Als sie sich am nächsten Tag in der Morgendämmerung erhoben, lag dichter Nebel über dem Wald. Im Licht der aufgehenden Sonne verbrannte er allerdings rasch, und sie machten sich auf den Weg. Wie beide wussten, war es das letzte Stück ihrer gemeinsamen Reise. Gegen Mittag erreichten sie den Fluss Tar’afel, ein Arm des Wasserwegs, der vor unzähligen Jahrtausenden die Schluchten in die Zahnfelsen eingegraben hatte. Er durchschnitt die Wälder im nördlichen Roland und bildete eine Art Grenze zwischen den bewohnten und eher unbewohnten Waldgebieten.
Der Tar’afel war ein mächtiger Fluss, breit wie ein Schlachtfeld, mit einer sehr schnellen Strömung. Rhapsody ging zum Waldrand und betrachtete ihn, wie er wild dahinbrauste, angeschwollen von den Regenfällen des Vorfrühlings. Dann blickte sie zurück zu Ashe, der schnell ein Lager aufgeschlagen hatte und über einem kleinen Feuer das Mittagsmahl zubereitete.
»Wie viel hiervon ist Überschwemmungsgebiet?«, fragte sie und deutete auf das Flussufer und die Grasfläche zwischen Fluss und Wald.
»Fast alles«, antwortete er, ohne aufzuschauen. »Zurzeit ist der Fluss noch kaum über die Ufer getreten. Bis zum Ende des Frühlings wird das Wasser bis dorthin angestiegen sein, wo du jetzt stehst.«
Rhapsody schloss die Augen und lauschte der Musik des rauschenden Wassers. Auch ihre Heimat war von einem mächtigen Fluss durchzogen gewesen, obgleich sie ihn nie gesehen hatte. Sie merkte, dass die Strömung ungleichmäßig war, an manchen Stellen schneller als an anderen, und wenn sie den Variationen der Grundmelodie lauschte, konnte sie beinahe eine Landkarte durchs Wasser anlegen und ruhige, geschützte Stellen erkennen. Nach dem Mittagessen würde sie ihre neu gewonnenen Erkenntnisse gleich testen. Sie aßen in kameradschaftlichem Schweigen, denn das Tosen des Flusses machte es unmöglich, sich anders als laut schreiend zu unterhalten. Rhapsody erwischte sich mehrmals dabei, wie sie ganz vergaß, dass Ashe überhaupt da war. Wenn sie ihn ansah, war er immer da, aber wenn sie sich nicht auf ihn konzentrierte, verschwand er einfach. Welcher Zauber dem Umhang, den er stets samt Kapuze trug, auch innewohnen mochte er war jedenfalls stark genug, dass man Ashe nicht nur aus den Augen, sondern auch aus dem Sinn verlor. Als sie gegessen hatten, packten sie ihre Siebensachen wieder zusammen, und Rhapsody machte sich daran, ihren Lagerplatz zu säubern. Gerade wollte sie das Feuer löschen, als Ashe sich schon die Ausrüstung auflud. Aber sie war noch nicht zum Aufbruch bereit.
»Warte hier.« Ashe nahm sein eigenes Gepäck auf die eine und das von Rhapsody auf die andere Schulter. Ehe Rhapsody Protest einlegen konnte, hatte er das Überschwemmungsgebiet auch schon durchschritten und watete mühelos durch den Fluss. Innerhalb weniger Augenblicke reichte ihm das Wasser bis zur Taille, aber seine Körpermasse schien der reißenden Strömung keinen Widerstand entgegenzusetzen. Er verursachte keinerlei Wellen, vielmehr schien das Wasser durch ihn hindurchzuströmen. Auf halbem Weg war er vom Wasser fast nicht mehr zu unterscheiden.
Rhapsody war nicht wirklich überrascht, aber sie nahm sich vor, es sich zu merken. Er muss mit dem Wasser eine ebensolche Verbindung eingegangen sein wie ich mit dem Feuer, dachte sie, obgleich ihr schon einen Augenblick später auffiel, dass es auch eine Wirkung des Schwerts sein könnte, das Ashe bei sich trug; vielleicht war Ersteres ein Ergebnis des Letzteren. Das hätte auch viele Dinge erklärt, die sie bislang nicht verstanden hatte, vor allem die Quelle, aus der er seinen Nebelumhang immer wieder speiste. Außerdem erklärte es, warum er so besessen war von dem was er für ihr cymrisches Erbe hielt bestimmt war er ebenfalls Cymrer, in Anbetracht des elementaren Wissens, über das er verfügte, wahrscheinlich aus einer frühen Generation. Sie spürte ein Ziehen in ihrem Herzen. Vielleicht hatte er den Krieg überlebt, vielleicht stammte die Missbildung, die er unter seinem Umhang verbarg, aus eben dieser Zeit.
Und schließlich verstand sie jetzt auch, warum sie sich beieinander so wohl fühlten und warum es zwischen ihnen keine Anziehung gab sie bestanden aus unterschiedlichen und gegensätzlichen Elementen. Rhapsody war dankbar; mit Ausnahme von Achmed und Grunthor war Ashe der erste erwachsene Mann in ihrer Erinnerung, in dessen Gegenwart sie sich entspannt fühlte. Es war ganz ähnlich wie bei ihren Brüdern, und bei dieser Erkenntnis wurde sie plötzlich von einer Woge Heimweh und Traurigkeit überflutet, die sie doch längst hinter sich gelassen zu haben glaubte.
