Die Luft in den unterirdischen Höhlen war wärmer als in der Welt oben. Der Temperaturwechsel war das Erste, was Achmed auffiel, als Grunthor zu dem verborgenen Tunnelsystem durchbrach, das südlich des Loritoriums noch ein Stück tiefer in die Erde gegraben war. Hier war die Luft wärmer, abgestandener, mit einer uralten Andeutung von Rauch, dazu schwer und trocken ohne eine Spur von Staub oder Moder, ohne jede Feuchtigkeit, aber dafür statisch aufgeladen.
Als Zweites bemerkte er die alte Frau, die vor ihm im Tunnel stand. Grunthor hielt mitten in der Bewegung inne und zuckte verblüfft zurück. Bis eben noch hatte die Erde für ihn gesungen, hatte seine Aufmerksamkeit auf jede Ritze, jede lockere Stelle gezogen, ihn vor Gefahren gewarnt und ihn auf seltene oder einzigartige Formationen hingewiesen. Doch es hatte keinerlei Andeutung gegeben, dass auf der anderen Seite der Felswand eine lebendige Kreatur auf sie wartete.
Aber da stand sie, größer als Achmed, schmaler als Grunthor, eingehüllt in ein braunes Gewand, den Kopf bedeckt, sodass nichts von ihr zu sehen war als ihr Gesicht und die dünnen, langfingrigen Hände. Mehr brauchte Achmed auch gar nicht zu wissen. Die Haut ihres Gesichts und ihrer Hände war durchsichtig, vom Alter faltig und wie schimmernder Marmor von einem Netzwerk feiner bläulicher Adern durchzogen. Obgleich es wegen der Kapuze unmöglich war, Einzelheiten richtig zu erkennen, schien der Kopf der Frau von oben, wo er sehr breit war, nach unten zu der zarten Wölbung des Kinns hin schmaler zu werden; große schwarze Augen nahmen fast die ganze Fläche des Gesichts ein; sie waren von schweren Lidern überschattet und besaßen anscheinend keine Lederhaut. Kein Weiß war sichtbar, nur zwei weite, dunkle Ovale, durchbrochen von einer großen, silbrigen Pupille und funkelnd vor zurückhaltender Neugier und scharfer Intelligenz. Trotz ihres offensichtlich hohen Alters war der Körper der Frau ungebeugt, groß und aufrecht wie der Stamm eines Herveralt-Baumes. Die breiten Schultern, die langen Oberschenkel und Schienbeine, die dünnen Arme mit den kräftigen, sehnigen Händen, all das waren unverkennbare Merkmale, obgleich es erst das zweite Mal war, dass Achmed einen Angehörigen ihrer Rasse erblickte. Die Augen der Frau schimmerten im Licht der Fackel, doch ihr Mund wirkte ebenso ungezwungen und entspannt wie in dem Augenblick, als sich der Boden vor ihr aufgetan hatte und die beiden fremden Gestalten ihr Reich betraten. Sie war eine reinrassige Dhrakierin.
Achmeds empfindsame Haut prickelte in der statisch aufgeladenen Luft. Sofort wurde ihm klar, dass er von den Suchvibrationen der Frau umgeben war, dem elektrischen Summen, das Dhrakier durch die Öffnungen in ihrer Kehle und ihren Stirnhöhlen aussandten. Mit diesem Werkzeug erkannten sie den Herzschlag und andere Lebensrhythmen derer, die sie suchten oder überprüfen wollten. Achmed selbst hatte diese Methode selbst schon eingesetzt, hauptsächlich bei der Jagd im Wald.
Die Frau schien sich zu amüsieren, obwohl ihr Gesicht unverändert blieb. Geduldig faltete sie die Hände und wartete. Als sich weder Grunthor noch Achmed von der Stelle rührten, hob sie an zu sprechen.
