb weniger Sekunden um, sodass ihr riesenhafter Kopf jetzt ins Innere der Höhle wies. Sie wartete, bis Rhapsody neben sie trat, und ging dann voraus in die Dunkelheit hinein. Nachdem sie eine Weile hinabgestiegen waren, vollführte der höhlenartige Gang eine Biegung nach Westen. Auf dem Grund des Tunnels erkannte Rhapsody einen schwachen Glanz, wie das Licht einer fernen Feuersbrunst. Während sie weitergingen, wurden die dunklen Höhlenwände heller und reflektierten das Glühen des Tunnels vor ihnen. Auch die Luft veränderte sich; aber statt dumpfer zu werden, wie Rhapsody es erwartet hatte, wurde sie frischer und bekam einen salzigen Beigeschmack. Rasch wurde ihr klar, dass es sich um den Geruch des Meeres handelte.
Auf einmal wurde das Licht blendend hell, und Elynsynos blieb stehen. »Geh du voraus, Hübsche«, meinte sie und schubste Rhapsody mit der Stirn vorwärts. Rhapsody gehorchte und ging langsam auf das Glühen zu, kniff aber die Augen zusammen, denn das Licht hatte ihr anfangs wehgetan. Außerdem streckte sie eine Hand vor sich aus, in der Hoffnung, damit sowohl ihr Gesicht zu schützen, als auch zu vermeiden, dass sie blind gegen etwas prallte. Schon bald aber hatten sich ihre Augen an das Licht gewöhnt, und sie sah, dass sie sich in einer geräumigen Höhle befand, fast halb so groß wie die Grotte, in der Elysians See lag. Das blendende Licht ging von sechs riesigen Kronleuchtern aus, jeder groß genug, dass er mit seinen tausend kerzenlosen Flammen den Ballsaal eines Palastes hätte erhellen können. Das Licht der Kronleuchter wiederum spiegelte sich in Massen anderer glitzernder Gegenstände, mehr als Rhapsody sich je hätte vorstellen und niemals hätte zählen können, Berge von Edelsteinen in jeder Farbe des Regenbogens, Berge schimmernder Münzen aus Gold, Kupfer, Silber, Platin und Rysin, dem seltenen grünblauen Metall, das von den Nain der alten Welt im Hochland von Serendair gewonnen wurde.
Die Kronleuchter waren aus den Steuerrädern tausender Schiffe gefertigt, die Münzen in Schiffstruhen und in großen Segeln aufgehäuft, die an Tauen hingen. Überall in der Höhle waren beschädigte Schiffskiele und Decks aufgebaut, Anker, Masten und einige Salzverkrustete Galionsfiguren, von denen eine Rhapsody erstaunlich ähnlich sah. Im Zentrum der großen Höhle befand sich eine Salzwasserlagune, mit Wellen, die sanft ans schlammige Ufer plätscherten. Rhapsody ging hinunter zum Wasser und bückte sich, um den Sand zu berühren. Als sie ihre Finger betrachtete, sah sie, dass in dem Sand Spuren von Gold waren.
Sie blickte über die Lagune, in der Felsen mit noch mehr Schätzen beladen waren: die goldene Statue einer Seejungfrau mit Augen aus Smaragden und einem Schwanz, der aus einzeln geschliffenen Schuppen aus polierter Jade gefertigt war, ferner kunstvoll gearbeitete Perlen und ein großer Bronze-Dreizack mit einer abgebrochenen Spitze. An einer geschützten Stelle standen eine Unzahl von Globen, die kugelförmigen Landkarten, die sie bei Llauron gesehen hatte, Tabellen, nautische Pläne und Schiffsinstrumente Kompasse, kleine Fernrohre und Sextanten, Rollen und Ruderpinnen, Kisten mit Logbüchern. Es war ein regelrechtes Schifffahrtsmuseum.
»Gefällt dir mein Hort?« Die harmonische Stimme hallte in der großen Höhle wider, und auf dem Wasser der Lagune änderten die Wellen ihr Muster. Rhapsody wandte sich zu der Drachin um, deren Regenbogenaugen in unverhohlener Erregung glitzerten.