So unerwartet überfiel sie der Schmerz, dass sie sich krümmte; ihr Herz tat weh, sie konnte die Tränen kaum zurückhalten. Sie presste die Arme vor die Magengrube und atmete mehrmals tief aus und ein eine Technik, die sie vor langer Zeit gelernt hatte, um schmerzliche Erinnerungen zu bekämpfen, und schüttelte heftig den Kopf, damit die Gedanken verschwanden.
»Rhapsody! Rhapsody, ist alles in Ordnung mit dir?« Sie blickte auf und sah Ashe, mitten im Fluss, schon halbwegs wieder zurück, nachdem er die Ausrüstung auf dem anderen Ufer abgeladen hatte. Zwar konnte sie sein Gesicht nicht sehen, aber sie vernahm die Besorgnis in seiner Stimme.
Rasch richtete sie sich wieder auf, lächelte und winkte ihm zu. »Schon gut, keine Sorge!«, rief sie laut, um das Tosen des Wassers zu übertönen.
Ashe beschleunigte seine Schritte, und kurz darauf hatte er das Wasser hinter sich gelassen und überquerte das Überschwemmungsgebiet, bis er neben ihr stand. Schwer atmend jagte er ihr die Hand auf die Schulter und sah ihr ins Gesicht.
»Bist du sicher, dass es dir gut geht?«
»Aber ja, es geht mir wunderbar«, erwiderte sie gedankenverloren und starrte wie gebannt auf seine Hand: Sie war ebenso trocken wie sein übriger Körper als hätte er das Wasser nie berührt. »Das ist ein unglaubliches Kunststück.«
»Gefällt es dir? Tja, es ist wirklich recht praktisch. Lass uns jetzt gehen. Hier«, fügte er noch hinzu und breitete die Arme aus. Verständnislos starrte Rhapsody ihn an. »Was ist? Soll ich dich umarmen?«
»Nein, ich werde dich tragen.«
»Ach, lass mich in Ruhe.« Die schroffen Worte drangen aus ihrem Mund, ehe sie ihnen Einhalt gebieten konnte. Sie hustete verlegen. »Entschuldige, das war unhöflich und gemein. Nein, danke. Ich schaffe das allein.«
Ashe lachte. »Sei nicht albern. Das Wasser geht mir bis zur Taille das heißt, es geht dir über den Kopf. Also, komm.«
Das natürliche Lächeln verschwand aus Rhapsodys Gesicht. »Erstens ist deine Taille bestimmt nicht höher als mein Kopf, auch wenn ich vielleicht etwas klein geraten bin. Zweitens möchte ich nicht von dir getragen werden. Ich habe gesagt, ich kann durch den Fluss waten, und das habe ich ernst gemeint. Ich weiß deine Fürsorge und deine Hilfe wirklich zu schätzen, aber ich schaffe das allein. Wenn du mir deine Unterstützung angedeihen lassen möchtest, dann könntest du meinen Umhang tragen. Das wäre sehr nützlich, und ich wäre dir wirklich dankbar.«
»Ich werde deinen Umhang tragen und dich mit ihm. Himmel, du hast keine Chance in dieser Strömung. Du bist nicht schwer genug.«
Rhapsody schaute ihm so direkt ins Gesicht, wie sie konnte, in der Hoffnung, Blickkontakt aufzunehmen. »Nein. Danke.« Damit trat sie ans Lagerfeuer, ging in die Hocke, um es zu löschen, und erhob sich dann, um ihre Kleidung und ihre Sachen für den Marsch durch den Fluss bereitzumachen.
Die Strömung wurde stetig stärker, und Ashe hatte keine Lust mehr zu warten. Kurz entschlossen trat er hinter Rhapsody und hob sie hoch. Mühelos trug er sie zum Fluss, sorgsam einen Weg durch die Felsbrocken wählend.
Der Schlag, der seinen Kopf nach hinten warf, fühlte sich an, als stammte er von einem Mann, der doppelt so groß war wie Rhapsody. Ashe taumelte mehrere Schritte zurück und setzte sie ab. Mit echter Bewunderung und nicht geringem Schmerz beobachtete er, wie sie sich ziemlich beeindruckend in Verteidigungsposition begab, Dolch und Schwert gezogen, und konnte nur staunen, welche Wut sich auf ihrem Gesicht widerspiegelte.
»Entschuldige.« Er trat einen Schritt auf sie zu und hielt erst inne, als sie ihre Klinge durch die Luft zischen ließ, einen mörderischen Ausdruck im Gesicht. »Rhapsody, vergib mir, es tut mir Leid. Ich wollte nicht...«
»Habe ich mich etwa nicht deutlich genug ausgedrückt?«
»Nein. Ich meine, ja. Ich habe keine Entschuldigung vorzubringen, außer dass es vielleicht einfach ein natürlicher Antrieb war, du weißt schon ich meine es tut mir Leid. Ich wollte nur helfen.« Unter dem Blick ihrer zornig funkelnden Augen, grün wie das sprießende Gras, geriet er ins Stocken. In diesen Augen war nichts mehr von der Bereitwilligkeit zu erkennen, mit der sie ihm frühere Grobheiten so leicht verziehen hatte.
»Männer haben ihre natürlichen Antriebe schon des Öfteren ins Feld geführt, wenn sie mir etwas antaten oder antun wollten. Mach keinen Fehler, Ashe ich schwöre dir bei allem, was an diesem unheiligen Ort heilig ist, dass einer von uns tot sein wird, ehe du oder sonst jemand mich gegen meinen Willen irgendwohin bringt oder irgendetwas mit mir macht. Diesmal wärst du beinahe an der Reihe gewesen.«
»Ich glaube, du hast Recht«, meinte er und rieb sich verlegen das Kinn.