»Ich bin die Großmutter. Ihr kommt spät. Doch warum seid ihr nur zu zweit?«
Unwillkürlich schüttelten die beiden Firbolg den Kopf, als die Vibrationen an ihre Ohren drangen. Die Frau sprach mit zwei verschiedenen Stimmen, die aus jeweils einer ihrer vier Kehlen drangen, aber im Grunde keine Worte in irgendeiner ihnen bekannten Sprache formten. Dennoch verstanden sie genau, was sie zu ihnen sagte. Achmed hörte ein reibendes Summen, das in seinem Kopf ein glockenreines Bild von der Bedeutung des Gesagten heraufbeschwor. Das Wort »Großmutter« gemahnte in dieser Sprache an eine Matriarchin. Zwar hatte er keine Ahnung, woher er das wusste, aber es bestand kein Zweifel an der Richtigkeit seiner Wahrnehmung.
Grunthor andererseits war mit einer tieferen Stimme begrüßt worden, einem volleren Ton, der das Sprachmuster der Bolg imitierte. In seinem Kopf ließ die »Großmutter« das Bild einer fürsorglichen, altersmäßig eine Generation von einem Kind entfernten Mutterfigur entstehen. Die beiden Männer sahen einander an und blickten dann wieder zu der Dhrakier-Frau. Sicherlich meinte sie mit ihrer Frage Rhapsody.
»Unsere Gefährtin ist nicht hier«, antwortete Achmed, und die Worte fühlten sich beim Reden seltsam an in seinem Mund. Wieder funkelten die Augen der alten Frau, und Achmed wurde rot vor Verlegenheit. Aber er schluckte seinen Ärger über seine dumme Antwort hinunter.
»Gewiss, das ist offensichtlich. Sie ist noch unterwegs, aber wenn das Glück sie nicht im Stich lässt, wird sie bald hier sein.«
»Ihr müsst alle drei bald kommen«, entgegnete die Großmutter wieder mit ihren verschiedenen Stimmen. »Es ist vonnöten. Es wurde prophezeit. Kommt.«
In dem Felsentunnel wandte sich die alte Dhrakierin anmutig um und ging raschen Schrittes davon. Grunthor und Achmed blickten einander an und beeilten sich dann, ihr zu folgen. Den ganzen Weg vom Höhleneingang bis zu der Verdorrten Heide über den Toren zum Kessel brummelte Jo vor sich hin. Ihr Leben als Waise auf den Straßen von Navarnes Hauptstadt hatte ihr zu einigen Fähigkeiten verholfen, unter anderem dazu, dass sie lange Zeit unbeweglich im Schatten einer Gasse stehen, in gefährlichen Situationen rasch und geschickt reagieren, lautlos rülpsen und ebenso dezent einen Wind entweichen lassen konnte. Außerdem hatte sie sich ein vielfältiges und sehr farbiges Vokabular von Schimpfwörtern angeeignet, das sich in der Gesellschaft von Grunthor und Rhapsody sogar noch verbessert hatte, denn gerade Letztere konnte trotz ihrer gelegentlichen Gluckenhaften Anwandlungen mit ihren Flüchen einen Bolg erblassen lassen, wenn sie in Fahrt war schließlich hatte sie ja ebenfalls eine Zeit auf der Straße zugebracht.
Auf ihrem Weg griff Jo nun auf zahlreiche dieser Ausdrücke zurück. Zum Glück hatte sie sich einige der saftigsten bis zuletzt aufbewahrt. Als sie auf dem Pass, der zur Heide hinunterführte, um eine Felsbiegung kam, streifte sie etwas ganz unerwartet am Kopf. Jo duckte sich, schätzte den schlammigen Untergrund jedoch falsch ein, stolperte und landete kopfüber mit dem Gesicht in dem Dreck, den man ihr an den Kopf geworfen hatte. Jetzt lag sie auf dem Bauch und schnappte nach Luft. Als sie wieder atmen konnte, stieg ihr ein abstoßender Gestank in die Nase, und ihr Blut begann zu kochen. Nachdem der anfängliche Schock sich gelegt hatte, hörte sie das Gekicher der Bolg-Kinder, die sich hinter den Felsen versteckt hatten. Die Bolg lachten nicht oft, und der harte, schrille Klang irritierte Jo schon unter gewöhnlichen Umständen. Da ihre Augen und Nase jetzt aber etwas noch Üblerem ausgesetzt waren, war sie noch weniger zur Nachsicht geneigt. Sie erhob sich aus dem Dreck und wirbelte herum. Eine Anzahl kleiner dunkler Gesichter, haarig und fies grinsend, waren hinter einem der Felsblöcke zum Vorschein gekommen, die am Rand der Heide herumlagen. Unter ihnen erkannte sie eine Reihe von Rhapsodys adoptierten Enkeln.