»Ja«, antwortete Rhapsody mit ehrfürchtiger Stimme. »Er ist unglaublich. Er ist, nun, er ist ...« Ihr fehlten die Worte. »Das ist der schönste Hort, den ich jemals gesehen habe.«
Elynsynos lachte vor Freude, ein Laut, wie ihn Rhapsody noch nie gehört hatte, höher und dünner, als die gigantische Größe der Drachin es je nahe gelegt hätte, mit einem Glockenklang, der in Rhapsodys Knochen vibrierte. »Gut, ich bin froh, dass du ihn magst«, sagte sie. »Nun komm hierher. Ich möchte dir etwas geben.«
Rhapsody blinzelte erstaunt. Alles, was sie je über Drachen gehört hatte, hatte stets darauf bestanden, dass die Tiere habgierig waren und ihren Hort eifersüchtig hüteten. In der alten Welt hatte sie die Legende von einem Drachen gehört, der fünf Städte und mehrere Dörfer in Schutt und Asche gelegt hatte, nur um eine einfache Zinntasse wiederzugewinnen, die jemand aus Versehen aus seinem Hort mitgenommen hatte. Und nun bot ihr die Matriarchin der Wyrmer und der ganzen Wyrmrasse, Elynsynos höchstpersönlich, ein Geschenk aus ihrem Hort an. Rhapsody war unsicher, wie sie darauf reagieren sollte, folgte der Drachin jedoch über Berge von Winden, Glocken, Rudern und Ruderdollen.
Auf der anderen Seite befand sich ein großes Netz, festgehalten von einer tief in der Felswand steckenden Harpune. Rhapsody schauderte bei dem Gedanken, welche Kraft nötig war, um die Spitze so tief in den Stein zu treiben. Mit ausgestreckter Klaue wühlte Elynsynos in der Ausbuchtung des Netzes und zog schließlich eine Wachsholz-Laute heraus, wunderschön poliert und so neu, als wäre sie soeben erst gefertigt worden. Die Drachin schlang ihren Schwanz um das Instrument, hob es aus dem Netz und hielt es Rhapsody entgegen.
Staunend nahm die Sängerin die Laute in Empfang und drehte sie in den Händen hin und her. Sie war in makellosem Zustand, obwohl sie eine unbekannte Zeit der Salzluft und dem Wasser ausgesetzt gewesen war. »Möchtest du, dass ich dir etwas vorspiele?«, fragte sie die Drachin.
Die schimmernden Augen blinzelten. »Selbstverständlich. Warum sonst hätte ich sie dir geben sollen?«
So nahm Rhapsody auf einem umgedrehten Ruderboot Platz und stimmte die Laute, zitternd vor Aufregung. »Was möchtest du gern hören?« »Kennst du Lieder vom Meer?« »Ein paar.«
»Und stammen sie aus der Heimat, aus der alten Welt?«, fragte die Drachin. Rhapsody spürte, wie ihr Herz einen Schlag aussetzte. So weit sie sich erinnern konnte, hatte sie Elynsynos nichts von ihrer Herkunft offenbart. Die Drachin lächelte und entblößte dabei schwertartige Zähne.
»Überrascht es dich, dass ich weiß, wo du herkommst, Hübsche?«
»Eigentlich nicht«, gab Rhapsody zu. Sie konnte sich kaum etwas vorstellen, was außerhalb der Macht des Drachen lag. »Warum hast du Angst, darüber zu sprechen?« »Ich weiß es nicht. Die anderen Leute in diesem Land scheinen alle so neugierig darauf zu sein, woher ich komme, aber wenn es um ihre eigene Herkunft geht, sind sie extrem zurückhaltend. Wenn jemand Cymrer ist, bedeutet das anscheinend, dass er Geheimhaltung geschworen hat, als wäre die cymrische Herkunft etwas, dessen man sich schämen muss.«
Die Drachin nickte verständnisvoll. »Der Mann da draußen, der dich hergebracht hat er wollte auch wissen, ob du Cymrer in bist, nicht wahr?«
»Ja.«
Die Drachin lachte. »Du kannst es ihm ruhig sagen, Hübsche. Er weiß es bereits. Es ist unverkennbar.«
Rhapsody merkte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. »Wirklich?«
»Ich fürchte, ja, Hübsche. Du hast Feuer, Zeit und Musik in dir. Angeborenes Wissen ist ein sicheres Zeichen für eine cymrische Abstammung keine andere menschliche Art hat es.« Sie legte den Kopf schief, als Rhapsody die Augen niederschlug. »Warum macht dich das traurig?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube, es kommt daher, dass die Cymrer hier anscheinend nicht ehrlich sein können, vor allem nicht sich selbst gegenüber.«
»Auch das ist Anwyns Schuld«, sagte Elynsynos, und ein hässlicher Unterton schlich sich in ihre Stimme. »Dafür ist sie verantwortlich. Sie hat in die Vergangenheit zurückgegriffen und ihr Macht verliehen. Sie war das.« Die elektrische Spannung war in die Luft zurückgekehrt.