»Aber es wäre mir auch egal gewesen, wenn ich mein Leben gelassen hätte. Ich lasse mir nichts aufzwingen, was ich nicht will. Nicht von dir, nicht von sonst irgendjemandem.«
»Das verstehe ich«, sagte er, obgleich es nicht gänzlich stimmte. Dass sie sich so aufregte, verblüffte ihn; ihr Gesicht war knallrot, und sie war so wütend, wie er es noch nie erlebt hatte, nicht einmal im Kampf.
»Es tut mir Leid«, wiederholte er. »Sag mir, wie ich es wieder gutmachen kann.«
»Bleib einfach weg von mir.« Allmählich regte sie sich offenbar etwas ab, aber sie warf ihm immer noch zornige Blicke zu, während sie zum Wasser hinunterging. Am Ufer blieb sie stehen und schaute über den Fluss. Ihm war klar, dass sie sich irgendetwas ausrechnete. Dann steckte sie ihre Waffen in die Scheide zurück, drehte sich um, entfernte sich vom Ufer und ging wieder nach Süden, in die Richtung, aus der sie gerade gekommen waren. Am Rand des Überschwemmungsgebiets blieb sie stehen.
»Nun, du hast mich einige wertvolle Ausrüstungsgegenstände gekostet.«
»Ich weiß nicht, was du damit meinst«, erwiderte Ashe. »Es ist nichts kaputt, das wirst du selbst sehen, wenn du drüben bist.«
»Ich komme nicht mit dir. Hier trennen sich unsere Wege.«
»Warte ...«
»Du kannst die Sachen verkaufen, wenn du nach Bethania zurückkommst oder wohin du auch sonst ziehst«, sagte sie im Weggehen. »Vielleicht kann ich dir damit die Zeit bezahlen, die du mir als Führer gedient hast.«
Ashe war sprachlos. Gewiss war sie nicht so gekränkt, dass sie ihr Ziel und ihre Musikinstrumente deswegen aufgab aber dennoch war sie unterwegs und verschwand rasch immer weiter im Wald. Er rannte ihr nach und versuchte sie einzuholen.
»Rhapsody, warte bitte, warte.«
Wieder zog sie das Schwert und wandte sich um. Zwar sah sie nicht mehr wütend aus, aber immer noch auf der Hut. Auf ihrem Gesicht lag ein resignierter Ausdruck, den er noch nie gesehen hatte; es zerriss ihm das Herz, obgleich er nicht wusste, weshalb. Schließlich blieb er in respektvoller Entfernung stehen und überlegte, was sie so extrem reagieren ließ. Männer haben ihre natürlichen Antriebe schon des Öfteren ins Feld geführt, wenn sie mir etwas antaten oder antun wollten. Bestürzung machte sich in ihm breit, als ihm dämmerte, was sie damit gemeint haben könnte. Ihm wurde schlecht, als er näher darüber nachdachte.
Niemals in seinem Leben war er so um Worte verlegen gewesen, so unsicher, was er tun sollte. Von dem Augenblick an, als er ihr in Bethe Corbair zum ersten Mal begegnet war, brachte sie ihn regelmäßig aus dem Gleichgewicht. Nun verfluchte er seine eigene Dummheit und suchte verzweifelt nach Worten, mit denen er ihr Vertrauen zurückgewinnen konnte. Schließlich warf er sich vor ihr auf die Knie. »Rhapsody, bitte verzeih mir. Was ich getan habe, war dumm und gedankenlos, und du hast jedes Recht, wütend zu sein. Aber wenn du zurückkommst, dann schwöre ich dir, dass ich dich niemals wieder gegen deinen Willen anfassen werde. Bitte. Wonach du suchst, ist viel zu wichtig, um es einfach aufzugeben, nur weil du einen Trottel als Reisegefährten hast.«
Rhapsody sah ihn schweigend an, ihr Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. Zum ersten Mal konnte Ashe ihre Gedanken nicht lesen, indem er ihr in die Augen schaute; sie waren ihm verschlossen. Furcht schnürte ihm die Kehle zu, und obwohl er es sich nach außen hin nicht anmerken ließ, hatte er das Gefühl, auf der Stelle sterben zu müssen, wenn sie ihn und ihre Mission aufgäbe, weil er dann keinen Grund mehr zum Weiterleben hätte. Er wusste, dass es ihr bei diesem Unternehmen nicht um persönliche Belange ging, dass ihre Beweggründe altruistischer Natur waren und dass es leicht für sie wäre, einfach wegzugehen; ihr widerlicher Herrscher in Ylorc wäre begeistert. Am Rande seines Bewusstseins beschimpfte ihn der Drache in seinem Blut gnadenlos, aber es war nicht schlimmer als das, was Ashe sich selbst sagte.
Endlich senkte Rhapsody die Augen und steckte ihr Schwert zurück in die Scheide. Sie gab ihm kein Zeichen, sondern hob lediglich einen dicken Stock von der Größe eines Bauernspießes auf und marschierte direkt zum Fluss zurück. Mit dem Stock überprüfte sie die Wassertiefe an der ersten Stelle, von der sie vorhin ausgerechnet hatte, dass sie von den Felsen im Flussbett und vom allgemeinen Strömungsmuster geschützt wurde, und fand, dass sie sogar noch flacher war als angenommen. Sie wandte sich um und betrachtete Ashe ruhig.