Vor Zorn wurde Jos Gesicht puterrot, und sie stieß einen Schrei aus, der von den Felswänden widerhallte. Das Grinsen verschwand, gefolgt von den Köpfen.
»Ihr verfluchten Missgeburten! Kommt zurück! Ich werde euch die Köpfe abreißen! Ich werde mir euer Blut von den Zähnen lecken! Ich zieh euch bei lebendigem Leib das Fell über die Ohren und mach Pökelfleisch aus euch!« Zwar war sie wieder auf den Beinen, aber der Schmutz hing in ihren Kleidern und Haaren, und sie kam immer wieder ins Rutschen, während sie mit halsbrecherischer Geschwindigkeit die Verfolgung der kreischenden Kinder aufnahm. Als sie die Anhöhe erreichte, hinter der sich die Kinder versteckt hatten, konnte Jo sie in alle Richtungen davonstieben sehen; die älteren waren schon fast außer Sichtweite.
»Ich werde euch die Lungen durch die Nasenlöcher aussaugen!«, keuchte Jo und musste sich anstrengen, wenigstens die Langsameren nicht auch noch aus den Augen zu verlieren. »Ich werde euch die Augen ausreißen und mir schmecken lassen!« Schon zog sie ihren Dolch mit dem Bronzerücken, den schmalen, tödlichen Dolch, den Grunthor ihr an dem Tag geschenkt hatte, als er und die anderen sie aus dem Haus der Erinnerung befreit hatten; er fing die Sonnenstrahlen ein und damit auch die Aufmerksamkeit der FirBolg-Kinder . Ihre Gesichter verloren den schalkhaften Ausdruck und wurden panisch. Wieder stieß Jo ein schrilles Kriegsgeheul aus und forcierte ihr Tempo. Binnen kurzem hatte sie zwei der langsameren Kinder eingeholt. Eines kam zum Stehen, wandte sich angstvoll um und sprang dann in wilder Flucht von der nächstbesten Felskante in die Tiefe. Sein Schrei wurde im Fallen leiser und verstummte schließlich abrupt.
Voller Entsetzen hielt Jo inne.
»0 nein«, flüsterte sie. »Nein.« Mit ein paar langsamen, benommenen Schritten trat sie an den Felsrand und spähte hinunter.
Das Firbolg-Kind lag zusammengekrümmt auf einem Felsvorsprung, der in einiger Entfernung aus der Klippe ragte. Selbst von hier oben erkannte Jo den Jungen es war Vling, Rhapsodys drittjüngster Enkel. Ihr Gesicht prickelte und wurde heiß, als Übelkeit und Reue sie überkamen.
»Himmel!«, schrie sie. »Vling? Kannst du mich hören?«
Von der Klippe drang ein gedämpftes Wimmern herauf.
Jo steckte den Dolch in die Scheide, sah sich nach einer Möglichkeit um, sich festzuhalten, und fand eine lange, tote Wurzel, die aus dem Fels ragte. Prüfend zerrte sie daran und ließ sich dann schnell die Böschung hinunter, dorthin, wo das verletzte Kind lag.
»Vling?«
Schweigen.
Jo wurde wieder übel. »Vling!«, rief sie. Unter ihr bröckelte der Fels, während sie die Wand zu dem Vorsprung hinunterglitt.
Der Junge blickte auf, als sie sich über ihn beugte; aus seinem schmutzigen Gesicht sprach unverhohlene Angst, und er versuchte, vor Jo wegzukriechen.
»Halt still«, sagte Jo, so sanft sie konnte. »Tut mir Leid, dass ich dich erschreckt habe.« Der Junge, der kein Orlandisch verstand, schüttelte wild den Kopf und versuchte ihr zu entwischen, brach dann aber stöhnend auf dem Boden zusammen.