»Welche Macht?«
»Die böse Macht; der F’dor.«
Plötzlich füllte das Pochen ihres Herzens Rhapsodys Ohren. »Was meinst du damit, Elynsynos? Gab es hier in diesem Land einen F’dor-Geist? Bist du sicher?«
Elynsynos’ Augen glühten vor Hass. »Ja. Es war ein Dämon aus der alten Welt, schwach und hilflos, als er kam, aber seine Macht mehrte sich rasch.« Die Nasenflügel der Drachin blähten sich bedrohlich. »Anwyn wusste es, sie weiß alles, was in der Vergangenheit geschehen ist. Sie hätte den Dämon vernichten können, aber stattdessen hat sie ihm mein Land geöffnet, weil sie dachte, er könnte ihr eines Tages von Nutzen sein. Und so war es auch. Sie ist böse, Hübsche. Sie hat den Dämon leben lassen, obwohl sie wusste, wessen er fähig ist. Wie derjenige, der mir meine Liebe weggenommen hat. Meine Liebe ist nicht zurückgekommen, nie mehr.« Die Luft im Raum lud sich immer mehr auf, und Rhapsody hörte, wie vor der Höhle Donner grollte. Die der Drachin eingeborene Verbindung mit den Elementen machte sich eindrucksvoll bemerkbar.
»Merithyn?«, fragte sie leise.
Beim Klang des Namens hörte das Summen auf, und die Drachin blinzelte wieder, um die Tränen zurückzuhalten.
»Ja.«
»Es tut mir Leid, Elynsynos. Es tut mir so Leid.«
Rhapsody streckte die Hand aus und streichelte die riesenhafte Vordertatze der Drachin, strich mit der Hand sanft über die Millionen winziger Schuppen. Die Haut des Tiers war kühl und feucht wie Nebel; Rhapsody hatte kurz das Gefühl, als tauchte sie die Hand in einen brausenden Wasserfall. Der Körper der Drachin war einerseits fest, andererseits aber seltsam flüchtig, als wäre ihre Masse kein Fleisch, sondern etwas, was nur durch ihre Willenskraft entstand. Rasch zog Rhapsody die Hand zurück, denn sie fürchtete sich vor dem Sog.
»Die See hat ihn geholt«, sagte die Drachenfrau traurig. »Er schläft nicht in der Erde. Wenn er es täte, würde ich für ihn singen. Wie kann er ewig schlafen, wenn er dazu verdammt ist, das endlose Tosen der Wogen zu hören? Er wird niemals Frieden finden.« Eine riesige Träne rollte über die Schuppen ihres Gesichts und zerschellte auf dem Höhlenboden, sodass der goldene Sand glitzerte.
»Er war ein Seefahrer«, erwiderte Rhapsody, ehe sie sich zur Vorsicht mahnen konnte.
»Seeleute finden ihren Frieden im Meer, genau wie Lirin ihn im Wind unter den Sternen finden. Durch das Feuer übergeben wir unseren Körper dem Wind, nicht der Erde, genau wie Seeleute ihn dem Meer überantworten. Der Schlüssel zum Frieden liegt nicht dort, wo der Körper ruht, sondern wo das Herz bleibt. Mein Großvater war Seemann, Elynsynos, das hat er mir gesagt. Merithyns Liebe ist hier, hier bei dir.« Sie blickte auf die Vielfalt von Meeresschätzen, welche die Höhle füllten. »Ich bin sicher, dass er hier zu Hause ist.«
Elynsynos schniefte und nickte dann.