»Lenk mich nicht ab.«
Ashe nickte.
Rhapsody schloss die Augen und sprach den Namen des Flusses. Dann begann sie ein Lied zu summen, das der Melodie der Strömung entsprach. Als sie schließlich die richtige Tonart und Tonfolge gefunden hatte, konnte sie den Fluss in Gedanken als einen mächtigen, unablässigen Kraftstrom sehen, der vor ihren Augen dahinraste.
Sie lauschte auf seichte Stellen und sah sie als Trittsteine durch die reißende Flut. Endlich band sie ihren Umhang um die Taille hoch, trat langsam, noch immer mit geschlossenen Augen, ins Wasser und tastete sich vorwärts. Fast sofort versank sie bis zur Taille und dann zu den Schultern, aber an den Stellen, die sie als Furt wählte, schien das Wasser nicht die Kraft zu haben, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Als sie ein paar Fuß im Fluss war, folgte ihr Ashe langsam nach. Er war noch immer überzeugt, dass Rhapsody zu klein und zu leicht war, um der Strömung zu widerstehen. Einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, seine Macht über das Wasser einzusetzen und den tosenden Fluss zu beschwichtigen, aber dann kam er zu dem Schluss, dass es unklug wäre, ihr mehr zu offenbaren, als er es bereits getan hatte. So hoffte er inständig, dass er sie rechtzeitig erreichen würde, wenn sie den Boden unter den Füßen verlöre, wenngleich er wusste, dass er ein gutes Stück zurückbleiben musste, um sich nicht abermals ihren Zorn zuzuziehen. Staunend beobachtete er, wie sie mit geschlossenen Augen nahtlos von einem Stein des Flussbetts zum nächsten schritt. Sie schien die Fähigkeit zu haben, den Grund des Stroms zu fühlen und über ihn hinweg zu navigieren, indem sie natürliche Moränen und Verwerfungen nutzte, um auf die Stellen zu treten, wo das Wasser blockiert und die Strömung schwächer war. Irgendwie hatte sie eine Möglichkeit gefunden, die Beschaffenheit des Flussbetts festzustellen, die Ashe von Natur aus und auch durch sein Schwert von Geburt an klar war. Nach zwei Dritteln des Weges blieb Rhapsody plötzlich stehen. Ashe hatte ihr Dilemma blitzschnell durchschaut: Vor ihr lag ein großes Loch, umgeben von einem Damm aus Fels und Geröll. Man konnte es weder sicher überqueren, noch war es wegen der durch die Barrikaden erzeugten Strömung leicht zu umgehen. Nun stand sie in einer sumpfigen Senke und überlegte. Am besten schien es ihr, auf der flussaufwärts gelegenen Seite den Damm zu erklimmen und ihn dann zu nutzen, um sich der umgeleiteten Strömung zu stellen. Gerade als sie beschloss, den Versuch zu wagen, und den ersten Schritt machte, rief Ashe hinter ihr:
»Pass auf, da ist ein Loch in ...«
Rhapsodys Konzentration war dahin, ihr Lied unterbrochen und mit ihm auch ihre Sicht auf den Grund des Flusses; sie stolperte mitten hinein in die reißende Strömung, die sie packte und hinunterzuziehen drohte. Verzweifelt kämpfte sie gegen die Panik an, doch sie wurde vom Damm gerissen und über das Loch getragen. Sie griff noch mit der Hand nach der Stelle, wo sie den Felsvorsprung gesehen hatte, aber schon schlug das Wasser über ihrem Kopf zusammen, und sie bekam keine Luft mehr.
Ashe stürzte los; ohne jede Anstrengung durchquerte er die brausenden Fluten. Gerade wollte er die Hand nach ihrem Umhang ausstrecken, als sie japsend an die Oberfläche kam, ein Stück Holz umklammernd, das sich im Flussbett festgesetzt hatte. Sofort trat er zurück und sah zu, wie sie sich hochzog, das Gleichgewicht fand und erneut ihr Lied zu summen begann. Zwar dauerte es einen Augenblick, bis sie die Melodie wieder gefunden hatte, aber dann setzte sie sich erneut in Bewegung, wie vorhin sorgfältig ihren Weg über den Grund wählend. Ashe blieb, wo er war, und wartete, bis sie sich tropfnass ans Ufer hievte. Sie blieb gebückt stehen, und Ashe nahm an, dass sie Atem schöpfte, aber dann sah er, dass sie etwas vom Boden aufhob. Rasch stieg er auf den Damm aus Geröll und machte sich ebenfalls auf den Weg ans Ufer.