Jo bemühte sich nach Kräften, ihre Abneigung niederzukämpfen, streckte die Hand aus und tätschelte dem Jungen vorsichtig den Kopf. Seine Augen wurden weit vor Schreck und dann schmal vor Argwohn.
»Schon gut, schon gut, du hast allen Grund, mir nicht zu trauen«, brummte Jo düster. »Ich gebe ja zu, dass ich dich schon mehrmals am liebsten in die Höhle geworfen hätte, aber ich hab es nicht getan, oder? Es ist meine Schuld, dass du gestürzt bist. Das tut mir Leid, und ich bin hier, um dir zu helfen. Schau, Vling, Rhapsody wird mich umbringen, wenn einem von euch Plagen was passiert.«
Das Gesicht des Kindes wurde weich. »Rhapzdie?«
Jo stieß geräuschvoll den Atem aus. »Sie ist nicht da.«
»Rhapzdie?«
»Ich hab doch schon gesagt, Großmutter ist nicht da, aber sie würde nicht wollen, dass du hier liegen bleibst, verletzt und womöglich demnächst Futter für die Habichte.«
Vling setzte sich ein wenig auf. »Rhapzdie?«, wiederholte er hoffnungsvoll.
»Ja, richtig, Rhapsody«, bestätigte Jo. »Komm mit mir, ich bringe dich zu ihr.« Wieder streckte sie dem Kind die Hand entgegen; erst wich es ein Stück zurück, ließ sich dann aber von ihr helfen, auf die Beine zu kommen. Ihr fiel auf, dass sein Arm in einem sonderbaren Winkel herunterhing. Bei dem Anblick wurde ihr schwindlig, und fast hätte sich ihr der Magen umgedreht.
Beim Aufstehen verzog Vling vor Schmerzen das Gesicht, nahm dann aber den stoischen, leicht mürrischen Ausdruck der Bolg-Rasse an. Jo wusste sofort, was ihm durch den Kopf ging. Bei den Bolg galt es als Schande, wenn jemand Schwäche zeigte, denn sie waren mit dem Gedanken, dass Verletzte geheilt werden konnten, immer noch nicht recht warm geworden. Seit unzähligen Jahrtausenden war es bei ihnen Brauch, Verwundete ehrenvoll dem Tod zu überlassen, ganz gleich, wie wertvoll sie auch sein mochten. In den Zahnfelsen hielt sich diese Einstellung immer noch, trotz der von Achmed auf Rhapsodys Drängen eingeführten Veränderungen. Der Bolg-Junge würde bei seinen Altersgenossen das Gesicht verlieren, wenn Jo ihn jetzt trug oder wenn jemand auch nur merkte, dass er sich von ihr hatte helfen lassen.
Jo griff wieder nach der Wurzel, zog sich mitsamt dem Jungen über die Felskante hinauf und setzte sich dann hinter einen großen Felsen, um nachzudenken. Vling schien alles daran zu setzen, dass er bei Bewusstsein blieb, aber Jo merkte deutlich, dass er schreckliche Schmerzen litt.
Endlich kam ihr eine Idee. Sie kramte in ihrem Tornister und zog ein Stück Seil heraus. Ein Ende drückte sie dem verdutzten Kind in die Hand, das andere band sie sich lose um ihre eigenen Handgelenke.
»In Ordnung«, sagte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen und im besten Bolgisch, dessen sie fähig war. »Gehen wir. Bring mich zu Grunthors Baracken.«
Der Junge blinzelte verständnislos, dann begriff er endlich, was Jo vorhatte, und strahlte übers ganze Gesicht. Lächelnd blickte er zu ihr empor, zupfte spielerisch an dem Seil und führte sie im Triumph zurück in den Kessel, den verletzten Arm fest umklammert und zum Schein wüste Drohungen ausstoßend. Er wusste nur zu gut, wie viel Ansehen es ihm einbringen würde, wenn die anderen Bolg-Kinder sahen, wen er da gefangen hatte.