»Wo bleibt mein Meerlied?«, wollte sie wissen.
Ihr Ton ließ Rhapsody frösteln. Eilig stimmte sie die Laute nach und begann leise ein einfaches Seemannslied zu summen. Die Drachenfrau seufzte, und ihr warmer Atem war wie ein heißer Wind, der Rhapsodys Haar zerzauste und sie vor Angst, sie könnten verbrennen, die Augen schließen ließ. Die Lautensaiten wurden heiß, und sie musste sich konzentrieren, um mit Hilfe ihres Wissens das Feuer in ihre Fingerspitzen zu leiten und so zu verhindern, dass die Saiten Feuer fingen und die Laute verbrannte.
Elynsynos legte den Kopf auf den Boden, schloss die Augen und atmete die Musik ein, die Rhapsody spielte und sang. Sie sang alle Seemannslieder, die sie kannte, und achtete nicht auf die Riesentränen, die ihre Kleider durchweichten und ihre Stiefel nass machten, denn sie wusste, wie gut es tat zu weinen, um den Schmerz wegzuschwemmen; manchmal wünschte sie sich, das auch zu können. Der Text der meisten Lieder war auf Altcymrisch, ein paar waren auf Altlirin; Elynsynos verstand beide Sprachen, aber sie kümmerte sich ohnehin nicht viel um die Worte.
Rhapsody wusste nicht, wie viele Stunden sie gesungen hatte, bis ihr Vorrat an Seemanns und anderen Meeresliedern erschöpft war. Sie ließ die Laute sinken und beugte sich vor, die Ellbogen auf die Knie gestützt.
»Elynsynos, singst du auch etwas für mich?«
Langsam öffnete sich ein großes Auge, dann das andere. »Warum möchtest du das, Hübsche?«
»Bitte. Sing für mich.«
Die Drachenfrau schloss wieder die Augen. Einen Atemzug später hörte Rhapsody, wie das Schlagen der Wellen in der Lagune einen anderen Rhythmus annahm, seltsam klickend, wie das Pochen eines dreikämmrigen Herzens. Im Höhleneingang pfiff der Wind, blies mit unterschiedlicher Kraft über die Öffnung und produzierte verschiedene Töne. Der Boden unter dem Boot, auf dem Rhapsody saß, bebte angenehm, sodass die Münzen in den Truhen klimperten und die metallenen Schiffsinstrumente schwangen und gegeneinander schlugen. Ein Elementarlied, dachte Rhapsody fasziniert.
Aus der Kehle der Drachenfrau drang ein Krächzen, ein hoher, dünner Laut, der Rhapsody einen Schauder über den Rücken jagte. Es klang wie das Pfeifen eines schnarchenden Bettgefährten, begleitet von tiefem Grunzen und unregelmäßigem Zischen. Das Lied ging in ein ausuferndes Zwischenspiel über; am Ende war Rhapsody atemlos. Als sie die Fassung wieder gewonnen hatte, applaudierte sie höflich.
»Hat es dir gefallen, Hübsche? Ja? Das freut mich.«
»Haben dir die cymrischen Lieder auch gefallen, Elynsynos?«
»O ja. Weißt du, du solltest sie zu deinem Hort machen.«
Bei dem Gedanken musste Rhapsody lächeln. »Nun, in gewisser Hinsicht sind sie es schon. Die Lieder und meine Instrumente. Zu Hause habe ich eine ganze Menge davon. Die Musik und mein Garten, wahrscheinlich ist das mein Schatz. Und meine Kleider das würde zumindest eine meiner Freundinnen sagen.«
Das große Schlangentier schüttelte den Kopf und wirbelte dabei eine Sandwolke auf, die sich vom Boden erhob und Rhapsody für einen Augenblick blind machte. »Nicht die Musik, Hübsche. Die Cymrer.«
»Wie bitte?«
»Du solltest die Cymrer zu deinem Schatz machen, genau wie Anwyn es getan hat. Sie würden auf dich hören, Hübsche. Du könntest sie wieder vereinen.«
»Dein Enkel hat das gleiche Ziel«, entgegnete Rhapsody zögernd. »Llauron möchte sie ebenfalls wieder vereinen.«
Elynsynos schnaubte, wobei sie eine Dampfwolke über Rhapsody und die Lagune ausstieß.