Er war schon fast am Rand des Damms, als ihn ein ziemlich großer Stein an der Stirn traf. Seine Drachensinne hatten ihre Bewegung und ihre Absicht registriert, noch bevor das Geschoss ihre Hand verlassen hatte, aber er war so schockiert, dass er nicht angemessen reagieren konnte. In letzter Sekunde versuchte er sich noch zu ducken, verlor aber das Gleichgewicht und taumelte ins Wasser. Seit er denken konnte, war ihm etwas Derartiges noch nie passiert. Und so geriet der Kirsdarkenvar, der Meister des Wasserelements, einer der agilsten Männer in ganz Roland, ins Stolpern und platschte kopfüber in den Tar’afel. Ashe stand wieder auf, schüttelte kurz die Wassertropfen ab und stieg dann trocken aus den Fluten. Am Ufer war Rhapsody schon dabei, die Ausrüstung einzusammeln, die er zuvor über den Fluss getragen hatte. »Womit habe ich das verdient?«, verlangte er zu wissen. Sie stand auf, schulterte ihren Tornister und funkelte ihn wütend an. »Ich habe mit dir das Gleiche gemacht wie du mit mir. Unterbrich mich nie wieder, wenn ich mich konzentriere, es sei denn, es stürzt sich etwas auf mich, was ich nicht allein sehen kann. Für mich war es dasselbe, als hättest du mir einen Stein an den Kopf geworfen. Wenn du möchtest, kann ich dich jedes Mal, wenn du meine Konzentration störst, auf diese Weise daran erinnern.«
»Das ist nicht notwendig«, entgegnete Ashe verärgert. »Ich soll jetzt also nur noch etwas sagen, wenn ich angesprochen werde, richtig?«
»Ein verlockendes Angebot, aber so weit würde ich nicht gehen«, antwortete Rhapsody.
»Wenn du jetzt umkehren möchtest ich glaube, ich finde mich ab hier allein zurecht.«
»Nein, das wirst du nicht«, widersprach Ashe. Doch noch ehe die Worte ganz aus seinem Mund waren, bereute er sie schon wieder. An diesem Nachmittag hatte er sie bereits zweimal von oben herab behandelt und ihre Fähigkeiten angezweifelt, und das machte sie immer wütender, was sich auch jetzt an dem finsteren Ausdruck auf ihrem sonst so strahlend schönen Gesicht zeigte. »Warte, es tut mir Leid, das habe ich nicht so gemeint. Aber ich möchte unsere Unternehmung wirklich nicht aufgeben. Wir sind fast am Ziel. Ich habe gesagt, ich werde dich bis zu Elynsynos’ Höhle begleiten, und ich möchte mein Wort halten. Das kannst du doch bestimmt verstehen.«
Aus dem Brodeln wurde leises Köcheln. »Ich denke schon, dass ich das verstehen kann«, räumte sie grollend ein. »Aber ich habe es gründlich satt, wegen meiner Körpergröße nicht ernst genommen zu werden.« Sie trug das Gepäck zu einer kleinen Lichtung, ließ es dort zu Boden gleiten und nahm ihren Umhang ab. Sie war tropfnass von Kopf bis Fuß, die Stiefel waren durchweicht und quietschten vor Nässe, die Kleider klebten ihr am Leib. Bei ihrem Anblick musste Ashe schlucken und war im Stillen dankbar dafür, dass er unsichtbar war. Um seine wachsende Erregung zu unterdrücken, widersprach er ihr.
»Du meinst also, die Leute nehmen dich nicht ernst, weil du so klein bist?«
Rhapsody zog ihr nasses Hemd über den Kopf und hängte es über einen Ast. Nun trug sie ein ärmelloses Unterhemd aus sorboldischem Leinen mit Spitzenbesatz, und da es ebenfalls nass am Körper klebte, hoben sich die Umrisse ihrer anmutigen Brüste deutlich ab. Ashe spürte, wie ihm heiß wurde, und seine Hände zitterten.
»Entweder liegt es an meiner Größe oder an meiner Haarfarbe. Aus irgendeinem Grund scheinen die Leute nur dunkle Haare mit einem Kopf gleichzusetzen, der auch geistige Energie produziert. Ich verstehe das überhaupt nicht.« Sie zog sich die Stiefel aus und löste die Bänder ihrer Hose.
Ashe fürchtete, die Kontrolle über sich zu verlieren. »Nun, vielleicht liegt es eher an mangelndem gesundem Menschenverstand«, meinte er, in der Hoffnung, sie davon abhalten zu können, noch mehr Kleidungsstücke abzulegen, obwohl er es sich gleichzeitig wünschte. Nun kehrte der Zorn zurück. »Wie bitte? Hast du gerade gesagt, ich hätte keinen gesunden Menschenverstand?«
»Nun ja, sieh dich doch an. Du befindest dich ganz allein auf einer unbewohnten Waldlichtung, zusammen mit einem Mann, den du kaum kennst, und ziehst dich aus bis auf die Unterwäsche.«
»Meine Sachen sind nass.«
»Das verstehe ich, und glaube mir, ich genieße den Anblick, aber wenn ich jemand anderes wäre, könntest du dich in diesem Moment in ziemlicher Gefahr befinden.«
»Warum?« Sie ließ die Hose zu Boden gleiten und hängte sie neben das tropfende Hemd an den Ast. Ihre langen schlanken Beine steckten in knielangen leinenen Unterhosen, die zum Unterhemd passten und sich auf ähnliche Weise an ihren Körper schmiegten.
»Nun, du könnest ausgeplündert werden oder noch Schlimmeres.«
Rhapsody grinste ihn amüsiert an. »Also, Ashe, wie kann sich eine Frau von einem Mann einschüchtern lassen, dessen Schwert aus Wasser besteht?« Sie zwinkerte ihm zu, drehte sich um und widmete sich wieder ihren Kleidern, die sie ordentlich auf dem Ast ausbreitete. Ashe starrte sie an und begann lauthals zu lachen. Rhapsody verkörperte wirklich die Unberechenbarkeit des Musikstücks, dessen Namen sie trug; sprunghaft, von einem Zeitmaß zum nächsten völlig anders, immer voller Überraschungen. Er hatte eine längere, ausgedehnte Diskussion über seine letzte Beleidigung erwartet, und nun machte sie sich stattdessen sanft über ihn lustig.
»Unterschätze niemals die Macht des Wassers«, gab er neckend zurück. »Mein Schwert kann eisig sein und hart wie Stahl. Ich kann es sogar rauchen lassen.«
»Oooooh«, machte sie, noch immer mit dem Rücken zu ihm und anscheinend nicht sehr beeindruckt. »Aber was nutzt das schon, wenn es schmilzt, sobald es in die Nähe von Wärme kommt?« Ohne sich umzudrehen, klopfte sie auf die Scheide der Tagessternfanfare. Ashe konnte nicht beurteilen, ob sie mit ihm flirtete, aber er hoffte es. Vorsichtig langte er über ihre Schulter und berührte die aufgehängten Kleider, um das Wasser aus ihnen zu ziehen. Überrascht strich sie mit der Hand darüber, als sie merkte, dass Hemd, Hose und Strümpfe trocken waren.
»Beeindruckend«, meinte sie.
»Wenn ich die Erlaubnis bekommen könnte, deine Schulter anzufassen, könnte ich den Rest ebenso trocknen«, sagte er.
Rhapsody überlegte kurz, dann nickte sie. Ashes Finger legten sich auf ihre Schulter, und das Unterhemd wurde fester, weil das Wasser, das es noch einen Augenblick vorher durchtränkt hatte, verschwunden war. Kurz darauf war der Rest ihrer Kleidung trocken.
»Danke«, sagte sie, zog ihre Sachen vom Ast herunter und schlüpfte in ihr Hemd. »Jetzt kannst du wieder anfangen, mich ernst zu nehmen.«
»Rhapsody, ich nehme dich sowieso ernst«, erwiderte Ashe. Er sagte die Wahrheit und betete dabei, dass sie das war, was sie zu sein schien, und nicht irgendeine Dämonendienerin. Wenn sie böse war, würde er ihr seine Seele kampflos überlassen, wenn die Zeit gekommen war, das wusste er genau.
Sie war dabei, ihre Hose wieder zuzubinden. »Die meisten Männer tun das aber nicht. Die meisten Männer nehmen die meisten Frauen nicht ernst, wenn sie ausgezogen sind.«
»Wie kommst du darauf?«
»Nun, ich denke, das kommt daher, dass die Männer im Allgemeinen selbst nicht gern ausgezogen sind. Anders als Frauen haben sie einen Indikator, der unverkennbar verrät, was und ob sie überhaupt denken.«
Ashe spürte, wie er errötete. »Wie bitte?« Er hoffte, dass sich diese Aussage nicht auf ihn bezog.
»Nun, wenn ein Mann nackt ist, dann hängt sein Gehirn vor den Augen der Welt, sodass jeder es sehen kann.«
»Das ist doch lächerlich.«
Rhapsody warf ihm einen versonnenen Blick zu, während sie in die Stiefel schlüpfte. »Nein, ist es nicht. Meiner Erfahrung nach ist es dieses Organ, mit dem die Männer denken.«
Ashe beschloss, das Thema fallen zu lassen. Sie hatte Recht. In eben diesem Augenblick war er dabei, lange und hart nachzudenken.
In dieser Nacht schwelte das Feuer ruhig im Wind. Ashe hatte mehrmals Zweige und Torf nachgelegt, aber es reagierte nicht darauf, sondern brannte unbeirrt mit kleiner Flamme weiter. Er musste lächeln über die Ironie; schließlich hatte er noch nie zuvor ein Lagerfeuer kennen gelernt, das auf Stimmungen reagierte. Aber dieses hier passte sich ganz und gar Rhapsodys Laune an.
Seit sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, war sie ziemlich wortkarg gewesen; während er gekocht hatte, hatte sie die Ausrüstung überprüft und neu gepackt. Beim Essen herrschte Schweigen, aber kein feindseliges. Freundlich antwortete sie auf seine Fragen, hatte aber offensichtlich keine Lust, eine Konversation zu beginnen. Sie war so tief in Gedanken versunken, dass man es fast hören konnte, und daher respektierte Ashe ihre Stille und überließ sie im Großen und Ganzen ihren Grübeleien.
Nachdem sie das Ess und Kochgeschirr gereinigt und weggepackt hatte, setzte sie sich an den Rand des Lichtkreises und beobachtete, wie die Sterne, einer nach dem anderen, über den verblassenden Silhouetten der fernen Hügel aufgingen. Der Ostwind blies den Qualm des Feuers über die vor ihr liegenden Felder, gelegentlich versetzt mit kleinen Funken, die über ihren Kopf sausten und spurlos im Nachthimmel verschwanden.
Mit dem Rücken zu ihr saß Ashe auf der anderen Seite des Feuers. Sie befand sich noch deutlich innerhalb der Reichweite seiner Sinne, und er wollte ihr den Abstand gewähren, den sie brauchte. Gespannt wartete er auf ihre Abendgebete, die sie sonst immer sang, wenn die Sterne am Himmel erschienen, denn er genoss die Schönheit ihrer Stimme und die Reinheit ihrer Lieder. Aber heute brach die Dämmerung und schließlich die Nacht herein, und noch immer blieb Rhapsody stumm.