»Auf Llauron wird niemand hören. Er hat sich auf Anwyns Seite geschlagen, das werden sie ihm nicht verzeihen. Nein, Hübsche, aber auf dich werden sie hören. Du singst so schön, und deine Augen sind so grün. Du solltest sie zu deinem Hort machen.«
Rhapsody lächelte vor sich hin. Trotz all ihrer uralten Weisheit verstand Elynsynos das Konzept von sozialer Schicht und von Erbfolge offensichtlich nicht. »Was ist mit deinem anderen Enkel?«
»Mit welchem der anderen Enkel?«
Überrascht riss Rhapsody die Augen auf. »Hast du mehr als noch einen?«
»Anwyn und Gwylliam hatten drei Söhne vor dem Schweren Schlag, dem Gewaltakt, der den Krieg auslöste«, antwortete die Drachenfrau. »Anwyn wählte die Zeit, in der sie ihre Kinder trug, denn die erstgeborenen Rassen können wie die Drachen ihre Fortpflanzung selbst bestimmen. Zum größten Teil hat sie eine gute Wahl getroffen. Der Älteste, Edwyn Griffyth, ist mein Liebling, aber ich habe ihn zum letzten Mal gesehen, als er noch ein junger Mann war. Er ist auf die See hinausgefahren, angewidert von seinen Eltern und ihrem Krieg.«
»Wer ist der andere? Er wird in den Schriften nirgendwo erwähnt.«
»Anborn war der Jüngste. Er unterstützte seinen Vater, bis auch er es nicht mehr aushalten konnte. Schließlich ertrug auch Llauron Anwyns Blutdurst nicht mehr und fuhr ebenfalls zur See. Aber Anborn blieb und versuchte, die Übeltaten, die er den Nachfolgern seiner Mutter angetan hatte, zu rächen.«
Rhapsody nickte. »Mir war nicht klar, dass Anborn der Sohn von Anwyn und Gwylliam war, aber ich denke, es ist einleuchtend.« Sie dachte an den General mit dem wütenden Gesicht, die schwarze Rüstung mit Silberringen durchsetzt, die azurblauen Augen zornig vom Rücken seines schwarzen Schiachtrosses herabfunkelnd. »Meine Freunde und ich sind ihm im Wald begegnet, auf dem Weg zu Herzog Stephen Navarne, und sein Name wurde in einem Buch erwähnt, das wir im Haus der Erinnerungen gefunden haben.«
»Deine Freunde ihr seid zu dritt?«
»Ja, warum?«
Die Drachin lächelte. »Auch das ist einleuchtend.« Doch sie führte ihre Bemerkung nicht weiter aus. »Warum wart ihr im Haus der Erinnerungen?«
Rhapsody gähnte; auf einmal merkte sie, wie erschöpft sie war. »Ich würde es dir gern erzählen, Elynsynos, aber ich fürchte, ich kann meine Augen nicht mehr lange offen halten.«
»Komm hierher zu mir«, sagte die Drachin. »Ich werde dich in den Schlaf wiegen, Hübsche, und deine schlechten Träume von dir fern halten.« Rhapsody sprang von dem Ruderboot herunter und überließ sich Elynsynos’ Armen ohne jede Furcht. Sie setzte sich und lehnte sich an sie, spürte die glatten Kupferschuppen und die Hitze ihres Atems. Ihr kam nicht einmal in den Sinn, dass die Situation etwas Sonderbares an sich hatte.
Elynsynos streckte eine Klaue aus und strich mit unendlicher Zärtlichkeit eine Haarsträhne aus Rhapsodys Stirn. Dann summte sie eine seltsame Melodie und bewegte die Armbeuge wiegend hin und her, während sie Rhapsody vom Boden hob.
»Ich habe geträumt, du hättest mich gerettet, Elynsynos, du hast mich in die Arme genommen, als ich in Gefahr schwebte«, sagte Rhapsody schläfrig. Elynsynos lächelte, als die kleine Lirin-Frau in ihren Armen einschlief. Sie legte ihren Kopf ganz nahe an Rhapsodys Ohr, aber sie wusste, dass die Sängerin sie ohnehin nicht hören würde.
»Nein, Hübsche, das war nicht ich in deinem Traum.«