Von der Stelle, an der er saß, spürte er, wie sich eine einzelne Träne formte und herabfiel; ihre Augen suchten den Himmel aufmerksam ab, fanden aber nicht, was sie suchten. Ashes Herz zog sich schmerzlich zusammen. Er sehnte sich danach, zu ihr zu gehen, sie in die Arme zu nehmen und ihr tröstende Worte ins Ohr zu flüstern. Aber er wusste es besser. Er war dazu verurteilt, auf Distanz zu bleiben, ihre Privatsphäre zu achten und außerdem noch damit fertig zu werden, dass er ihre Traurigkeit womöglich mit seiner Dummheit verschuldet hatte. Er verfluchte sich und betete im Stillen, ihr Schmerz möge nicht daher rühren, dass er alte Erinnerungen in ihr aufgewühlt hatte.
Das ist deine Schuld, murmelte der Drache in ihm. Alles deine Schuld. Schließlich hörte er, dass sie vor sich hin flüsterte. Für menschliche Ohren wären die Worte nicht zu verstehen gewesen, aber der Drache in ihm nahm sie auf, als würden sie direkt neben ihm gesprochen.
»Liacor miathmyn evet tana rosha? Evet ria diandaer. Diefi aria.«
Er erkannte die Sprache sofort, es war Alt-Lirinsch, und er konnte es ziemlich wörtlich übersetzen: Wie kann ich erwarten, dass du antwortest? Du kennst mich nicht. Ich habe den Stern verloren.
Ein Durcheinander von Gefühlen tobte in seinem Kopf. Freude sein Verdacht hatte sich fast völlig bestätigt; sie musste Cymrerin sein, wenn sie die Sprache der Lirin von Serendair kannte. Unsicherheit sprach sie mit den Sternen oder mit ihm oder vielleicht mit jemand ganz anderem? Und Schmerz die Verzweiflung in ihrer Stimme war von einer Tiefe, die er kannte, sie barg eine Einsamkeit, die seiner eigenen ähnelte.
Langsam erhob sich Ashe und schritt ums Feuer, bis er hinter ihr stand. Er fühlte, wie ihre Schultern sich strafften, als er näher kam, und die Träne verschwand, als die Temperatur ihrer Haut anstieg. Ansonsten jedoch verharrte sie regungslos. Er lächelte in sich hinein, denn es berührte ihn tief, wie sie ihr Feuerwissen einsetzte. Dann begann er mit möglichst beiläufiger Stimme zu sprechen.
»Suchst du einen bestimmten Stern?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe einen nun, ich meine, ich verstehe etwas von Astronomie«, fuhr er fort; so sorgfältig er nach den passenden Worten suchte, verfehlte er sie doch in der Dunkelheit.
»Warum willst du das wissen?« Eigentlich war es keine Frage.
Ashe zuckte zusammen, so vermessen erschien ihm plötzlich sein Vorhaben. »Nun«, erwiderte er und versuchte, mit Ehrlichkeit weiterzukommen. »Ich dachte, ich hätte gehört, wie du ›diefi aria‹ gesagt hättest. Bedeutet das nicht: ›Ich habe den Stern verloren‹?«
Rhapsody schloss die Augen und seufzte tief. Als sie sich ihm zuwandte, lagen Traurigkeit und Resignation auf ihrem Gesicht, aber er konnte kein Anzeichen von Ärger entdecken.
»›Diefi‹ heißt wirklich ›ich habe verlorene da hast du Recht«, sagte sie, ohne ihn direkt anzusehen. »Aber ›aria‹ hast du falsch übersetzt. Es bedeutet nämlich nicht ›den Stern‹, sondern ›meinen Stern‹.«
Ashe wusste, dass es falsch gewesen wäre, sich jetzt damit zu brüsten, dass er mit seinen Vermutungen über ihre Vergangenheit richtig gelegen hatte. »Und was heißt das, wenn ich fragen darf? Welchen Stern hast du verloren?«
Rhapsody ging zurück ans Feuer und setzte sich hin, die Stirn auf die Hand gestützt. Sie schwieg. Wieder verfluchte sich Ashe.
»Entschuldige, das war nicht richtig von mir. Ich habe nicht das Recht, mich in Dinge einzumischen, die ich zufällig mit angehört habe.«
Zum ersten Mal seit dem Abendessen sah Rhapsody ihm ins Gesicht. »Die Familie meiner Mutter waren Liringlas, Mitglieder des Volks der Wälder und Wiesen, Himmelssänger. Sie beobachteten den Himmel, um sich von ihm führen zu lassen, und begrüßten den Übergang der Nacht in den Morgen und der Abenddämmerung in die Nacht mit Gesang. Ich denke, das hast du bemerkt.«
»Ja. Sehr schön.« Seine Worte konnten Verschiedenes bedeuten.
»Außerdem glaubten die Liringlas, dass jedes Kind unter einem bestimmten Leitstern geboren werde und dass es eine Verbindung zwischen jeder Lirin-Seele und ihrem Stern gebe. ›Aria‹ist das Wort für ›mein Leitstern, aber jeder Stern hat natürlich auch noch seinen eigenen Namen. Ich glaube, es gab viele Rituale und Traditionen, die sich darum rankten. Mein Vater hielt alles für Unsinn.«
»Ich finde diesen Glauben wundervoll.«
Rhapsody schwieg. Wieder blickte sie ins Feuer, dessen Flackern sich in einem melancholischen Rhythmus in ihrem Gesicht spiegelte.
»Welcher Stern ist denn nun dein Stern? Vielleicht kann ich dir helfen, ihn wieder zu finden.«
Rhapsody stand auf und stocherte im Feuer. »Nein, das kannst du nicht. Trotzdem vielen Dank. Ich übernehme die erste Wache. Schlaf ein bisschen.« Sie ging zur Ausrüstung und machte die Waffen für die Nacht bereit.
Erst als er sich tief in sein Bettzeug vergraben hatte, verstand Ashe die volle Bedeutung ihrer Antwort. Rhapsodys Stern befand sich auf der anderen Seite der Welt; er schien über einem Meer, das ihre Geburtsstätte umfing wie ein wässriges Grab.
In der Stille seines Schlafgemachs legte er sich zurück und lauschte dem warmen Frühlingswind. Um ihn herum hatten sich Lärm und Gewusel des Tages in gedämpfte Trägheit verwandelt. Wie er diese Zeit liebte, diese Zeit, in der er die Maske ablegen und all die Dinge genießen konnte, die er vollbracht hatte, ohne dabei entdeckt zu werden. Wenn der Wind klar und die Nacht still genug war, konnte er die Hitze spüren, die Reibung in der Luft von der Gewalt, die er selbst aus dieser großen Entfernung durch Manipulation entstehen ließ. Heute Nacht war die Schwadron yarimesischer Wachen dafür zuständig, die er fest im Griff und von ihren üblichen Pflichten abgebracht hatte. Diese bestanden darin, die Wasserstraßen außerhalb der verfallenden Hauptstadt von Yarim Paar zu patrouillieren und die Shanouin, den Stamm der Brunnengräber und Wasserträger, zu beschützen, wenn sie ihre kostbare Last in die durstige Stadt zurückbrachten. Jahrhundertelang waren die Shaouin auf den Schutz der Wache angewiesen gewesen. Bei dem Gedanken lachte er leise. Das Chaos war von unschätzbarem Wert, es brachte die elektrische Leidenschaft mit sich, die er benötigte. Noch besser war es, wenn die Opfer dem Bann vertrauten. Die statische Aufladung des anfänglichen Schocks trug zu dem Unterhaltungswert des Ganzen bei. Und er freute sich schon sehr auf den Horror, den die Wachen unweigerlich empfinden würden, wenn der Bann nachließ und sie sich mit ihren Mordtaten konfrontiert sahen.
Seine Haut prickelte von dem Angstrausch, der in Wellen über ihn hereinbrach, als das Schlachten begann. Die Wasserträger waren kräftig, arbeiteten aber für gewöhnlich mit ihren Familien im Schlepptau. Er holte tief Luft und streckte seine Glieder, während die Wärme des Blutvergießens sie durchströmte.
Es war Reibungswärme, die Hitze des Kontakts, die durch seinen Körper wallte, die jetzt seine Geistnatur liebkoste, die Macht der Hitze, die so sehr an das Feuer erinnerte, aus dem er kam. Die Natur jeder Handlung produzierte sie, aber der Ort, wo sie sich am sichersten finden ließ, war der wilde Wettkampf des Mordens, grässlich und grausam und ungeheuer erregend. Er spürte, wie sich diese Erregung in seinem menschlichen Fleisch aufbaute, diesem Fleisch, dem aufgrund von Alter und anderen Einschränkungen der Doppelnatur eine Befriedigung in den meisten anderen Bereichen versagt geblieben war.
Die Patrouille ging wirkungsvoll zu Werke zu wirkungsvoll: Sie ließen sich zu wenig Zeit. Mit einem frustrierten Knurren zwang er sie, ihre Bemühungen zu bremsen, lieber zuzustechen, als Köpfe abzuschlagen, sich die Kinder bis zum Ende aufzusparen. Seine Hoffnung, dass sich die Hitze des vergossenen Bluts zu einem belebenden Höhepunkt aufbauen würde, schwächte sich ab; offenbar hatte er nicht genug von seiner eigenen Kraft eingebracht, als er die Gruppe in seinen Bann geschlagen hatte. Eine Schande, wirklich eine Schande. Ein Fehler, der ihm nie wieder unterlaufen würde.
Nun gab es keinen Grund mehr, seine Macht zu konservieren. Inzwischen war er mächtig genug, mehr von seiner Lebensessenz einzusparen oder dem, was eine Seele gewesen wäre, hätte ein F’dor dergleichen besessen. Wenn er das nächste Mal Gelegenheit bekäme, eine Truppe Soldaten vorübergehend zu seinen unwissenden Sklaven zu machen, würde er sich stärker einbringen. So würde er mehr von dem Elend spüren, würde mehr von der Qual aufsaugen können. Das war die Sache gewiss wert, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass die einzigen anderen Vergnügen, die seine menschliche Gestalt ihm gewährte, in Branntwein und üppigen Backwaren bestanden.
Sein Atem wurde wieder flach, als das Massaker sich dem rauschhaften Höhepunkt näherte und dann in die Phase durchdringender Jammerschreie und vergeblichen, schwächer werdenden Gewinsels um Gnade überging. Es war wundervoll, endlich wieder das Aufwallen seiner Macht zu spüren, das mit dem Vergießen von Kinderblut einherging. Zu lange, allzu lange hatte er das vermisst, nun, da sein Spielzeug in der weiten Welt umherwanderte, fern vom Haus der Erinnerungen, das der Schauplatz eines so wundervollen Gemetzels gewesen war.
Als die orgiastischen Empfindungen schließlich abgeebbt waren, kroch er wieder unter seine Decken und fiel in die tröstliche Dunkelheit des Schlafs. Er träumte von einer Zeit, an dem diese heimlichen Freuden zu seinem Alltag gehören würden, von jener Zeit, in der die Qualen eines anderen Kindes eines Kindes, das sich in den Bergen von Ylorc versteckte endlich beginnen würden. Bald würde diese Zeit kommen, bald war es so weit.